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Rainer Maria Rilke: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (Ulrich Mühe)

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Als ein Bruder von Rilkes Vater nobilitiert wurde, hat er, um seinen Adel nicht allzu jung zu zeigen, die Familie auf ein längst ausgestorbenes Kärntner Adelsgeschlecht Rülke zurückgeführt. Es besteht zwischen beiden Familien keine verwandtschaftliche Beziehung, aber es verwundert nicht, dass Rainer Maria Rilke eine angebliche Familienchronik als Quelle für seine bekannte Erzählung aus den Türkenkriegen angibt. Es ist ein höchst musikalisches Stück und nicht zuletzt deshalb als Vortragsstück seit langem bei Rezitatoren beliebt. Man hört es, dass auch Ulrich Mühe mit Begeisterung bei der Sache ist.

Ulrich Mühe hat am Deutschen Theater Berlin und am Burgtheater große Rollen vorgestellt und ist auch in Filmen wie etwa "Die Hälfte des Lebens" (als Hölderlin) und "Das Schloss" zu sehen. Als Rezitator ist er vielen mit seinem Trakl-Programm bekannt.

Ich habe die CD zuerst im Auto eingelegt. Und es ist schon ein eigenes Erlebnis dieses "Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag. Reiten, reiten, reiten" bei der Fahrt durch die Stadt zu hören. Es ist die Bewegung in feindliches Umland, ein Hineinreiten in eine fremde Welt, das diese Männer aus den verschiedene Teilen Europas verbindet. "Da sind sie alle einander nah, diese Herren ... Denn was der eine erzählt, das haben auch sie erfahren und gerade so." Es sind verlorene Krieger mit Sehnsucht nach Mutter oder Freundin, voll unsagbarer Müdigkeit, auch sprachlos. "Man sitzt rundumher und wartet. Wartet, daß einer singt. Aber man ist so müd." Endlich gelangt man an einen sicheren Ort, man feiert ein Fest.

Ulrich Mühe liest die Erzählung mit einigem Pathos, das sich gut getimt bis zum Schluss hin immer mehr steigert, lässt Zuhörerinnen und Zuhörern aber genügend Raum, das merkwürdig Nahe und unendlich Fremde der Ereignisse wahrzunehmen. Es geht eine Irritation aus von diesem tragischen One-Night-Stand des Cornets Christoph Rilke mit der namenlosen Gräfin und dem darauf folgenden Sich-Verlieren im Kampf und dem vorgeblichen Wissen "daß es heidnische Hunde sind".

Getreu, wortgetreu liest Ulrich Mühe den historischen Text, der so wenig politically correct und doch so rührend ist. Darüber Nachzudenken, was anrührt, könnte interessant sein. Folgen wir in unseren Autos auch irgendwelchen Fahnen in die Schlacht, blindlings, mit unseren geheimsten Sehnsüchten, die nur Frauen stillen können, unter dem Herzen? Ein Beiheft hat der Verlag nicht beigegeben, so ist man gezwungen sich selbst ein Verzeichnis der einzelnen Abschnitte anzulegen. Auch einige Hinweise auf den Verfasser des Textes oder auch auf die Rezeptionsgeschichte der so wohlklingenden aber doch so martialischen Erzählung möchte man anfordern.

Quelle: Helmut Sturm, 27. März 2002, im Literaturhaus Wien

Ulrich Mühe (1953-2007)

(KEINE) TRACKLIST

Rainer Maria Rilke:

Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke

Interpret: Ulrich Mühe

Spielzeit: 27:19 Min.

Die CD besteht aus 28 namenlosen Tracks, deren Länge zwischen 00:26 und 01:41 variiert.

Aufgenommen im Blue Noise Tonstudio, Hamburg
Regie: Karin Lorenz
Ton: Bernd Scbultze

(C) + (R) 1998


Die Dünne und das Biest



Paolo Uccello sieht in den Rachen des Satans

Paolo Uccello: Heiliger Georg und der Drache, um 1455, 56,5 x 76 cm, National Gallery London
Schon vor dem Tod ihrer Mutter wußte Beatrice, daß sie für die tragischen Rollen im Leben ausersehen war. Von klein an glich sie einem Geschöpf, das sich nur ein Maler einfallen lassen konnte, der entweder nichts zu essen oder etwas ziemlich Außergewöhnliches im Sinn hatte. Alles an ihr war spitz. Das Nasenbein und das Brustbein, die Fußzehen und die Fingerknochen. Selbst die Zacken der kleinen Krone, die sie immer, wenn sie unter Menschen ging, auf ihr blondbleiches Haar, das zu einem spitzen Knoten aufgetürmt war, setzen mußte, standen in spitzen, scharfen Pfeilen von ihrem Kopfreif ab.

Und weil der Maler Uccello, der für vieles, was jetzt kommt, verantwortlich ist, mit seinem Spleen für die runde Form, das Faß, den Becher, den Kranz, etwas hatte, was ihm den Ruf einer »überreizbaren Gestaltungskraft« eintrug, konnte er auch bei diesem Fräulein nicht ganz von seiner Gewohnheit lassen und verpaßte ihr ein auffallend großes Ohr in der Form eines Halbkreises. Es beruhigte Beatrice nicht, daß auch die anderen Mädchen und Frauen ihre Haare bis hoch in die Stirn ausgezupft bekamen, weil irgendein Modist sich in den Kopf gesetzt hatte, daß Gotik, Frührenaissance und hohe Stirn ein und dasselbe seien. »Sie, Prinzessin, werden den Mann ihrer Wahl heiraten, aber«, so hatte Pater Don Octavio prophezeit, »es stehen Ihnen seltsame Prüfungen bevor.«

Als Beatrice alt genug und ihr Hals so lang gewachsen war, daß sie an besonders düsteren Tagen, und solche gab es in Florenz durchaus, gegen das Gefühl ankämpfen mußte, ihr Kopf und ihr Körper seien durch eine zu lange Röhre voneinander getrennt, begann sie über Schnitt und Farbe ihres Hochzeitskleides zu phantasieren. Alles weitere, das wußte Beatrice, würde sich fügen, wenn sie und die Mitglieder ihrer adligen Familie es am allerwenigsten erwarteten.

Piero della Francesca: Diptychon des Federico da Montefeltro mit seiner
 Gattin Battista Sforza, um 1465, jeder Flügel 47 x 33 cm,
Tempera auf Holz, Galleria degli Uffizi, Florenz
Die Vorstellungskraft von Beatrice, aber vielleicht hat der Florentiner Paolo Uccello um das Jahr 1455 seiner staksigen Puppe einen ganz anderen oder gar keinen Namen zugedacht, war viel zu schwach entwickelt, um sich auszumalen, was ihr der Beichtvater mit seinen dunklen Worten gesagt haben mochte. Denn kein Mensch in ihrer Umgebung war so gebildet oder so vorausschauend, ihr, dem dünnen Mädchen, die Giftmärchen zu lesen zu geben, die in den De secretis secretorum stehen oder im apokryphen Buch Tobit.

So suchte sich Beatrice einen blaßrosa Stoff aus, so fahl wie ihre Lieblingsrose, und einen efeugrünen dazu und gab ein enges grünes Untergewand mit einem rosa Überhang in Auftrag und eine Schleppe, die gerade lang genug war, um den Sand und den Staub hinter ihren Fersen aufzuwischen. Ihren roten, ebenfalls spitz zulaufenden Schuhen würde so zu der angemessenen Geltung verholfen. Außerdem orderte sie einen über die Schulter bis auf die Höhe der Oberschenkel fallenden Fransenschal, der, so stellte Beatrice sich das vor, bei jedem Schritt ihres neuen Lebens wippen und schlingern und sie mit dem Gefühl verwöhnen würde, von nun an bis in alle Ewigkeit nie mehr allein zu sein.

1481, sechs Jahre nach dem Tod des Malers Uccello, dem das Bild mit der hochgewachsenen spirreligen Jungfrau zu verdanken ist, ließ sich Cristoforo Landino in seinem Vorwort zu Dantes Göttlicher Komödieüber die verschiedenen Malstile seiner Zeitgenossen aus. Landino bezeichnete dort, wie nicht anders zu erwarten, die Mittel, die der fromme Fra Angelico angewandt hatte, mit den Attributen: »lieblich«, »andächtig« und »geschmückt«. Zu Paolo Uccello sagte Landino, was viele Menschen bis tief ins 20. jahrhundert wiederholten, Uccello sei mehr als nur ein Maler, er sei »ein großer Meister für Tiere und Landschaften, sehr geschickt bei Verkürzungen, da er die Perspektive wohl verstand«. Durch Uccellos Hand ist die jungfräuliche Prinzessin unsterblich, bis zum heutigen Tag.

Paolo Uccello: Heiliger Georg und der Drache.
Erste Version, um 1439, Musee Jacquemart-André, Paris
Angeblich war Florenz in Uccellos Kindheit, über die nichts bekannt ist, weil der Begriff »Kindheit« noch gar nicht existierte, »der sauberste Ort der Welt«, mit einer Architektur aus Gotik und Renaissance, die Balkone und Torbögen zusammenhielten. Ganz so idyllisch, wie Leonardo Bruni das für die Nachwelt in der Laudatio Florentinae Urbis aufschrieb, ist es in der Realität nicht gewesen. Denn im Jahr 1400 herrschte Krieg zwischen Mailand und Florenz, die Pest brach aus, und alle Familien, die es sich leisten konnten, verließen Hals über Kopf die Stadt.

Die Geschichte der Beatrice sieht auf dem kleinen 56,5 mal 76 Zentimeter großen Gemälde in Londons National Gallery aus wie ein Märchen, und das ist sie auch. Das Fräulein in ihrem Hochzeitsstaat steht an einem gottverlassenen Ort. Weit im Hintergrund verläuft die Silhouette der blauen Berge, im Vordergrund, unmittelbar hinter der schmalen Gestalt der Prinzessin, öffnet sich eine bedrohliche Höhle, sie steht in einer Sandlandschaft, die mit ordentlich rechteckig geformten Wellen ausgelegt ist. An einem grünen lockeren Band hält das Mädchen mit der Rechten ein Ungeheuer, einen Drachen. Seine ihr zugewandten aufgestellten Flügel zeigen drei rosa und grüne Kreise, die Farben ihrer giornea, wie man ein solches Überkleid nennt.

Der Drache mit aufgerissenem Maul, aufgestellten Krallen und geringeltem, im Wind wehendem Schwanz hat vor wenigen Augenblicken die Lanze eines Reiters durch den Schlund gerammt bekommen. Eine kleine Lache bildet sich im Sand, man sieht, wie dem Ungeheuer das Blut aus dem Rachen und der Kinnlade rinnt. Der kleine Held in der silbergrauen Rüstung mit dem blassen Kindergesicht ist der heilige Georg, den der Vatikan, wie Anfang 1999 bekannt wurde, »entheiligen« möchte. Aber per Dienstanweisung läßt sich ein alteingesessener Heiliger nicht aus dem Sattel heben. Bei Uccello hat nicht der kleine Ritter, sondern sein Schimmel vor dem Drachen Respekt, das Pferd bäumt sich auf, sein Nacken krümmt sich in einer schwungvollen Kurve, sein Schweif auch. Über dem dichten dunklen Wald, aus dem der Retter und sein Pferd geritten sind, hat sich ein Wolkenwirbel zusammengezogen, ein Orkan der Lüfte als Rückendeckung für den kleinen Georg. Am Himmel steht die schmale silberne Mondsichel, die das Zwielicht und die Stunde verrät, in der zu früheren Zeiten die Kinder zum Trost eine Geschichte vorgelesen bekamen, weil das Ende eines Tages immer ein unwiderruflicher Abschied war.

Lorenzo Ghiberti: Szenen an der Nordtür des Baptisteriums in Florenz:
Vertreibung der Händler aus dem Tempel bzw. Disput mit den Gelehrten.
 [Mehr darüber hier]
In diesem Bild kann man, über alle Verwunderung hinweg, die Uccellos Werk hervorruft, wenn man die Details genau betrachtet, lesen wie in einem Buch. Der Gürtel zum Beispiel, mit dem Beatrice den Drachen führt, galt im Mittelalter als Zeichen der Jungfräulichkeit und war der größte Schatz der Braut, und die Höhle ist ein Sinnbild, bei deren gewaltiger dunkler Öffnung wir nicht erst Freud um Aufklärung bitten müssen.

Viele Kulturen gründeten ihr Dasein auf den Glauben an den Triumph des Sonnengottes über die Monster und Geister der Dunkelheit. Das Licht besiegt die ambivalente Macht der fruchtbaren Mutter Erde, die den einen die Kraft bringt, die sie den anderen raubt. Auf Uccellos Gemälde stehen sich die Prinzessin, ihr Drache, Georg und sein Schimmel gegenüber. Die unfreiwillige Allianz monströser Stärke mit der Kraft weiblicher Sexualität kann nur ein furchtloser Held überwinden. Georgs Schimmel ist das Licht, und der vollkommen unerschrockenen Prinzessin, man sieht es, kommt ein Wort über die Lippen, während ihre linke Hand auf den Drachen deutet; mit der anderen Hand bietet sie sich selbst an. Georg schaut nicht auf sie, er blickt, wie sein Pferd, nach unten, in den aufgerissenen Schlund des Drachens.

Das Schicksal der Prinzessin ist es, nicht vom Drachen bei lebendigem Leib gefressen, sondern vom Drachentöter genommen zu werden. In den Mythen, man mag sich nur an Ariadnes Geschichte erinnern, verlangen Ungeheuer Jungfrauen zur Erfrischung. Die dünne Dame ist in Kalorien gemessen kaum mehr als ein Appetithappen, und die Wunde, die Georg dem Biest zugefügt hat, gleicht eigentlich einem Delikt und bestimmt keiner Heldentat. Man sagt, Paolo Uccello habe das Bild für den reichen Florentiner Kaufmann Lorenzo di Matteo Morelli zu einer Zeit gemalt, als Uccello ein gemachter Mann zu werden schien, da die reiche und vor allem einflußreiche Bruderschaft Corpus Domini in Urbino ihn in ihre Dienste genommen hatte. In Urbino unter dem Herzog Federico da Montefeltro, dessen signifikantes Profil Piero della Francesca verewigte, stand alles, was aus der Toskana und besonders aus Florenz kam, in höchstem Ansehen.

Paolo Uccello: Die Jagd, um 1460, 65 x 165 cm, Tempera auf Holz, Ashmolean Museum, Oxford
Lorenzo di Matteo Morelli hatte das Bild von der Prinzessin, dem Drachen und dem heiligen Georg angeblich für sein Schlafzimmer bestellt, und Antonio Billi schrieb 1516 in sein Libro, das Gemälde Uccellos sei auf flandrischen Stoff gemalt, und vom Anonimo Magliabechiano ist 1546 schriftlich hinterlassen, daß Uccellos Heiliger Georg und der Drache in Florenz viel diskutiert und sehr geliebt worden sei.

Nun hat Uccello den Kampf des Ritters mit dem Drachen zweimal gemalt. Das erste Georgsbild, das um 1439 entstanden sein soll, wurde beschnitten und durch eine radikale Reinigung lädiert (es ist im Pariser Musee Jacquemart-André zu sehen); außerdem, so nimmt man an, hat der Meister selbst das Bild übermalt, was Röntgenaufnahmen des Londoner Gemäldes ebenfalls zeigen. Uccellos erste Prinzessin ist ein frommes Mädchen mit gefalteten Händen, das achtsam hinter dem hoch aufgerichteten Drachen in einem hortus conclusus, einem Klostergarten mit penibel angelegten Beeten, steht. Der Garten ist von einer Mauer umschlossen, und der Maler, von dem es in der Legende heißt, er sei auf der Suche nach der Perspektive schier verrückt geworden, wußte noch nicht, wie er eine von Zinnen geschmückte Mauer so malen sollte, daß sie tatsächlich den Blick in die Weite schickt.

Der künstlerische Enthusiasmus war typisch für die Künstler dieser Zeit. Besonders Lorenzo Ghibertis und Filippo Brunelleschis Forschergeist ist es zu verdanken, daß die menschliche Proportion als aristotelische Perfektion beim römischen Schriftsteller Vitruv wiederentdeckt und in die Bilder übernommen wurde. Als Lehrling Ghibertis war Uccello nicht mehr als ein garzone di bottega, ein Bursche für alles, von höchstens zehn Jahren; Ghiberti arbeitete in dieser Zeit an der Nordtür des Baptisteriums, und in seiner Werkstatt waren auch Donatello und Masolino tätig. Uccello verließ Ghiberti nach vier Jahren ohne erkennbaren Streit. 1425 reiste er nach Venedig, Padua und Siena und verfügte in seinem Testament, daß er im Grab seines Vaters beigesetzt werden wolle.

Bei der Suche nach der dolce prospettiva ging es um die Frage nach den Grundsätzen des Raums überhaupt. Nikolaus von Kues hatte herausgefunden, daß es im unendlichen Raum keinen Mittelpunkt gibt. Denn wo immer sich ein möglicher Betrachter in der Welt oder auf der Erde befindet, muß er sich im Zentrum der Welt glauben. Wer annimmt, im Mittelpunkt des Weltausschnitts zu sein, durchlebt Momente des Unwirklichen, denn das ist eine der vielen möglichen Bezeichnungen einer transzendenten Erfahrung, die von den Fauves, Kubisten und Surrealisten vierhundert Jahre später für ihren künstlerischen Meisterplan wiederentdeckt wurde.

Paolo Uccello: Schlacht von San Romano (dreiteilig. Mitte: Uffizien, Flügel: London bzw. Paris)
Mittelteil: 182 x 320 cm, Tempera auf Holz, Galleria degli Uffizi, Florenz
Der Geschichtsschreiber Vasari, der viele Künstlerlegenden in die Welt gesetzt hat, ist daran schuld, daß Uccello, um 1397 als Sohn eines Barbiers, Heilkundlers und Chirurgen geboren, mit dem Etikett eines Grüblers versehen wurde und als Künstler mit überreizter Gestaltungskraft und selbstquälerischem Intellekt in die Renaissancegeschichte einging. Uccello, so klatscht der in diesem Fall äußerst gehässige Vasari, habe das Studium der Perspektive dem Beischlaf mit seiner siebenunddreißig Jahre jüngeren Ehefrau Tomasa di Benedetto vorgezogen, die er, wie aus seiner Steuererklärung hervorgeht, 1450 in zweiter Ehe heiratete. Er soll keinen schöneren Liebesschwur als »ach, was für ein süßes Ding ist diese Perspektive« gekannt haben.

Raffaele Borghini berichtet 1584 in seinem Riposo vom Tiermaler Uccello, der seinen Namen der Liebe zu den Vögeln verdankt. Borghini und all die anderen müssen das große »U« übersehen haben, das im Londoner Bild vom Sankt Georg mit dem Drachen aus dem Beet sticht, das als immergrüner Teppich über dem sandigen Boden ausgerollt ist. Uccello ist nicht durch seine Vögel, sondern durch seine Rösser bekannt geworden: die perfekten Schaukelpferde aus dem Breitwandbild Die Jagd (Ashmolean Museum, Oxford), die Streitrösser auf dem dreiteiligen Gemälde der Schlacht von San Romano, vor dem angeblich der große Medici Lorenzo il Magnifico 1492 verstorben ist, und das elegante Pferd, das Uccello im Florentiner Dom für Sir John Hawkwood gemalt hat.

Sich der Pferde anzunehmen, ihre schweren Leiber zum Laufen und Springen zu bringen und das Tempo der erzählten Geschichte in ihre Bewegungen einzuschreiben, gehörte zu den ehrgeizigen Plänen Uccellos. Schon 1417 hatte der gute Freund Donatello, nach dem Uccello seinen eigenen Sohn benannte, für die Predella von Or San Micheie in Florenz eine Drachentötung im Halbrelief dargestellt. Vielleicht war in Florenz das Gedicht des Sigmund de Freine bekannt oder Jacobus de Voragines Text aus der Legenda aurea, der den Drachenkampf, die Prinzessin und die Figur des heiligen Georg in einer Geschichte zusammenbringt.

Donatello: Drachentötung, Halbrelief, um 1417, für die
 Predella von Or San Michele, Florenz
Dieser Art Stoff war besonders geeignet, mit verschiedenen anderen Märchenmotiven Verbindungen einzugehen, die keine »Konvenienzheiraten« waren, sondern ganz auf Neigung und Anpassungsfähigkeit beruhten. Für die Vorlage des apokryphen Buches Tobit kam der Gedanke auf, den Geist des bestatteten Toten in einer Sage oder einem Märchen als Diener oder Helfer auftreten zu lassen.

Auch Georg hatte im Dienst einer schöneren Geschichte eine Metamorphose über sich ergehen lassen müssen, damit er vor der Nachwelt als herkuleischer Held auftreten konnte; was ihm wirklich widerfahren war, blieb unerwähnt. Denn Georg war kein Drachentöter, sondern ein Märtyrer, der im Kriegsdienst der Kappadokier gestanden hatte und wegen seines Bekenntnisses zum Christentum im Jahr 303 in Lydda unter dem heidnischen Herrscher Diokletian gemartert und enthauptet worden war. Diese grausame Geschichte wurde im 9. Jahrhundert erstmals vom Mönch Ottfried übertragen und gelangte über Konstantinopel, Ägypten, Äthiopien, Osteuropa und Rom nach Mittelitalien. Seit dem späten 12. Jahrhundert gilt Georg als Befreier der jungfräulichen Königstochter Kastoria, und vom 14. Jahrhundert an darf er zu Pferd sitzen und die Position des Ritters Mariä auf Erden für sich in Anspruch nehmen.

Nach Uccellos Tod im Jahr I475, dem ein ziemlich jammervoller Abstieg aus der Gunst seiner Auftraggeber vorangegangen war, und den Künstler, wie seine Steuererklärung zeigt, ohne Einkommen ließ, gaben sich die Zeitgenossen und Interpreten Mühe, ihn als Maler eines »mondo favoloso«, »mondo irreale« und »mondo poetico« abzuwerten, der, so sagten sie, doch besser daran getan hätte, Piero della Francesca über die Schultern zu schauen, als sich im »Kult der reinen Form« zu verlieren.

Vielleicht ist Uccello ein unfreiwilliger Erzähler. Aber die Bilder vom heiligen Georg mit dem Drachen, die Breitleinwand-Darstellung der Jagd und die drei Szenen der Schlacht von San Romano beweisen das Gegenteil. Einem gewissen Abbate Luigi Lanzi ist es anzulasten, daß Großherzog Piero Leopoldo, der 1769 die Uffizien nach Schulen neu ordnen wollte, in Uccellos Dreiteiler nur Schwächen gegenüber Raffael, Michelangelo und Leonardo da Vinci erkannte und sich deshalb, gestützt auf die Einflüsterungen des geistlichen Herren, entschloß, nur das mittlere Bild des San Romano-Frieses zu übernehmen, die anderen Tafeln gelangten über private Sammler 1857 und 1861 nach London und Paris.

Wie die Geschichte von der spitzen Prinzessin mit dem runden Ohr und einem Drachen am grünen Gängelband, so ist auch die Darstellung einer Jagdgesellschaft von statuarischer Komik und sehr amüsant. Eine heitere Männergesellschaft, lauter Pinocchios, sind mit ihren pfeilschnellen Hunden im Wald unterwegs. Sie rufen und schreien, sie veranstalten ein wildes Spektakel, die Rehe, die von den bellenden Hunden aufgescheucht worden sind, springen in den tiefen Wald zurück, und man weiß nicht, woher das helle Licht kommt, das die Szene beleuchtet, in einer die Kuppen der Bäume umgebenden Nacht. Auch im Hintergrund des Uffizienbildes von der San Romano-Schlacht jagen Hase und Hund aus Furcht vor dem Mordgetöse über die in langen geraden Linien gefurchten und vom Buschwerk begrenzten Äcker.

Die wichtigsten Werke des Malers Uccello haben mit frommen Themen nichts zu tun. Es sind wild bewegte Szenen, belebt mit starren Holzfiguren. Mit dem Mut eines Kämpfers, der einen Drachen am losen Band neben sich herzieht, wagte er sich an die allerschwersten Aufgaben. Uccello übernahm die Rolle des Regisseurs im Kunstraum perspektivischer Experimente. Er malte, um die Wirkung zu steigern, ein rosa Band, verteilte darauf: Helme, zerbrochene Lanzen und einen in voller Rüstung auf seinem Bauch liegenden Krieger. Gewalt ist in Uccellos Bildern ein Schattenspiel. Der Kampf findet nicht zwischen den Menschen, sondern zwischen der Nähe und der Ferne, zwischen Statik und Dynamik statt.

Beatrice, die spitze Prinzessin, unterwegs auf einem der sonderlichsten Spaziergänge der Kunstgeschichte, fühlte sich magisch angezogen von einem Ungeheuer. Vielleicht war der Drache ein Spiegel ihrer Seele, der genau zu ihrer Stimmung paßte, die man, mittlerweile nichts als ein Refrain, der Schönen, die ein Biest ist, unterstellt.

Quelle: Verena Auffermann: Das geöffnete Kleid. Von Giorgione zu Tiepolo. Essays. Berlin Verlag, 1999. ISBN 3-8270-0309-1. Seiten 25-38


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Franz Schubert: »Alles Walzer!«

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Der Walzer für Klavier, der in den letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts ungemein populär gewesen war, unterschied sich immer deutlicher vom Deutschen Tanz und dem Ländler und eroberte das damals immense Publikum dilettierender Klavierspieler. Muzio Clementi adaptierte in seinen Walzern das Formschema des Menuetts: Walzer-Trio-Walzerwiederholung. Dieses Schema behielten Boieldieu und Steibelt ebenso bei wie Hummel, Weber, Chopin und andere. Neben dem Walzer mit Trio etablierte sich dann aber auch eine kürzere Variante ohne Trio und ohne Wiederholung: Eines der frühesten und charakteristischsten Beispiele ist Beethovens Walzer (oder Ländler) aus dem Jahre 1803 mit nur 16 Takten. Ordnet man nun mehrere kurze Walzer in einer Reihe, so entsteht der typische Wiener Walzer, den in der Klavierliteratur vor allem Schubert und andere, weniger bedeutende Komponisten wie Czerny, Diabelli und Thalberg repräsentieren. Schubert schrieb auch Walzer mit Trios, gab aber dem Walzer im Wiener Stil den Vorzug. Dieser wurde fast durchweg aus den Improvisationen der Schubertiaden geboren, von denen uns Maler wie Moritz von Schwind und Leopold Kupelwieser treffende Bilder hinterlassen haben.

Tatsächlich mögen viele dieser Walzer in Improvisationen wurzeln; wenn Schubert sie jedoch zur Drucklegung vorbereitete, reihte er nicht einfach einen Walzer an den andern, ohne sich Gedanken über ihre wechselseitige Beziehung und die formale Bedeutung des Ganzen zu machen. So aber werden sie rezipiert. Liszt schien es einerseits unmöglich, Schuberts schmucklose Stücke aufzuführen, indessen er andererseits dem großen Publikum ihren musikalischen Gehalt nicht vorenthalten wollte. Er löste das Dilemma, indem er ausgewählte Walzer im Virtuosenstil ausarbeitete und variierte: So entstanden zwischen 1846 und 1852 seine Soirées de Vienne und Valses caprices d'après Schubert. Man kann die Walzer heute sowohl als eigenständige Werke wie auch als Augenblicke des tiefgreifenden Wandels sehen, in dessen Verlauf sich die Klaviermusik von der großen, traditionellen Sonatenform entfernte und zur zyklischen Gruppierung kleinerer Formen überging.

Die 34 Valses sentimentales D779 sind Beispiele für diese Tendenz. Sie entstanden wie die Klaviersonate D784, die Moments musicaux und der erste große organische Liederzyklus Die schöne Müllerin im Jahre 1823, als sich bei Schubert bereits die ersten Symptome der Syphilis gezeigt hatten. Die zyklische Organisation kurzer Stücke lässt sich bei Schubert zwar nicht auf fixierte Schemata reduzieren, sie findet aber nach allgemeinen, wiederkehrenden Formeln statt. Bei den Tänzen ist der Rhythmus das erste Element des Zusammenhalts - aber auch der potentiellen Eintönigkeit. Einheitlich könnte für die Valses sentimentales desgleichen die Tonart geplant gewesen sein, doch am Ende kommt eine raffiniertere Lösung heraus: eine Verlagerung von C-dur zum eine Terz tieferen As-dur. Diese Lösung hatte Schubert bereits in den Walzern D365 ausprobiert und dann für die Moments musicauxübernommen. Die ersten 17 Walzer beginnen und enden in C-dur, die zweiten 17 hingegen in As-dur. Der Walzer Nr. 13, den Liszt auf glänzende Weise für seine sechste Soirée de Vienne verwandte, bildet in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme: Es ist der einzige Walzer, der mit dem Bass und nicht mit der Melodie beginnt, er entwickelt einen zweistimmigen Dialog und ist mit 38 Takten auch der längste (alle andern Stücke bestehen entweder aus 16 oder 24 Takten). Seine Sonderstellung markiert auch das Verhältnis des Zyklus im Goldenen Schnitt (13:21 = 21:34).

Der Goldene Schnitt ist auch in Schuberts erstem Versuch auf dem Gebiet, den 1818 bis 1821 entstandenen 36 Walzern D365, nachzuweisen. Die ersten 13 Walzer bilden einen homogenen Zyklus: Alle sind in derselben Tonart und einer Form geschrieben, die wir als Typ A bezeichnen können (zweimal acht Takte, die jeweils wiederholt werden); die Kadenz in der Haupttonart erfolgt immer in den Takten acht und sechzehn; alle zeigen denselben pianistischen Stil, und der dreizehnte Walzer wirkt wie ein Abschluss. Die Nummern 16-28 bilden einen zweiten Zyklus, der in A-dur beginnt und endet. Sie sind pianistisch brillanter als der erste Zyklus, und das hohe Register des Klaviers wird umfassender eingesetzt. Des Weiteren bilden die Nummern 16-36 einen komplexen Zyklus von 21 Walzern, die in A-dur beginnen und eine große Terz tiefer in F-dur enden. Schuberts musikalische Architektur ist hier vielleicht nicht so klar, perfekt oder harmonisch wie in den späteren Sammlungen, der zyklische Impuls jedoch wird auch hier deutlich.

Die undatierten Valses nobles D969 sind viel kürzer als die Valses sentimentales, weniger subtil ausgearbeitet und weniger signifikant. Der Klaviersatz ist massiv, reich an Akkorden und Oktaven, klangvoll (Nr. 1, 3, 5, 9, 12) und bisweilen sogar virtuos (Nr. 7). Entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten könnte sich Schubert hier an den brillanten Bravourwalzern orientiert haben, die Ende der 1820er Jahre en vogue waren. Auf jeden Fall atmen die Valses nobles eine andere Luft als die häusliche Atmosphäre der Valses sentimentales.

Die im Februar 1823 veröffentlichten Zwölf Walzer D145 bilden einen der kompaktesten Zyklen, die Schubert geschrieben hat. Die Nummern 2 und 6 enthalten Momente großer melodischer Schönheit (im letztgenannten ist bereits eindeutig Chopin zu spüren). Die Stücke sind generell breiter als die 36 Walzer D365, der Satz enthält gelegentlich virtuose Passagen (überkreuzende Hände in Nr. 9 und schnelle Tonwiederholungen in Nr. 12) und der Wechsel der verschiedenen Ausdrucksweisen ist sorgfältig geplant - vermutlich für ein weit größeres Publikum als das der Schubertiaden.

Die 20 Walzer D146 stellte Diabelli 1830 als Schuberts "Letzte Walzer" zusammen. In Wirklichkeit handelt es sich dabei aber um die Kombination zweier verschiedener stilistischer Perioden, deren zweite (1823) im Zusammenhang mit dem Zyklus der Valses sentimentales steht, während die erste (1815) in Schuberts musikalischer Produktion einzigartig ist und sich in den Nummern 3 bis 5 de facto auf die ältere Menuettform bezieht, die Clementi und andere Komponisten liebten. Während Schubert in diesen Momenten auf die musikalische Tradition zurückgreift, zeigt sich mit aller Macht seine eigene Persönlichkeit in dem schönen Trio von Nr. 5, in dem humorvollen Trio von Nr. 6 und in der Nr. 8, einem Meisterstück musikalischer Erfindung und Farbgebung.

Die zwölf "Grazer" Walzer D924 entstanden im Herbst 1827 in Wien und wurden im Januar 1828 veröffentlicht. Den vorherigen Sommer hatte Schubert in Graz verbracht, eingeladen von Marie Pachler-Koschak, einer der wenigen Pianistinnen, die Beethovens Aufmerksamkeit gefunden hatten. Als die 23-Jährige 1817 ihre Flitterwochen in Wien verbrachte, hatte ihr Beethoven diese galante Note geschrieben: "Ich habe noch niemand gefunden, der meine Compositionen so gut vorträgt als Sie", hieß es darin. Nicht einmal das Spiel der großen Pianisten ließe sich damit vergleichen, da diesem etwas Mechanisches und Affektiertes eigne. Sie aber, Marie Koschak, sei die wahre Pflegerin seiner Geisteskinder. Schubert war offenbar so von ihr bezaubert, dass er ihr diesen letzten Walzerzyklus widmete.

Quelle: Aus dem Booklet, nach Einführungstexten von PIERO RATTALlNO, 1978 (Übersetzung: Eckhardt van den Hoogen)

Moritz von Schwind (1804-1871): Schubertiade 1868
Aus der Erinnerung gezeichnet Das Bild zeigt Franz Schubert am Klavier sowie Josef von Spaun, Johann Michael Vogl,
Franz Lachner, Moritz von Schwind, Wilhelm August Rieder, Leopold Kupelwieser, Eduard von Bauernfeld,
Franz von Schober, Franz Grillparzer und auf dem Bild an der Wand Komtess Karoline Esterházy.

TRACKLIST

Franz Schubert 1797-1828

Complete Waltzes

Compact Disc 1 73.49

1-34 34 Valses sentimentales D779 27.14
NO.l in C 0.40 No.2 in C 0.40 NO.3 in G 0.58 No.4 in G 0.38
NO.5 in B flat 1.24 No.6 in B flat 0.40 NO.7 in B flat 0.40 No.8 in D 0.49
NO.9 in D 0.38 NO.l0 in G 0.45 NO.11 in G 0.44 NO.12 in 0 0.41
NO.13 in A 1.18 NO.14 in 0 0.37 NO.15 in F 0.39 No.16 in C 0.38
NO.17 in C 1.10 NO.18 in A flat 0.46 NO.19 in A flat 0.50 NO.20 in A f1at 0.38
NO.21 in E flat 0.41 NO.22 in E flat 0.44 NO.23 in E flat 0.45 NO.24 in B flat 0.43
NO.25 in G 0.56 NO.26 in C 0.43 NO.27 in E flat 0.59 NO.28 in E flat 0.42
NO.29 in E flat 1.07 NO.30 in C 0.37 NO.31 in C 0.49 NO.32 in C 0.50
NO.33 in A flat 0.38 NO.34 in A flat 0.52

35-46 12 Valses nobles D969 11.01
NO.l in C 0.36 No.2 in A 0.38 NO.3 in C 2.01 No.4 in G 0.59
NO.5 in C 1.11 NO.6 in C 0.40 No.7 in E 0.53 NO.8 in A 0.55
No.9 in A minor 1.03 NO.l0 in F 0.41 NO.11 in C 0.33 NO.12 in C 0.47

47-48 2 Scherzos D593 11.00
NO.l in B flat 5.24 No.2 in D flat 5.36

49-84 36 Dances D365 "Erste Walzer" ("First Waltzes'/'Premières valses')
NO.l in A flat 0.34 No.2 in A flat 0.40 NO.3 in A flat 0.31 No.4 in A flat 0.36
NO.5 in A f1at 0.37 No.6 in A flat 0.41 NO.7 in A flat 0.40 NO.8 in A flat 0.46
NO.9 in A flat 0.37 NO.l0 in A f1at 0.43 NO.11 in A flat 0.52 NO.12 in A flat 0.30
NO.13 in A flat 0.42 NO.14 in D flat 0.47 NO.15 in D flat 0.32 NO.16 in A 0.40
NO.17 in A 0.31 NO.18 in A 0.36 No.19 in G 0.31 NO.20 in G 0.33
NO.21 in G 0.36 No.22 in G sharp minor 0.40
NO.23 in 8 0.36 NO.24 in B 0.36 No.25 in E 0.38 NO.26 in E 0.32
NO.27 in E 0.38 NO.28 in A 0.37 No.29 in D 0.56 NO.30 in A 0.33
No.31 in C 0.32 NO.32 in F 0.59 NO.33 in F 0.55
NO.34 in F 0.44 NO.35 in F 0.44 NO.36 in F 1.19

Compact Disc 2 74.22

1-12 12 Waltzes D145 12.10
No.1 in E 1.08 No.2 in B 0.48 NO.3 in A minor 1.31
No.4 in C sharp minor 0.33 NO.5 in G 0.35 NO.6 in B minor 1.35
No.7 in E flat 0.52 No.8 in G flat 0.45 No.9 in F sharp minor 0.54
No.10 in B minor 1.04 No.11 in B 0.58 NO.12 in E 1.23

13 Waltz D139 in c sharp 2.17
14 Variation on a Waltz by Anoan Diabelli D718 in C minor 1.15
15 Waltz in G D844, 'Albumblatt' 0.54
16 Cotillon in E flat D976 0.39
17 Waltz in E flat D978 0.59
18 Waltz in G D979 1.02

19-20 2 Waltzes D980 1.36
NO.l in G 0.59 NO.2 in B minor 0.37

21-40 20 Waltzes D146 "Letzte Walzer" ("Last Waltzes'/'Dernières valses') 35.22
NO.l in D 1.59 NO.2 in A 0.41 No.3 in E with Trio in A 2.32
No.4 in A 2.52 NO.5 in F with Trio in A flat 3.44 NO.6 in D 2.10
NO.7 in B minor 1.54 NO.8 in G 2.43 No.9 in C 2.26 NO.l0 in F 2.48
NO.11 in B flat 2.14 NO.12 in G minor 0.52 NO.13 in C 0.31 NO.14 in G 1.02
NO.15 in B flat 0.46 NO.16 in F 0.39 NO.17 in B flat 1.06 No.18 in B flat 1.09
NO.19 in F 0.55 NO.20 in D 2.07

41 Waltz in E with trio in E D146 No. 3 2.37
42 Waltz in F with trio in B flat D146 No. 5 3.45

43-54 12 'Graz' Waltzes D924 10.54
NO.l in E 0.56 NO.2 in E 0.37 NO.3 in E 0.46 No.4 in A 0.42
No.5 in A 0.41 NO.6 in A 0.37 NO.7 in A minor 0.35 NO.8 in A 0.49
No.9 in C 0.35 No.l0 in A 1.43 NO.11 in G 0.59 NO.12 in E 1.49


Paolo Bordoni piano/Klavier

Recorded / Aufgenommen / Enregistré: 4-5.XI.1976 (CDl l-48). 8-9.11.1978 (CDl 49-84, CD2 1-20). 15-16.V. 1978 (CD2 21-54), Abbey Road, London
Producer / Produzent / Directeur artistique: John Mordler (CDl l-48), Beatrix Musker (CDl 49-84 & CD2)
Balance Engineer / Tonmeister / Ingénieur du son: Robert Gooch (CDl l-48 & CD2 21-54), Michael Sheady (CDl 49-84 & CD2 1-20)
Remastered at Abbey Road Studios
(P) 1978 © 2006 This compilation and digital remastering


Die Krankheit der Moderne



Pascal Bruckner

Pascal Bruckner (* 1948), einer der Vertreter der Nouvelle Philosophie.
Das europäische Individuum wird wie die Moderne, deren Rückgrat es darstellt, in eine Art Hilflosigkeit hineingeboren. Es ist aus dem Mittelalter hervorgegangen, in dem die Sozialordnung Vorrang vor dem einzelnen hatte, und taucht zu Beginn der Neuzeit auf, in der die Einzelperson nach und nach jegliche Form kollektiver Organisation verdrängt. Getragen von der christlichen Vorstellung individuellen Heils, geadelt durch die cartesianische Wende, die die Ausübung der Erkenntnis allein auf das cogito und die Reflexion stützt, ist das Individuum ein neues Produkt der westlichen Gesellschaft und tritt zwischen Renaissance und Revolution auf.

Unter Berufung auf Tocqueville preist man allgemein in ihm das Ergebnis einer doppelten Befreiung: von der Tradition und der Obrigkeit. Angeblich bekämpfte es erstere im Namen der Freiheit und lehnt letztere im Namen der zur Demokratie gehörenden Gleichheit ab. Es will sich weigern, sein Verhalten von einem äußeren Gesetz bestimmen zu lassen, und strebt die Befreiung von einer geistigen Sklaverei an, die früher die Menschen der Vergangenheit, der Gemeinschaft oder einer transzendenten Figur unterwarf (Gott, Kirche, Königtum). Nichts ist in diesem Zusammenhang grandioser als Kants Definition der Aufklärung als Befreiung des Menschen »aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« und die Eroberung der eigenen Autonomie durch jeden einzelnen, der hinfort den Mut besitzt, selbständig zu denken, ohne von jemand anderem gelenkt zu werden. Durch die Propagierung der Aufklärung und den allgemeinen Gebrauch der Vernunft ist die Menschheit angeblich in der Lage, aus der Barbarei vergangener Epochen herauszutreten und die eigene Mündigkeit zu erlangen (die inzwischen beinahe synonym mit Moderne ist) .

So verführerisch sie sein mag, hat sich diese Hoffnung nie bestätigt (ist allerdings auch nie dementiert worden). Seit Benjamin Constant ist das Individuum problematisch und setzt sich nicht durch, es ist größten Erwartungen und zugleich größten Befürchtungen unterworfen. Keiner der späteren Theoretiker des Individualismus verzichtet auf einen gewissen Pessimismus. Das Individuum als historische Schöpfung springt zwischen Begeisterung und Bestürzung hin und her. Der Willkür der Mächte ist es durch eine Reihe von Gesetzen entzogen, die seine Unverletzlichkeit garantieren (jedenfalls in einer konstitutionellen Regierungsform) , und es büßt für die Erlaubnis, sein eigener Herr zu sein, mit nicht enden wollender Zerbrechlichkeit. Bis dahin gehörten die Menschen einander, waren durch ein ganzes Netz von Beziehungen miteinander verbunden, das sie behinderte, ihnen jedoch eine bestimmte Lebensform und eine Stellung gewährte. Niemand war wirklich unabhängig, da ihn eine ganze Reihe von Pflichten und Diensten an seine Nächsten band, aber die Menschen waren in vielfacher Weise gemeinschaftsfähig.

Alexis de Tocqueville (1805-1859),
Begründer der vergleichenden Politikwissenschaft.
»Die Aristokratie hatte«, wie Tocqueville sagt, »alle Bürger in eine lange Kette eingereiht, die vom Bauern bis zum König reichte: Die Demokratie zerbricht die Kette und ordnet jeden Ring einzeln an.« Das Auseinanderbrechen der archaischen Zusammengehörigkeit (der Sippe, des Dorfes, der Familie, der Region) setzt diesem Zustand ein Ende. Jetzt, wo das Individuum jeglicher Verpflichtung entbunden ist und sich als Herr seiner selbst nur unter der Flagge seiner Vernunft wiederfindet, verliert es mit einem Mal die Sicherheit, die ihm vormals ein Ort, eine Ordnung, eine Bestimmung gewährten. Durch Erlangung der Freiheit hat es seine Sicherheit verloren und tritt in die Ära fortwährender Sorgen ein. Es hat gewissermaßen darunter zu leiden, daß es zu erfolgreich war.

Man selbst sein heißt schuldig sein

Dieses Schwanken zwischen Angst und überschwenglichem Jubel ist schon in den Bekenntnissen von Rousseau zu finden, die die literarische Geburtsurkunde des heutigen Individualismus sind. Die Genialität des Autors des Gesellschaftsvertrags besteht darin, daß er nicht nur ein Schöpfer war, sondern allein durch seinen Lebensbericht die Gesamtheit der Hoffnungen und Sackgassen, die den modernen Menschen erwartet, vorwegnahm. Wie all jene, die ihre Zeit damit verbringen, ihre in Verruf gekommene Ehre wiederherzustellen, verfaßte Rousseau die Bekenntnisse, um das negative Bild, das andere von ihm gezeichnet hatten, zu korrigieren und neu zu entwerfen.

»Ich wußte, daß man mich in der Öffentlichkeit mit Zügen malte, die so wenig den meinigen glichen und manchmal so häßlich waren, daß ich trotz des Schlechten, von dem ich nichts verschweigen wollte, nur gewinnen konnte, wenn ich mich so zeigte, wie ich war.« Er weigert sich, vor der Meinung anderer zu kuschen und preist sein Vorhaben: »Ich beginne ein Unternehmen, das bis heute beispiellos dasteht und dessen Ausführung keinen Nachahmer finden wird. Ich will meinen Mitgeschöpfen einen Menschen in seiner ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich selbst sein.« Denn jener Unedle, jener Vagabund erhebt Anspruch auf Wahrheit und auf Einzigartigkeit und weiß, daß letztere von universeller Reichweite ist. Aus seinem Anderssein schöpft er unbegrenzten Hochmut. »Ich kenne mein Inneres, und ich kenne die Menschen. Ich glaube keinem von allen, die ich gesehen habe; ich bin so kühn zu glauben, nicht wie ein einziger von denen geschaffen zu sein, die mit mir leben. Wenn ich auch nicht besser bin, so bin ich doch anders.«

Während Chateaubriand seine Erinnerungen/Von Jenseits des Grabes beginnt, indem er sich einer Linie zuordnet und seine Abstammung verrät: »Ich bin als Adeliger geboren«, behauptet Rousseau, am Anfang einer Geschichte zu stehen, die keiner anderen gleicht: Er möchte lieber auf seinem bescheidenen Niveau einzigartig sein als in der Tradition Größe erlangen. Da dieser Unterschied ihn von seinesgleichen isoliert - der Jean-Jacques, den die Menschen geformt haben, um darauf herumzutrampeln, ist er gar nicht -, muß er an seiner Rehabilitierung arbeiten, Feindseligkeit abwehren und sich den anderen so zeigen, wie er sich im Inneren fühlt. […]

Benjamin Constant (1767-1830),
liberaler Staatstheoretiker Schweizer Herkunft.
Ein Pyrrhussieg

Seit Jean-Jacques Rousseau sind die Zwänge, die auf jedem von uns lasten, unaufhörlich stärker geworden, und das proportional zu unserer Befreiung. In dem Maß, in dem sich der einzelne im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer mehr von seinen Fesseln befreite und neue Rechte eroberte, sind seine Sorgen paradoxerweise immer mehr gewachsen. Vergessen wir einen Augenblick die Determiniertheit durch Klassenzugehörigkeit und Zivilisation und konzentrieren uns auf eine abstrakte Person. Rousseau konnte, wenn er unglücklich war, auch die Düsternis seiner Zeit anklagen, die Willkür des Königs und der Kirche, die Intrigen seiner Philosophenfreunde (er wurde ebenso wie Voltaire und Diderot wegen seiner Schriften gequält, verfolgt, ins Exil gejagt, wenn er auch sein Unglück durch krankhaften Argwohn verschlimmerte). Wenigstens konnte er die Mächtigen seiner Zeit als Folterer hinstellen, die ihn zu verderben trachteten. Aber heute? Welche Institution soll ich für meine Probleme verantwortlich machen? In dem langen Streit, in dem seit dem Ende des Ancien régime das Individuum der Gesellschaft gegenübersteht, hat letztere sich zurückgezogen, greift nicht mehr in unser Leben ein und schreibt uns unser Verhalten nicht mehr vor.

Natürlich ist es immer noch möglich, sich in einen Verfolgungswahn hineinzusteigern und ein finsteres System für alle Schmerzen, die uns plagen, verantwortlich zu machen, eine Weltverschwörung zu erfinden, die um so gefährlicher ist, als sie sich nicht offen zeigt. Wie wir später sehen werden, ist die Ideologie der Opfer nur die Umkehrung der Theorie der unsichtbaren Hand: Hinter dem Chaos der Tatsachen und Ereignisse arbeitet ein böswilliges Schicksal an unserem Unglück, bemüht sich, uns zu verletzen und jeden von uns besonders zu demütigen. Je freier das moderne Subjekt sein will, je mehr es nur aus sich selbst seinen Lebenssinn und seine Werte schöpft, desto mehr neigt es dazu, ein grausames Schicksal zu beschwören, um sich von Zweifel und Angst zu befreien, eine beabsichtigte Unordnung, die es unter seiner Fuchtel hält und auf unerklärliche Weise zerstört. Diese List der bösartigen Vernunft, diese Verhexung der Mechanisierung kann mit Fortschreiten einer nach wie vor beanspruchten Unabhängigkeit nur wachsen, ist aber so belastend, so schmerzlich, daß sie Ventile braucht, seien diese magisch oder wahnhaft.

Es ist unübersehbar, daß der Sieg des Individuums über die Gesellschaft ein zweischneidiger Sieg ist und daß die Freiheiten, die ersterem zugestanden werden - Meinungsfreiheit, Gewissensfreiheit, Freiheit der Wahl, Freiheit zum Handeln - ein Danaergeschenk und die Kehrseite einer schrecklichen Forderung sind: Jeder hat jetzt die Aufgabe, sich selbst zu schaffen und Sinn in seinem Leben zu finden. Die Glaubensüberzeugungen, Vorurteile und Gebräuche von früher waren nicht nur unliebsame Bevormunder; sie schützten vor Zufällen und Unsicherheit und boten zum Ausgleich für den Gehorsam gegenüber den Gesetzen einer Gruppe oder Gemeinschaft eine gewisse Ruhe. Der Mensch von früher mußte sich zwar allen Arten von Zwängen unterwerfen, Opfer erbringen, die uns heute unerträglich scheinen, aber diese sicherten ihm einen Platz, gliederten ihn einer Ordnung ein, die es schon immer gab, in der er mit den anderen durch alle möglichen Arten von Pflichten verbunden war. So war er anerkannt und mit einer begrenzten Verantwortung versehen.

Jean-Jacques Rousseau (1712-1778),
der als erster an der Moderne erkrankte.
Der moderne Mensch hingegen, der eigentlich von jeder Verpflichtung frei ist, die er sich nicht selbst auferlegt hat, krümmt sich unter der Last einer Verantwortung, die im Grunde grenzenlos ist. Das bedeutet Individualismus: die Verlagerung der Schwerkraft der Gesellschaft auf den einzelnen, auf dem nun alle Knechtschaft der Freiheit ruht. Der Einzelmensch hat dadurch, daß er offenbarte Wahrheiten und Dogmen weggefegt hat, vielleicht an Bedeutung zugenommen; er hat sich aber in erster Linie geschwächt, sich jeden Halts beraubt. Er wurde aus der schützenden Muschelschale der Tradition, der Gebräuche, der Regeln geworfen und ist verwundbarer denn je. […]

Der Überdruß, man selbst zu sein

Eine doppelte Aufgabe erwartete früher die, welche den schönen Titel freier Mann oder freie Frau beanspruchten: Sie mußten sich von der Menge der Schafe isolieren und an dem, was sie werden wollten, arbeiten. Sie verließen die vielbetretenen Pfade, schlugen mit aller Kraft auf die bestehende Macht ein und lieferten sich deren Repressionen aus, sie formten sich, indem sie gegen den Vorrang einer Lebensweise, eines Glaubens, eines Wertes kämpften. Heute gibt es so etwas nicht mehr: Der Status des Individuums im Abendland ist nicht nur ein kollektives Phänomen, sondern er wird jedem schon aufgedrückt, bevor er überhaupt begonnen hat zu leben. Ich bin bereits ein solches, bevor ich aus diesem Privileg irgend etwas habe machen können. Ich teile es mit Millionen anderen.

Diese zugestandene, aber nicht erkämpfte Freiheit trifft uns wie der Strahl einer eiskalten Dusche. Wir sind im sartreschen Sinn dazu verurteilt, Individuen zu sein, wir sind zur Freiheit verurteilt. Und da dieser Status sowohl Rechte als auch Pflichten mit sich bringt, neigt das Individuum dazu, seine Pflichten zu vergessen und seine Rechte hochzuhalten, es hört nicht auf, die Freiheit, die es ebenso erfreut, wie sie es zuschüttet, breitzutreten. Leer, vage und verletzlich, als solcher entdeckt sich der Mensch in dem Augenblick, in dem alle ihm versichern, er sei der neue Monarch unseres ausgehenden Jahrhunderts. Und sein Unbehagen bleibt für sein Ideal konstitutiv.

Letzte Umkehrung: Das siegreiche Subjekt, das alle Widerstände, die ihm auf seinem Weg begegneten, beseitigt hat, sieht sich nun als Opfer seines eigenen Erfolgs. Der tapfere Condottiere, der sich gegen die herrschenden Mächte aufgelehnt und den Anspruch erhoben hat, nur noch nach eigenem Gutdünken zu handeln, ist über seinen Sieg verzweifelt. Gestern noch geißelte er die unerträglichen Übergriffe der Sozialordnung; heute beschuldigt er die Gesellschaft, daß sie ihn seinem Schicksal überläßt. Was er ist, beruht auf falschen Grundlagen: Sein Sieg sieht wie eine Niederlage aus. Die Rebellion des Einzigartigen gegen die Menge, gegen die Bourgeois und Biedermänner war nicht ohne Zweideutigkeit: diese verfluchten Gruppierungen gaben ihm durch ihre Unterdrückung auch eine gewisse Stärke. Die Behinderung war ein Hilfsmittel, das Hemmnis eine Quelle der Kraft, ein Ansporn zum Widerstand. Heute nimmt der Einzigartige es der Welt übel, daß sie ihm gestattet, er selbst zu sein, daß sie sich nicht mehr in seine Entscheidungen einmischt, und er sehnt sich nach ein wenig Verbotenem, nach Tabus.

Confessions (Die Bekenntnisse),
mit denen sich Rousseau selbst bloßstellte.
Auch diese Tendenz hat Rousseau auf geniale Weise vorweggenommen. Als er ein fortgeschrittenes Alter erreicht hat, diktiert ihm sein Bedauern, daß er nicht alle Vergnügen, nach denen sein Herz sich sehnte, genossen hat, folgende Sätze: »Mir schien es, als schulde mir das Schicksal noch etwas, das es mir noch nicht gegeben hatte. Warum hatte es mich mit ausgezeichneten Fähigkeiten geboren werden lassen, wenn es sie bis zum Ende ungenutzt ließ? Indem das Gefühl meines inneren Wertes mir das dieser Ungerechtigkeit gab, entschädigte es mich gewissermaßen und entlockte mir Tränen, die ich gern vergoß.«

In dem Wunsch, man selbst zu sein, steckt ein solches Verlangen nach Glück und Vollendung, daß das Leben unausweichlich Enttäuschung hervorrufen muß. Das Leben hat immer die Form eines Versprechens: Dieses »Versprechen im Morgengrauen«, um den Ausdruck Romain Garys aufzunehmen, ist unhaltbar, die tausend Wunder, die es uns vorspiegelt, treffen nur tropfenweise ein. Letzten Endes sind wir immer »betrogen«, und unser Leben stellt sich uns als Folge von Mißgeschicken, von verpaßten Gelegenheiten dar. »Zum Leben ward ich geboren, und ich sterbe, ohne gelebt zu haben.«

Diese Klage kann jeder von uns leise äußern: Ich hätte Besseres verdient, man ist mir Trost schuldig. Was die Menschen heute zusammenhält, ist dasselbe Unbehagen angesichts ihrer Identität, dasselbe Leiden an der Ungerechtigkeit des Schicksals, da sie sich ja nur selbst den Vorwurf für ihr Mißgeschick machen können. Selbst wenn es siegt, denkt das Individuum gerne, es sei besiegt: Es vermutet sogleich, daß bei seinem Sieg etwas Wesentliches verlorengegangen ist, die mütterliche Wärme der Tradition, die beschützende Vormundschaft des Kollektiven. Seine Not ist Ergebnis des Fortschritts und nicht das einer Niederlage, und es möchte auch als Sieger weiterhin als Verfolgter gelten.

Es wird deutlich geworden sein: Der Individualismus ist eine ebenso unüberwindliche wie unmögliche Fiktion. Selbst wenn die Klarheit über sich selbst ein Köder ist, das Ich eine fromme Lüge, erscheint es schwierig, auf die Idee eines organischen Sozialstaates zurückzukommen, auf eine Vision der Gesellschaft als großer kollektiver Seele, die uns von dem Problem, uns selbst schaffen zu müssen, befreit. Man kann das Subjekt des einzelnen erniedrigen, es in jeder Form herabwürdigen, es bleibt, bei all seiner Lächerlichkeit und Kläglichkeit unser einziger Maßstab, unser zentraler Wert, aber - um mit Habermas zu sprechen: Wir werden die Unvollkommenheit der Moderne nicht mit ihrer Niederlage verwechseln. Der Wunsch, Herr und seiner selbst verantwortlich zu sein, »jemand und nicht niemand« zu sein (Isaiah Berlin), bleibt grundlegend. Diesem Ideal muß man unablässig die verschiedenen Fälschungen entgegenhalten, die heutzutage im Namen des Individualismus im Umlauf sind und Erschöpfung und nicht Entfaltung des Subjekts bedeuten. Dennoch ist das Leben freier Männer und Frauen nichts als eine ganze Reihe von Rückfällen, Fällen von Feigheit, Routine und Unterwerfung.

Aus einer Jugendstil-Ausgabe der "Bekenntnisse" (1907).
Auf die berühmte Frage Stendhals: »Warum sind die Menschen in der modernen Welt nicht glücklich?« können wir antworten: Weil sie sich von allem befreit haben und feststellen, daß Freiheit zu leben unerträglich ist. Während Befreiung eine Art epischer und poetischer Größe hat, wenn sie uns von Unterdrückung erlöst, tyrannisiert die Freiheit uns mit ihren Forderungen, weil sie uns einspannt und verpflichtet. Dieser Schritt nach vorn ist auch ein Fluch: Der Grund, weshalb so viele Männer und Frauen sich mit Stammespolitik, Drogen, politischem Extremismus und mystischem Schund trösten. Der Grund, weshalb das moderne Individuum, das zwischen dem Bedürfnis zu glauben und seine Überzeugungen zu rechtfertigen, zerrissen ist, auch ein professioneller Abtrünniger ist, der Nomade ständigen Leugnens, der im Lauf eines einzigen Lebens eine Menge von Überzeugungen und Ideen annimmt und wieder verwirft, durch ebenso kurzlebige wie unnachgiebige Gefolgschaften. Die Geschichte des Individuums ist nichts als die Geschichte seines ständigen Abschwörens, die der tausend Listen, durch die es versucht, der Anweisung, es selbst zu sein, zu entkommen, »andauernd und unwiederbringlich im Bann seines Gegenteils«, ist es die Summe der Kündigungen und Zuckungen, die seine Laufbahn begleiten.

Glücklicherweise gibt es ein magisches Universum, um unsere Verletzungen zu mildern, einen köstlichen Kokon, in dem wir Trost und Erleichterung finden. Wir wissen seit Max Weber (und Marcel Gauchet), daß wir in einer Welt der Entzauberung leben. Das Judentum hat als erstes mit den heidnischen Gottheiten gebrochen und einen einzigen Gott postuliert, das Christentum bestärkte es darin, durch die galileische Revolution, die die Natur mathematisiert hat, nahm die Entwicklung ihren Fortgang, die Entzauberung hat die Geburt der instrumentellen Vernunft, der modernen Technik und Wissenschaft ermöglicht. Dank der Entzauberung sehen wir nicht mehr hinter jedem Phänomen eine böse oder gute Kraft, sondern eine Gegebenheit, die berechenbar und damit beherrschbar ist.

Seit der Romantik hat die Entzauberung eine ganze kritische Richtung gespeist, die der Industriegesellschaft vorwirft, das Heilige entweiht zu haben, Gefühle, Werte, Landschaften und natürliche Ressourcen dem erbarmungslosen Beil des Profits und der Ausbeutung zum Opfer dargebracht zu haben. Der Preis für den fortschreitenden Kapitalismus wäre demnach eine schreckliche Entpoetisierung, und alle Revolten, die in den letzten zweihundert Jahren stattfanden, haben die Fahne des Enthusiasmus und des Gefühls gegen die verarmende Rationalisierung erhoben. Die Feststellung ist richtig. Sie muß nur an einem Punkt nuanciert werden: Das liberale System hat mit einer ganz und gar originellen Erfindung auf die Härte solcher Bedingungen und auf diese freigesetzte Kälte reagiert - mit dem Konsum. Die Freizeitvergnügen, die Unterhaltung, der materielle Reichtum sind auf ihre Weise ein pathetischer Versuch, die Welt wieder zu verzaubern, eine der Antworten der Moderne auf das Leiden, frei zu sein, auf den endlosen Verdruß, man selbst zu sein.

Quelle: Pascal Bruckner: Ich leide, also bin ich. Die Krankheit der Moderne. Eine Streitschrift (Übersetzt von Christiane Landgrebe). Linzenzausgabe für die Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main und Wien, 1997. ISBN 3 7632 4627 4. Zitate: Seiten 21-24, 33-35, 45-50

[Rezension aus dem Erscheinungsjahr]


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Franz Schubert: Das umfangreiche Werk für Klavierduett

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“Unsere Pianisten ahnen nicht, was für Schätze sie in den Klavierwerken Schuberts finden könnten. (…) Oh, Du vertrauter Held des Himmels meiner Kindheit, Du! Schöner Klang, Frische, Kraft, Anmutigkeit, Träumerei, Leidenschaft, Besänftigung, Tränen und Flammen strömen aus Dir, aus den Tiefen und Höhen des Herzens, und lässt uns durch den Zauber deines Gemüts beinahe die Größe deines Meistertums vergessen!” (Franz Liszt, 1861)

In seiner Bewunderung für Schubert war Franz Liszt seiner Zeit weit voraus. Als Ernst von Dohnányi 50 Jahre später die Sonaten von Schubert in sein Konzertprogramm aufnahm, galt es noch als eine bahnbrechende Unternehmung, die auf Unverständnis stieß.

Zum Glück steht es mit Schubert heute anders, jedoch blieb sein umfangreiches Werk für Klavierduett noch immer relativ unbekannt. „Nähert man sich diesem gewaltigen Œuvre, dann möchte man es für absurd halten, daß so viele Schubertsche Meisterwerke, die dem Vergleich mit der »Wandererfantasie« oder großen Symphonie-Sätzen ohne weiteres standhalten, in unserem Musikleben nahezu unbekannt sind.“ (Joachim Kaiser)


TRACKLIST

Franz Schubert (1797-1828)

Music for piano duet

CD 1

Vier Ländler D 814
01. No.1 in E flat major 00:56
02. No.2 in A flat major 00:54
03. No.3 in C minor 00:39
04. No.4 in A flat major 01:31

Fantasie in F minor, D 940
05. I. Allegro molto moderato 04:35
06. II. Largo 03:00
07. III. Allegro vivace 11:07

08. Lebensstürme in A minor D 947 17:16

Divertissment á la Francaise in Em, D.823
09. 1. Divertissement en forme d'une marche
brillante et raisonnée 14:42
10. 2. Andantino variée 09:00
11. 3. Rondeau brillant 10:29

Total time: 74:15


CD 2

Divertissement à la Hongroise in G minor D 818
01. I. Andante 12:55
02. II. Marcia 03:47
03. III. Allegretto 15:21

Grand Duo in C major D 812
04. I. Allegro moderato 18:06
05. II. Andante 11:06
06. III. Scherzo, allegro vivace 06:51
07. IV. Allegro vivace 11:17

Total time: 79:28


CD 3

Six Grandes Marches et Trios D 819
01. No.1 in E flat major - Allegro maestoso 08:32
02. No.2 in G minor - Allegro ma non troppo 06:40
03. No.3 in B minor - Allegretto 09:17
04. No.4 in D major - Allegro maestoso 10:07
05. No.5 in E flat minor - Andante 13:34
06. No.6 in E major - Allegro con brio 07:31

Trois Marches Militaires D 733
07. No.1 in D major - Allegro vivace 04:29
08. No.2 in G major - Allegro molto moderato 03:38
09. No.3 in E flat major - Allegro moderato 06:07

10. Deutscher Tanz in G minor D 618 05:20

11. Zwei Ländler in E major D 618 02:05

Total time: 79:24


CD 4

01. Grande Marche Funèbre in C minor D 859 10:54

02. Grande Marche Héroïque in A minor D 885 17:26

03. Kindermarsch in G minor D 928 03:25

Deux Marches Caractéristiques
04. No.1 in C major D 886 - Allegro vivace 07:03
05. No.2 in C major D 968b - Allegro vivace 07:45

Trois Marches Héroïques D 602
06. No.1 in B minor - Allegro moderato 05:26
07. No.2 in C major - Maestoso 06:15
08. No.3 in D major - moderato 07:07

09. Grand Rondeau in A major D 951 -
Allegretto quasi andantino 12:59

Total time: 78:26


Christoph Eschenbach & Justus Frantz, piano duet

Recording: Abbey Road Studios, London, 1978/79
Producer: John Willan
Engineer: Robert Gooch


Die Krise des Optimismus und die Geburt der Geschichtsphilosophie



Odo Marquard

Odo Marquard (1928-2015), Professor der Philosophie in Gießen.
Vor 250 Jahren, genauer am 1. November 1755, bebte die Erde in Lissabon. Es starben 30000 Menschen, einige zählen sogar 60000 Tote. Ende des Jahres 1755 schrieb Voltaire unter dem Eindruck dieses Erdbebens sein »Poème sur le désastre de Lisbonne«, das er 1756 veröffentlichte. Es beginnt mit Versen der Klage, in Übersetzung: »Ihr Unglücklichen und euer Land seid zu beklagen! / Du entsetzliche Ansammlung, ach, aller Plagen! / Schmerz, der sinnlos doch ist, aber ewig nicht ruht! / Philosophen, irrend, sagen: Alles ist gut. / Kommt, das Unglück bedenkt!« Und dann widmet sich Voltaire jener optimismuskritischen Überlegung, die der Untertitel des Gedichts verspricht: »Prüfung des Axioms Alles ist gut.«

Ich knüpfe hier an diese Überlegung - also an Voltaires Kritik des Optimismus - an und möchte dabei philosophisch zeigen, daß diese Kritik des Optimismus unter anderem zur spezifisch modernen Geburt der Geschichtsphilosophie - einer Art post-theistischer Theodizee mit futurisiertem Über-Optimismus - führt; und ich ergänze das - auch als Kritik dieser Geschichtsphilosophie, die es ja erst neuzeitlich nach der Mitte des 18. Jahrhunderts seit der von Reinhart Koselleck so getauften »Sattelzeit« gibt - durch einige weitere Überlegungen. Ich versuche, die These meines Vortrags in folgenden vier Abschnitten zu begründen und zu erläutern: 1. Optimismus; 2. Atheismus ad maiorem Dei gloriam; 3. Verfallsgeschichte, Fortschrittsgeschichte, Totalgeschichte; 4. Verfeindungszwänge, Zerbrechlichkeiten, Kompensationen. Ich beginne meinen Vortrag - den Üblichkeiten entsprechend - mit Abschnitt:

1. Optimismus

Den Ausdruck »optimlsme« haben 1737 im Journal de Trévoux französische Jesuiten leibnizkritisch geprägt. Für Leibniz selber stand der Ausdruck noch nicht zur Verfügung, aber seine Essais de Theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l'homme et l'origine du mal von 1710 sind der Sache nach ein »System des Optimismus«, denn sie verteidigen - in einem Prozeß Mensch gegen Gott in Dingen Übel in der Welt - Gott als Schöpfer der von ihm geschaffenen Welt durch das Argument: Diese Welt ist die bestmögliche Welt. Wie kommt es zu diesem Optimismus?

Das Erdbeben von Lissabon, 1. November 1755. Zeitgenössisches Flugblatt.
Der Optimismus ist eine Gegenposition gegen die Gnosis, insbesondere, wenn man Hans Blumenbergs These aus seiner Legitimität der Neuzeit von 1966 favorisiert, die da lautet: »Die Neuzeit ist die zweite Überwindung der Gnosis.« Leibniz plädiert für die Neuzeit. Seine Theodizee ist, wie man ohne Mühe aus ihr entnehmen kann, wesentlich auch eine Auseinandersetzung mit dem französischen Skeptiker Pierre Bayle und seinem Dictionnaire historique et critique von 1695/97, das ein Überwiegen der Übel in dieser Welt behauptete. Der in der Leibniz-Theodizee meistzitierte Artikel dieses dort meistzitierten Werks ist der Artikel über die Manichäer, ein auch zitierter Artikel ist der über die Markioniten. In diesen Artikeln referiert Bayle - mit großer Sympathie - die gnostische Position. Gnosis ist die Positivierung der Weltfremdheit durch Negativierung der Welt und ihres Schöpfers. Sie wurde - als christliche Häresie - theologisch-philosophisch in den ersten Jahrhunderten nach Christus zusätzlich eindrucksvoll durch die Verzögerung der Parusie: durch das Ausbleiben des kommenden Heilsreichs. Die Gnosis - insbesondere, wie sie durch den 160 gestorbenen Markion geltend gemacht wurde - behauptet, daß der Schöpfergott - der sich auch gegen die Erlösung stemmt - als Demiurg einer übelhaltigen Welt böse und daß der Erlösergott - als ein dem Schöpfergott gegenüber anderer und fremder - gut sei, indem er die böse Welt des bösen Schöpfers aufhebt zugunsten einer neuen und heilen Welt.

Adolf von Harnack - vgl. sein Buch Marcion von 1921, 2. Auflage von 1924 - hat gezeigt, daß die christliche Kirche gegen diese Häresie entstanden ist, und Hans Blumenberg hat, ihn überbietend, zu zeigen versucht, daß die mittelalterliche Philosophie die erste Überwindung dieser Gnosis ist und daß - nach ihrem Scheitern durch die nominalistische Ausrufung eines der Welt verborgenen und souveränen Willkürgottes - die neuzeitliche Philosophie die zweite Überwindung dieser gnostischen Häresie ist, die die Welt negiert und den Schöpfergott als böse erfährt. Diese neuzeitliche Philosophie führt - gegen die gnostische Weltnegation - zur Weltbewahrung und muß das durch Positivierung der Welt und Positivierung ihres Schöpfers zeigen. Das eben zwingt philosophisch zum Optimismus. Zu dieser antignostischen Neuzeittendenz zur Positivierung von Schöpfergott und Welt trägt zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Theodizee von Leibniz zentral bei: durch sein »System des Optimismus«.

Erstausgabe der »Théodicée«,
Amsterdam 1710.
Die Theodizee von Leibniz ist eine juristisch zu nehmende Verteidigungsschrift in einem Anklageprozeß: sie verteidigt den angeklagten Gott gegen den Ankläger Mensch. Dabei ist wichtig, daß später auch die Geschichtsphilosophie solch eine Prozeßphilosophie sein wird. Die Frage nach der gerechten Güte Gottes angesichts der Übel der von ihm geschaffenen Welt hat erst Leibniz »Theodizee« genannt. Er hat die Übel der Welt unterschieden in metaphysische Übel, moralische Übel und physische Übel, zu denen traditionell auch die Erdbeben gehören. Das Erdbeben von Lissabon hat den Glauben an die Zentralbedeutung der moralischen Übel erschüttert: die physischen Übel gelten fortan nicht mehr durchweg als Strafen Gottes, und die metaphysischen Übel - Endlichkeit und Vergänglichkeit - werden nachoptimistisch positiviert. Der Sache nach ist die Theodizeefrage alt: sie wird aufgeworfen etwa im biblischen Buch Hiob; und die Formel »Si Deus, unde malum?« steht immerhin - Bezug nehmend auf Epikur - schon in De ira Dei von Laktanz und wird später abgehandelt in metaphysischen Kapiteln »De causa Dei«, was man übersetzen kann mit »Der Fall Gott«. Wenn es Gott gibt, woher dann die Übel? Und wenn es die Übel gibt, wo bleiben dann Gottes Gerechtigkeit und Güte?

In seiner Theodizee gibt Leibniz jene Antwort, die mit der »Wahl des Passendsten« und dem »Prinzip des Besten« zusammenhängt durch den nüchtern um Verständnis für Gott werbenden Gedanken: Gott ist gut und gerecht nicht wie ein weltfremder Gesinnungsschöpfer mit einem gegenüber Folgen rücksichtslosen Alles-oder-nichts-Prinzip, sondern er ist gut und gerecht wie ein weltkluger Verantwortungsschöpfer, der - auf Kompossibilitäten achtend bei den vielen möglichen Welten und dabei wie ein Politiker auch »Kröten schlucken muß«, um Sinnvolles durchzusetzen - durch die Grenznutzenanalyse einer Optimierungskalkulation jenes Minimum an Übel in Kauf nehmen muß, das ein Maximum an Gütern so ermöglicht, daß das Schöpfungsoptimum entsteht und besteht. Er muß also auch Übel »zulassen« als conditiones sine quibus non nicht der schattenfrei guten, sondern nur der besten, der Optimalwelt: Schöpfung ist die Kunst des Bestmöglichen. Gott - der Schöpfergott - ist nicht der, der es - das Gegenteil von »gut« ist »gut gemeint« - als weltfremder Fundamentalkreator gut nur meint, sondern er ist - sozusagen pragmatisch - als Realkreator der bestmögliche Gott der bestmöglichen Welt. Diese »optimistische« Lösung hat zugleich den Essay on man 1733/34 von Alexander Pope geprägt.

2. Atheismus ad maiorem Dei gloriam

Die Kritik dieser optimistischen Position treibt auf folgende Frage zu: Wenn die bestmögliche Schöpfung nur die bestmögliche ist und unvermeidlich Übel einschließt, warum hat Gott das Schaffen dann nicht bleibenlassen? Diese Frage - in Leibnizscher Form »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?« - bildet den Hintergrund jener Krise des Optimismus, die 1755 durch die Katastrophe des Erdbebens von Lissabon weltweit schrecklichen Eindruck machte. »Das 18. Jahrhundert verwendet das Wort Lissabon etwa so, wie wir heute das Wort Auschwitz verwenden«, schreibt Susan Neiman in ihrem brillanten Buch Evil in Modern Thought von 2002, das 2004 als Das Böse denken ins Deutsche übersetzt ist. Ich stelle nun hier - wie einleitend schon gesagt - die These auf, daß diese Krise des Optimismus zur modernen Geburt der Geschichtsphilosophie - einer Art post-theistischer Theodizee mit futurisiertem Über-Optimismus - geführt hat. Diese Geschichtsphilosophie begreift - ihrer Tendenz nach - die Welt nicht mehr als Schöpfung Gottes, sondern - weil die Welt sich nicht mehr als gute Schöpfung Gottes verstehen läßt - als Schöpfung des Menschen: als Geschichte mit problematischer Gegenwart, aber guter Zukunft.

Erstausgabe des »Candide«, Genf 1759.
Diese Geburt der Geschichtsphilosophie setzt also voraus, daß das Leibnizsche - und auch das Popesche - »System des Optimismus« in eine Krise gerät und zusammenbricht, weil die Erfahrung der Weltübel sich radikalisiert. Die Katastrophe von Lissabon und ihre antioptimistische Deutung wird verarbeitet durch Voltaires »Poème sur le désastre de Lisbonne« und seinen Roman Candide ou l'Optimisme aus dem Jahr 1759: die Satire trifft mit der Figur des Pangloss den Philosophen der bestmöglichen Welt. Ihre Kritik wurde - zumal ein traditionelles Alibi Gottes, der Teufel, wenig früher von Descartes als »genius malignus« zum Argumentationskniff im Kontext des »methodischen Zweifels« entwirklicht worden war und dadurch als reale Größe zur Entlastung Gottes ausfiel - nicht nur durch das Erdbeben von Lissabon sinnenfällig und - durch das Mitleid der europäischen Welt - verschärft.

Es waren zuvor - nicht allein durch Pierre Bayles Réponse aux questions d'un Provincial von 1704 und Pierre Louis Moreau de Maupertuis'Essai de philosophie morale von 1749 - Zweifel am Optimismus philosophisch längst geäußert: Belege sind u. a. die Position Philo in David Humes bereits ab 1751 geschriebenen Dialogues concerning Natural Religion und die - gegen Popes Essay on man sich richtende, aber Leibniz meinende - Widerlegungsintention der ja schon 1753 formulierten Optimismuspreisfrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Es gab zudem die Erinnerung an die konfessionellen Bürgerkriege, es gab die frühgrüne Negativerfahrung der Naturferne der Kultur seit 1750 durch Rousseau. Es kommt zu neuen Krankheitserfahrungen und - vgl. Michel Foucault - zur »Geburt der Klinik«, es kommt - Wolf Lepenies hat das interpretiert - zur Ausbreitung der »Melancholie«. Es kommt 1764 - Horace Walpole, The Castle of Otranto - zur Erfindung der literarischen Angstgenera. Es gibt die Unzufriedenheit des dritten Standes mit dem Staat der absoluten Monarchie.

Candide wird aus dem Schloss verjagt.
Illustration zum ersten Kapitel des »Candide«.
Kant - der 1756 drei Texte über das Erdbeben von Lissabon veröffentlichte - führt 1764 die »negativen Größen« in die »Weltweisheit« ein und artikuliert die »Realrepugnanzen«, die später als Widersprüche der Geschichte auffällig werden. Und er entdeckt 1769 - im Jahr seiner Notiz über das »große Licht« - die »Antinomien«, also die Widersprüche der Vernunft bei der Diskussion des Unbedingten und damit die erschreckende Möglichkeit, daß die Vernunft, der Garant der Aufklärung, selber als genius malignus zu wirken vermag: das sind die Anfänge der Ideologiekritik. Angesichts dieser und manch anderer Neuerfahrung von Übeln zerbricht die optimistische Leibnizlösung der Theodizee, und die Theodizeefrage - so immer mehr der Krise des Optimismus ausgesetzt - wird jetzt radikal und verlangt nach Radikalbeantwortung der genannten Radikalfrage: Wenn die bestmögliche Welt unvermeidlich Übel einschließt, warum hat Gott das Schaffen dann nicht bleibenlassen?

Als radikale Antwort auf diese radikale Frage entsteht die Geschichtsphilosophie, und diese Antwort lautet: Gott ›hat‹ das Schaffen bleibenlassen, denn nicht Gott ist der Schöpfer der Welt, sondern - als Schöpfer des Menschenwerks Geschichte - der Mensch. Dadurch scheidet Gott in der Prozeßphilosophie Theodizee als Angeklagter aus, und es rückt - als Angeklagter der Prozeßphilosophie Geschichtsphilosophie - an seiner Stelle jetzt der Mensch ein. Die Schöpfung des Menschen - die Geschichte also - ist, im Unterschied zur Schöpfung Gottes, die angeblich gut ist, jene Schöpfung, die gut nicht ist, sondern gut erst - in der Zukunft - sein wird: als fortschrittliche Herbeiführung einer zukünftig heilen Welt.

Das ist - als extreme Autonomiephilosophie, die Gott theodizeemäßig von der Schöpferschaft entlastet - eine Theodizee durch einen Atheismus ad maiorem Dei gloriam. Sie ist - sozusagen als umgedrehter physiologischer Gottesbeweis - der Schluß von der Güte Gottes auf seine Nichtexistenz: Gott bleibt - angesichts der Übel in der Welt - der gute Gott nur dann, wenn es ihn nicht gibt, oder jedenfalls: wenn Gott der Schöpfer der Welt nicht ist. Die hierbei leitende These ist also: Diese Philosophie des Autonomismus des Menschen hat Theodizeesinn, nämlich Verteidigungswert in bezug auf Gott. Sie entlastet Gott von der Anklagefrage der Theodizee, weil diese Autonomiephilosophie - als post-theistische Theodizee - eine extreme Entlastung Gottes, nämlich die tendenzielle Verabschiedung Gottes ist. Dadurch entsteht - um es auf eine philosophische Formel zu bringen - durch die Krise des Optimismus die Geschichtsphilosophie, die also ist: eine säkularisierte Theodizee, sozusagen (wie man der Chirurgie zuweilen nachsagt: Operation gelungen, Patient tot): Theodizee gelungen, Gott tot.

»The Savage Man«, Karikatur nach einer Skizze von James Boswell; unbekannter Stecher, 1767.

Der wilde Mann ist Rousseau, er steht im Zentrum; rechts von ihm steht Voltaire, der ein Steckenpferd reitet, er schlägt
 nach Rousseau mit einem Taschentuch und sagt: »Ich werde ihm die Menschlichkeit schon einpeitschen.« Im Hintergrund
tummeln sich prädarwinistische Affen mit der Sprechblase von Rousseaus Werk »Discours sur l’inégalité parmi les
 hommes« von 1755. Der wilde Mann Rousseau wirft das Geld weg (im Stil des Diogenes) und tritt Rentenpapiere und
 geöffnete Briefe mit Füßen. Links von ihm steht Hume, der ihn nach England eingeladen hatte, mit einem Futtertrog.
3. Verfallsgeschichte, Fortschrittsgeschichte, Totalgeschichte

Das konkrete Pensum dieser autonomistischen Geschichtsphilosophie, die im 18. Jahrhundert aus der Krise des Optimismus entsteht, liegt konsequenterweise darin, nachzuweisen, daß Gott deswegen der Schöpfer der Welt nicht ist, weil ein anderer als Gott der Schöpfer der Welt ist, nämlich der Mensch: und die Welt als Menschenwerk ist die Geschichte. Dazu gehört - nachdem bisher ontologische Bonität nur das Unveränderliche hatte - die ontologische Positivierung der Wandelbarkeit mit dem ungeheuren Wichtigkeitsgewinn nun der Geschichte: zunächst als Entwicklung und Fortschritt. So entsteht - im Umkreis des Erdbebens von Lissabon aus dem Jahre 1755 - die moderne Geschichtsphilosophie.

Es ist begriffsgeschichtlich symptomatisch, daß es 1756 zum Ausdruck »Geschichtsphilosophie« kommt: eben in diesem Jahr - direkt nach dem Erdbeben von Lissabon - hat Voltaire seinen Essai sur l'histoire générale et sur les moeurs et l'esprit des nations veröffentlicht: in seiner zweiten Auflage 1765 wird die Einleitung ausdrücklich als »Philosophie de l'histoire« bezeichnet. Sie ist - als Gegenstück zu Bossuets Discours sur l'histoire Universelle von 1681: vor allem Karl Löwith hat das herausgearbeitet - nicht mehr Vorsehungsgeschichte, sondern Fortschrittsgeschichte mit den Menschen als Tätern. Diese Geschichtsphilosophie - ihre Akzentuierung gehört zu meinen Thesen - durchläuft mehrere historische Stationen, die ich hier in drei Unterabschnitten bündele: die vom Menschen - diesseits von Gott - gemachte Welt als Geschichte ist entweder Verfallsgeschichte, für die Rousseau repräsentativ ist, oder moderate Fortschrittsgeschichte, für die Kant repräsentativ ist, oder Totalgeschichte, für die Fichte repräsentativ ist. Ich deute den Ansatz dieser Geschichtsphilosophien an. Da ist:

a) die Geschichtsphilosophie als Theorie der Verfallsgeschichte. Für sie steht Jean-Jacques Rousseau. In seinem Brief an Voltaire über die Vorsehung von 1756 verteidigt Rousseau zwar den »Optimismus«, aber - was nach seiner Preisschrift von Dijon Abhandlung über die Wissenschaften und Künste von 1750 naheliegt - mit einer Variante, die entscheidend ist: Nicht alles ›ist‹ gut, sondern alles ›war‹ gut, aber es ist nicht mehr gut: und das kommt vom Menschen. Das zeigt sich im Anfangssatz des Émile von 1762: »Alles ist« - war - »gut, soweit es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht, alles wird schlecht (degeneriert sich) unter den Händen des Menschen.« Aber nicht die Hände des Schöpfers Gott, sondern die Hände des Menschen machen die Geschichte, und die Geschichte - die nicht von Gott, sondern vom Menschen kommt - ist Verfallsgeschichte. Zwar ist die Natur gut, der Mensch aber durch Kultur - macht sie schlecht. Darum - das ist die Lehre aus dieser verfallstheoretischen Philosophie der Geschichte, die eben dadurch auch Möglichkeiten für den Menschen eröffnet, gegen das (etwa durch Pädagogik) verfallsgeschichtliche Übel der Kultur anzugehen - muß man über die gegenwärtige Verfallsgestalt der menschlichen Verfallsgeschichte hinausgehen »zurück zur Natur«. Da ist:

Charles Grignon: Voltaire und Rousseau, 1767, Titelblatt eines Werks
 von Johann Heinrich Füßli. [Quelle]

Die Figur links ist Rousseau; er hat in seiner linken Hand ein Lot, den
 Maßstab des Richtigen. Voltaire reitet auf einem nackten Mann, der auf allen
 Vieren kriecht - der ursprünglich freie Mensch. Am Galgen sind die
Gerechtigkeit und die Freiheit aufgehängt. Auf dem Galgen steht das Modell
 eines Tempels, der dem Gott der Freiheit geweiht ist (Iovi Liberatori).
b) die Geschichtsphilosophie als moderate Theorie der Fortschrittsgeschichte. Für sie steht Immanuel Kant, und zwar nicht nur in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784, sondern zuvor schon in der wissenschaftsgeschichtlichen Fortschrittsgeschichte seiner Kritik der reinen Vernunft von 1781 und - in zweiter Auflage - von 1787, wo er allerdings weniger vom Fortschritt, mehr von den »Revolutionen« schreibt, die die modernen Laborwissenschaften zum »sicheren Gang einer Wissenschaft« gebracht haben, bei denen es darum geht, an »ihrem Fortschreiten zum Besseren nicht zu verzweifeln, sondern [...] die Annäherung zu diesem Ziele [...] zu befördern«, wie Kant in seiner seit 1772 gehaltenen Anthropologievorlesung darlegt; und dieses Ziel ist: exakte Wissenschaften sollen sein und fortschreiten.

Kant unterscheidet in seiner Kritik der reinen Vernunft zwischen »Dingen an sich« und »Erscheinungen«. Jene - die »Dinge an sich« - sind göttliche Vorgaben, diese - die »Erscheinungen« - sind Produktionen des Menschen. Dabei ist es wichtig, zu sehen: Kants Theorie in der Kritik der reinen Vernunft ist keine allgemeine Erkenntnistheorie, sondern eine Theorie der - durch Newton geprägten - mathematischen Naturwissenschaften, die er - anders als Rousseau - positiv begreift, wenn sie sich nicht unheilvoll mit lebensweltlicher Ding-ansich-Erkenntnis verwechseln und dadurch in Antinomien verfallen. Das kritisiert Kants Metaphysikkritik: daß Laborwissenschaft verwechslungsphysisch zu Ding-an-sich-Erkenntnissen gemacht werden sollen, daß Reduktionismen metaphysisch wild werden. Weil die Laborwissenschaften die göttliche Erkenntnis so nach Kant nicht mehr repräsentieren, werden sie häresieunfähig mit halbwegs uneingeschränkten Neugierlizenzen.

Bei Kant wird diese These ungemein vorsichtig entwickelt: Es ist nur die - in ihren formalen Bedingungen aus dem menschlichen Ich entspringende - Laborwissenschaftswelt der »Erscheinungen«, nicht die Lebenswelt der »Dinge an sich«, die durch das menschliche Bewußtseins-Ich produziert wird, und es ist die Geschichte der Fortschritte dieser Laborwissenschaftswelt, die - wie die allgemeine Geschichte in weltbürgerlicher Absicht - vom Menschen gemacht wird, so daß der Weltschöpfer Gott durch den Erscheinungsweltschöpfer Mensch entlastet wird. Abgesehen davon verwirft Kant - der in seiner Frühzeit noch den Leibnizschen »Optimismus« zu vertreten versuchte - aus Gründen seiner Ethik alle anderen Formen einer Theodizee, die schreibt er 1791 im Aufsatz Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee - »mißlingen« müsse: sie dürfe nicht »doctrinal« Scheinlösungen bieten, sondern müsse »authentisch« offenbleiben. Kants Philosophie entlastet Gott - sozusagen halb - durch eine vorsichtige - für mich sehr sympathische - Geschichtsphilosophie des Wissenschaftsfortschritts. Da ist:

Das am 18. Oktober 1864 in Königsberg enthüllte
und 1945 (in der nun Kaliningrad genannten Stadt)
von den Russen verschleppte Standbild des
Philosophen Immanuel Kant entstand nach
 einem Entwurf von Christian Daniel Rauch. Auf
Initiative von Marion Gräfin Dönhoff wurde es
 nachgegossen und 1992 wieder aufgestellt.
c) die Geschichtsphilosophie als Theorie der Totalgeschichte. Für sie steht Johann Gottlieb Fichte. Anfangs - in seinen Aphorismen über Religion und Deismus von 1790 ist auch für Fichte Gott der Schöpfer, so daß er zum Optimismus neigt: Gott ist alles, und darum ist die menschliche Freiheit nichts (außer einem Wunsch des Herzens, den die Religion artikuliert). Aber Fichte - in seiner Aenesidemus-Rezension von 1792 - favorisiert alsbald die gegenteilige These: Das menschliche Ich ist alles, und darum muß Gott nichts sein (außer - wie Fichte in seinem Versuch einer Kritik aller Offenbarung von 1792 zuerst formuliert - ein moralisches Gesetzespostulat). Bei dieser Konversion Fichtes ist erneut jenes optimismuskritische Theodizeemotiv wirksam, das Gott entlastet, indem es den Menschen belastet: Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794 gibt auf die radikal gewordene Theodizeefrage - Warum hat Gott angesichts der Übel in der Welt das Schaffen nicht bleibenlassen? - die radikale Antwort: Nicht Gott hat die Welt geschaffen, sondern das menschliche Ich. Die geschichtliche Ichwerdung des Ich wird zur Weltwerdung der Welt.

Fichtes scheinbar maßlose philosophische Zentralisierung des Ich ist - wegen ihrer keineswegs gottesfeindlichen, sondern gottesfreundlichen Absicht, Gott durch Ermächtigung des Ich zu entlasten - eine optimismuskritische Theodizee durch Autonomiephilosophie: sie verwandelt Gottes totale Weltschöpfung in des Menschen totale Geschichtsschöpfung - in die »pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes« mit futurisiertem Über-Optimismus - und so in eine Philosophie der Totalgeschichte mit absoluter Zielgewißheit: der zukünftigen heilen Welt. Das hat nicht Hegel, der ja die Zukunft offenließ, sondern Marx wiederholt, der sozusagen ein konsequenter - umgedrehter - Fichteaner war. Den Fichte der frühen Wissenschaftslehre - der ein philosophischer Prediger war, ein unerbittlicher Evidenzmissionar, ein Weltverbesserungseiferer mit der Fähigkeit, die Dinge absolut auf die Spitze zu treiben - führte sie zur totalen Geschichtsphilosophie der totalen Geschichte.

Das sind einige Stationen der Geschichtsphilosophie, die im 18. Jahrhundert durch die Krise des Optimismus entstand: durch den Weg vom unwandelbaren Schöpfer Gott und dem optimistischen »Alles ist gut« zu dem - angeblich - sehr wandelbaren Menschen und seiner Schöpfung Geschichte mit dem negativitätsbedachten ›wenig ist gut, aber alles wird schließlich gut sein‹, also vom Prinzip Ewigkeit zum Prinzip Zukunft, vom Optimismus zum geschichtsphilosophischen futurisierten Über-Optimismus.

Französische Revolutionäre werden zur Hinrichtung gebracht,
Szene aus dem Jahr 1790. (Vermutlich eine Illustration aus
Charles Dickens‘ »A Tale of Two Cities«.)
4. Verfeindungszwänge, Zerbrechlichkeiten, Kompensationen

In bezug auf diese Geschichtsphilosophie, die im 18. Jahrhundert durch die Krise des Optimismus entstand, sind - je nach Ansatz unterschiedlich - kritische Bemerkungen fällig. Wenn es nämlich schon für Gott so unaushaltbar schwer war, guter und gerechter Weltschöpfer zu sein, daß - angesichts der Übel - der Mensch ihn (geschichtsphilosophisch) aus dieser Rolle und Verantwortung entlasten mußte, um wie vieles mehr ist es dann für den Menschen - das Ich - unaushaltbar schwer, Weltschöpfer zu sein, und um wie vieles mehr muß dann - angesichts der Übel - für die Menschen das Bedürfnis entstehen, aus dieser Rolle und Verantwortung des Schöpfers der Weltgeschichte seinerseits entlastet zu werden. Der Mensch kann - im Kontext der Theodizee und der optimismuskritischen Theodizee, der Geschichtsphilosophie - Gottes Schöpferrolle nicht erben, ohne seine Rolle als Angeklagter der Theodizee mitzuerben: Und was macht er dann?

Dabei wird die Geschichtsphilosophie - vor allem die Prozeßphilosophie der Totalgeschichte - ein Tribunal: nicht nur der Ankläger bleibt der Mensch; denn zugleich tritt in die Stelle des Angeklagten, aus der Gott ausgeschieden ist, nun ebenfalls der Mensch ein. Diesem Tribunal entkommt er, indem er es wird: also indem der Mensch den Menschen als Schöpfer der bisherigen Geschichte anklagt und dazu verurteilt, sich und die geschichtliche Wirklichkeit zu ändern. Denn die Übel - das »Böse« - wird jetzt eben nicht mehr von Gott erzeugt oder zugelassen, sondern durch den Menschen. Darum ergänzt der - geschichtsphilosophisch-totalgeschichtliche - Mensch seine Absicht, es zu sein, durch die Kunst, es nicht gewesen zu sein.

Wenn es übel steht um die Welt als Geschichte, ist es für die Menschen - nunmehr an Stelle Gottes - entlastend, wenn zwar die Menschen sie gemacht haben, aber stets nur die anderen Menschen. So vermeidet der Mensch, ein schlechtes Gewissen zu »haben«, indem er - als Avantgarde - für die anderen Menschen, die nicht die Avantgarde sind, sondern reaktionär die geschichtliche Herkunft gemacht haben, das schlechte Gewissen »wird«, weil sie sich an der Zukunft vergehen, was sie nicht nur dazu führt, »suspect« zu sein und die »terreur« erdulden zu müssen, sondern - immer stärker geplant - tendenziell liquidiert zu werden. Durch diese - später »Dialektik« genannte - Dauerflucht nach vorn aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein setzt das Ich - der Mensch - sich selbst, indem es sich absetzt vom anderen Ich, vom anderen - dem negativen - Menschen. Darum entpuppt - total geschichtlich - der Fortschritt zum Menschen sich als Flucht aus dem Menschen: als geschichtsphilosophischer Verfeindungszwang.

Adam Sicinski: Mind Map. Ein Spruchgenerator für Murphy’s Law. [Quelle]
So ist die wirklich menschliche Lösung aus der Krise des Optimismus nicht die Geschichtsphilosophie, jedenfalls nicht ihre totalgeschichtliche Form. Darum wird - seit dem Erdbeben von Lissabon - die wichtigste Neuentdeckung für die Philosophie des Menschen - die seit der gleichen Zeit Mitte des 18.Jahrhunderts verstärkt »Anthropologie« genannt wird - die betonte Entdeckung der Zerbrechlichkeit des Menschen.

Die Zerbrechlichkeit des Menschen ist ein Mangel, der nach Ausgleichsbemühungen ruft: daher kommt es seit Mitte des 18. Jahrhunderts - in der ersten Blütezeit der philosophischen Anthropologie - zur langsamen Konjunktur einer anthropologischen Kategorie, der Kategorie der Kompensation. Hierbei handelt es sich nicht um eine geschichtsphilosophische, wohl aber um eine geschichtsphilosophienahe Kategorie: um eine anthropologische Kategorie von Geschichtsverläufen, die nicht mehr einer endzielgewissen Einheitsgeschichte angehört, sondern einer Pluralität von Geschichtsverläufen nicht-optimistischer Art, die keinen starken Trost, sondern schwachen Trost liefert, weil sie - auf Mangellagen antwortend - positive Ausgleichsbemühungen geltend zu machen in der Lage ist. Sie kommt - als flankierendes Nebentheorem - schon aus dem Optimismus. Leibniz schreibt: »der Schöpfer der Natur hat die Übel und Mängel durch zahllose Annehmlichkeiten kompensiert«; und noch jener frühe Kant, der den Optimismus verteidigen wollte, meint 1755 in der sogenannten Nova dilucidatio: »Die Kompensation der Übel ist der eigentliche Zweck, den der göttliche Schöpfer vor Augen gehabt hat.«

Aber erst nach der Krise des Optimismus Mitte des 18. Jahrhunderts - zum Zeitpunkt des Erdbebens von Lissabon - wird dieses flankierende Nebentheorem der klassischen Theodizee zum Hauptgedanken. Der Optimist kennt das Ziel und - generell - das »alles ist gut«; der Kompensierer sieht das Unglück und sucht - en detail - möglichen (und, wenn es geht, glücklichen) Ausgleich. Dabei meint man, daß entweder die Übel überwiegen (so etwa, in der Nachfolge Bayles, Maupertuis im Essai de philosophie morale 1749) oder die Güter (Antoine de La Sale 1788 in seiner Balance naturelle: »tout est compense ici bas«), oder malheurs und bonheurs halten einander die Waage: das meint - ausdrücklich Kompensationsbefunde geltend machend - 1761 in De la nature Jean Baptiste Robinet und 1788 in seinen Apologues modernes Sylvain Marechal: »Güter und Übel bleiben in einem zureichend vollkommenen Gleichgewicht: alles im Leben wird kompensiert.«

Diese Kompensationsthese wird - als »la loi« - 1808 von Pierre-Hyacinthe Azaïs pointiert resümiert im Buch Des compensations dans les destinées humaines, durch »Le Principe des Compensations« ist die Glücks-Unglücks-Bilanz angeblich bei jedem Menschen gleich Null, d. h. ausgeglichen: dadurch sind alle Menschen gleich. Hierhin gehört dann auch das sozial reformerische Kompensationsprogramm des Utilitarismus; man muß die Glücksbilanzen - in Richtung auf »the greatest happiness of the greatest number« - durch Kompensationen aufbessern: das proklamiert (fast gleichzeitig mit Adam Smiths An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations) 1776 bzw. 1789 Jeremy Bentham und 1772 in seinem Buch De la felicité publique der Chevalier de Chastellux mit der These: »Le bonheur se compense assez.« Und dann ist da in Über den Ursprung der Sprache 1772 Johann Gottfried Herder: der Mensch - schreibt er - ist ein »Stiefkind der Natur« und »Mängelwesen«, aber - als »Schadloshaltung«, d. h. Kompensation - gerade dadurch hat er Sprache.

Der überwiegende Teil des Werks von
 Odo Marquard ist in den bescheidenen
Heften der Universalbibliothek erschienen.
So erobert die Kompensationsthese die intellektuelle Szene, etwa 1865 in Ralph Waldo Emersons Essay Compensation. Dabei macht es wenig Unterschied, ob sie vor oder nach Schopenhauer formuliert wird. Friedrich Hölderlin schreibt: »wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«; Wilhelm Busch schreibt: »wer Sorgen hat, hat auch Likör«. Die Formel aus Patmos von 1803 und die aus der Frommen Helene von 1872 meinen die gleiche Figur der Kompensation. So kommt sie auf die Gegenwart. Dort wird sie im Umkreis der Psychoanalyse 1907 durch Alfred Adler und Carl Gustav Jung - mit großem, aber falschem Bewußtsein der Originalität - ausdrücklich als Kompensationstheorem reformuliert und avanciert wenig später zur anthropologischen Hauptkategorie: der Mensch ist Mängelwesen, aber das kompensiert er durch Entlastungen, meint 1940 Arnold Gehlen; doch längst vor ihm hat Helmuth Plessner das 1928 in Die Stufen des Organischen und der Mensch formuliert: »Der Mensch […] sucht […] Kompensation seiner Halbheit, Gleichgewichtslosigkeit, Nacktheit.« Dabei mag es angebracht sein, die Skepsis von Jacob Burckhardt walten zu lassen: Es »meldet sich« - schreibt er 1868 in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen - »als Trost das geheimnisvolle Gesetz der Kompensation«; aber »es ist und bleibt ratsam, mit diesem […] Troste sparsam umzugehen, da wir doch kein bündiges Urteil über diese Verluste und Gewinste haben«.

Wie ist das also - gerade angesichts des Erdbebens von Lissabon in der Mitte des 18. Jahrhunderts und seither und angesichts des Tsunamis Ende 2004 und des Hurrikans von New Orleans - wie ist das also mit unserer menschlichen Welt? Ist Optimismus angebracht? Oder geschichtsphilosophisch futurisierter Über-Optimismus? Oder gibt es Verfeindungszwänge, Zerbrechlichkeiten, Kompensationen? Oder was sonst? Vielleicht ist ja unsere Welt trotz allem mehr Nichtkrise als Krise; dann ist sie zwar nicht der Himmel auf Erden, aber zugleich doch auch nicht die Hölle auf Erden, sondern eben: die Erde auf Erden.

Quelle: Odo Marquard: Skepsis in der Moderne. Philosophische Studien. Stuttgart: Reclam, 2007. (Universal-Bibliothek 18524). ISBN 978-3-15-018524-7. Zitiert wurde Seite 93 bis 108


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Franz Schubert: Die schöne Müllerin (Hermann Prey, Leonard Hokanson, 1974)

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Neben der später entstandenen „Winterreise“ basiert der 1823 von Franz Schubert komponierte Liederzyklus für Singstimme und Klavier (op. 25 D 795) ausschließlich auf Texten von Wilhelm Müller (1794-1827), hier von Schubert ausgewählt aus einer 1821 erschienenen Gedichtsammlung Müllers.

Wahrscheinlich ist der Zyklus zu Lebzeiten des Komponisten in kleinerem oder größerem Rahmen aufgeführt worden, belegt ist eine zyklische Aufführung erst 1856 in Wien. Die Spieldauer des gesamten Zyklus beträgt bei den meisten der vielfach verfügbaren Aufnahmen des oft eingespielten Werks knapp über 60 Minuten.

Die 20 Lieder erzählen die unglücklich verlaufende Liebesgeschichte eines Müllergesellen, 1 bis 18 aus der Sicht des Gesellen, 19 als Dialog zwischen dem Gesellen und dem diesen durch die Geschichte nahezu wie ein menschlicher (oder mephistophelischer?) Vertrauter begleitenden Bach und 20 gar als Lied des Bachs selbst.

Der Müllergeselle wandert einen Bach entlang, gelangt zu einer Mühle, kann dort zu arbeiten beginnen, verliebt sich in die Müllertochter und darf offenbar kurz auf positive Erwiderung seiner Gefühle hoffen (Lieder 1 bis 13). Ein Jäger (Lied 14) macht aber das Rennen, das muss der Geselle rasch als unabwendbar hinnehmen, was zu Liebeskummer, Verzweiflung und Suizidtod im Bach führt (Lieder 15 bis 20).

Acht der 20 Lieder sind in Strophenform gehalten (1, 7, 8, 9, 10, 13, 14, 16), der Rest ist freier komponiert. In Fachtexten wird vielfach herausgestellt, dass Müllers Texte ironisch gemeint sind, Schubert sie (und damit den Gesellen) aber ganz ernst genommen hat.

Hier nun vielfach rein persönliche Gedanken und Impulse zu den einzelnen Liedern:

1. Das Wandern (Textbeginn "Das Wandern ist des Müllers Lust...")
Bekenntnis des Gesellen zum Wandern. Die Begleitung suggeriert ein Mühlrad (des Lebens?). Man kann vielleicht darauf achten, ob die Elemente der einzelnen Strophen (Wasser, Steine) in den Interpretationen unterschiedlich betont werden.

2. Wohin? ("Ich hört' ein Bächlein rauschen...")
Der Geselle folgt einem Bach. Die Begleitung suggeriert die Wellenbewegungen des Bachs (vgl. Schuberts Lied „Gretchen am Spinnrade“).

3. Halt! ("Eine Mühle seh' ich blinken...")
Die Mühle verheißt eine Lebensperspektive. Der Geselle spricht den Bach wie einen Vertrauten an.

4. Danksagung an den Bach ("War es also gemeint, mein rauschender Freund...")
Bestätigung der Vertrautheit. Ohne den Bach hätte der Geselle wohl nie die Müllertochter gefunden.

5. Am Feierabend ("Hätt' ich tausend Arme zu rühren...")
Enthusiasmus des einseitig Verliebten. Ab Takt 36 „Rubato“ und rezitativische Passage mit Zitaten des Müllers und seiner Tochter. „Wesentliche Momente“ für den Gesellen.

6. Der Neugierige ("Ich frage keine Blume...")
Total beseelte Unsicherheit des einseitig Verliebten, das Wunder eines Schubertliedes, spätestens ab Takt 23 unbeschreiblich verinnerlicht. So komponiert ein Genie.

7. Ungeduld ("Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein...")
Er will seine Liebeszuversicht in die Welt hinausrufen. Den großen Herzensbogen wird später auch Franz Lehár motivisch ähnlich aufspannen.

8. Morgengruß ("Guten Morgen, schöne Müllerin!")
Der Geselle schwankt zwischen Hoffnung und Unsicherheit. Wie ist er dran mit der Müllertochter?

9. Des Müllers Blumen ("Am Bach viel kleine Blumen steh'n...")
Er träumt vom Liebesglück.

10. Tränenregen ("Wir saßen so traulich beisammen...")
Im zarten Mondlicht am Bach könnte sich sein Wunsch erfüllen, er wähnt sich knapp davor, und die musikalische Stimmung fängt die Szene wieder unbeschreiblich intensiv ein. Am Schluss steht sie auf und geht. Viele Männer kennen diese Momente. Ein auch textlich ganz starkes Lied. Irgendwie gleichzeitig Volkslied und Chanson.

11. Mein! ("Bächlein, lass dein Rauschen sein...")
Offenbar hat sie Ja zu ihm gesagt, er ist wieder enthusiastisch gestimmt.

12. Pause ("Meine Laute hab' ich gehängt an die Wand...")
Der Glückliche bleibt ein unsicherer Melancholiker. Genial wie Schubert hier durch den Dur-Moll-Wechsel die psychologischen Ebenen musikalisch schattiert.

13. Mit dem grünen Lautenbande ("Schad' um das schöne grüne Band...")
Der Geselle bezieht sein grünes Lautenband auf die Müllertochter.

14. Der Jäger ("Was sucht denn der Jäger am Mühlbach hier?")
Der Jäger ist plötzlich da, hektisch erwacht des Gesellen Eifersucht.

15. Eifersucht und Stolz ("Wohin so schnell, so kraus und wild, mein lieber Bach?")
Die Eifersucht scheint nur allzu begründet. Man wendet sich in solchen Fällen an den Vertrauten – hier also an den Bach.

16. Die liebe Farbe ("In Grün will ich mich kleiden...")
Das Grün ist leider als die Farbe demaskiert, die die Unerreichbare und den Jäger miteinander verbindet. Bitter, ganz bitter. Ähnlich später in Ravels „Le Gibet“ (auf dem Weg zum Galgen) zieht sich ein immer wiederholter Klavierton durchs ganze Lied (in der Original-Tenorlage ein Fis), der die Aussichtslosigkeit, die Bitterkeit beklemmend unterstreicht. Für mich eines der erstaunlichsten, psychologisch tiefgehendsten, erschütterndsten Lieder der Musikgeschichte.

17. Die böse Farbe ("Ich möchte zieh'n in die Welt hinaus...")
Die Beziehung zur Farbe Grün hat sich in Zorn gewandelt. Der Geselle muss sich mit der Aussichtslosigkeit seiner Hoffnung abfinden.

18. Trockne Blumen ("Ihr Blümlein alle, die sie mir gab...")
Es bleibt ein mehr als schaler Nachgeschmack, er denkt ans Grab, er resigniert.

19. Der Müller und der Bach ("Wo ein treues Herze in Liebe vergeht...")
Der Bach reagiert diesmal sogar verbal auf die Seelenpein des Gesellen. Ist er Tröster oder Verführer?

20. Des Baches Wiegenlied ("Gute Ruh', gute Ruh', tu' die Augen zu...")
Der Geselle liegt offenbar tot im Bach, und dieser vermittelt melodiös und harmonisch Geborgenheit. Aber der psychologische Überbau mengt schaurige Erschütterung bei.

Quelle: AlexanderK, am 4. Januar 2013, im Capriccio Kultur-Forum


TRACKLIST

Franz Schubert (1797-1828):

Die schöne Müllerin D 795
Liederzyklus nach Texten
von Wilhelm Müller

[01] Das Wandern 2:37
[02] Wohin? 2:10
[03] Halt! 1:34
[04] Danksagung an den Bach 2:23
[05] Am Feierabend 2:30
[06] Der Neugierige 4:20
[07] Ungeduld 2:37
[08] Morgengruß 4:04
[09] Des Müllers Blumen 3:30
[10] Tränenregen 4:48
[11] Mein! 2:22
[12] Pause 4:33
[13] Mit dem grünen Lautenbande 2:03
[14] Der Jäger 1:10
[15] Eifersucht und Stolz 1:28
[16] Die liebe Farbe 4:12
[17] Die böse Farbe 2:11
[18] Trockne Blumen 4:08
[19] Der Müller und der Bach 3:32
[20] Des Baches Wiegenlied 5:24

Vier Lieder
nach Texten von
Johann Wolfgang von Goethe

[21] Der Rattenfänger D 255 2:10
[22] Erlkönig D 328 4:12
[23] Der Musensohn D 764 1:56
[24] An den Mond D 259 3:09

Gesamtspielzeit: 73:15

Hermann Prey, Bariton
Leonard Hokanson, Klavier [01]-[20]
Karl Engel, Klavier [21]-[24]

(P) 1974

Das geöffnete Kleid



Piero della Francesca nimmt Maß an den Dingen

Piero della Francesca: Auferstehung Christi, 1463,
Wandgemälde in Fresko und Tempera, 225 x 200 cm,
Museo Civico, Sansepolcro.
Der Wächter schläft im Sitzen. Er sitzt nicht auf einem Stuhl. Seine Rückenlehne ist der Rand eines Sarkophags. Seine Ruhe ist ohne Qual. Unter den herabgelassenen Lidern zeichnet sich das Viertel eines Kreises ab. Der Kopf ist zur Seite gesunken, und sein Adamsapfel ist verrutscht. Seine zweite Haut ist ein erdfarbenes Kettenhemd, darunter wölben sich die Muskeln zu einer Hügellandschaft. Die Oberarme schützt eine Rüstung vor Verletzungen, wie Federn den Leib eines Vogels vor Regen und Frost.

Hinter dem Rücken des schlafenden Mannes, mit dem sich der Maler Piero della Francesca selbst ein Denkmal setzte, ist aus der Nacht blauer Morgen geworden. Der Winter hat keine Zeit, denn die Bäume auf der einen Hälfte des Bildes tragen schon das Grün des Frühlings, die anderen Bäume sind noch hell, kalt und kahl. Aus der Nacht wird Tag, aus dem Winter Frühling, aus dem Morgenland das Abendland. Ein aufrecht stehender Mann, der seinen bloßen Körper zur Hälfte mit einem rosa Tuch verdeckt, hat den linken Fuß auf den Rand seines Sarges gesetzt. Christus ist auferstanden. Sein Gesicht ist ernst und streng. Im Heiligenschein spiegelt sich die Erde, beschwert von ihrer Last wird er sich vom Irdischen entfernen. Am linken unteren Bildrand beugt der vierte Wächter seinen Kopf zu den Knien und führt seine Hände zu den Augen. Er weint und ist so blind wie die anderen im Schlaf.

Piero della Francesca ist der Maler der nach innen gewandten Augen, wie er der Maler der angehaltenen Bewegung und des Rätsels ist. Während Fra Angelico predigt und Botticelli tanzt, nimmt Piero della Francesca Maß an den Dingen. Mit dem Blick eines Mannes, der weiß, daß ein Ballen Tuch mehr wert ist als ein Hügel Sand, interpretiert er Legenden. Christus' Heiligenschein verhält sich zum roten Helm des weinenden Wächters und zum grünen seines Gegenübers wie A zu B und C zu D. Piero della Francesca steht als Maler des Quattrocento für das Alphabet der Perspektive ein.

Piero della Francesca: Polyptychon der Schutzmantelmadonna, 1445-1462,
 Öl und Tempera auf Holz, 273 x 330 cm, Museo Civico, Sansepolcro.
Tag und Monat von Piero della Francescas Geburt sind unbekannt. Er soll im Jahr 1415 in der Stadt Borgo San Sepolcro, die heute einfach Sansepolcro heißt, zur Welt gekommen sein. Es sei ein glücklicher Zufall, daß Piero weder in Florenz noch in Rom, sondern fernab von den Tumulten der Geschichte inmitten schweigender Felder und sanfter Bäume geboren wurde, vermerkt Zbigniew Herbert in seinem Reisebuch Ein Barbar in einem Garten.

Unter den Schriftstellern steht Zbigniew Herbert mit seinem Liebesantrag an Piero della Francesca keineswegs allein, vor ihm zeigten sich Stendhal, Henry James, Ezra Pound, Andre Malraux und Albert Camus angesichts dieser Werke ebenso begeistert wie ratlos. Möchte nicht jeder, der Piero della Francescas Fähigkeit zum Ausdruck von großem Schweigen und unaufdringlicher Verschlossenheit erkennt, zum Dichter werden?

Zweimal stellt sich Piero della Francesca im Museo Civico von Sansepolcro, das laut Vasari früher der Konservatorenpalast war, im Selbstbildnis vor: groß als schlafender Wächter, einen halben Meter über dem Kopf des Betrachters in der Wandmalerei von der Auferstehung Christi, und zusammen mit sieben weiteren Personen kniet er unter dem ausgebreiteten Umhang der Schutzmantelmadonna.

Michael Baxandall hat in seinem Buch über die Wirklichkeit der Bilder die Bezüge von Piero della Francescas Malweise zu den auf Dreieck, Kugel und Zylinder geeichten Sehgewohnheiten der Kaufleute sichtbar gemacht. Zwar gaben sich die Lehrer zu Pieros Zeiten in den Sekundarschulen Mühe, ihren Schülern Aesop und Dante nahezubringen, aber das Hauptinteresse richtete sich, wie man aus vielen Fibeln weiß, auf die Mathematik. Piero lernte lieber Mathematik als Latein und verfaßte um 1450, längst Mitglied des Stadtrats seines Viertausend-Seelen-Ortes, ein Rechenbuch, den Trattato dell'abaco, in dem er den Kaufleuten seiner Region Hilfestellung für ihre Tätigkeiten leistete und ihnen an einfachen Beispielen erklärte, wie sich zum Beispiel auf Reisen der Wert des Geldes durch andere Währungen verändert.

Piero della Francesca: La Pala Montefeltro (Maria mit
Kind, umgeben von Heiligen), 1465, Öl auf Holz,
248 x 170 cm, Pinacoteca di Brera, Mailand.
Piero della Francesca war das Metier bekannt. Er war Kaufmannssohn. Sein Vater Benedetto verdiente seinen Unterhalt mit dem Fellhandel. Nach der Eingliederung Borgo San Sepolcros in den florentinischen Staat nutzte Benedetto die gewachsene Bedeutung des Städtchens als Warenumschlagplatz zwischen der Adria und der Toskana und machte gute Geschäfte mit dem Tuchhandel und dem Anbau von isatis tinctoria, einer Grasart, aus der man Indigo-Farbstoff gewinnen konnte.

»In seiner Jugend«, schrieb der Biograph Vasari, »widmete sich Piero den mathematischen Wissenschaften, und auch als er im Alter von fünfzehn Jahren an den Beruf des Malers herangeführt wurde, vernachlässigte er diese nie.« Deutlich ist der Ton des Mitleids aus Vasaris Einschätzung herauszuhören: Er lobt den Maler mit Herablassung, nennt ihn im Studium der Kunst »überaus eifrig«, sagt, daß er sich »fleißig in der Perspektive« übe und sehr bewandert sei »im Euklid«. Neunzehn Jahre nach Piero della Francescas Tod am 12. Oktober 1492 wurde Giorgio Vasari geboren. Vasari gönnte dem Maler aus Borgo San Sepolcro keinen anderen Ruhm als den, der »beste Geometer seiner Zeit« gewesen zu sein.

»Jede Liebe«, hat die kluge Katharina zu uns gesagt, »muß, wenn sie ohne Heuchelei ist, die vorhergehende vernichten« und hat sich im vergangenen Jahr von Masaccio ab- und Piero della Francesca zugewandt. Wir treffen sie Sonntagmorgen um zehn Uhr, um gemeinsam in Piero della Francescas Geburtsstadt zu fahren.

Wir umkreisen die Hügel, an deren Rändern verdorrte Sonnenblumen darauf warten, daß eine Maschine sie köpft, und legen, während wir reden und schauen, die fünfundzwanzig Kilometer zurück, die Arezzo von Monterchi und Sansepolcro trennen, drei der neben Florenz, Rom, Rimini und Urbino zentralen Orte in Piero della Francescas Leben. An der Grenze zwischen der Toskana und Umbrien gehen die schlanken langen Schatten der Zypressen im buschigen Laubgehölz einer von Wildschweinen bevorzugten Landschaft verloren, und Katharina macht uns auf die Farbe der umbrischen Erde aufmerksam, ihre, mit der Toskana verglichen, stumpfen, matten Töne, und wir entdecken, weil Sehen oft ans Zuhören gekoppelt ist, die Unterschiede in der Natur, die wir auf Piero della Francescas Bildern wiedererkennen werden. Denn jeder Maler ist von der Landschaft, in der er aufgewachsen ist, geprägt.

Piero della Francesca: La Madonna del Parto, 1467, abgenommenes
Fresco, 206 x 203 cm, Museo della Madonna del Parto, Monterchi.
Bevor wir in Monterchi die Brücke überqueren, unter der in dieser Nachsommerzeit kein Wasser fließt, fällt unser Blick auf eine Schnur, mit der das weiße Sonnensegel eines Cafes an einer großen Muschel aus Marmor befestigt ist, die uns an den Baldachin über der Madonna mit Kind, Pala Montefeltro genannt, erinnert, in die Piero ein Straußenei gemalt hat, das über dem Kopf der Muttergottes ruhig in der Bildachse hängt, ein Bild, das in der Mailänder Brera seinen Platz hat, und wir sind sicher, in der Muschel ein Weihwasserbecken zu erkennen, ein Beutestück, jetzt mit der profanen Aufgabe betraut, ein Tuch gegen die Strahlen der Sonne zu spannen.

In seinem Traktat De prospectiva pingendi spricht Piero della Francesca von den Dingen, die sich aus verschiedenen Winkeln ganz unterschiedlich zeigen. Wer in die ehemalige Dorfschule Monterchis kommt und sich wie ein Kind fühlt, das viele Falten hat, kann nicht glauben, dem in der Türöffnung wehenden Tuch der Madonna del Parto fast auf gleicher Höhe gegenüberzustehen.

Man hat die Muschel über der Pala Montefeltro mit dem Zelt verglichen, aus dem die Madonna del Parto (parto, das heißt Geburt, Entbindung) hervortreten kann, weil zwei Engel die Bahnen des kostbaren Stoffzelts für sie aufhalten. Das Zelt ist im Inneren mit rechteckig geschnittenen Hermelinfellen gefüttert und hat von außen die Farbe eines blassen, ins Bräunliche übergehenden Rots, fein überzogen von den floralen Ornamenten byzantinischer Muster in filigranem Gold.

Piero della Francesca: Die Auffindung und Prüfung des Wahren Kreuzes, um 1466,
 Fresco, 356 x 747 cm, San Francesco, Arezzo.
Die Wissenschaftler streiten sich, und das tun sie seit Roberto Longhis 1914 erschienener Interpretation, der ersten ernstzunehmenden Auseinandersetzung mit Piero della Francescas Werk, über die Datierungen, weil der Künstler selbst sie undatiert hinterließ. Jeder von ihnen (die Kunsthistoriker Hans Graber, John Pope-Hennessy, Kenneth Clark, der Historiker Carlo Ginzburg) glaubt, einen neuen Schlüssel zum Werk in Händen zu halten, während Carlo Bertelli in dem 1992 auf deutsch publizierten Prachtband Piero della Francesca. Leben und Werk des Meisters der Frührenaissance bescheiden konstatiert: »Ich habe keine revolutionären Details, Zuschreibungen, Datierungen oder Namen anzubieten.«

Niemand weiß genau, wann Piero die schwangere Madonna in der kleinen Friedhofskapelle al fresco gemalt hat. Sie blieb an diesem verschwiegenen Ort, bis sie 1917 nach einem Erdbeben von der Wand abgelöst und auf Leinwand übertragen wurde. Pieros aus Monterchi stammende Mutter Romana war 1459 verstorben. Also wird der Sohn um diese Zeit aus Rom zurückgekommen sein, gerufen, so jedenfalls behauptet es Vasari, von Papst Nikolaus V.

Ein Bild kann das Gefühl von Leben und am Lebensein auslösen. Zehnmal ist das blaue Kleid zwischen Halsausschnitt und Brüsten mit einem weißen Band geschnürt, dann öffnet sich das Gewand wie ein querliegender langgezogener Mund, und die Madonna schiebt ihre gotisch verzweigte rechte Hand in den weißen Schlitz. Sie deutet auf das Kind, das ihren Bauch wölbt. Ihr Gesichtsausdruck zeigt eine in sich versenkte Gelassenheit.

Wie bei vielen von Pieros Frauengestalten sind die Haare der Madonna ganz à la mode bis weit hinter den natürlichen Ansatz entfernt, damit der Kopf eine antike Würde erhält, wie Piero sie an griechischen und römischen Statuen während seines Aufenthalts in Rom kennengelernt hat. Helle Bänder betonen die hohe und ovale Form des Kopfes und umschlingen dekorativ das Haar. Der Heiligenschein ist wieder, wie der des auferstehenden Christus in Sansepolcro, eine spiegelnde Scheibe, in der man den Fußboden erkennt. Im Gegensatz zur weltabgewandt schauenden Madonna blicken die beiden Engel, während sie das Zelt öffnen, aus dem Bild heraus, dem Betrachter auffordernd in die Augen.

Piero della Francesca: Diptychon des Federico da Montefeltro mit
 seiner Gattin Battista Sforza, 1465/66, Tempera auf Holz,
 jeweils 47 x 33 cm, Uffizien, Florenz.
Weil Sonntag ist und der Restaurator an diesem Tag die Hände vom Malwerkzeug läßt, liegen Schwamm, Pinsel und Tinkturen auf dem schwarzen Gestell; aber man sieht, was er in den letzten Monaten getan hat. Das als einfarbig bekannte Gewand der Muttergottes teilt sich jetzt in zwei Blautöne. Aus dem Taubenblau schält sich ein Marienblau hervor, und im unigrünen wadenlangen Kleid des einen Engels entdeckt man eine weitere Spielart des Grün. Bekannt ist, daß der junge Piero während seiner Lehrzeit in Florenz von Domenico Veneziano in den Umgang mit sonnigem Licht eingewiesen wurde, über das er selbst, erwachsen geworden, meisterhaft Regie zu führen verstand, entweder um den Sog der Perspektive zu unterstreichen oder um von ihr abzulenken. Er wußte, daß einfallendes Licht absorbiert werden muß, daß Licht Stimmung erzeugt und Aufmerksamkeit weckt.

Viel über die Kunst des reflektierenden Lichts konnte Piero von Rogier van der Weyden lernen. Der Niederländer hat wohl in Florenz um 1450 eine Grablegung Christi gemalt - ein Gemälde, das als exemplarisch für den Einfluß niederländischer Malerei auf die italienische Frührenaissance gilt. In den Uffizien hängen Rogier van der Weydens tiefempfundenes Passionsbild und Hugo van der Goes'Portinari-Altar, der auf Bestellung der Medicis per Schiff nach Florenz gelangte und in seiner unbefangenen Erzählfreude und dem intensiven Gefühlsausdruck einheimische Maler, darunter auch Piero della Francesca, zu beeindrucken verstand.

Die kontrastierenden Farbgegenüberstellungen, wie sie die Gewänder der beiden Engel zu seiten der schwangeren Monterchi-Madonna zeigen, ein Motiv übrigens, das die Gegenreformation verbot, unterstreichen das Streben nach chromatischer Ausgewogenheit. Piero della Francesca hat seine eigene Vorliebe für Komplementärfarben häufig aufgelöst und das Blau ins Grün verlaufen lassen oder ins Violette. Das Schillern entsprach nicht seinem Wunsch nach antikisierender Klarheit. Licht, Schatten und Farbe gehen in Pieros Werk eine Synthese ein, von der die Maler unseres Jahrhunderts, Künstler wie Giorgio de Chirico, wie Carra, die Vertreter der Valori plastici, die Maler der Neuen Sachlichkeit, aber auch Morandi, Balthus, vielleicht auch Mark Rothko und Ed Reinhardt und gewiß viele unter den zeitgenössischen Künstlern, die noch Maler sind, profitierten.

Piero della Francesca: Konstantins Traum,
 um 1466, Fresco, 329 x 190 cm,
San Francesco, Arezzo.
Katharina erzählt von ihren acht Geschwistern, von denen einer Künstler ist und, wie sie sich ausdrückt, mit Kaufhaustüten hantiert, während sich ihr Vater in einer Schule müht, die der von Monterchi nicht unähnlich sei, und deutet in das kalkweiße Klassenzimmer. Hier zeigen die Kinder Monterchis ihre eigene Madonna del Parto, die, aus Spitzen und Litzen gebastelt, sehr weltlich und von der profanen Anmut einer Barbiepuppe ist. Ihr Zelt ist aus den Materialien des Plastikzeitalters nachgebildet.

In Arezzo gibt es einen Marktplatz, der so abschüssig ist, daß die beiden Treppen vor dem Haus Giorgio Vasaris, der 1511 in Arezzo geboren wurde, auf der einen Seite zwölf Stufen, auf der anderen Seite nur acht zählen. Wer den Platz zu zweit hinuntergeht, faßt einander, um nicht abzustürzen, an der Hand.

An der rauhen Backsteinfassade von San Francesco in Arezzo sind die Stellen, an denen das Gerüst befestigt war, noch immer sichtbar, verkleidet wurde die Fassade nie. Weiße Haare umrahmen den Kopf des Mannes, der vor der Kirche auf dem Boden sitzt. Seine Augen fixieren das rechteckige Leuchtbild seines Laptops. Ihn jagt die Vorstellung, sein Körper könne zu schwach werden, das eigene Kopfkissen auszuschütteln, bevor seine Theorie über Pieros Kreuzlegende abgeschlossen ist, und so sitzt der alte Mann, der Pieros Adam ein wenig ähnelt, seit Wochen in der Nähe der Fresken, um immer wieder die Farben und ihren Widerhall im wechselnden Licht zu überprüfen und, als habe seine Platte einen Sprung, unregelmäßig wie der Schlag des Herzens, Ciceros poetischen Luftgesang zu wiederholen: »Die Luft sieht mit uns, hört mit uns, sendet mit uns Laute aus.«

Piero della Francesca: Triumphzug des Konstantin, Schlacht an der Milvischen Brücke, um 1466,
Fresco, San Francesco, Arezzo.
Die Luft als Naturphänomen spielt in Pieros Malerei eine wichtige Rolle. Nicht nur im Diptychon der Uffizien, das den Triumph der Battista Sforza und den Triumph des Federico da Montefeltro zeigt. Auch in der berühmten Nachtszene, dem magischen Traum Konstantins, Höhepunkt unter den zwölf Fresken der Hauptchorkapelle San Francescos in Arezzo, ersetzen Licht und Luft die Farbigkeit. Nur Bettdecke und Zelt Konstantins sind farblich gekennzeichnet, und doch liegt ein Leuchten über dem schlafenden Konstantin, das nicht nur vom Heiligen Geist kommt, der im Sturzflug auf den Träumenden herabsaust.

Piero hat die schwere Arbeit der Freskomalerei mit der Leichtigkeit des Aquarellierens behandelt und das Weiß des Putzes, wenn es darum ging, Wolken in den Himmel zu setzen oder Kontraste in das Schlachtengewühl aus Hufen, Fahnen, Kreuzen und Kriegern zu setzen, ausgespart. So sind die Schimmel in der Legende, die vom Sieg Konstantins über Maxentius erzählt, oder die Pferde im Getümmel der Kampfszene zwischen Heraklius und Chosroes deshalb hell, weil sie farblos geblieben sind.

Es ist bekannt, daß Paolo Uccello das dreiteilige Bild der Schlacht von San Romano, jene lärmenden Szenen, in wildem Eifer und getrieben von der Obsession malte, die Dynamik der Perspektive bis in die letzte Diagonale hinein zu ergründen. Piero della Francesca hatten Uccellos Bilder beeindruckt, doch lenkte er seine Schlacht mit gelassener Ruhe. Auch hier gibt es Tote, aber das Blut fließt in sauberen Linien. Die Mordenden und Gemordeten erfüllen ihre Mission mit der Bedächtigkeit von Holzfällern. An realistischer Dramatik war Piero della Francesca nie gelegen. Die Proportionen der Pferde mit den kurzgeschnittenen Mähnen gehen auf attische Figuren aus dem 5. Jahrhundert vor Christus zurück. In den Schimmeln spiegeln sich die antiken Vorbilder, die oft aus hellem Marmor waren.

Auftraggeber versahen die von ihnen bestellten Künstler mit genauen Anweisungen, und dies nicht nur, wenn sie, wie Giovanni Bacci, einen Weinberg verkaufen mußten, um das notwendige Geld aufzutreiben. Sie bestimmten, daß »kein anderer Maler den Pinsel führen darf als Piero selbst«, verlangten, daß »mit feinem Gold und guten Farben« zu malen sei.

Piero della Francesca: Geißelung Christi, um 1469, Öl und Tempera auf Holz,
 58 x 81 cm, Galleria Nazionale delle Marche, Urbino.
Die zwölf Fresken, von Giovanni Bacci für die Hauptchor- und Grabkapelle seiner Familie bei Piero della Francesca in Auftrag gegeben, erzählen die Botschaft aus dem apokryphen Evangelium des Nikodemus, die in der Legenda aureaüberliefert ist. Die Fresken in Arezzo sind die größte Arbeit, die Piero della Francesca jemals ausgeführt hat. Man weiß nur, daß er zwischen 1452 und 1466 an dem Zyklus (durch eine Reise nach Rom unterbrochen) arbeitete, und weiß nicht, ob er allein oder mit einem Gehilfen das riesige Pensum bewältigt hat, nimmt aber an, daß die linke Seite des Chores kein Werk allein aus seiner Hand ist.

Wen die Ruhe stört, die Langsamkeit, wer zu ungeduldig ist für den angehaltenen Schrecken oder die schweigsame Freude, die von dieser Malerei ausgeht, sollte sich in die innere Bewegtheit hineinversetzen, die Piero della Francesca in seiner kleinen, für den Dom von Urbino gemalten Tafel von der Geißelung Christi zum Ausdruck gebracht hat. Denn nie hat der Maler einfach historische Geschichten nacherzählt, oft ist die Tagespolitik in seine Ikonographie eingegangen.

Piero war also keineswegs, wie Andre Malraux behauptet, »der Erfinder der Gleichgültigkeit«. Piero war ein Meister der Untertreibung. Was er erzählen wollte, versteckte er. Zum Beispiel das vorne zugespitzte weiße Hütchen, das er als junger Mann in Florenz auf dem Kopf von Johannes VIII. Palaiologos, dem byzantinischen Kaiser, gesehen hatte. Und er zitierte: die Dioskuren vom römischen Quirinalpalast, Mosaiken aus Ravenna.

Wissenschaftler und ihr spitzfindiger Fußnotenfleiß kommen gegen Piero della Francescas Rätsel nicht an. Seine Würde und Achtung hat sich der erforschte, aber nicht leergeforschte Künstler erhalten. Und dann sagt Katharina mit einer Überzeugungskraft, die ihre Wirkung auf uns nicht verfehlt, sie könne grau und weiß und noch einmal jung und wieder alt werden, ohne die Gedankenwelt Piero della Francescas verstanden zu haben, der Höhe und Weite in Fuß statt in Zentimeter maß. Aber, sagt Katharina, soviel habe sie von den Bildern gelernt, Unwissenheit sei der Antrieb des Betrachters.

Quelle: Verena Auffermann: Das geöffnete Kleid. Von Giorgione zu Tiepolo. Essays. Berlin Verlag, 1999. ISBN 3-8270-0309-1. Seiten 39-54


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Schuberts »Winterreise« (Dietrich Fischer-Dieskau, Jörg Demus, 1966). | Holbeins Porträts der deutschen Kaufleute in London, 1532.

Schuberts Goethe-Lieder (Dietrich Fischer-Dieskau, Jörg Demus bzw. Gerald Moore, 1960 bzw. 1970). | »Die berühmtesten deutschen Gedichte«, 2004.

Der Mèrodealtar des Meisters von Flèmalle steht im Zentrum einer Betrachtung von Otto Pächt über künstlerische Originalität. | »Fiori Musicali«, drei Orgelmessen von Girolamo Frescobaldi.


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Claudio Arrau: A-moll-Klavierkonzerte von Grieg und Schumann (1963)

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Verglichen mit Artur Rubinstein, Wilhelm Backhaus, Wladimir Horowitz oder Wilhelm Kempff, deren künstlerische Physiognomie eindeutig, ja manchmal geradezu übertrieben deutlich scheint, so als müsse jeder Künstler eine individuelle Kennmarke besitzen, umgibt den Pianisten Claudio Arrau ein Hauch von Außenseitertum, von Undurchdringlichkeit, von Geheimnis.

Das Wort „Geheimnis“ möge nicht romantisch mißverstanden werden. Nichts Dämonisches, nichts Paganinihaftes ist mit im Spiel. Und wenn die Zeitgenossen Paganinis argwöhnten, daß es beim Auftreten dieses Geigers immer ein wenig nach Schwefel rieche und daß Paganini die G-Saite aus dem Darm einer verstorbenen Geliebten gedreht habe, so wären ähnliche Vermutungen im Hinblick auf Claudio Arrau und seinen Flügel verfehlt.

Trotzdem: So nahe es liegt, bestimmte Interpretationsweisen als „typisch Rubinstein“, „typisch Kempff“, „typisch Horowitz“ zu charakterisieren, so schwer läßt sich heraushören, was denn nun „typisch“ sei für Arrau. Er betreibt keinen Kult der Individualität. Er verfügt über eine glanzvolle Technik, wie über eine Rüstung, die jeden Angriff, jede durchschauende Kritik abwehrt – aber er gleicht dennoch keineswegs jenen jungen amerikanischen Perfektionisten, deren Spiel oft genug die donnernde oder säuselnde Langeweile einer Maschine ausstrahlt.

Arrau ist nicht nur einer der berühmtesten, sondern zugleich auch einer der fleißigsten Virtuosen der Welt. Er gibt nacheinander in Tokio, New York, München, London und wieder New York Konzerte, hundertfünfzig im Jahr, meint, daß die pausenlose Luftveränderung ihn frisch und spannungskräftig erhalte, verfügt über ein riesiges Repertoire.

Wie schwer es ist, Arrau zu charakterisieren, dafür bietet das im Moritz Schauenburg-Verlag kürzlich erschienene Buch „Die Konzert-Pianisten der Gegenwart“, das der Musikliebhaber Hans-Peter Range vorlegte, ein unfreiwillig komisches Beispiel. Range schreibt über Claudio Arrau: „Wenn dieser distinguierte Künstler ein Adagio einer Beethoven-Sonate vorträgt, glaubt sich jeder Zuhörer in eine andere Welt versetzt, denn Arrau erreicht das absolute Höchstmaß an Feierlichkeit und Würde. Voller Innigkeit und mit perlenartiger Präzision sind auch seine Darbietungen der Werke Chopins, denen er sich oft und gern zuwendet. Auch die Interpretation der Schubert-Sonaten oder der Rhapsodien von Liszt beherrscht dieser überragende Künstler ebenso überzeugend wie die Darstellung einer ‚Fuge von Bach oder den Vortrag eines Konzertes von Mozart. In souveräner Manier trägt dieser kongeniale Interpret“, so präzisiert Range, „alle Werke von Bach bis Brahms und Ravel musterhaft stilvoll, tiefgründig, exakt und absolut vollendet vor. Sein Interpretationsstil zeichnet sich vor allem durch Milde und tiefe Innigkeit aus, wenngleich er auch mit viriler Kraft seines Anschlags voll zu begeistern versteht.“

Claudio Arrau
Mehr kann man beim besten Willen nicht verlangen, zumindest nicht von Arrau. Nun ist es gewiß kein Zufall, daß der bedauernswerte Range über Arrau kaum mehr zu sagen weiß als: er spielt alles sehr gut.

Das Phänomen Arrau wird auch nicht im mindesten dadurch erklärt, daß dieser Künstler 1903 in Chile geboren wurde. Zwar kommen südamerikanische Komponisten in seinen Programmen gelegentlich vor, aber gewiß nicht häufiger als bei Rubinstein oder Gieseking. Selbst wenn man unterstellt, es gäbe ein typisch südamerikanisches Klavierspiel, so wie es eine „Russische Schule“ gibt, wäre man bei Arrau auf dem Holzweg. Nicht nur, weil dieser große Pianist in Berlin ausgebildet wurde und erst kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nach Amerika ging, sondern auch, weil sich in seinem Spiel der Unterschied etwa zwischen sogenannter „deutscher“ und „romanischer“ Beethoven-Interpretation vollkommen verwischt.

Wo Arrau auftritt, zuckt auch der versnobteste Konzertbesucher jedesmal von neuem zusammen mit dem Gefühl: mein Gott, kann dieser Mann Klavier spielen. Wer oft ins Konzert geht, wird ja nicht nur anspruchsvoller gegenüber dem Durchschnitt, sondern in gleichem Maße auch dankbarer für das Besondere und Große. Bei Arrau begreift man wieder, was beim Klavierspielen Können heißt.

Die ungemein sauberen und präzis gegriffenen Akkorde, bei denen nicht noch einige halb angeschlagene Töne verunklärend mitschwingen, die ganz selbstverständliche Zwei-, Drei- und Vierstimmigkeit, die bei den keineswegs unpolyphonen Romantikern so oft vernachlässigt wird, die völlig ausgespielten und nicht bloß in einem Pedalschwall heruntergehauenen Passagen, die sich dennoch nicht eitel vordrängen, die physische und psychische Disposition, die keine Ermüdung und kein Absinken zuläßt: das alles gehört zum großen Klavierspiel, und man kann es von Arrau hören.

Nun ist ein sauber gegriffener Akkord ja nicht nur eine Selbstverständlichkeit, die sich bei guter Führung in der Klavierstunde automatisch einstellt, sondern doch mehr: nämlich Ausdruck großer innerer Gespanntheit.

Wer je hörte, wie Arrau den „Carneval“ von Schumann vorträgt, der weiß, daß Arrau einen glänzenden, zugleich intimen und noblen Schumann spielt. Immer ist da die strahlende Lust am Ballgeplänkel, am Kerzenlicht und Maskenspiel, aber auch die nie übertriebene Ergriffenheit. Um Arraus Eigentümlichem näherzukommen, wollen wir zu beschreiben versuchen, wie er und andere Pianisten den Schluß von Robert Schumanns Klavierkonzert spielen.

Für unsere Stichprobe wählen wir nicht den berühmten ersten Satz, wo Alfred Cortot den Dialog zwischen Klarinette und Klavier mit unvergleichlicher Innigkeit ausgedeutet und ausgebeutet hat und wo Lipatti die Kadenz mit herrlichlebendiger Verve spielte, sondern vielmehr die Coda des Finales.

Da setzt das Klavier mit einer groß geschwungenen, von Pralltrillern unterbrochenen Rollfigur ein. Der Affekt steigert sich, das Hauptthema wiederholt sich, weiträumige Passagen ziehen sich über das ganze Klavier hin, die Rollfigur kommt noch einmal vor, gebrochene Akkorde umspielen das mächtige Orchester, und mit höchster, vom Komponisten vorgeschriebener Brillanz geht das Konzert zu Ende.

Beim Vergleich stellt man zunächst etwas Merkwürdiges fest: Nicht die jungen Pianisten, also nicht Gulda oder Anda, spielen das Konzert am raschesten, sondern die alten. Das übliche Vorurteil, Schumann werde in unserer Zeit von den jungen Pianisten zu rasant gespielt, stimmt also nicht, zumindest was die objektive, meßbare Zeit betrifft. Das blaue Band, wenn auch nicht die Blaue Blume der Romantik, errang Walter Gieseking, der das Stück zu Ende perlt, als sei es ein entfesselter Mozart; aber auch Clara Haskil nimmt es, wie übrigens auch Cortot, relativ rasch. Gulda und Anda dagegen spielen diesen Schluß durchaus ruhiger. Am weitaus langsamsten interpretiert ihn Claudio Arrau. Man muß nicht erst betonen, daß solche Zeitvergleiche über den Wert oder Nicht-Wert einer Interpretation nichts besagen. Aber wenn man alle anderen Faktoren mit einbezieht, ist es doch durchaus symptomatisch, daß Arrau für die gleichen Takte eine halbe Minute länger Zeit braucht als Gieseking.

Arrau läßt sich nicht von der Lust an glatter Virtuosität verführen, die ihm gewiß auch zu Gebote stünde. Er nimmt den Schluß relativ verhalten. Auf eine winzige Nuance, die zeigt, wie ungeheuer sorgfältig Arrau interpretiert, möchte ich besonders hinweisen. Unter den graziösen Passagen ist nämlich an einer Stelle eine Melodie versteckt, die die anderen Pianisten zwar gewiß auch bemerkt haben. Arrau aber entdeckt sie: In einer Begleitstelle des Finale belebt er ein neues, walzerhaft punktiertes Melodie-Fragment. Und er tut das nicht in der koketten Art mancher Chopinspieler, die aus tonreichen Passagen durch willkürliche Betonung irgendwelcher Noten plötzlich ganz neue Melodien herausbuchstabieren, indem sie dem überraschten Hörer klarmachen, daß da, wo hundert Noten sind, sich auch „Häuschen klein“ oder eine Nationalhymne herausklauben läßt – sondern Arraus Fund ist eine Folge von pianistischem Vermögen.

Ein Weltklassekünstler vermag also selbst aus einem so bekannten Stück wie dem Schumannschen Klavierkonzert immer noch etwas Neues herauszulösen. Was Arrau vielleicht doch fehlt, macht der Vergleich mit Clara Haskil deutlich. Clara Haskils Mozart-Interpretationen hat man nahezu einschränkungslos gefeiert, obschon mir ihr Schumann- und Brahms-Spiel noch zwingender schien. Die von einem körperlichen Leiden, dem sie tapfer widerstand, gezeichnete Künstlerin war, mit aller Ehrfurcht sei’s gesagt, gleichkam eingeschlossen in das Geheimnis ihrer Hinfälligkeit. Höchst konzentriert, fast weltabgewandt, so stellte Clara Haskil mit hoher Reinheit und Kunst alle diejenigen Werke der Klassik und Romantik dar, für die ihre Kräfte reichten. Mozarts c-Moll-Konzert, einige Intermezzi von Brahms und eben das Schumann-Konzert deutete sie mit Vollendung und Lauterkeit.

Wenn sie den Schluß des Schumann-Konzertes spielt, dann wird plötzlich deutlich, was bei Arrau fehlt: die Dunkelheit, das Gewicht der drängenden Harmonien, die leuchtende Beseeltheit der Passagen, die über bloße Lebendigkeit weit hinausreicht. Dabei spielte Clara Haskil das Stück keineswegs zimperlich, sie zelebrierte es nicht. Sie machte es eben nur wahr, sie begriff seine romantische Seligkeit, seinen rhapsodischen Charakter.

Kann man also sagen, die Gespanntheit, die Sorgfalt und die Kultur der Interpretation von Claudio Arrau sei nicht nur ein Vorzug, sondern auch eine Art Hemmung, eine in Zurückhaltung umschlagende Distanz? Das würde jenen letzten Rest von Neutralität erklären, der Arraus Spiel immer dann kennzeichnet, wenn weder die entfesselte virtuose Selbstdarstellung noch die „Intimität“ am Platze ist.

Vielleicht darf man es so formulieren: Arraus Stilgefühl und sein Künstlertum sind viel zu groß, als daß er jedes beliebige Klavierstück zum Objekt eines pianistischen Temperamentsausbruchs macht, wozu etwa Horowitz neigt. Gegenüber der donnernden Kadenz des Klavierkonzertes von Grieg dann sind Scheu und Zurückhaltung wirklich überflüssig, und hier zeigt Arrau auch, wie bei der Interpretation der beiden Liszt-Konzerte oder gar des Totentanzes von Liszt, deutlich und hinreißend, wie prächtig er, grob formuliert, „aus sich herausgehen“ kann. Doch da, wo die Titanen-Gebärde unangebracht wäre, bleibt Arrau um eine Spur zu zurückhaltend, da verläßt er sich zu sehr auf Geschmack, Grifftechnik und Kultur.

Wo Beethovens Sonaten klare Linienführung, herbes Espressivo und eine, man verzeihe den Ausdruck, diesseitige Lebensbejahung ausdrücken, wird Arraus Kunst ihnen gerecht. Das schwere Vivace a la marcia aus der späten A-Dur-Sonate opus 101 meistert niemand entschiedener, genauer und souveräner als er. Wer vergleichen kann, wie die meisten Pianisten sich mit diesem ungemein schwierigen Stück herumquälen, der wird Arraus Stilgefühl, sein Temperament und seine Anschlagskunst rückhaltlos bewundern. Dies späte Beethovensche Vivace a la marcia gerät sonst so leicht in phantastische Schumann-Nähe hinüber, wodurch es seinen Ernst und seine herbe Unnahbarkeit verliert; manchmal verkümmert es auch zur spröden grifftechnischen Übung.

Arrau gilt als hervorragender Chopin-Spieler. Unnötig zu sagen, daß er die Etüden oder das leuchtend klare Konzert-Allegro opus 46 mit schattenloser Bravour zu meistern vermag. Hört man aber die Interpretation des wilden Chopinschen b-Moll-Préludes opus 28 Nr. 16 von Rubinstein, der sich da völlig von seinem süßen und typischen „Rubinstein-Ton“ distanziert, sich mit ungeheurer Verve in die Klangwogen dieses Presto wirft, die bösen Linien noch viel schärfer und deutlicher nachzieht, als Arrau es tut, dann ist die Folgerung wohl nicht vorschnell, daß eine gewisse Helle, eine, wenn man so will, lateinische Klarheit Arraus Spiel sowohl auszeichnet als auch begrenzt.

Mit bewunderungswürdiger Gespanntheit setzt sich Arrau für Liszt ein, meistert rückhaltlos Grieg, bewährt sein Temperament da, wo extravertierte Kompositionen es zu fordern scheinen. Doch die phantastische Dunkelheit, der zugleich nervöse und wilde Griff ist seine Sache nicht. Dafür entdeckt Arrau eine bewunderungswürdige Spannweite, eine helle Vielfalt der Nuancen und Farben im Bereich des Intimen. Er findet in Beethovens lyrischem G-Dur-Konzert eine Variabilität des leisen, des aktiven Pianos, des Schattierens, Lebens, Drängens, wie man sie in diesem oft genug zum Reißer oder zum sentimentalen Rührstück entwerteten Konzert kaum mehr vermutet hätte. Da vermeidet er jede Annäherung an strahlende Brillanz und erst recht alle selbstgefällige Virtuosität. Jene in fast allen klassischen Konzerten ergreifendste Stelle, wenn nach Beendigung der Kadenz das Orchester wieder hinzutritt und der Solist Abschied nimmt, gewinnt unter seinen Händen größte lyrische Wahrhaftigkeit.

Quelle: Joachim Kaiser: »Große Pianisten der Gegenwart (6): Hundertfünfzig Konzerte pro Jahr. Claudio Arrau vermeidet alle selbstgefällige Virtuosität.« Erschienen am 23. April 1965 in der »Zeit«


TRACKLIST

Grieg / Schumann: Klavierkonzerte


Edvard Grieg (1843-1907)
Klavierkonzert a-moll op.16

[1] 1. Allegro molto moderato 14:33
[2] 2. Adagio 7:04
[3] 3. Allegro moderato molto 11:07
e marcato - Quasi presto -
Andante maestoso

Robert Schumann (1810-1856)
Klavierkonzert a-moll op.54

[4] 1. Allegro affettuoso 16:30
[5] 2. Intermezzo: Andantino grazioso 6:10
[6] 3. Allegro vivace 11:09

Gesamtspielzeit: 66:32

Claudio Arrau, Klavier
Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam
Christoph von Dohnányi

eloquence
(P) 1963


Der Psychologe



Lorenzo Lotto und sein Blick auf die Schwächen des Menschen

Lorenzo Lotto: Verkündigung, 1534/35, Öl auf Leinwand, 166 x 114 cm,
Pinacoteca Civica, Recanati.
Hoch über der Stadt leuchtet das Hilton. Aber Hannah sucht in Budapest kein Bett, sie sucht ein Bild des Malers Lorenzo Lotto. Hannah möchte den Namen des Mannes am Ende der Waldlichtung wissen. Er hat den Arm auf den Baumstumpf aufgestützt, die rechte Hand hält den Kopf, die linke ein Streichinstrument, das an seinem Oberschenkel lehnt. Der Mann ist jung, er ist nackt und schläft. Über ihm schwebt ein Engel mit kräftigen Waden, die Umrisse seines Hinterteils zeichnet das irisblaue Gewand ab. Apollons Familiengeschichte mit all den vielen Affären will sich Hannah nicht anhören. Zuviel Uneindeutigkeit, zuviel Eifersucht, sagt sie, zu viele Schlangen, Riesen, Delphine, zu viele Morde aus Rache.

Dabei hätte Lorenzo Lotto, der das Bild vom schlafenden Apollon mit den Musen zwischen 1530 und 1545 gemalt hat, heute ausgestellt im Budapester Szépmüveszéti-Museum, keinen friedlicheren Körper darstellen können. Apollon, ein perfektes Modell, verwöhnt von der Ersatzmutter Themis und mit Nektar und Ambrosia großgezogen. Vor dem schlafenden Helden am Fuß des Parnaß, über dessen unglückliche Liebeleien mit dem jungen Hyakinthos und Kyparissos Ovid die Nachwelt in Kenntnis gesetzt hat, breiten sich Gewänder in allen Himmelsfarben aus. Aufgeklappte und geschlossene Bücher, Flöten, Posaunen und Weltkugeln liegen zwischen den Kleidern. Links ist es taghell. Vier Musen vollführen in einer Mulde zwischen Büschen und Wegen spukartige Tänze. Es sind alberne Mädchen mit den schlaffen Körpern reifer Frauen. »Weshalb«, möchte Hannah wissen, »sind die Musen so schrill?« Weil sie nicht mehr jung sind, und der Gott der Jugend einschläft, wenn er sie sieht? Aber die Fama, Hannah, sie saust schneller als das Licht, um aller Welt mitzuteilen: Apollon schläft!

Lorenzo Lotto: Schlafender Apollon und die Musen mit der Fama,
 um 1549, Öl auf Leinwand, 44,5 x 74 cm, Szépmüveszéti Múzeum, Budapest.
Das Festhalten des unerwarteten Augenblicks, der scharfe Blick auf heimliche Wünsche, ist der Clou im Werk des Malers Lorenzo Lotto. Die Erschöpfung Apollons, so denkt Lorenzo Lotto seine Geschichte, war das Glück der Musen. Dinge, die nur in der Welt der Vorstellung Gestalt annehmen, faszinierten ihn. Er ertappte seine Figuren im Augenblick des Schreckens, seine besten Darstellungen sind schamlos menschlich erzählt. Er malte Details, wie sie noch nie gemalt worden waren. Er malte keine schönen glatten Frauenkörper, keine Liebesbilder, keine leibliche Pracht wie der acht oder neun Jahre jüngere Tizian und der um drei Jahre ältere Malerpoet Giorgione. Zwar gehörte das Staunen zum Wesen der Renaissance, es steht aber in strenger Konkurrenz zur geforderten Akkuratesse. Lorenzo Lotto hielt sich nicht an Regeln. Als er geboren wurde, hatten Giovanni Bellini und Andrea Mantegna das Wunder der Raumillusion und der verwegenen Maßstäbe schon vorgeführt. Lotto profitierte von ihrem Können und ihrem neuen Wissen, ein Dogma waren die Prinzipien der Perspektive für ihn nicht. So mußte der Venezianer 1503 Venedig verlassen, um anderswo Arbeit zu finden. Ein fünfzigjähriges Wanderleben begann.

Lorenzo Lottos harte und kühle Farben überschneiden sich mit dem venezianischen Lyrismus Giorgiones und Tizians. Lotto ist ein Künstler, den Venedig vierhundert Jahre lang nicht zur Kenntnis nahm. Bis heute macht die Horde der Renaissanceforscher um Lotto einen Bogen, so wie Lotto einen Bogen um die großen Städte machen mußte, um Auftraggeber zu finden. Abgesehen von den Jahren in Venedig und einer Zeit in Rom, verbrachte er sein Leben abseits der Zentren: in Treviso, zwanzig Jahre in Bergamo, drei Jahre in Ancona, auch in Recanati und die letzte Lebensfrist in Loreto. Fünfzehn Lire für eine Madonna und Kind, zehn für die heilige Katharina.

Lorenzo Lotto: Maria mit dem Kind und Hll. Katharina und Jakobus d. Ä.,
 1527/33, Leinwand, 117 x 152 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien.
Die Monographie des jungen Kunsthistorikers Bernard Berenson, der 1894 hellsichtig genug war, den Maler zu entdecken, hatte Folgen, wenn auch keine großen. Allerdings fing man an, sich über Zuschreibungen zu streiten. 1953 ließen sich die Venezianer herab, Lottos Werk im Dogenpalast zu versammeln. 1980 beging man seinen 500. Geburtstag, 1983 wurden in der Ausstellung The Genius of Venice in der Londoner Royal Academie dreizehn Gemälde Lottos präsentiert; man bejubelte die Entdeckung eines peintre maudit. 1988 wurde Lotto in Bergamo in einer Ausstellung gewürdigt, die anschließend in der National Gallery of Art in Washington und im Pariser Louvre zu sehen war. Lotto hat vorweggenommen, was der Dichter Stephane Mallarmé vierhundert Jahre später »Frostgehirne abtauen« nannte.

Nicht nur der Spötter Aretino hat sich in der Einschätzung Lottos blamiert. Er pries Lotto als Lamm in Malergestalt: »Gut wie die Güte selbst und tugendhaft wie die Tugend!« und übersah alles: die harte Palette, Licht und Schatten, die suggestiv-raffinierte Bilddramaturgie, die unerbittlichen Blicke, die Nahaufnahmen des Gesichts. Der Maler Lotto ist ein Lotse, sein Pfad führt ins Innere. Rembrandt, Ingres und Degas haben von seiner Vertrautheit mit der Psyche gelernt.

Im Jahre 1503 legte der junge Lotto die dreißig Kilometer von Venedig nach Treviso zu Fuß zurück. Die hügelige Landschaft mit kastenförmigen Häusern, quadratischen Türmen und weitgeschwungenen Wegen wird der Maler im Hintergrund seines ersten überlieferten Bildes malen. Von Anfang an benutzt er in seinen Gemälden die Strategie einer Sphinx. Wer diese Bilder im Bild mit einem Blick erkennt, ist ein Fischer in der Wüste. Niemand weiß, wer diesem Lorenzo Lotto Erzähltalent und analysierenden Menschenblick beigebracht hat. Nirgendwo ist er als Lehrling eines Meisters verzeichnet, nie hat man herausbekommen, wann genau er um das Jahr 1480 geboren worden ist und wer seine Eltern waren. 1568 schreibt Vasari, der alles weiß und manches dazu erfindet, Lorenzo Lotto habe Bellini nachgeahmt und auch Giorgione imitiert. 1503 hatte Giorgione seine berühmten Bilder noch nicht gemalt, aber Meister zu kopieren war ein Privileg, das derjenige genoß, der es verstand. Giovanni Bellinis Gemälde waren Vorbilder für den jungen Lotto. Heute geht man davon aus, daß Alvise Vivarini Lottos Lehrer war.

Lorenzo Lotto: Bildnis eines Jünglings vor weißem Vorhang,
1508, 53 x 42 cm, Lindenholz, Kunsthistorisches Museum, Wien.
Der Maler überredete seine Zeit mit Gesten. Schon die frühe Maria-und-Kind-Darstellung zeigt, daß Hände soviel sagen wie Zungen. Auch Bellini war ein Handdeuter, aber Lotto machte daraus eine Manier. Lorenzo Lotto ist der malende Erzähler der Geschichten vom Rand der Geschichten. Er ist ein Semiotiker vor der Erfindung der Semiotik. Manchmal klärte er die Rätsel auf Spruchbändern auf, oft hängen die Wörter buchstäblich am seidenen Faden.

Um Lotto zu entdecken, fährt Hannah weiter nach Wien. Im Kunsthistorischen Museum hängt Lottos verrückt-verwegenstes Bild: die Madonna mit dem Amulett, dargestellt während einer Landpartie mit nervösen Heiligen. Jedes Stück Stoff, das die Ausflügler am Leib tragen, flattert, alle Hände sind in Bewegung, auch der Baum, unter dem die vier Personen knien und sitzen, vibriert. Den Jüngling vor weißem Vorhang vergleicht Hannah mit den Großgesichtern von Thomas Ruff. Wie Ruffs Porträts heute ist Lottos um das Jahr 1506 entstandenes Hauptwerk ein provozierend eindringliches Gegenüber. Der »Jüngling« hat die Lippen unter der prononcierten Nase kaum geöffnet, die engstehenden Augen sind auf den Betrachter gerichtet, das rötliche Haar unter der schwarzen Kappe stößt auf die hochgeschlossene schwarze Jacke, die am Hals mit einem weißen Stehkragen abschließt. Der helle, mit Ornamenten verzierte schwere Stoff öffnet sich, im Dunkeln brennt eine Öllampe.

Lotto setzte in seinem Memento mori das Lebenslicht in einen Spalt. Gehörte der junge Mann zum Hofstaat von Lottos erstem Auftraggeber Bischof De' Rossi, veredelte Lotto dessen bürgerliche Herkunft durch den »Brokat« im Hintergrund, der zugleich seinen Vornamen »Broccardo« versinnbildlicht? Aber das sind emblematische Nebensächlichkeiten angesichts der Gespaltenheit des Herzens, die diesem Mann ins Gesicht geschrieben steht. Das Bild ist, wie die meisten von Lorenzo Lottos Porträts, und wie Thomas Ruffs Arbeiten auch, eine Studie über die Möglichkeiten des stummen Gesprächs.

Lorenzo Lotto: Ein Goldschmied in drei Ansichten, 1525/35,
52 x 79 cm, Leinwand, Kunsthistorisches Museum, Wien.
Tizian stellte die Drei Mannesalter als Allegorie der Klugheit dar, Lotto zeigt einen lockigen Mann mit drei Gesichtern (Goldschmied in drei Ansichten). Er malt ein und denselben Kopf in drei unterschiedlichen Positionen, eine physiognomische Tabula rasa, gespiegelt ohne Spiegel. Sein Ideal war die Unmittelbarkeit. Die Londoner National Gallery besitzt neben dem Goldschmied auch Lorenzo Lottos einziges großes Frauenporträt. Der Maler, der nicht viel von Frauen hielt und nie verheiratet war, bildete sie meist platt und maskenhaft ab. Das war bei Lucrezia Valier ganz anders. Sie malt er verführerisch schön. Lucrezia Valier hat gerade Benedetto Girolamo di Pesaro geheiratet. Ihre vielen Haare sind zu einer mit Schleifen geschmückten Lockenkrempe hochgebunden, ein paar filigrane Strähnen haben sich gelöst. Eine verheiratete Frau zeigte ihr offenes Haar nicht. Dem Betrachter hält sie eine Zeichnung der römischen Heldin Lucretia entgegen, die sich selbst entleibte, weil Tarquinius Sextus sie geschändet hatte; auf einem Stück Papier bietet sie den weiblichen Betrachtern eine Aufforderung zur Keuschheit dar, der Zweig eines Mauerblümchens liegt davor. Das Gewissen muß die junge Ehefrau bei soviel vorgetragener guter Absicht geplagt haben.

Hannah weiß nicht, ob sie Lucrezia Valier oder dem Bild vom traurigen jungen Mann in den venezianischen Gallerie dell' Accademia den Vorzug geben soll. Fahl und ausgemergelt blättert er in einem dicken Folianten, ein erbrochener Brief liegt daneben und ein Ring. Feinste Rosenblätter (die der Maler auf vielen seiner Bilder verstreut) sind auf die blaue Fransendecke gefallen, über die eine Eidechse kriecht, ein phallisches Symbol. Lottos Bildersprache beschäftigt sich mit den Übergängen von einem Lebensstadium in ein nächstes. Eine Verstörung ist eingetreten, eine biographische Veränderung, wie Ehe, Liebesverlust, Todesahnung. Lotto bietet dem traurigen Unbekannten die Hinwendung zur Wissenschaft und den Rückzug in die Einsamkeit an.

Lorenzo Lotto: Porträt einer Venezianerin als Lucrezia
(Lucrezia Valier), 1533, Öl auf Holz, 95 x 110 cm,
National Gallery, London.
Oben in Bergamo, das 1428 mit seinen 23000 Einwohnern venezianische Provinzstadt wurde, ist Hannah eine Woche geblieben. Sie hat im Café »Torquato Tasso« mit Monsignore vor dem Hochamt einen doppelten Espresso getrunken und Bergamo durchstreift, bevor die Menschen Hunde, Katzen und Tauben verjagen und die Kinder dem Marmorlöwen den Buckel runterrutschen.

Für die Intarsien des Chorgestühls im Dom Santa Maria Maggiore lieferte der Künstler die Zeichnungen. Die Bruderschaft della Misericordia war mit seinen gewagten Bibelinterpretationen nicht einverstanden. Am 10. Februar 1528 verteidigte sich Lorenzo Lotto von Venedig aus, dort war er bei den Dominikanern von Giovanni e Paolo untergekommen. »Ich habe mich nicht stärker geirrt«, schrieb er an den Rektor der Bruderschaft, »als der Meister Girolamo Terzi, gläubige Männer, angesehene Theologen und Prediger haben mir das bestätigt.« Als Lohn verlangte er unverzüglich Brokat oder einen anderen festen schwarzen Stoff für eine Jacke. Obwohl er schon 1505 als Pictor celeberimus angesehen war und hohe kirchliche Würdenträger und Edelleute zu seinen Auftraggebern gehörten, war sein Alltag der eines Bittstellers und Almosenempfängers. Solange es den Künstler gibt, existiert die Legende vom unverstandenen Künstler. Vor allem, wenn er, wie Lorenzo Lotto, gegen die Homogenisierung des Geschmacks verstößt und erzählt, was nicht erzählt werden soll.

Lorenzo Lotto: Porträt eines jungen Manns in seinem Studio,
um 1530, 98 x 111 cm, Öl auf Leinwand,
Gallerie dell'Accademia, Venedig.
Das dicke Jesuskind sitzt auf einem Kindersarg, die Madonna trägt an einem langen Band zwei Amulette, ein Engel schreibt, eine schwarze Magd hält ein dickes Kind. Eine solche Erzählung war Lottos Zeitgenossen verdächtig. Sollte Lotto etwa ein Abtrünniger sein, einer, der es wagte, im aufgeputschten gegenreformatorischen Klima Symbole außerhalb des Kanons zu benutzen? Lange Zeit wurden seine Werke Hans Holbein und Lucas Cranach zugeschrieben, ein Bildnis Luthers fand man in seinem Nachlaß. Lotto, ein italienischer, katholischer Künstler, malte das selbstbestimmte, vom persönlichen Schicksal getroffene Individuum. Konnte man wahrhaben, was man sah, oder nahm diese Malerei Sujets deutscher Maler wie Holbein und Cranach vorweg?

Schon bei seinem Debüt legte Lorenzo Lotto den Charakter des sechsunddreißigjährigen Bischofs von Treviso, Bernardo De' Rossi, Graf von Berceto, offen. De' Rossis Gesicht mit den aufmerksam blickenden wassergrünen Augen ist eine vulkanische Landschaft. Ein Knäuel fein rötlicher Haut hängt als Hauttasche über dem Mundwinkel. Lotto weiß, daß existentielle Angst nicht nur das Innere, sondern auch das Äußere bestimmend verändert. Was bei Bellini und Giorgione Perfektion und schöne Ruhe atmet, offenbart bei ihm Begierde, Zweifel und Schmerz.

Natürlich war Treviso verglichen mit Venedig ein Nichts. In der Serenissima stolzierten die Vendramins und Contarinis herum, kultivierten eine Art Geheimsprache und verlangten von den Malern, daß sie die richtigen Symbole für ihren neuen Humanismus aus den Büchern suchten und ins Bild umsetzten. Die venezianischen Künstler wußten sich an die Vorlieben der Auftraggeber für verborgene Themen zu halten. Aber auch das kleine bescheidene Treviso war ein Zentrum neuer Gelehrsamkeit. Der Astrologe Battista Abioso, der Alchemist Bernardo Trevisano, der Autor des berühmtesten Buches der Zeit, des Hypnerotomachia Poliphili, der Mönch Francesco Colonna, lebten in Treviso. Lorenzo Lotto konnte in der Bibliothek des Bischofs Rossi die Bücher der Humanisten, Theologen und Juristen studieren. Ihnen hat er den Fundus für seine doppeldeuligen Geschichten entnommen.

Lorenzo Lotto: Bischof Bernardo de'Rossi,
 Graf von Berceto. 1505, Öl auf Holz, 54 x 41 cm,
 Museo Nazionale di Capodimonte, Neapel.
Lorenzo Lotto war interessiert an der Psyche und neugierig auf die Physiognomie des Menschen. Er forschte in den Gesichtern, den Gesten, dem Habitus und hintertrieb so die vorgeschriebene Erzählung frommer Geschichten. Die Alten, die lüstern Susanna beim Baden zusehen, verwandelt Lotto in zwei junge Voyeure; Luzifer, den der Erzengel Michael aus dem Himmel stößt, üblicherweise als Scheusal dargestellt, ist im Gemälde Lorenzo Lottos eine laszive Schönheit. Luzifer ist die einzige erotische Figur in seinem Werk. Und wieder wurde Verdacht geschöpft. Wer beim Malen des Versuchers ins fleischliche Schwärmen gerät, muß ein Abtrünniger sein.

Der alternde Maler verlor seine Fähigkeit, Farben zum Glänzen zu bringen. Seine Palette wurde stumpf, alles erscheint grau hinter einem dunstigen Schleier. Lorenzo Lotto übertrug sein Lebensgefühl auf die letzten Gemälde. Er ist ermattet, aber seine Phantasie ist noch keineswegs erschöpft. Im angenommenen Todesjahr 1565 malte er einen Altar gestützt auf vier menschliche Füße. Die Surrealisten werden mit solchen Themen unser Jahrhundert schockieren, und keiner wird vermuten, daß ihre revolutionären Ideen vierhundert Jahre alt sind. Uralt und gebrochen zeichnet Lotto in seinem letzten Jahr mit schwarzer Kohle in sanften feinen Strichen eine Grablegung, ein Greis nahm Abschied, ein Künstler skizziert sein Ende.

Zehn Jahre zuvor, im Alter von sechsundsechzig Jahren, hatte er ein detailliertes Testament verfaßt. Er wünschte, daß nach seinem Tod seine Bilder sofort und billig an Fremde versteigert würden, damit diese gut von ihm dächten. Am 1. September 1556 notierte Lotto zum letzten Mal in sein penibel geführtes Libro di Spese. Irgendwann zwischen September 1556 und Juni 1557 ist Lorenzo Lotto in Loreto in der Bescheidenheit eines Laienbruders des Klosters der Casa Santa gestorben. Am 1. Juli 1557 kaufte ein durch Loreto ziehender französischer Soldat etliche Gemälde Lottos. Das Testament hatte sich erfüllt.

Lorenzo Lotto: Präsentation im Tempel
 (Altar mit vier menschlichen Füßen),
1555, Öl auf Leinwand, 172 x 137 cm,
Santuario della Santa Casa, Loreto.
Zu Hause in Venedig berauschte man sich am kühnen Tintoretto und festlichen Veronese, die den alten hochverehrten Tizian sogar zeitweise in den Schatten stellten. Von Lorenzo Lotto war nicht die Rede, er war ein Künstler ohne Ruhm, ohne Anhänger und künstlerische Erben. Das Dogma der Perspektive war für ihn immer nur eine Möglichkeit. In der Verkündigung zieht er die über die Ankunft des Engels im Schreck geduckte Maria so stark in den Vordergrund, daß sie aus dem Bild zu stürzen scheint, seine Muttergottes ist ein Mädchen wie andere auch. Am Sims hängen die Requisiten eines gewöhnlichen Lebens mit Nachthaube, Schal und Kerze. Eine Katze buckelt und jagt davon.

So verknüpfte dieser Maler des Plötzlichen Tatsachen mit Legenden und ertappte seine Figuren bei dem, was sie dachten und heimlich taten, und die Welt schaut bis heute und staunt. Der Glaube an Gott ist kein Honigschlecken. Bald wird das Versteckspiel mit Heiligen und antikem Personal zu Ende sein. Apollon wacht auf, die Musen ziehen ihre Kleider über. Maria, Joseph, Magdalena und Katharina werden, nachdem das Barock den Künstlern Italiens noch einmal Flügel wachsen läßt, aus den Leinwänden verschwinden, und die Künstler fallen in Agonie. Die Geschichten sind ausgeschöpft. Der Vorrat reicht für Generationen.

Quelle: Verena Auffermann: Das geöffnete Kleid. Von Giorgione zu Tiepolo. Essays. Berlin Verlag, 1999. ISBN 3-8270-0309-1. Seiten 83-95


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Franz Schubert: Schwanengesang – 9 Lieder (Dietrich Fischer-Dieskau, Gerald Moore, 1969/70)

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Dietrich Fischer-Dieskaus Zusammenarbeit mit dem britischen Klavierbegleiter Gerald Moore erstreckte sich über mehr als zwei Jahrzehnte. Sie begann 1951 in den Londoner Abbey-Road-Studios, wo der Produzent Walter Legge die beiden Musiker zu gemeinsamen Aufnahmen zusammengeführt hatte, und dauerte bis in die frühen siebziger Jahre, als die auf dieser CD festgehaltenen Interpretationen entstanden. Es war eine Zeitspanne, in der die westeuropäische Gesellschaft eine Reihe tiefgreifender Wandlungen durchlief, von den schweren Jahren der Nachkriegszeit über das deutsche »Wirtschaftswunder« bis hin zur Studentenbewegung und dem Ende des Vietnamkriegs.

In den frühen siebziger Jahren waren Fischer-Dieskau und Moore Symbole einer eigentlich schon vergangenen Ära. In seiner Autobiografie »Nachklang« äußert sich Fischer-Dieskau mit einer gewissen Ambivalenz zu den sozialen Krisen der späten sechziger Jahre, wenn er schreibt, die Studentenbewegung habe eine »tiefe Depression« ausgelöst, »weil nicht abzusehen war, wohin die anscheinende Willkür führen sollte«. Die Kunst des Liedgesangs, als deren herausragender Exponent Fischer-Dieskau galt, stand in krassem Gegensatz zur Welt des Rock 'n' Roll, zumal sie nicht nur Innerlichkeit und Kontemplation symbolisierte, sondern auch einen Glauben an Distinktion und Qualität, der schon bald von den Kräften des Crossover und der Postmoderne attackiert werden sollte.

Zwischen 1966 und 1972 entstand in Berlin Fischer-Dieskaus Einspielung aller 463 Schubert-Lieder für Männerstimme - das bis dahin wohl ambitionierteste Aufnahmeprojekt auf dem Gebiet des Sologesangs. Es war dies die krönende Leistung einer musikalischen Partnerschaft, die bereits mit allen nur denkbaren Auszeichnungen und Preisen gewürdigt worden war. Nachdem 1969 die ersten 172 Lieder auf zwölf LPs erschienen waren, entstand im März 1972 die vorliegende Aufnahme des Schwanengesangs. Zusammen mit den großen Liedzyklen Die schöne Müllerin und Winterreise erschien sie in der dritten LP-Box, dem Höhepunkt dieses monumentalen Unternehmens.

Die Aufnahme des Schwanengesangs dokumentiert die Zusammenarbeit von Fischer-Dieskau und Moore in ihrer Reife. Von Beginn an verkörperte diese Beziehung zwischen Sänger und Begleiter eine seltene Synergie zweier musikalischer Gestalter. Diese offenbarte sich in einem gemeinsamen Gefühl für Rhythmus und in übereinstimmenden musikalischen Zielen, woraus sich die weiteren Elemente ihrer Interpretationen wie von selbst ergaben. Da sich die Künstler ohne viele Worte verständigten, konnten die Aufnahmesitzungen oft relativ schnell abgeschlossen werden. Zudem nahm Fischer-Dieskau Lieder am liebsten vollständig und ohne Schnitte auf, mit nicht mehr Wiederholungen als absolut notwenig.

Die beiden früheren Schwanengesang-Aufnahmen des Duos Fischer-Dieskau/Moore stammen von 1951 bis 1958 und 1961. Sie bestechen nicht nur durch technische Vollkommenheit, sondern auch durch eine emotionale Energie, die weniger wohlwollende Kritiker zu dem Vorwurf veranlasst hat, Fischer-Dieskau dramatisiere die Musik zu sehr, übertreibe dynamische Kontraste und versehe den Text mit einem Übermaß an Nuancierungen - zu Lasten der musikalischen Gesamtform. Solche Kritik wird Fischer-Dieskau als ungerecht empfunden haben, da er selbst ein unermüdlicher Anwalt für die Einheit von musikalischer Linie und Struktur war. In einem Artikel für die Österreichische Musikzeitschrift reagierte er mit folgendem Beispiel aus dem Schwanengesang: »Ich hasse es, wenn dem Liedersänger beim ‚Doppelgänger‘ Opernnähe angekreidet wird, nur weil er Schuberts Verlangen nach dreifachem Fortissimo bei den Höhepunkten gerecht wird.«

Wie immer man zu dieser noch nicht abgeschlossenen Debatte steht - es sei nur auf die ÄuBerung eines heutigen Schubert-Interpreten verwiesen, es gebe mehr Dramatik im »Doppelgänger« als im gesamten Schaffen Richard Wagners! -, so ist doch unbestreitbar, dass die Schwanengesang-Aufnahme von 1972 nicht die Spur von überzogener Theatralik enthält. Fischer-Dieskaus Lesart basiert auf totaler Konzentration und Ökonomie der Mittel. Mit feinfühliger Phrasierung und beherrschtem »Espressivo« wandelt er souverän auf jenem schmalen Grat zwischen romantischem Fabulieren und nihilistischer Verzweiflung, der so oft die Lieder Schuberts prägt.

Der Schwanengesang ist wahrscheinlich nicht als Zyklus im engeren Sinn konzipiert, sondern eher eine bestechend vielfältige Gruppe von Liedern. Sie alle entstanden in Schuberts letztem Lebensjahr, basierend auf Gedichten von drei verschiedenen Dichtern. Das Spektrum reicht vom berühmten »Ständchen« (Rel1stab) - eine Art Visitenkarte vieler berühmter Tenöre - bis zur bezaubernden Frische der »Taubenpost« (Seidl) und den überaus originellen Klanggemälden und atmosphärischen Effekten in Heine-Liedern wie »Der Atlas«, »Die Stadt« und »Am Meer«. Darüber hinaus sind auf dieser CD weitere berühmte Lieder zu hören, darunter »Die Forelle«, »Heidenröslein«, »An die Musik« und der unverwüstliche »Musensohn« sowie bisher unveröffentlichte Aufnahmen der Lieder »Die Erde« und »Vollendung«, entstanden im April 1972. Alle diese Interpretationen zeigen einen Sänger, der die musikalische Linie durch Disziplin und Erfahrenheit beherrscht und der sich mit besonderer Aufmerksamkeit der komplizierten Wechselwirkung von Musik und Sprache widmet. Nur selten treten diese Qualitäten so offen zutage wie in diesen Aufnahmen. Nicht weniger delikat ausgestaltet erscheinen Moores Begleitungen, in denen nur ganz selten die musikalische Stimmigkeit dem kurzfristigen Effekt geopfert wird. Und auch seine gelegentlichen Konzessionen an den flüchtigen Moment - etwa in der »Taubenpost« oder im »Heidenröslein« - steigern nur den Charme und die Individualität seines Spiels.

Diese Aufnahmen machen erlebbar, was Fischer-Dieskau und Moore zu ihrer Zeit verkörperten: nämlich die idealen musikalischen Partner - hochkultiviert und doch leidenschaftlich, gleichberechtigt als Musiker und doch individuell als Künstler. Ihre Interpretationen der großen Schubert-Lieder vermitteln eindrücklich das gesamte emotionale Spektrum der Frühromantik. Bis zur Perfektion gestaltet das Duo jene fragile Mischung aus lyrischem Leiden einerseits und einer immer wieder in Verzweiflung umschlagenden Fröhlichkeit andererseits. Und bei all dem bleiben stets jene Noblesse und Souveränität bestehen, die den Unterschied zwischen bloß guten und wirklich großen Interpretationen markieren.

Quelle: John Stopford: Eine ideale musikalische Partnerschaft (Übersetzung: Tobias Möller, Syrinx), im Booklet

TRACKLIST

Franz Schubert
(1797-1828)


SCHWANENGESANG D 957
Le Chant du cygne

(01) 1. Liebesbotschaft [2'43]
Ludwig Rellstab

(02) 2. Kriegers Ahnung [4'30]
Ludwig Rellstab

(03) 3. Frühlingssehnsucht [3'14]
Ludwig Rellstab

(04) 4. Ständchen [3'50]
Ludwig Rellstab

(05) 5. Aufenthalt [3'19]
Ludwig Rellstab

(06) 6. In der Ferne [5'30]
Ludwig Rellstab

(07) 7. Abschied [4'20]
Ludwig Rellstab

(08) 8. Der Atlas [2'11]
Heinrich Heine

(09) 9. Ihr Bild [2'51]
Heinrich Heine

(10) 10. Das Fischermädchen [2'00]
Heinrich Heine

(11) 11. Die Stadt [2'54]
Heinrich Heine

(12) 12. Am Meer [4'31]
Heinrich Heine

(13) 13. Der Doppelgänger [4'23]
Heinrich Heine

(14) 14. Die Taubenpost [3'32]
Johann Gabriel Seidl


9 LIEDER

(15) Vollendung D 579A (D 989A)* [3'26]
Friedrich von Matthisson

(16) Die Erde D 579B (D 989)* [2'23]
Friedrich von Matthisson

(17) An die Musik D 547 [2'33]
Franz von Schober

(18) An Silvia D 891 [2'41]
William Shakespeare

(19) Heidenröslein D 257 [1'42]
Johann Wolfgang von Goethe

(20) Im Abendrot D 799 [4'09]
Karl Lappe

(21) Der Musensohn D 764 [2'04]
Johann Wolfgang von Goethe

(22) Die Forelle D 550 [1'57]
Christian Friedrich Daniel Schubart

(23) Der Tod und das Mädchen D 531 [2'29]
Matthias Claudius

Total: [73'12]

DIETRICH FISCHER-DIESKAU, Baritone
GERALD MOORE, Piano

* First Release


Recording: Berlin, Ufa-Ton-Studio, December 1966 - February 1968 [(19),(23)],
February/March 1969 [(17),(18),(20)-(22)], 7 + 9 March 1972 [(01)-(14)],
6 April 1972 [(15)-(16)]

Executive Producers: Dr. Ellen Hickmann [(01)-(16)], Otto Gerdes [(17)-(23)]
Recording Producers: Cord Garben [(01)-(14)], Volker Martin [(15)-(16)], Rainer Brock / Hans Ritter [(17)-(23)]
Balance Engineers (Tonmeister): Hans-Peter Schweigmann [(01)-(16)], Hans-Peter Schweigmann / Harald Baudis [(17)-(23)]
Recording Engineers: Jobst Eberhardt [(01)-(14)], Helmut Najda [(15)-(16)], Wolfgang Werner / Helmut Najda [(17)-(23)]

Fischer-Dieskau Edition 75
(P) 1969/1970/1972
(P) 2000 (15)-(16)
(C) 2000


Aus Spaniens Goldener Zeit


San Juan de la Cruz (1542-1591).
Bild von Francisco de Zurbarán, 1656. [Quelle]
SAN JUAN DE LA CRUZSTEFAN GEORGE
En una noche escuraIn einer dunklen nacht
En una noche escura
Con ansias en amores inflamada,
¡O dichosa ventura!
Salí sin ser notada,
Estando ya mi casa sosegada.

A escuras y segura
Por la secreta escala disfrazada
¡O dichosa ventura!
¡A escuras y en celada
Estando ya mi casa sosegada!

En la noche dichosa
En secreto que nadie me veia,
Ni yo miraba cosa,
Sin otra luz ni guia
Sino la que en el corazon ardia.

Aquesta me guiaba
Mas cierto que la luz de medio dia
A donde me esperaba
Quien yo en me sabia
En parte donde nadie parecia.

O noche que guiaste
O noche amable mas que el alborada,
O noche que juntaste
Amado con amada
Amada en el amado trasformada!

En mi pecho florido,
Que entero, para él solo se guardaba,
Allí quedó dormido,
Y yo le regalaba,
Y el ventalle de cedros aire daba.

El aire del almena
Cuando ya sus cabellos esparcia
Con su mano serena,
En mi cuello heria,
Y todos mis sentidos suspendia.

Quedéme y olvidéme,
El rostro recliné sobre el amado,
Cesó todo y dejéme,
Dejando mi cuidado
Entre las azucenas olvidado.
In einer dunklen nacht
Voll liebes flammen und voll bangem beben
o glückliches geschick
Enteilt ich unbewacht
Da schon mein haus zur ruhe sich begeben.

Im dunkel sicher schritt
Ich die geheime treppe in verkleidung
o glückliches geschick
Im dunkel und verhüllt
Da schon mein haus zur ruhe sich begeben.

In der beglückten nacht
Geheim wo keiner mich erkannte
Noch ich ein ding erspäht
Kein leiter und kein licht
Nur das was innen mir im herzen brannte.

Dorthin entführt' es mich
So sicher wie durch mittagliche helle
Dorthin wo er mein harrte
Den ich am orte wußte
Wo niemand anders konnte sein.

O nacht die du mich führtest
O nacht mir holder als die morgenröte
O nacht die du vereintest
Den freund mit der geliebten
Den freund in die geliebte eingegangen.

An meiner blumigen brust
Die ich für ihn allein mir rein bewahrte
Da blieb er schlummernd liegen
Und ich liebkoste ihn
Indem der zedernfächer kühlung wehte.

Als schon der dämmerung luft
In seinen haaren spielte
Faßte er mich am hals
Mit der erlauchten hand
Und alle meine sinne standen still.

So blieb ich und vergaß mich
Das antlitz zum geliebten neigend
Die Welt schwand. Ich versank
Und meine sorgen sanken
Inmitten der lilien begraben.

In einer dunklen Nacht, mit Ängsten in Liebe entbrannt - oh glückliches Geschick! -, ging ich hinaus, ohne bemerkt zu werden, als mein Haus schon im Schlafe lag.

Im Dunkeln und sicher, über die geheime Treppe, verkleidet - oh glückliches Geschick! -, im Dunkeln, in Verhüllung, als mein Haus schon im Schlafe lag.

In der glücklichen Nacht, im Geheimen, wo niemand mich sah und auch ich nichts sah, ohne Führer und anderes Licht, als das, was in dem Herzen brannte.

Jenes führte mich sicherer als das Licht des Mittags, dorthin, wo mich der erwartete, den ich wohl mir wußte am Ort, wo niemand (sonst) erschien.

O Nacht, die du führtest, o Nacht, liebenswürdiger als der Tagesanbruch, o Nacht, die du verbandest Geliebten mit Geliebter, Liebenden mit Liebender, Geliebte in den Geliebten verwandelt.

An meiner erblühten Brust, die für ihn ganz allein sich bewahrte, dort blieb er schlafend, und ich beschenkte ihn, und der Fächer der Zedern gab Luft.

Die Luft von der Zinne, als sie schon seine Haare durchwehte mit ihrer heiteren Hand, berührte mich an meinem Hals, und alle meine Gefiihle standen still.

Ich blieb (so) und vergaß mich; das Antlitz neigte ich über den Geliebten, alles schwand, und ich gab mich hin, hingebend meine Sorgen, zwischen den Lilien vergessen.

Der gekreuzigte Christus. Bild von
Diego Velázquez, 1632, Prado Museum, Madrid.
ANONYMKARL VOSSLER
EL CRISTO CRUCIFICADOAN DEN GEKREUZIGTEN
No me mueve, mi Dios, para quererte,
el cielo que me tienes prometido,
ni me mueve el infierno tan temido
para dejar por eso de ofenderte.

Tú me mueves, Señor; muéveme el verte
clavado en una cruz y escarnecido;
muéveme ver tu cuerpo tan herido;
muévenme tus afrentas y tu muerte.

Muéveme, al fin, tu amor, y en tal manera,
que aunque no hubiera cielo, yo te amara,
y aunque no hubiera infierno, te temiera.

No me tienes que dar porque te quiera;
pues aúnque lo que espero no esperara,
lo mismo que te quiero te quisiera.
Wer flößt mir, Herr, zu dir die Liebe ein?
Nicht Hoffnung auf verheißne Seligkeit.
Was hindert mich zu tun, das dir zu leid
sein könnte? Nicht die Angst vor Höllenpein.

Du selbst, mein Gott, ergreifst mich, du allein.
Weil man dich geißelt, kreuzigt und bespeit
und deine Wunden und die Niedrigkeit
und deinen Tod ich seh, drum bin ich dein.

An deiner Lieb wird mir die meine klar:
ich liebte dich auch ohne Himmelreich
und fürchtete dich ohne Höll fürwahr.

Und reichtest du mir keine Gabe dar,
und hofft' ich nichts für mich, es blieb sich gleich,
die Liebe wäre, wie sie ist und war.

Weder bewegt mich, mein Gott, dich zu lieben, der Himmel, den du mir versprochen hast, noch bewegt mich die so gefürchtete Hölle, deswegen abzulassen, dich zu verletzen.

Du bewegst mich, o Herr; es bewegt mich, dich zu sehen, genagelt an ein Kreuz und verhöhnt, es bewegt mich, deinen so verletzten Körper zu sehen; es bewegen mich die Beschimpfungen (die du erleiden mußtest) und dein Tod.

Es bewegt mich schließlich deine Liebe in solcher Weise, daß ich auch wenn es keinen Himmel gäbe - dich liebte, und gäbe es auch keine Hölle, dich fürchtete.

Nichts mußt du mir geben, damit ich dich liebe; denn auch wenn ich das, was ich erhoffe, nicht erhoffte, liebte ich dich in gleicher Weise, wie ich dich liebe.

Miguel de Cervantes y Saavedra (1547-1616).
Zugeschrieben Juan de Jáuregui. [Quelle]
MIGUEL DE CERVANTES SAAVEDRAAUGUST WILHELM SCHLEGEL
Afuera el fuegoWeg mit dem Feu'r
Afuera el fuego, el lazo, el hielo y flecha
De amor que abrasa, aprieta, enfria y hiere,
Que tal llama mi alma no la quiere,
Ni queda de tal ñudo satisfecha.

Consuma, ciña, hiele, mate, estrecha
Tenga otra voluntad cuanto quisiere,
Que por dardo, ó por nieve, ó red no espere
Tener la mia en su calor deshecha.

Su fuego enfriará mi casto intento,
El ñudo romperé por fuerza ó arte,
La nieve deshará mi ardiente celo,

La flecha embotará mi pensamiento:
Y así no temeré en segura parte
De amor el fuego, el lazo, el dardo, el hielo.
Weg mit dem Feu'r, dem Pfeil, dem Frost, der Schlinge
Amors, der brennt, trifft, kältet und verstricket;
Nicht solcher Flamme mein Gemüt sich schicket,
Nicht solche Bande lähmen ihm die Schwinge.

Er zehr', erleg', erstarre, fessle, zwinge
Den Willen, der auf seine Winke blicket,
Nur daß Pfeil, Schnee und Netz, was er auch schicket,
Den mein'gen nicht mit seiner Glut durchdringe.

Mein keuscher Vorsatz soll sein Feuer schwächen,
Den Knoten soll Stärk' oder Kunst zerreißen,
Mein heißer Eifer soll den Schnee zerstreuen,

Des Pfeiles Spitze mein Gedanke brechen:
So werd' ich den Gefahren mich entreißen,
Und Amors Brand, Pfeil, Schling' und Frost nicht scheuen.

Hinaus das Feuer, die Schlinge, das Eis und (den) Pfeil Amors, der brennt, bedrängt, abkühlt und verletzt, (eine) solche Flamme ersehnt meine Seele nicht, noch gibt sie sich mit solchem Knoten zufrieden.

Er verzehre, fessele, vereise, töte, bedränge einen anderen Willen, welchen immer er mag; durch Pfeil oder durch Schnee oder Schlinge soll er nicht hoffen, den meinen mit seiner Hitze zu zerstören.

Sein Feuer wird mein keuscher Vorsatz abkühlen, den Knoten werde ich durch Kraft oder Kunstfertigkeit zerreißen, den Schnee wird mein glühender Eifer schmelzen,

den Pfeil wird mein Gedanke stumpf machen: und so werde ich nicht fürchten, an sicherem Orte, Amors Feuer, Schlinge, Pfeil (und) Eis.

Luis Góngora y Argote (1561-1627). Bild von
Diego Velázquez, 1622, Museum of Fine Arts, Boston
LUIS DE GÓNGORA Y ARGOTECHRISTIAN HENRICH POSTEL
Mientras por competir con tu cabelloWeil noch der Sonnen Gold mit allen Strahlen weichet
Mientras por competir con tu cabello
oro bruñido al sol relumbra en vano;
mientras con menosprecio en medio el llano
mira tu blanca frente el lilio bello;

mientras a cada labio, por cogello,
siguen más ojos que al clavel temprano,
y mientras triunfa con desdén lozano
del luciente cristal tu gentil cuello,

goza cuello, cabello, labio y frente,
antes que lo que fue en tu edad dorada
oro, lilio, clavel, cristal luciente,

no sólo en plata o víola troncada
se vuelva, mas tú y ello juntamente
en tierra, en humo, en polvo, en sombra, en nada.
Weil noch der Sonnen Gold mit allen Strahlen weichet
Dem ungemeinen Glantz auf deinem schönen Haar.
Weil noch vor deiner Stirn der Liljen Silber-Schaar
In blasser Furcht und Scham die weißen Segel streichet.

Weil noch das Sähnen nach den Nelcken sich nicht gleichet
Der brünstigen Begier nach deiner Lippen Paar.
Ja weil dem Halse noch des Marmors blancke Wahr
Mit allem Schimmer nicht einmahl das Wasser reichet,

Laß Haare, Halß und Stirn und Mund gebrauchet sein,
Eh' das was in dem Lentz der Jugend war zu ehren
Vor Gold, vor Lilien, vor Nelcken, Marmorstein,

Sich wird in Silber-grau und braune Veilgen kehren.
Ja eh' du selbst dich mit dem Hochmuth dieses Lichts
Verkehrst in Erde, Koht, Staub, Schatten, gar in Nichts.

Während, um mit deinem Haar zu wetteifern, poliertes Gold in der Sonne erfolglos strahlt, während voll Verachtung inmitten des Feldes deine weiße Stirn die schöne Lilie schaut,

während jeder Lippe, sie zu pflücken, mehr Augen folgen als der frühen Nelke und während dein edler Hals mit üppigem Stolz über das leuchtende Kristall triumphiert:

genieße Hals, Haar, Lippe, Stirn, bevor das, was in deinem goldenen Alter Gold, Lilie, Nelke (und) leuchtender Kristall war,

sich nicht nur in Silber oder abgeschnittenes Veilchen verwandelt, sondern du und es gemeinsam in Erde, Rauch, Staub, Schatten, nichts.

Lope Félix de Vega Carpio (1562-1635).
Zugeschrieben Eugenio Caxés. [Quelle]
FELIX LOPE DE VEGA CARPIOEMANUEL GEIBEL
No queda más lustroso y cristalinoNicht ist so glänzend und kristallenrein
No queda más lustroso y cristalino
por altas sierras el arroyo helado
ni está más negro el ébano labrado
ni más azul la flor del verde lino;

más rubio el oro que de Oriente vino
ni más puro, lascivo y regalado
espira olor el ámbar estimado
ni está en la concha el carmesí más fino,

que frente, cejas, ojos y cabellos
aliento y boca de mi ninfa bella,
angélica figura en vista humana;

que puesto que ella se parece a ellos
vivos estan allí, muertos sin ella,
cristal, ébano, lino, oro, ámbar, grana.
Nicht ist so glänzend und kristallenrein
Der Bach, der im Gebirg gefror zu Eise,
Nicht hat das Ebenholz so schwarze Weise,
Nicht ist so blau die Blüt am grünen Lein.

Nicht gibt des Ostens Gold so klaren Schein,
Noch ist der Duft, der wollustvoll und leise
Vom echten Ambra steigt, so wert im Preise,
Noch ist der Schnecke Purpur also fein,

Als Stirne, Brauen, Augen, Lockenringe,
Odem und Mund des Engels den ich liebe,
Des schönsten, der sich senkt' in Fleisch und Blut.

Ein reizend Abbild scheint er jener Dinge,
Nur daß hier lebt, was ewig tot sonst bliebe,
Eis, Schwarzholz, Lein, Gold, Ambra, Purpurglut.

Nicht glänzender und kristallklarer zeigt sich auf hohen Bergen der gefrorene Bach, nicht schwärzer ist das bearbeitete Ebenholz, nicht blauer die Blüte des grünen Leins,

(nicht) goldener das Gold, das vom Morgenland kam, nicht reiner, wollustvoller und köstlicher der Duft, den die kostbare Ambra aushaucht, nicht feiner ist das Karminrot im Schneckengehäuse

als Stirn, Brauen, Augen und Haare, Atem und Mund meiner schönen Nymphe, engelgleiche Gestalt in menschlichem Anblick;

und weil sie ihnen gleicht, sind sie lebendig, (diese Dinge), tot ohne sie: Kristall, Ebenholz, Lein, Gold, Ambra, Scharlachrot.

Francisco Gómez de Quevedo y Villegas (1580-1645).
Zugeschrieben Juan van der Hamen. [Quelle]
FRANCISCO DE QUEVEDOWILHELM MUSTER
OCTAVAS GLOSANDOOKTAVEN ALS GLOSSE
que todo tiene fin, si no es mi pena....denn alles hat ein Ende - nicht mein Leid.
Yo vi todas las galas del verano
y engastadas las perlas del aurora
en el oro del sol sobre este llano;
vi de esmeralda el campo; mas agora
la blanca nieve del invierno cano
de todo le desnuda y le desdora.
Todo lo acaba el tiempo y lo enajena:
que todo tiene fin, si no es mi pena.

Yo vi presa del yelo la corriente
que, en líquidos cristales, derretida,
despide alegre la parlera fuente;
de nubes pardas y de horror vestida,
vi la cara del sol resplandeciente;
la mar, que agora temo embravecida,
vi mansa en otro tiempo, vi serena:
que todo tiene fin, si no es mi pena.

De verdes hojas, lenguas vi que hacía,
por murmurar un rato, el manso viento,
de mi Tirsis la cruel tiranía;
mas el invierno enmudeció su acento.
De lazos de oro el cielo ciñó el día;
vino tras él con tardo movimiento
la muda noche, de tinieblas llena:
que todo tiene fin, si no es mi pena.
Ich sah den Sommer voller Schönheit stehen;
der Morgenröte Perlen eingefaßt
mit Sonnengold in allem Prunk aufgehen;
smaragden lag das weite Land; der Glast
ist fort, des Winters weiße Flocken wehen,
der Sommer ist entblößt, das Gold verblaßt,
und alles endet und enteignet Zeit:
denn alles hat ein Ende - nicht mein Leid.

Vom starren Eis gefangen sah ich Wellen,
die sonst in flüssigen Kristallen schossen,
fröhlich entsandt von den geschwätzigen Quellen;
wie dunkle Wolken, Grauen auch, umflossen
der Sonne Angesicht und ihre Helle.
Jetzt tobt das Meer; Angst ist mir aufgeschossen,
sah ich es friedlich doch zu andrer Zeit:
denn alles hat ein Ende - nicht mein Leid.

Ich sah: der Wind verwandelte in Zungen
die Blätter, die so grünen Flammen glichen,
er flüsterte von Tirsis, die bezwungen
durch ihre Härte mich, die nie gewichen.
Der Winter ließ des Windes Laut verstummen.
Der Tag war golden eingesäumt verstrichen,
die Nacht kam zögernd auf, die dunkle Zeit:
denn alles hat ein Ende - nicht mein Leid.

Ich sah alle Zierden des Sommers und eingefaßt die Perlen der Morgenröte im Gold der Sonne über dieser Ebene; ich sah aus Smaragd das Feld; doch nun: der weiße Schnee des silberhaarigen Winters entblößt es und nimmt ihm das Gold. Alles beendet die Zeit und entfremdet sie: denn alles hat ein Ende, nur nicht mein Leid.

Ich sah gefangen vom Eis den Strom, den, (sonst) in flüssigen Kristallen, geschmolzen, der geschwätzige Quell fröhlich entläßt; von dunklen Wolken und von Schrecken verhüllt, sah ich das Angesicht der leuchtenden Sonne; das Meer, das - in Wut geraten - ich nun fürchte, sah ich sanft zu anderer Zeit, sah ich heiter: denn alles hat ein Ende, nur nicht mein Leid.

Aus grünen Blättern, sah ich, machte Zungen der sanfte Wind, um eine Weile zu murmeln von der Herrschaft meiner grausamen Tirsis; doch der Winter ließ seinen Ton verstummen. Mit Schlingen aus Gold gürtete der Himmel den Tag, es kam nach ihm mit träger Bewegung die stumme Nacht, erfüllt von Dunkel: denn alles hat ein Ende, nur nicht mein Leid.

Pedro Calderón de la Barca (1600-1681).
Ausschnitt aus der Banknote über 25 Peseten,
Spanien, 1928 [Quelle]
CALDERON DE LA BARCAJOHANN DIEDRICH GRIES
que el vivir sólo es soñarNur ein Traum das ganze Leben
[...] que el vivir sólo es soñar;
y la experiencia me enseña
que el hombre que vive sueña
lo que es, hasta despertar.
Sueña el rey que es rey, y vive
con este engaño mandando,
disponiendo y gobernando;
y este aplauso que recibe
prestado, en el viento escribe;
y en cenizas le convierte
la muerte (¡desdicha fuerte!);
¿que hay quien intente reinar,
viendo que ha de despertar
en el sueño de la muerte?
Sueña el rico en su riqueza,
que más cuidado le ofrece;
sueña el pobre que padece
su miseria y su pobreza;

sueña el que a medrar empieza,
sueña el que afana y pretende,
sueña el que agravia y ofende,
y en el mundo, en conclusión,
todos sueñan lo que son,
aunque ninguno lo entiende.
Yo sueño que estoy aqui
destas prisiones cargado,
y soñé que en otro estado
más lisonjero me vi.
¿Qué es la vida? Un frenesí.
¿Qué es la vida? Una ilusión,
una sombra, una ficción,
y el mayor bien es pequeño:
que toda la vida es sueño,
y los sueños, sueños son.
Nur ein Traum das ganze Leben;
Und der Mensch (das seh' ich nun)
Träumt sein ganzes Sein und Tun,
Bis zuletzt die Träum' entschweben.
König sei er, träumt der König;
Und, in diesen Wahn versenkt,
Herrscht, gebietet er und lenkt.
Alles ist ihm untertänig;
Doch es bleibt davon ihm wenig,
Denn sein Glück verkehrt der Tod
Schnell in Staub; (o bittre Not!)
Wen kann Herrschaft lüstern machen,
Der da weiß, daß ihm Erwachen
In des Todes Traume droht?
Auch der Reiche träumt; ihm zeigen
Schätze sich, doch ohne Frieden.
Auch der Arme träumt hienieden,
Er sei elend und leibeigen.

Träumet, wer beginnt zu steigen;
Träumet, wer da sorgt und rennt;
Träumet, wer von Haß entbrennt;
Kurz, auf diesem Erdenballe
Träumen, was sie leben, Alle,
Ob es Keiner gleich erkennt.
So auch träumt mir jetzt, ich sei
Hier gefangen und gebunden;
Und einst träumte mir von Stunden,
Da ich glücklich war und frei.
Was ist Leben? Raserei!
Was ist Leben? Hohler Schaum,
Ein Gedicht, ein Schatten kaum!
Wenig kann das Glück uns geben;
Denn ein Traum ist alles Leben,
Und die Träume selbst ein Traum.

... Das Leben ist nur Träumen; und die Erfahrung lehrt mich, daß der Mensch, der lebt, träumt, was er ist, bis er aufwacht. Es träumt der König, er sei König, und lebt mit diesem Trug befehlend, entscheidend und regierend; und dieser Beifall, den er erhält, geliehen (nur), schreibt er in den Wind; und in Asche verwandelt ihn der Tod - furchtbares Unglück! -: Wen noch gibt es, der herrschen will, sehend, daß er erwachen muß im Schlafe des Todes? Es träumt der Reiche von seinem Reichtum, der ihm mehr Sorgen beschert; es träumt der Arme, der geduldig sein Elend und seine Armut trägt;

es träumt der, der zu wachsen beginnt; es träumt der, der sich müht und strebt, es träumt der, der beschimpft und beleidigt, und in der Welt schließlich träumen alle das, was sie sind, obwohl keiner sich dessen bewußt ist. Ich träume, daß ich hier in diesem Gefängnis eingekerkert bin, ich träumte, daß in anderem Zustand, viel schmeichelhafter ich mich sah. Was ist das Leben? Eine Raserei. Was ist das Leben? Eine Illusion, ein Schatten, eine Einbildung, und das größte Gut ist klein; das ganze Leben ist Traum, und die Träume sind Träume.

Texte und Übersetzungen stammen aus: "Poesie der Welt. Spanien", (Hrgr Barbara Mitterer), Edition Stichnote im Propyläen Verlag Berlin, 1985. ISBN 3 549 05306 1


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Schubert: Messe in As-Dur, D 678 - Messe in Es-Dur, D 950 (Harnoncourt, 1995)

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Für Nikolaus Harnoncourt stehen die beiden späten Schubert-Messen - diejenige in As-Dur, D 678, und die in Es-Dur, D 950 - gleichberechtigt neben Beethovens Missa solemnis als die "herausragendsten, wichtigsten und künstlerisch bedeutendsten Auseinandersetzungen mit der christlichen Liturgie. Meiner Ansicht nach bedeuten die gesellschaftliche Situation und der geistige Horizont des Publikums sowie die Art, wie Religion und Leben in Mitteleuropa miteinander verwoben sind, dass diese Werke für die Zuhörer wie für die Musiker eine Ausdrucksgewalt besitzen, die uns buchstäblich bis in die tiefsten Seelentiefen aufwühlen kann. Diese Musik ist kein Akt frommer Andacht, sondern Schuberts leidenschaftliches Bemühen, den Tod zu bewältigen." Zur Erhärtung dieser These führt Harnoncourt nicht nur die Werke selbst an, sondern auch die Tatsache, dass Schubert ohne jeden äußeren Impuls praktisch drei Jahre seines Lebens, von November 1819 bis September 1822, an der Messe in As-Dur arbeitete.

Selbst die Entscheidung für As-Dur als Haupttonart muss in diesem Zusammenhang als vielsagend gelten. As-Dur wird nur selten für die Vertonung von Messen verwendet, doch bringt die Tonart in den Worten des deutschen Dichters und Musikschriftstellers Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791) die Gedanken von "Tod, Grab, Verwesung, Gericht, Ewigkeit" zum Ausdruck, eine Botschaft, die im Rahmen der sechs Sätze des Werks allmählich entschlüsselt wird. Mit Ausnahme des Sanctus stehen sie jeweils in einer Terz-verwandten Beziehung zueinander: As - E (= Fes) - C - F - As - As. Somit bilden sie ein abgeschlossenes Ganzes, decken den gesamten Harmoniezyklus ab, in dessen Mittelpunkt der Gedanke der Menschwerdung und die Kreuzigung Christi stehen, für die Schubert im Credo nach As-Dur moduliert. Diese Struktur verdeutlicht den überlegten, aber individuellen Umgang des Komponisten mit der Symbolik der Tonarten, wie sie im 19. Jahrhundert galt. Eine der erstaunlichsten Folgen dieses Vorgehens ist der Übergang vom Kyrie zum Gloria, das in E-Dur notiert ist - laut Schubart die Tonart, die "lautes Aufjauchzen, lachende Freude" versinnbildlicht -, der Zuhörer aber als die enharmonisch umgedeutete Tonart Fes-Dur wahrnimmt. Die daraus entstehende Ambivalenz zwischen der tatsächlichen Notierung der Musik und der Art, wie sie gehört wird, ist so typisch für viele Passagen dieser Messe, dass man sich fragt, ob Schubert aus der Musik vielleicht eine Antwort auf seine Fragen hervorlocken wollte - eine Antwort, die die Musik in all ihrer Komplexität nicht unzweideutig zu geben bereit ist.

Das Kyrie endet mit einem Fragezeichen und vermittelt dadurch nicht das übliche Gefühl uneingeschränkten Vertrauens. Da es Motive aus dem Kyrie und Christe assimiliert, besteht es aus fünf Teilen, zwei mehr als die dreiteilige Form, die herkömmlich mit dem die Dreieinigkeit symbolisierenden Satz verbunden wird. Diese Art einer sinfonischen Entwicklung findet sich häufiger in dieser Messe, wo sie - wie beim "Gratias agimus" - eindeutig dem Zweck dient, Ähnlichkeiten zwischen sonst antithetischem Material aufzuzeigen. Die Bedeutung, die dem Orchester bei der Interpretation des Kyrie-Textes zukommt, tritt in späteren Sätzen noch deutlicher zu Tage, insbesondere im Credo, in dem Schubert einige Wörter der Vokallinie dem Orchester als Stimme der absoluten Musik überträgt. Damit greift er nicht nur auf die Jahrhunderte alte Tradition der Antiphonie zurück, sondern erweist sich auch als Komponist, der mit dem Konzept der Musik als etwas Absolutem seiner Zeit weit voraus war.

Nikolaus Harnoncourt
Seine sechste und letzte Vertonung der lateinischen Messe schuf Schubert 1828, dem letzten Jahr seines Lebens, und wie diejenige in As-Dur schrieb er sie nicht als Auftragsarbeit oder auf eine äußere Anregung hin. Ihre Haupttonart ist Es-Dur, laut Schubart "der Ton der Liebe, der Andacht, des traulichen Gesprächs mit Gott; durch seine drey B, die heilige Trias ausdrückend". Diese Wahl könnte darauf hindeuten, dass der Komponist einen Kontrast zum "Gräberton" vom As-Dur der vorhergehenden Messe finden und eine ruhigere, versöhnlichere Note anschlagen wollte, doch wird diese Erwartung bald zerschlagen. Schuberts letzte Messe ist relativ schlicht und formal sowie in der Harmoniesprache kompakt, was ihm ermöglicht, sich auf die Fragen zu konzentrieren, die ihn am meisten beschäftigten.

Das eher zurückhaltende und knappe Kyrie verzichtet auf das herkömmliche Wechselspiel zwischen Solisten und Chor und wird von einem Gloria abgelöst, das im Zuhörer die mannigfaltigsten Bilder heraufbeschwört, angefangen mit hoch aufsteigenden Triolen in den Streichern, die bis in den Himmel zu greifen scheinen, nur um wieder zur Erde hinabgeschleudert zu werden. Im "Domine Deus, Agnus Dei" wird nicht Mitgefühl dargestellt, sondern das Leiden des Lamm Gottes. Der Satz gipfelt in einer kraftvollen Fuge zu den Worten "Cum Sancto Spiritu", wo sich barocke Elemente ausdrucksvoll mit Schuberts eigener Botschaft paaren.

Gesangssolisten sind im Credo erstmals bei den Worten "Et incarnatus est … et homo factus est" zu hören. Noch mehr als in der As-Dur-Messe richtet Schubert sein Augenmerk damit auf die Menschwerdung Christi, die zum zentralen Thema des Stücks wird. Ebenso aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Art und Weise, in der die Worte zwischen Chor, Solisten und Orchester aufgeteilt werden. "Et incarnatus est" ist zuerst von einem der beiden Tenöre zu hören, wunderbar tröstlich und eine Ermutigung, unsere ganze Hoffnung in den Menschen zu setzen; damit bieten die Worte eine Alternative zu dem ausdauernden Versuch, die Unbegreiflichkeit des Göttlichen und des untergründig Mysteriösen zu verstehen. Wie bei der Messe in As-Dur überspringt Schubert einen Teil des liturgischen Textes in der Gesangsstimme.

Für den Vorwurf, der Schubert an dieser Stelle von vielen Musikhistorikern gemacht wird - er habe die Worte "Et in unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam" im Credo nicht vertont und damit eine antikirchliche Haltung zum Ausdruck gebracht, was auf eine antireligiöse Einstellung hindeute -, sieht Nikolaus Harnoncourt absolut keinen Grund: "Seitdem die Worte des Gloria und des Credo vertont werden, sind Komponisten selektiv mit ihnen umgegangen. Es stimmt nicht, dass Schubert diesen oder jenen Satz nicht vertonte, weil er nicht an dessen Inhalt glaubte - das wäre eine billige, falsche Interpretation. Selbst Bach und Haydn, deren Religiosität über jeden Zweifel erhaben ist, ließen einzelne Zeilen aus. Ich möchte die Zuhörer davor warnen, zu viel in diese Werke hineinzudeuten ausgehend davon, was andere über Schubert schrieben, die glauben, er habe dieses oder jenes Stück nur komponiert, weil er diese oder jene Sichtweise vertrat. Ich glaube, es ist Schuberts ureigenste Stimme, die wir in diesen Messen hören. Wir sollten uns auf die Werke selbst konzentrieren. Schubert spricht durch seine Musik, er spricht die Sprache der Musik."

Quelle: Booklet ("Beruhend auf einem Text von Ronny Dietrich")

Nikolaus Harnoncourt
TRACKLIST


Franz Schubert
1797-1828


CD 1 50'02

Mass in A f1at major, D678 "Missa solemnis"
la bémol majeur / As-Dur

1 Kyrie 7'14
2 Gloria 15'57
3 Credo 11'35
4 Sanctus 3'01
5 Benedictus 4'04
6 Agnus Dei 7'34

CD 2 52'29

Mass in E f1at major, D950 "Missa solemnis"
mi bémol majeur / Es-Dur

1 Kyrie 5'26
2 Gloria 12'45
3 Credo 15'25
4 Sanctus 3'14
5 Benedictus 5'50
6 Agnus Dei 9'00


Luba Organosova soprano
Birgit Remmert contralto
Deon van der Walt tenor
Wolfgang Holzmair baritone (tenor II + Benedictus) (D950)
Anton Scharinger bass
Arnold Schoenberg Chor (chorus master: Erwin Ortner)
Chamber Orchestra of Europe
Nikolaus Harnoncourt conductor


Live recordings from the Stefaniensaal, Graz, on 24 June 1995 (D950) & 25 June 1995 (D678)
Recording producer: Helmut Mühle
Recording engineer: Michael Brammann
Assistant engineers: Martin Aigner, Tobias Lehmann
Digital editing: Gudrun Maurer

(P) 1997 (C) 2004

Kampl


oder

Das Mädchen mit Millionen und die Nähterin


Posse mit Gesang von Johann Nestroy

Erster Akt

Kampels Offizin, in einer nahe vor der Linie der Stadt gelegenen Ortschaft. In der Mitte der Eingang von der Straße, rechts und links Seitentüren



Erste Szene

DAMIAN, MEHRERE EINWOHNER und EINWOHNERINNEN DES ORTES

ERSTER BAUER Laßt uns lang warten, der Herr Bader.

DAMIAN Mein Prinzipal is Doktor und nur aus genialer Kaprize verschwendet er seine Kunst an die hierortige Menschheit.

ZWEITER BAUER Die Viehheit geht auch nicht leer ab bei ihm, bei meiner Kuh hat er eine Kur g'macht - da muß man Respekt haben.

DAMIAN Und am herrschaftlichen Bereiter sein' Falben -

ZWEITER BAUER Der hat die Gelbsucht g'habt.

DAMIAN Das war eine Roßkur!

EINE BÄUERIN Meiner letzten g'schoppten Gans hat nur er die Leber gerett't.

ERSTER BAUER Is möglich - ich weiß nur, daß er meine Jungfer Mahm sehr falsch behandelt hat.

DAMIAN Os da heraußt vor der Linie habt noch gar kein' solchen Doktor g'habt.

ALLE Es is schon wahr, aber -

DAMIAN Still - mir scheint, er kommt - er is's -!

ALLE Der Herr Doktor!


Zweite Szene

KAMPL; DIE VORIGEN

KAMPL (aus der Seitentüre rechts eintretend) Oho, da wimmelt's ja von Gegenständen meiner medizinischen Praxis! Also da steht er, der Doktor, mitten in seiner ambulanten Klinik! - Wo sind eure Schmerzen? Her mit ihnen, sie sind verloren, wenn ich komm'!

DAMIAN Viere haben zahlt, die andern bleiben noch in der Behandlung.

Johann Nestroy in einer seiner Rollen.
MEHRERE PATIENTEN Wir täten bitten, daß uns der Herr Doktor was verschreibet.

KAMPL Hab' ich euch nicht eh schon g'nug verschrieben? Glaubts ös, 's Papier kost' nix? Alles wird repetiert.

DIE BÄUERIN Aber mein Mann hat seitdem ganz a neue Krankheit kriegt.

KAMPL Aber ich hab' noch mein altes System, das werd' ich nicht ändern weg'n einem individuellen Fall - die Wissenschaft is das Höchste.

ERSTER BAUER Ich spür' halt noch allweil ka rechte Wirkung.

KAMPL Kann ich für Seine hartnäckige Natur? Citius aut ocius morimur omnes!

ERSTER BAUER Wie haßt denn dös auf Deutsch?

KAMPL Das heißt: nur brav eing'nommen, 's wird sich schon machen.

DIE FRÜHEREN PATIENTEN Pfirt Gott, Herr Doktor! (Alle gehen zur Mitte ab.)


Dritte Szene

DAMIAN, KAMPL, dann WIRT, GREISLERIN

KAMPL Oho, der Herr Hirschenwirt, die Frau Greislerin

WIRT Ich war dreißig Jahr' nit krank -

KAMPL Und wie fühlen Sie sich jetzt?

WIRT Ganz anders als vor dreißig Jahren. Ich weiß nit, was das is.

KAMPL Und die Frau Greislerin?

GREISLERIN O, i bin g'sund, aber mein Mann -

KAMPL Sie scheinen mir aber auch etwas alteriert. Ich bitte allerseits um den Puls.

GREISLERIN Woll'n S' nur zuerst beim Herrn Wirt -

KAMPL O, das geht zugleich, wär' nicht übel, wenn ich nicht zwei Patienten auf einmal behandeln könnt'. (Fühlt beiden zugleich den Puls.)

WIRT I bin doch erst im neunundsiebzigsten Jahr, und auf einmal so a Schwäch'! -

Johann Nestroy als Knieriem in seinem
Stück "Lumpazivagabundus".
KAMPL Das ist nichts Chronisches, die Schwäche wird nicht lang dauern. (Zur Greislerin.) Na, und was fehlt denn dem Herrn Gatten?

GREISLERIN O Gott, der Mann is gar nit, wie er sein soll.

KAMPL Das is eine grassierende Krankheit bei d' Männer, daß so viele nicht so sein, wie s' sein soll'n.

WIRT Und dann verlaßt mich 's Augenlicht auch so stark.

KAMPL Das gibt sich auf einmal - (beiseite) da leucht't dann 's ewige Licht.

GREISLERIN Und einen Hamur hat Ihnen der Mann, einen abscheulichen Hamur!

KAMPL Hat er das vielleicht nur in der Zimmerluft und gibt sich's, wenn er ins Freie kommt?

GREISLERIN Ja, jetzt, da bin i halt nicht dabei.

KAMPL Na ja, eins muß immer beim G'schäft sein.

WIRT Und allerhand Zuständ' melden sich halt jetzt.

KAMPL Kinderei, die Zuständ' werd'n Sie bald alle überstanden hab'n.

GREISLERIN Und eine Kälte hat Ihnen der Mann, eine immerwährende Kälte!

KAMPL Hm, Fieber kann das keins sein, denn sonst müßt' er auch abwechselnd Hitzen hab'n.

GREISLERIN Ah, keine Spur!

KAMPL Das is so eine Ehstandskrankheit, da sind auflösende Mittel nicht schlecht.

WIRT Und was werd'n S' denn mir alles verschreiben?

KAMPL Ihnen, Herr Wirt, gar nix. Wär' nit übel! - Wie Sie a Mann sind, da richt't 's die Natur allein, Sie brauchen nit erst ein' Doktor.

WIRT Na, das is g'scheit - da heirat' i noch. (Gibt ihm Geld.) Für Ihre Bemühung -

KAMPL O, ich bitt', die Behandlung war ja leicht.

GREISLERIN Also schaun S' halt nach bei uns!

KAMPL Ich komm' heute noch hin.

WIRT und GREISLERIN Leb'n S' wohl!

KAMPL Habe die Ehre allerseits -

(Wirt und Greislerin gehen ab.)

Johann Nestroy als Knitsch in seinem
Stück "Der gebildete Hausknecht".

Vierte Szene

KAMPL, DAMIAN, dazu FRAU WILKNER

KAMPL (zu Frau Wilkner, welche schon etwas früher eingetreten ist) Was is das, Frau Wilkner? Hab'n S' Ihnen nit abissel z' fruh herausg'macht?

FRAU WILKNER Mein Gott, unsereins muß wieder zu der Arbeit trachten.

KAMPL So wär' d' Frau dabei blieben! Wenn d' Frau g'sund is, was hat s' nacher beim Doktor z' suchen?

FRAU WILKNER Bester Herr Kampl - ich hab' jetzt eine andere Krankheit, ich soll Ihnen vierundzwanzig Visiten zahlen.

KAMPL Ja, so - und ich bin ein preziöser Kerl, unter fünf Gulden mach' ich keine.

FRAU WILKNER O mein Gott! Wie soll ich - ich weiß nicht, wie ich dem Apotheker seine sechs Gulden zahl'!

KAMPL Vierundzwanzig Visiten macht netto hundert zwanzig Gulden, da lass' ich keinen Kreuzer nach, und wie die Frau die nächsten dreitausend Gulden überflüssig in Kasten liegen hat, zahlt sie mir die hundertzwanzig - nein, es macht hundertsechsundzwanzig Gulden, denn ich streck' der Frau derweil da die sechs Gulden für 'n Apotheker vor. (Ist mittlerweile zum Tisch gegangen und hat von den früher von den Anwesenden hingelegten Visitengeldern etwas genommen.)

FRAU WILKNER (in höchster Freude) Herr Doktor, Sie sind ein Mann, wie's kein' gibt -!


Fünfte Szene

MALZER; DIE VORIGEN

KAMPL (zu Malzer, welcher eben zur Mitte eintritt) Ah, der junge Herr von Malzer! - (Zu Frau Wilkner.) Pfirt d' Frau!

FRAU WILKNER Vergelt's Gott, Herr Kampl! (Geht zur Mitte ab.)

MALZER Na, Sie, jetzt sind s' doch wieder alle zwei frisch und g'sund.

KAMPL Bei so kräftige Naturen hat's der Doktor leicht.

MALZER Besonders, wenn er sich's so leicht macht wie Sie. Zum zweiten sind Sie gar nicht mehr gekommen.

KAMPL Ich hab' g'sehn, daß er auf 'n Weg der Besserung is und daß einige Tage Ruhe von den Geschäften -

Johann Nestroy als Tratschmiedl in seinem
 Stück "Der Tritschtratsch".
MALZER Es sind ausgezeichnete Tiere, unsere Ochsen, haben bei der Ausstellung Aufsehen g'macht, da gehört sich's nicht, daß man saumselig ist.

KAMPL Wenn ich halt grad viele menschliche Patienten hab', so bleibt mir keine Zeit zur animalischen Praxis.

MALZER Leere Ausred' -

KAMPL Erinnern Sie sich noch, wie Sie die unerklärbare Gehirnentzündung g'habt haben - da hab' ich auch 's ganze Tierreich vernegligiert und meine ganze Kunst Ihnen gewidmet.

MALZER Was Kunst! Meine gute Natur hat gesiegt.

KAMPL Ah ja, Sie haben auch recht a starke Natur, überhaupt in Ihrem Hause haben s' alle viel physische Kraft.

MALZER Mit Komplimenten richten Sie nichts aus bei mir. Es bleibt bei dem, was der Vater gesagt hat. Sie kriegen für die Kur an dem Weißen gar nix, weil Sie sich um den G'schecketen nicht mehr umg'schaut haben.

KAMPL Macht nix, Ihr Vater is ein unparteiischer Mann, ihm sind alle gleich liebe Kinder.

MALZER (zu Damian) Sie, Mußje Damian, werden honoriert. (Nimmt die Brieftasche heraus.)

DAMIAN O, ich bitte -

KAMPL (nimmt seinen Hut) Ich muß jetzt zu ein' gefährlichen Patienten. Damian, wenn wer fragt um mich, in einer Viertelstund' bin ich wieder da. (Zu Malzer.) Ich habe die Ehre -

MALZER Sie wissen für die Zukunft, was Sie zu tun hab'n.

KAMPL Sagen Sie Ihrem Herrn Papa, ich seh' jetzt ein, wie gefehlt das is, wenn man bei ein' Ochsen zu wenig Visiten macht; ich habe mein Schicksal verdient. (Geht zur Mitte ab.)


Sechste Szene

DAMIAN, MALZER

DAMIAN G'schickt is mein Herr, aber -

MALZER Nachlässig und eigensinnig, einen Kopf hat er -

DAMIAN Ja, das is sein Unglück, wenn der kein' Kopf hätt', das wär' einer der ersten Doktoren in der Stadt.

MALZER (gibt ihm Geld) Und mein Papa, wissen Sie, der leid't keinen Kopf.

Johann Nestroy als Sansquartier in seinem
 Stück "Zwölf Mädchen in Uniform".
Siebente Szene

FELSBACH, MUSCHL (treten zur Mitte ein); DIE VORIGEN (Doktor Muschl ist schwarz, etwas altmodisch gekleidet, geht etwas gebückt, hat graue Haare und ein Zäpfchen.)

FELSBACH Sein Name ist auf der Tafel zu lesen, wir gehn nicht fehl! (Zu Damian.) Ist Ihr Prinzipal zu Hause?

DAMIAN Grad is er aus'gangen, Sie müssen ihn völlig begegnet haben.

FELSBACH und MUSCHL Fatal!

MALZER (zu Damian) Die hab'n's pressant, was kann denen wohl fehlen, Mussi Damian?

DAMIAN Mir scheint Leberleiden oder schwache Brust, möglich, daß auch der Magen ruiniert is, hineinsteigen kann man nicht in die Menschen, die Krankheit spricht sich meistens erst aus, wenn s' a Weil' eing'nommen haben.

FELSBACH (zu Damian) Könnten Sie ihn vielleicht holen?

DAMIAN O ja, warum nicht -? (Bringt wie zufällig die Hand in Felsbachs Nähe.)

FELSBACH (ihm Geld gebend) Eilen Sie, ich bitte -

DAMIAN Zu Befehl -

MALZER Ich geh' mit Ihnen. (Malzer und Damian zur Mitte ab.)


Achte Szene

FELSBACH, MUSCHL

MUSCHL Hier also hoffen Sie Ihre zweite Tochter zu finden?

FELSBACH Gewiß, hier muß sie sein.

MUSCHL Und in der ganzen Reihe von Jahren haben Sie nie eine Erkundigung -?

FELSBACH Ich war abwesend, weit - und wollte ja nichts von ihr hören.

MUSCHL Unglaublich - einem Phantom Gemahlin und Tochter zu opfern.

FELSBACH Letztere ist nicht geopfert, ich habe sie verläßlichen Händen anvertraut und werde sie nun reich und glücklich machen.

MUSCHL Ihre Gemahlin starb in der vollen Überzeugung, daß sie nur mehr eine Tochter habe, somit betraf meine Mission die ältere und nicht die, welche Sie hier finden sollen. Da nun aber meine Botschaft vom Sterbelager Sie zur Erkenntnis und Reue gebracht und die Erfüllung der von mir etwas voreilig übernommenen Verpflichtung nunmehr Ihnen zusteht, so gebe ich alle hierauf bezüglichen Papiere hier in Ihre Hände. (Papiere hervorziehend.) Es ist das wichtige Dokument dabei, welches mir bei bevorstehender Gattenwahl Ihrer Tochter die entscheidende Stimme gibt. Das ist nun alles Ihre Sache. (Gibt ihm die Papiere.)

Johann Nestroy als Frau Maxl in
 Alexander Bergens Posse
"Eine Vorlesung bei der Hausmeisterin".
Neunte Szene

KAMPL; DIE VORIGEN

KAMPL (durch die Mitte, für sich) Alle zwei noch auf'n Füßen, es kann nix G'fährliches sein.

FELSBACH (sich umsehend und Kampl erblickend) Er ist's - alter Freund!

KAMPL Ja, ja - g'schwind die Trennungsjahre herunterg'staubt von dem G'sicht und es is das damalige, Baron - Spezi - grüß' dich Gott!

FELSBACH Nun sprich - schnell - wo ist meine Tochter?

KAMPL (befremdet) Die suchst du jetzt und bei mir -?

FELSBACH Is sie tot -?

KAMPL Es kann wohl übers g'sündeste Kind was kommen In sechzehn Jahren, aber ich wüßt' nicht -

FELSBACH Sie lebt also -? Und wo lebt sie?

KAMPL Das erste weiß ich nicht g'wiß, ich vermut' es nur aus medizinischer Kombination, und das zweite weiß ich gar nicht.

FELSBACH Entsetzlicher, was hast du getan?

KAMPL Hast denn du mich zum Vizevater aufg'stellt? Hab' ich dir nicht abgeraten? Und per »Entsetzlicher« mußt du schon gar nicht reden mit mir, ich bin kein gedungener Bandit, der mit zerstückelten Kindern den wilden Tieren des Waldes Vorwürfe macht.

FELSBACH Diese Tiere sind Lämmer gegen mich, der sein eig'nes Kind erbarmungslos hinausgestoßen! (Sinkt, mit beiden Händen das Gesicht bedeckend, auf einen Stuhl.)

KAMPL Damals hast du nichts bereut als das, daß du geheirat't hast - jetzt, scheint mir, gewinnt eine Kontra-Reue die reaktionäre Oberhand.

MUSCHL (zu Kampl) Lassen Sie den ersten Ausbruch vorübergehen und erzählen Sie mir das Ganze.

KAMPL Ihnen -? Wer sind Sie denn?

MUSCHL Ich bin der Arzt der Verstorbenen -

KAMPL (ihm die Hand reichend) Herr Kollege -

MUSCHL Der Verstorbenen gewesen, als Badearzt nämlich, in Ostende hatte ich die Ehre -

Johann Nestroy als Specht in seinem
Stück "Eulenspiegel oder
Schabernack über Schabernack".
KAMPL Badearzt - ah, Sie sind im Nassen das, was ich im Trocknen bin - Trocken und Naß vereinigt sich im Feuchten, im Grab.

MUSCHL Ich habe ein Recht darauf, den ganzen Hergang zu wissen.

KAMPL Gut, so hören Sie die Erzählung! Es war einmal ein Baron - wir wollen ihn Felsbach nennen - der wähnte als sinnreicher Argwohnist und Techniker in Eifersucht, in seiner zweiten Tochter namentlich ein Doppelzeugnis von Mutterschuld und Vaterschmach zu sehn. Da reist mit ihrer ein Jahr älteren Tochter die Baronin in die Bäder, und blitzig allsogleich durchzuckt ein Racheplan die Seelennacht des finsteren Barons. Zu einem Schulfreund, treu erprobt - wir wollen ihn Kampl nennen - bringt er die verhaßte Elf-Monat-Baroness' mit Summen und Befehl, dafür zu sorgen, daß nie der Freiherr-Vater von ihrem Dasein höre. Der Kampl geht das ein, das Kind wird der Baronin tot gemeldet und der Baron verschwand aus Stadt und Gegend. Der Kampl, auf Kinder nicht gefaßt, schickt die Kamplin mit Kind und Summe zu entlegenen Verwandten, doch sie ging nicht dahin, kam auch nicht wieder, spurlos verschwunden war Kind und Summe, und nur durch Zeitungsblätter erfuhr nach Jahren der Kampl jener Kamplin fernen Tod.

FELSBACH Wo war das -? Dort muß auch meine Tochter sein.

KAMPL Wir wollen hinschreiben, dann auch hinreisen, wie du willst.

MUSCHL Und hatte die Baronin nie Vermutungen von dieser Tat?

FELSBACH Nie, wir schickten ihr einen Totenschein -

KAMPL Und die Menschen haben schon den Unsinn, daß sie das für Wahrheit halten, worüber sie ein'n Schein in den Händen haben.

MUSCHL Scherzen Sie nicht, Helfershelfer -

KAMPL Was war das, Kollega -?!

MUSCHL Ich bin nicht der Kollega eines verdächtigen Baders.

KAMPL Glauben Sie, Sie sind mehr als ich, weil Sie verstorb'ne Haute volee kuriert haben? Das hab' ich auch getan! Der (auf Felsbach) kennt mich noch als den schönsten Medizinae Doktor in der Stadt. Aber mir sind die Damen mit die ewigen Migränen und die Herren mit die beständigen Anschoppungen z'wider word'n, nie eine feste, ordentliche Tod'skrankheit! Aber sterben tun s' doch, und dann kommt es auf 'n Doktor. Nein, hier vor der Linie heraußt is es schöner; da sagen s' doch noch, wenn einer stirbt: »Gott hat 'n zu sich genommen!« - aber in der Stadt heißt's nur: »Der Doktor hat 'n unter die Erd' gebracht!« - Boshafte Rasse! Hier aber hab' ich das Ius gladii, und niemand wagt's, an meiner Wissenschaft zu zweifeln. Ich bin Bader aus freier Wahl!

MUSCHL Wie aber konnten Sie zu so etwas die Hand bieten? Den Baron entschuldigt blinde Leidenschaft, aber sie -

Johann Nestroy als Gaugraf in seiner
Parodie "Tannhäuser" (Foto von Hermann Klee).
KAMPL Meine Leidenschaft ist die Freundschaft! Mich hat das immer verdrossen, daß man nur aus Liebe den verwegensten Unsinn begeht, ich hab' zeigen wollen, daß die Freundschaft keine geringere Leidenschaft is.

FELSBACH Jetzt ist die Zeit, jetzt mußt du sie bewähren.

KAMPL Glaubst, ich habe gewart't, bis du mir das sagst? In mir gären schon die Pläne, die Hoffnung moussiert, der Stoppel der Unternehmung kracht, eingeschenkt, vivat die wiedergefundene Marianne!

FELSBACH So großes Glück verdiene ich nicht, es ist mir auch nicht beschieden.

MUSCHL Verzagen Sie nicht! Forschen Sie, handeln Sie, und ist das vergebens, dann vergessen Sie nicht in fruchtlosem Jammer die Vatersorge, die Sie Ihrer älteren, wahrscheinlich nunmehr einzigen Tochter schuldig sind. Ich fahre nach der Stadt und trete allsogleich meine Rückreise an. Ihre möglichen Erfolge berichten Sie mir, denn niemand hat so wie ich den innigsten Anteil an der durch Sie unglücklichen Verstorbenen genommen. Leben Sie wohl! (Reicht Felsbach die Hand und geht, von diesem und Kampl bis an die Türe begleitet, durch die Mitte ab.)


Zehnte Szene

DIE VORIGEN ohne MUSCHL

KAMPL Dich behandelt er gebieterisch, mich bagatellmäßig - in seinen Augen stehn wir aber auch als a paar recht nette Individuen da. Pfui Teufel, jetzt seh' ich's erst selber ein, es is a wilde G'schicht'!

FELSBACH Einen Trost kannst du mir gewähren - aber sprich die Wahrheit! - liebte deine Frau das Kind?

KAMPL Von ihrer Mutterliebe weiß ich nix Dezidiertes, aber im allgemeinen war sie sehr liebevoll, sie hat schon geliebt, wie ich sie kenneng'lernt hab', und hat denjenigen aus Liebe zu mir plantiert, nach drei Jahren hat sie mich plantiert, wird auch nicht ohne Liebe abgelaufen sein - transeat! - Aber was hat denn dich in betreff deiner Frau zur bessern Einsicht gebracht?

FELSBACH Ein Brief, den mir der alte Doktor, als er nach langem Forschen meinen Aufenthalt erfahren, nach Florenz schickte. Ich eilte nach seinem Wunsche, hier mit ihm zusammenzutreffen, allsogleich hierher.

KAMPL Was war denn aber in dem Brief?

FELSBACH Heilige, auf dem Sterbette geschriebene Beteuerungen ihrer Unschuld. Glaubst du, daß man da einer Lüge fähig ist?

KAMPL (sucht, während er das Folgende spricht, in einem Schranke) Nein, das Lügen is eine Erfindung von und für Lebendige; im Tode muß Wahrheit sein, schon deßtwegen, weil er der Gegensatz vom Leben is. Die Meinige hat mir nichts geschrieben auf dem Sterbebette; na ja, es is keine Lokalität zum Leuteanschmieren - früher hab' ich aber einen recht aufrichtigen Brief kriegt von ihr.

Johann Nestroy als Pan in
Offenbachs "Daphnis und Chloe".
FELSBACH Sollte darin keine Andeutung -?

KAMPL Nix! (Zeigt ihm den Brief, den er aus dem Schrank geholt, und liest die folgenden Stellen daraus.)»Ich kann mich auf dem neu betretenen Lebensweg nicht mit einem Kinde befassen und hab' es daher in gute, sichere Hände gegeben.«

FELSBACH Warum sandte sie es nicht dir zurück?

KAMPL Weiß ich's -?

FELSBACH Ohne Zweifel hat die Abenteurerin das Geld vergeudet und mein Kind in Not und Armut - entsetzlich!

KAMPL No, no - nur nicht gleich das Schrecklichste denken!

FELSBACH Lies weiter -!

KAMPL Dann kommt nix mehr als eine Schmeichelei für mich. (Liest.)»Du bist in die drei Jahr' unausstehlich geworden, der Schlosser war ein lieber Mann, aber du - ha -!« (Spricht.) Dieser Schlosser war eben ihre frühere Liebe; ich habe auch anfangs geglaubt, daß sie zu ihm is, hab' aber erfahren, er hat als strenger Jungg'sell gelebt.

FELSBACH Rate, rate, was ich zunächst beginnen soll.

KAMPL überlaß das mir, Baron, binnen einer Viertelstund' arbeiten alle Telegraphen, und du befass' dich, wie der Rokoko-Seedoktor gesagt hat, mit der Vatersorge für die ältere.

FELSBACH Da bedarf's wohl keiner Sorge, auch kennt das Mädchen mich kaum dem Namen nach als ihren Vater. Als meine Frau sich damals von mir trennte, nahm sie ihren Familiennamen wieder an, und die Kleine erbte, unter der Bedingung, diesen Namen zu behalten, von einem Onkel ein ungeheures Vermögen.

KAMPL Was? Eine reiche Erbin, die als Waise vielleicht schlechten, habsüchtigen Verwandten in die Hände fällt -?

FELSBACH Man erwartet ihre Ankunft im Hause ihres gesetzlichen Vormunds, von welchem ich dir weder Gutes noch Böses zu berichten weiß.

KAMPL Und das sagst du mit solcher Seelenruhe? Siehst du nicht ein, alter Schulspezi, daß gerade diese Tochter am g'fährlichsten d'ran is? Die andere, mein Gott, lebt sie, so krieg'n wir s', und hab'n wir s', beglücken wir s', das is Kinderei, aber die als Millionwesen und Solowaise Preisgegebene -

FELSBACH Du hast so unrecht nicht -

KAMPL (nachsinnend) Deine Adresse!

FELSBACH (ihm eine Karte zeigend) Hier ist sie.

Johann Nestroy als Jupiter in "Orpheus in
 der Unterwelt" von Jacques Offenbach
 (Foto von Hermann Klee).
KAMPL Da muß gehandelt werden. Fahr nach Haus, in einer halben Stund' bin ich bei dir. (Führt ihn gegen die Türe.)

FELSBACH Du unternimmst viel, möge der Gedanke dich begeistern, daß du es für einen Freund tust, den Vaterangst und Reue foltern. (Zur Mitte ab.)


Elfte Szene

KAMPL (allein)

KAMPL Ich möcht' doch wissen, ob der Blick einer verklärten Baronin in das Halbdunkel eines unheimlichen Baderherzens dringt. Was muß sich die Dame denken im Himmel, wenn s' herabschaut auf mich unbefugten Mitarbeiter an ihrem Unglück auf Erden! Wahrscheinlich denkt sie sich gar nichts. Ich kann es überhaupt nicht glauben, daß die Jenseitigen an uns Diesseitige herüberdenken; die Guten wenigstens gewiß nicht, denn die sollen ja selig sein und wie brächten s' denn das zusammen, wenn sie uns herunt' im Vogelperspektiv betrachteten? Könnt' es einen seligen Hausherrn geben, wenn er sähet, wie seine liederlichen Buben auf sein schweiß- und fleißerbautes Haus einen Satz um den andern machen? Könnt' es einen seligen Graukopf geben, wenn er's sähet, wie seine blonde Witwe die Trauerkleider als Liebesnetze verwend't? Könnt' es einen seligen Schiller, einen seligen Goethe geben, wenn sie sehen müßten, wie in Budweis der »Don Karlos« und in Feistritz der »Faust« aufg'führt wird? - Es war keine dumme Erfindung von die Griechen und Römer, daß sie als Grenzfluß ihrer Champs Elysees den Lethe angenommen haben, aus dem man Vergessenheit trinkt. Wer die Welt nicht vergißt, für den kann's gar kein' Himmel geben - das ist altgriechische Philosophie, die in zweitausend Jahren noch nicht rokoko worden is. 's is auch ganz natürlich; was hat sich denn geändert seit der Zeit? In der Form a Menge, in der Sache blutwenig.


Quelle: Johann Nestroy: Komödien. Ausgabe in drei Bänden herausgegeben von Franz H. Mautner. Frankfurt/M, 1987, Insel. Insel Taschenbuch 526. ISBN 3-458-32226-4. Dritter Band, Seite 353-364

Alle Fotographien stammen aus dem Archiv der Österreichischen Nationalbibliothek [Online verfügbar] und sind dort mit "um 1860" datiert.


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Bernhard Molique: Streichquartette op. 18 Nr 3 und op 28

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Wilhelm Bernhard Molique - ein Name, weitestgehend unbekannt in unseren Konzertsälen, in seiner deutsch-französischen Zusammensetzung jedoch weit vorausweisend in ein Europa der grenzüberschreitenden Freundschaften. Als Molique starb, am 10. Mai 1869, da allerdings trat, mit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870, erst einmal die angeblich deutschfranzösische Erbfeindschaft auf den Plan.

Molique, dessen Name auch in den Varianten Molik - so schrieb sich sein Vater Christian und so steht es im Taufregister von Sankt Lorenz in Nürnberg - und Molick zu finden ist, Bernhard Molique, wie er sich selbst schrieb, kam am 7. Oktober 1802 in Nürnberg zur Welt. Vater Christian war aus dem Unterelsaß eingewandert, der Abstammung nach zweifelsfrei lothringisch, weniger zweifelsfrei, aber laut Familienlegenden mit Jeanne d‘Arc, der Jungfrau von Orleans, verwandt.

Bernhard Moliques Jugendzeit ist nur spärlich dokumentiert; der Vater hatte sich in Nürnberg als Stadtmusikus (Violine und Fagott) niedergelassen, »unbesoldet«, das heißt ohne regelmäßiges Gehalt; es waren die unruhigen Zeiten der napoleonischen Kriege, in die Bernhard hineingeboren wurde: 1800 und 1809 besetzten die Franzosen Nürnberg, danach vier Jahre lang immer wieder Durchmärsche und Einquartierungen und, als sei das nicht schon genug, obendrein eine Typhus-Epidemie.

Trotzdem kam die Musik nicht zu kurz, der Vater unterrichtete den Filius in »ziemlich allen der gangbarsten Instrumente«, wie sein Biograph Fritz Schröder (1923) es formuliert, vermutlich waren es eher »spielerische Versuche« statt regelrechten Unterrichts. Die Geige wird Moliques bevorzugtes Instrument, mit 8 Jahren tritt er als »Wunderkind« auf. Wer ihn zum Pianisten mit »namhafter Fertigkeit« ausgebildet hat, bleibt offen. War er hier Autodidakt?

Als Louis Spohr 1815 in Nürnberg konzertierte, stellte er sich, vierzehnjährig, dem Geiger vor und erhielt von ihm einigen Unterricht, »weil der Knabe schon damals ausgezeichnetes für seine Jahre leistete«, wie Spohr in seiner Autobiographie vermerkt, und Molique hat sich danach ein Leben lang auf Spohr als seinen eigentlichen Meister berufen.

1816 bringt ihn der Vater nach München; König Maximilian legt des Sohnes weitere Ausbildung in die Hände des Hofviolinisten Pietro (Peter) Rovelli, eines Rudolph-Kreutzer-Schülers, möglicherweise hatte hier Spohr seine Hand im Spiel, Kompositionsunterricht vermutlich bei Joseph Grätz (Gratz), einem Schüler von Michael Haydn.

Bernhard Molique
Zwei Jahre später sitzt Molique als Geiger im Orchester des Theaters an der Wien, und es wurde, zumal in der Wiener klassikgeschwängerten Atmosphäre, »gerade das klassische Ideal zum Leitstern für ihn als schaffenden wie als ausübenden Künstler«.

Hat Molique die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und Kontakt mit Beethoven aufgenommen? Es geht die Rede von einem Besuch, der taube Beethoven habe für ihn das notorisch mißgestimmte Klavier traktiert, Molique daraufhin – grußlos! - die Flucht ergriffen. Am 15. März 1818 trat er in einem Konzert neben Franz Schubert auf, ein näherer Kontakt scheint nicht zustande gekommen zu sein. Von zwei engeren Bekanntschaften lediglich geht die Fama, mit dem Geiger und zeitweiligen Beethoven-Faktotum und -Vertrauten Karl Holz und dem Pianisten Ignaz Moscheies.

Vier solistische Konzertauftritte Moliques sind für die beiden Wiener Jahre belegt. Immerhin.

1820 kehrt er als Hofviolinist nach München zurück, fünf Jahre später schlägt ihn der Hofmusik-Intendant Freiherr von Poißl zum Konzertmeister vor, doch das Königliche Kabinett lehnt ab: Molique, mit 24, sei zu jung - tempora mutantur: Keine 200 Jahre später können führende Positionen nicht jung genug besetzt werden!

Im selben Jahr hatte Molique geheiratet, die Hofschauspielerin Anna Maria Wanney, Nichte und Adoptivtochter des Komponisten und Hofkapellmeisters Peter von Winter. Moliques vier überlebende Töchter blieben unverheiratet und kinderlos, Caroline, die Älteste und Czerny-Schülerin, wurde Konzertpianistin.

Bereits im folgenden Jahr geht Molique als Königlicher Musikdirektor und Konzertmeister nach Stuttgart, wo Peter Joseph Lindpaintner Hofkapellmeister ist und 1829 Abonnementskonzerte einführen wird. Molique bleibt 23 Jahre in der schwäbischen Metropole, erregt als Solist und Kammermusiker Aufsehen, dirigiert das Orchester während Lindpaintners Krankenjahr und gewinnt Ansehen als Pädagage. Von den 20 Geigern im Hoforchester waren am Ende 16 Molique-Schüler.

Felix Mendelssohn Bartholdy in einem Brief an Carl Friedrich Zelter (15. Februar 1832) lobte das Orchester, nannte Molique allerdings einen »dicken Weinbürger«, der es sich in seiner Behaglichkeit eingerichtet habe. 10 Jahre später fand Hector Berlioz die Stuttgarter Orchestergeiger dank Moliques Einfluß »vortrefflich«, mußte sich aber bei der Aufführung seiner Symphonie Phantastique mit der halben Geigengruppe zufrieden geben, die andere war infolge »wahrer oder vorgeschützter Krankheiten«, wie Berlioz in seinen Memoiren moniert, abwesend. Es steht zu vermuten, daß Molique, der dieser »neuen« Musik ablehnend gegenüberstand und aus seinem Herzen wohl keine Mördergrube machte, seine Hand im Spiel hatte.

Bernhard Molique
Der Pianist und Dirigent Hans von Bülow verkehrte 1848 als Gymnasiast im Hause Molique, später spielte er manchmal das eine oder andere Moliquesche Klaviertrio. Mit Robert Schumann kam Molique nicht zu Rande (»Der Schumann is a langweiliger Kerl, der sitzt da und schwätzt nix und tramt!«), so wenig wie Schumann mit ihm, »dem nichts recht ist, der über alles raisonniert und dabei ein so trockener Gesell ist«. Ganz anders (wenn wir hier chronologisch kurz vorgreifen dürfen) Joseph Joachim, der große Geiger und Brahms-Freund: »Molique sehe ich öfter und habe den würdigen alten, ehrlichen Schwaben [sic] sehr lieb gewonnen.« Am 28. Oktober 1862 aus London an Clara Schumann). Daß Molique der Geburt nach Franke war, hatte seine Stuttgarter Seßhaftigkeit offensichtlich vergessen machen.

Tourneen in den 1830er Jahren durch Deutschland, Österreich, Frankreich, Holland, England und Rußland machten Molique zu einer europäischen Berühmtheit, er galt als einer der größten zeitgenössischen Violinisten, auch wenn er mit den Hexenkünsten eines Paganini nicht konkurrieren konnte oder wollte; auf das große Publikum wirkte er eher »ernüchternd, aber desto größer war der Genuß der Kenner«. Eduard Hanslick, der gefürchtete Wiener Star-Kritiker, beschrieb ihn (in der »Geschichte des Konzertwesens in Wien«, 1869) als einen »ernsten, etwas unbehilflichen Schwaben [!] von behäbigem, gedrungenem Körperbau«, er »trug weder geheimen Liebesschmerz noch lange Haare, dafür - o Graus! - eine schwarze Hornbrille!« Und schnupfte obendrein Tabak! Moliques Kompositionen nannte Hanslick »männlich, ernst, gediegen«.

1849, nach drei vorausgegangenen Londoner Konzertreisen (1840, 1842, 1848), zag Molique in die englische Hauptstadt, was seinem Biographen angesichts der dortigen gerade auflösungsgefährdeten Theater- und schwierigen Musiklage nicht ganz verständlich ist, was wir aber angesichts der konservativen Musikgesinnung der Londoner im Gegensatz zu den musikalischen Strömungen im deutschen Sprachraum durchaus nachvollziehen möchten: Richard Wagners Musik und der ganzen Neudeutschen Richtung begegnete man in London mit »Abscheu«, da galt Molique leicht als Fortschrittler »in the direction of liberty« (was immer auch darunter zu verstehen ist), schuf sich vor allem als Kammermusiker eine einträgliche Stellung, und gehörte bald zu den bekannten Londoner Persönlichkeiten, nicht zuletzt durch sein »wunderliches Englisch«, das er sich in siebzehn Londoner Jahren (hier trifft er sich mit dem Kollegen Händel) nicht abgewöhnen konnte. Im Jahre 1861 wurde er Kompositionsprofessor an der Royal Academy of Music, zeitweise war er Präsident der Londoner Konservatoriums-Konzerte.

Seine sich verschlechternde Gesundheit bewog ihn, 1866 ouf den Kontinent zurückzukehren, noch Bad Cannstatt, wo er 1869 starb. Die Obduktion ergab eine »wunderbar seltene Schönheit des Gehirns, [eine] merkwürdige Tiefe und Vollkommenheit der Stelle, wo noch Gall der Musiksinn liegt«. Nun ja, dahinter werden wir den Wunsch als Vater des Untersuchungsergebnisses vermuten dürfen.

Der schwäbische Dichter Johann Georg Fischer schlug in seinem Nekrolog den lyrischen Bogen um Mensch und Werk: »Wer seine Kompositionen vernahm, der empfand, hier steht ein Mensch im besten Sinne vor mir.«

Quelle: Wolfgang Binal, im Booklet


TRACKLIST

Bernhard Molique (1802-1869)

String Quartet op. 18 No 3 in E flat major 29'49
[1] Allegro 10'58
[2] Andante 9'35
[3] Menuetto 3'51
[4] Presto 5'24

String Quartet op. 28 in F minor 27'41
[5] Allegro 11'28
[6] Andante 7'39
[7] Scherzo 3'00
[8] Rondo 5'33

T.T.: 57'39
Mannheimer Streichquartett
Andreas Krecher, 1st Violin
Shinkyung Kim, 2nd Violin
Niklas Schwarz, Viola
Armin Fromm, Violoncello

Recording: Kammermusikstudio des SWR Stuttgart, 13.-15. November 2006
Recording Supervisor + Digital Editing: Michael Sandner
Recording Engineer: Martin Vögele
Executive Producers: Marlene Weber-Schäfer, Burkhard Schmilgun
Cover Painting: Carl Spitzweg: Der Kaktusliebhaber, c. 1865, Privatbesitz.

(P) 2009


Vom Mangel zum Überfluß

Das romantische Naturbild


»Zurück zur Natur«, mit dieser Parole formierte sich die Gegenbewegung zur raschen Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Getragen wurde sie von der Rousseau'schen romantischen Verklärung der Natur als der »reinen, echten, erhabenen Welt«, die noch nicht entweiht ist durch die Menschen. Diese fortschrittsfeindliche Haltung richtete ihre Blicke zurück in eine zum Paradies erklärte Vergangenheit; vergleichbar den ersten Versen der Äneis von Vergil über das Goldene Zeitalter, in dem ohne Verbrechen aus freien Stücken und ohne Recht oder Gesetz in Friede und Eintracht gelebt worden war. Da dieser Zustand schon zu Vergils Zeiten eine für die römische Zivilisation sehr ferne, mystifizierte Vergangenheit war, suchten die Romantiker den glückseligen Naturzustand bei den »in paradiesischer Nacktheit lebenden Wilden«, von denen die europäische Welt zunehmend mehr über Forschungsreisende erfuhr. […]

Für die »Aussteiger« des 19. und des nahenden 20. Jahrhunderts boten die Wilden hingegen die idealisierbaren Vorhilder für das Gesuchte, für Arkadien und Eden. »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?«, fragte Goethe gleichsam auffordernd zur Reise in den Süden. Seine Italienische Reise ist durchsetzt von verklärt-romantischer Naturschilderung. Bei Goethe wird aber deutlicher, wie sehr er damit eigentlich die kultivierte Natur meint. Italien ist für ihn so schön, weil das Land seit Jahrtausenden gepflegt worden war. Er ergeht sich in Träumereien von der Antike mit ihrer Kunst und Kultur. In wallendem, fast altrömisch wirkendem Gewand und mit breitkrempigem, schattenspendendem Hut lässt er sich malen. Seine in tagebuchartiger Schilderung verfasste Italienische Reise verändert sich von der anfänglichen Beschreibung des Reiseweges, die insbesondere bei der Alpenüberquerung und der Fahrt durch Oberitalien noch eine echte Reiseschilderung darstellt, zu einem Versinken in die Vergangenheit des Schönen und Guten.

Mit dem »Zurück zur Natur« meinten die Romantiker keineswegs »hinauf auf die Bäume, ihr Affen!«, sondern Genuss und Muße eines zivilisierten Lebens in der schönen Natur. Diese gibt von sich aus reichlich, wenn sie, wie die Mutter von guten Kindern, mit Verehrung bedacht und gut behandelt wird. Daraus erwuchs ganz von selbst die Richtung: Schönheit und Ehrwürdigkeit sollten in der Natur gesucht und erlebt werden. »Gefährlich« blieb es, »den Leu zu wecken« und »verderblich des Tigers Zahn«, weil auch die Romantik aus einem zähnefletschend drohenden Wolfsgesicht kein Schoßhündchen machte. Wo sich die Natur übermächtig zeigte, nahm der Romantiker ihre Wirkungen mit dem Schauder der Ehrfurcht hin. Die Donner würden ja verhallen, das Brausen des Sturmes vergehen und den lauen Lüften mit herrlicher Sonne Platz machen. Gemälde wie der »Wanderer über dem Nebelmeer« von Caspar David Friedrich drücken auf subtile Weise aus, dass der Mensch, der Wanderer, eben doch erhaben und selbstsicher über dem Meer des wabernden Nebels steht. Nicht verloren hat er sich darin wie in der Warnung »Gefährlich ist's über Moor zu gehen, wenn das Röhricht knistert im Hauche«; auch an den schroffen Kreidefelsen von Rügen lässt das Bild keine Absturzgefahr erkennen. Das »Eismeer« desselben Künstlers bestaunt man im Binnenland, wo man zwar von den größeren Flüssen spätwinterliche Treibeismassen kennt und die von ihnen ausgelösten Winterhochwasser fürchtet, aber sich nicht mit Leib und Leben bedroht fühlt.

Der weitaus größte Teil der Naturbilder der Romantik ist ganz unmittelbar dem Schönen gewidmet. Hütejungen mit munteren, gesunden Kühen, in faulem Nichtstun versunken und an einem Grashalm kauend, nette Mädchen, die eine Schar Gänse mit einer harmlosen Gerte zum Dorfteich treiben, friedlich schlafende Hofhunde oder Bauersleute, die von reifem Korn überquellende Wagen ins Dorf fahren. Mag auch ein Gewitter drohen, es ist den Menschen keine Panik in die Gesichter gemalt, denn die Natur ist ihrer Natur nach inzwischen »gut« geworden, solches zeigen die Bilder. Die Bächlein und ihre Quellen sprudeln rein. Sie laden zu erfrischendem Tranke. Die knorrigen, uralten Bäume bieten Schutz oder dienen dem Reigen der Dorfjugend. Sie symbolisieren die Beständigkeit, die sich gegen alle Widrigkeiten der Jahrzehnte und Jahrhunderte behauptet hat. Und überall, wo es die Zeit des Bildes zulässt, blühen Blumen. Sie halten nun auch Einzug in die Gärten, und sie schmücken die Balkone. Dass südafrikanische Geranien zum »typisch bayerischen Bauernhausschmuck« werden, stört das romantische Empfinden ebenso wenig wie die gleichfalls fremdländischen, vom damals nicht gerade geschätzten Balkan kommenden Kastanien der Biergärten.

Überhaupt holt man sich ungeniert das Schöne und das Gute aus aller Welt zusammen, um die Gärten zu schmücken, um die Natur zu bereichern und um neue Möglichkeiten auszuprobieren, die Pflanzen und Tiere anderer Herkunft bieten könnten. Fast alle Arten von Pflanzen, die in unserer Zeit vermeintliche oder echte Probleme verursachen, weil sie sich ausbreiten und »Heimisches« zu überwuchern drohen, stammen aus dem 19. Jahrhundert. Damals holte man sich das so prächtig und variantenreich blühende Springkraut (Impatiens glandulifera) aus dem Himalaja. Es wurde zur »Orchidee der Vorgärten« ernannt. Die ob ihrer Größe und Wuchsform besonders eindrucksvolle »Herkulesstaude«, der Riesenbärenklau (Heracleum mantegazzianum), galt als »ornamental«, also als Schmuck der Gärten, und außerdem diente er als spätsommerlich ergiebige Bienenweide für die Imkerei. Mancher Waldrand wurde mit Samen des Riesen besät, um diese gewaltigen Stauden dort zum Aufwachsen zu bringen.

In dieser Spannung formt sich das neue Naturbild. Es greift zurück auf das Herkömmliche, das zu verschwinden droht, und integriert Neues, um die Schönheit zu steigern. Steige werden an Wildbäche und Wasserfälle herangeführt, Gipfel erstiegen, und man leistet sich Sommerfrische. Gegen die immer stärker verrußenden Städte wird der Kontrast des guten und gesunden Landlebens aufgebaut. Das steigert den politischen und gesellschaftlichen Gegensatz: Stadt ist schlecht, Land ist gut! So lautet die Grundformel. Bis in unsere Zeit geht der Naturschutz davon aus. Das Naturbild, auf das er sich stützt, entspricht jedoch keineswegs der unberührten Natur. Vielmehr handelt es sich um eine geschundene, um eine jahrhundertelang ausgebeutete und übernutzte Natur. Mangel herrschte allenthalben. Die Ernten haben den Böden zu lange zu viele Nährstoffe entzogen. Die Erträge sind zurückgegangen. Auch die letzten Reste und Raine müssen genutzt werden. Was wie eine »extensive Nutzung« aussieht, stellt in Wirklichkeit eine höchst intensive dar. Sie hinterlässt kaum Rückstände. Alles muss in den Kreislauf zurück, wenn es irgendwie geht, weil die Nährstoffe gebraucht werden. Häusliche Abwässer und Jauche vom Vieh werden nicht getrennt, sondern zusammen zur Düngung der Wiesen verwendet. Die Felder bekommen den Mist aus den Viehställen. Dieser reicht nicht aus, um die Erträge zu erhalten. So muss jeweils ein Ruhejahr eingeschoben werden, in dem sich der Boden wieder etwas erholen kann für die nächste Feldbestellung.

Die tropisch bunten Bienenfresser machen sich nun auch nördlich
 der Alpen breit. Eine Folge des Klimawandels.
Die schon angeführte »Dreifelderwirtschaft« basiert auf diesen Zwängen. Sie bringt als Nebenprodukt etwas hervor, das nun zur Leitvorstellung für die Romantik, den Heimatbegriff und den Naturschutz wird: blühende Landschaften, in denen bunte Falter über einer farbenprächtigen Fülle von Blumen gaukeln, Lerchen jubilierend aufsteigen und der mit seiner Scholle verwurzelte Bauer sieht, dass alles gut ist. Ausgeblendet wurden die harte Arbeit der bäuerlichen Bevölkerung, die guten Grund zu den »Bauernaufständen« zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte, und die verarmten, weithin karg gewordenen Böden. Noch verstand niemand den engen Zusammenhang zwischen Mangel an Nährstoffen und reichem Blühen. […] Die bäuerliche Bevölkerung mag eher den wirklichen Zusammenhang gespürt haben. Wo bunte Blumen in großer Vielfalt blühen, wo Thymian (Thymus serpyllum) duftet und der winzige Augentrost (Euphrasia minor) seine fein ziselierten weißen Blüten öffnet und in diesen mit gelbem Saftmal kleine Insekten anlockt, da war kein Ertrag an Gras und Heu zu erwarten. Wo der Boden gut war, hatte der Bauer einen steten Kampf gegen das wuchernde Unkraut zu führen; mit der Hacke in der Hand oder, später, mechanisiert und schließlich im letzten halben Jahrhundert mit stärksten Giften. Mochten die Kräuter auch gut duften oder in der Volksmedizin dienlich gewesen sein, sie sollten und durften den Ertrag an Getreide oder an Futter für das Vieh nicht schmälern. So paradox es auch klingen mag, das Land war dort am romantischsten, wo es den geringsten Ertrag lieferte.

Die Hochleistungsfelder von heute wären nie Quell romantischer Empfindungen und Verklärungen geworden. Aus ihnen steigen auch keine Lerchen mehr auf. Alauda war ihre Gattung genannt worden, um damit im wissenschaftlichen Namen auszudrücken, dass ihr Aufsteigen in den Frühsommerhimmel als ein »ad laudam«, »zum Lobe« (Gottes), empfunden werden sollte. Lerche und Nachtigall, Amsel, Drossel, Fink und Star, sie alle, »die ganze Vogelschar«, schienen mit ihren so vielfältigen wie schönen Gesängen wenn nicht Gott direkt, so doch zumindest die wunderschöne Natur zu loben. Die Nachtigall »schluchzt« nun »herzzerreißend«, die Amseln und Drosseln »flöten«, der Zaunkönig »schmettert« und die Spechte »trommeln« nicht nur in lautmalerischem Wortsinn, sondern in der romantischen Verklärung als Ausdruck der reinen Lebensfreude in der Natur. In dieser ist alles bestens geordnet. Jedes Tier, jede Pflanze hat ihren Platz und selbstverständlich Aufgaben in der Gemeinschaft zu erfüllen. Die Parabel von den »Blumen und den Bienchen« wird sprichwörtlich. Das eine Kernstück des vom Menschen abgelösten Naturverständnisses hat damit Form angenommen: Natur »an sich« ist »schön« und »gut«. Sie würde immer so sein und bleiben, gäbe es den Menschen nicht, der in ihren geordneten Haushalt »eingreift«. Das zweite Kernstück kam durch die Übernutzung des Landes mit der Vielfalt hinzu. Natur an sich wurde nun automatisch als vielfältig angesehen. Wo sie das nicht (mehr) war, musste etwas passiert sein, das ihr mitsamt der Vielfalt auch wesentliche Aspekte ihrer Schönheit genommen hatte. Es verhält sich allerdings genau umgekehrt.

Krähen an Biertischen im Münchener Englischen Garten.
Durch die seit Jahrhunderten schon anhaltende intensive Nutzung hatte die Artenvielfalt in der Natur Mitteleuropas stetig zugenommen. Soweit wir das aus den alten Angaben rekonstruieren können, dürfte der Höhepunkt der Vielfalt etwa Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts erreicht gewesen sein. Denn danach, spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts mehren sich die Klagen über den Rückgang bestimmter Arten wie Feldhasen, Rebhühner oder Drosseln. Wo allgemein Mangel in den Böden herrschte, konnten sich nicht, wie in unserer Zeit, rasch einige wenige auf Kosten der vielen anderen Arten ausbreiten und die Schwächeren verdrängen. Wo hingegen die Ressourcen reichlich zur Verfügung stehen, vereinheitlicht die verstärkte Nutzung. Aus Vielfalt wird Einförmigkeit.

Gewiss, es hat immer Unterschiede in der örtlichen Verfügbarkeit von Nährstoffen in den Böden gegeben. Auch zur Zeit der intensivsten Landnutzung im 18. und frühen 19. Jahrhundert waren die guten Lehm- und Lößlehmböden vergleichsweise ertragreich, wie zum Beispiel der »niederbayerische Gäuboden« oder die »Magdeburger Börde«, aber sie blieben deutlich artenärmer als die schon von Natur aus mageren Sandböden und insbesondere die meist nur mit Schafbeweidung genutzten Kalkmagerrasen. Letztere entwickelten die größte Vielfalt an Pflanzen und Insekten, obgleich im Ausdruck Mager-Rasen schon der sie kennzeichnende Mangel geäußert wird. Auch die von den Hochwassern immer wieder mit frischen Nährstoffen versorgten Flussauen erreichten ihre besondere Artenvielfalt erst durch die vielfältigen Formen der Nutzung als Quelle von Brennholz, als Weideland sowie durch die »Störungen« und Vernichtungen, die direkt von den Hochwassern ausgingen. Als alle drei Einwirkungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend oder ganz aufhörten, ging in den nicht mehr genutzten Auwäldern die natürliche Vielfalt drastisch zurück.

Das heutige naturschützerische Leitbild der reichhaltigen, schönen Natur aus der Zeit der Romantik begründete sich also auf den zerstörerischen Nutzungen des Landes. Gerade weil die Menschen die letzten Winkel erfassten und aus allem noch etwas herauszuholen versuchten, machten sie die Natur so vielfältig. Als die künstliche Düngung die Erträge steigerte und Maschinen zunehmend die Handarbeit ersetzten, fing »die Natur« an zuzuwachsen. Wie sehr, wird wohl für fast jedes Flusstal und für viele Städte anhand von Bildern aus dem 19. Jahrhundert nachvollzogen werden können. Wo vor 150 oder gut 100 Jahren noch offene Weitblicke auf die Städte die Bilder beherrschen, zum Beispiel über die Isar mit ihrer Aue, den »Englischen Garten«, hinweg nach München, findet man heute von denselben Standorten aus alles dicht zugewachsen vor. Natürlich ist damit nicht eine sich ausbreitende Bebauung gemeint. Vielmehr ist fast alles, das einst »offen« gewesen war, von Wald oder Buschwerk bedeckt. Nicht anders verhält es sich mit den vielen kleinen Bachtälern in den Mittelgebirgen. Seit Jahrzehnten beklagt der Natur- und Landschaftsschutz, dass der Wald vorrückt, die Täler überzieht und so das alte Bild stört, das man für den freien Blick hatte erhalten wollen.

Ein Marder ist in der Millionenmetropole New York heimisch geworden.
Ist es aber nicht »natürlich«, dass sich die Natur holt, was ihr einstens genommen worden war, könnte man fragen. Gehört es nicht zur Natur der Natur, dass sie »dynamisch« auf Veränderungen reagiert und nicht auf alten Positionen beharrt, wenn sich neue Bedingungen eingestellt haben? Welche Natur ist die richtige? War der Zustand um die vorvorige Jahrhundertwende, den Goethe auf seine Weise und die Romantiker auf ihre Art beschrieben und verherrlicht hatten, der beste aller möglichen? Kann es sein, dass die für die meisten Menschen so schlechten Zeiten von damals »die gute alte Zeit« der Natur gewesen ist?

Ein paar weitere Facetten des Naturschutzes verstärken die Zweifel an einer solchen Sicht. Damals war nicht nur der Massenfang von Singvögeln in weiten Teilen Mitteleuropas völlig normal und legitim, sondern es gehörte sich auch, dass die Buben Vogelnester suchten und »ausnahmen«. Mit großer Mühe und mit einem Ringen, das mehrere Generationen lang dauerte, gelang es schließlich im 20. Jahrhundert, die Singvögel generell für »gut« und nützlich zu erklären und das Ausnehmen von Vogelnestern zu ächten. Auf dem Land verschwand dieses Tun sogar erst in den 1950er und 1960er Jahren weitgehend. Eine andere Facette betrifft die Unterteilung der Arten in »nützlich« und »schädlich«. Die kleine Meise war nützlich, weil sie schädliche Raupen verzehrt und so dem Obst- und Gartenbau hilft, auch wenn sie keine Unterschiede zwischen schädlichen Insekten und den rar gewordenen, unter besonderem Artenschutz stehenden macht. Die Greifvögel waren schädlich und wurden als »Krummschnäbel« bis zur großen Wende im Naturschutz, dem europäischen Naturschutzjahr von 1970, gnadenlos verfolgt, obwohl sie als eifrige Mäusevertilger bekannt waren. Denn sie raubten dem Jäger sein Nutzwild. Die romantische Verklärung hatte offenbar gar nicht zum Ziel, alle Lebewesen in der Natur für grundsätzlich schön und wichtig einzustufen. Schädlich waren und blieben weit mehr Arten als die besungenen Nachtigallen und Lerchen, die Marienkäfer und Falter. Schon deren Raupen blieben zumeist verdächtig, mochte auch der Schmetterling noch so schön sein.

Es dauerte daher bis in die neue Zeit eines ganz anderen Naturverständnisses, bis der Artenschutz einigermaßen aus der Falle von »nützlich-schädlich« herauskam. Doch dafür muss er jetzt begründen, ob eine bestimmte Art überhaupt, und falls ja, warum, im sogenannten Naturhaushalt benötigt würde. Die Spaltung von Mensch und Natur blieb erhalten. Der gern auch so wörtlich verstandene biblische Auftrag »Macht euch die Erde untertan« wirkt praktisch ungeschwächt weiter. Und so versucht der heutige Naturschutz, in nach wie vor romantischer Natursuche zu einer Natur zurückzukommen, die vor zweihundert Jahren eigentlich eine ganz außerordentlich geschundene Landschaft gewesen war. Folglich sind heute die »besten« (weil artenreichsten) Naturschutzgebiete solche Flächen, die als Grenzertragsböden eingestuft werden, oder Wälder, die kaum noch in der Lage sind zu wachsen, weil das Grundwasser zu sehr abgesenkt worden ist. Wie einst dort Wald übrig geblieben war, wo sich die Flächen als nicht gut genug für die Landwirtschaft erwiesen, so sind es nun jene insgesamt unergiebigen Flächen, die eine »naturschutzwürdig reichhaltige Natur« tragen. Es ist der »Ertrag«, der unsere Sicht der Natur bestimmt! Nach wie vor verhält es sich so. Naturschützer werden für »Romantiker« gehalten. […]

Blick auf München über die Isar um 1835. Gemälde von Ernst Kaiser.
 Das Bild zeigt, wie offen und wie intensiv genutzt das Isartal war, wo heute der
Englische Garten und die Hirschau dicht bewachsen und eigentlich
 Hochwald geworden sind.

Justus von Liebig und der Kunstdünger


Die große Wende löste im Stillen ein herausragender, bis in die Gegenwart hoch geehrter deutscher Chemiker aus, als er das zugrundeliegende Prinzip für die Produktivität der Natur erkannte. Justus von Liebig formulierte es als das (sein) »Minimum-Gesetz«. Danach begrenzt jener Nährstoff die (landwirtschaftliche) Produktion, der im Verhältnis zu den anderen benötigten Stoffen im Minimum ist. Das kann etwas so Einfaches sein wie das fehlende Wasser in der Wüste oder der Mangel an Wärme in den polaren Regionen. Letztere lassen sich schwerlich heizen. In zu kalten Gebieten können nur Glashäuser eine gewisse Lösung sein. Die Wüste kann man bewässern. Das ist seit Jahrtausenden bekannt und vielfach gemacht worden. Liebigs Leistung lag nun darin, den Schlüssel für die Produktionsverbesserung gleichsam für das normale Land gefunden zu haben. Die chemische Analyse kann feststellen, ob der Boden genug Stickstoff- oder Phosphorverbindungen, Kalium oder Eisen enthält, oder wie viel ihm davon, bezogen auf den Bedarf der Nutzpflanzen, fehlt. Der Mangel lässt sich bestimmen und direkt im Verhältnis zu den anderen Mineralstoffen messen. Das ermöglicht die richtige Versorgung mit Kunstdünger.

Das Zauberwort zur nachhaltigen und außerordentlich starken Anhebung der Produktion lautete alsbald ›Nitrophoska‹. In diesem Kunstdünger wurden die drei mengenmäßig bedeutendsten Wirkstoffe, nämlich Stickstoff (Nitro), Phosphor (phos) und Kalium (ka), in ziemlich genau den Verhältnissen geboten, in denen sie von den Kulturpflanzen für Wachstum und Fruchtbildung benötigt werden. Entsprechend nachhaltig ließ sich die Produktion, gemessen an Hektarerträgen, in kurzer Zeit steigern. Sobald Kunstdünger preiswert genug zur Verfügung stand, merkten die Landwirte, dass sie auch ohne aufwendige Analysen nach dem einfachen Prinzip »viel hilft viel« ihre Erträge steigern konnten. Großtechnische Erzeugung senkte die Preise für den Kunstdünger. Die Landwirtschaft wurde zu einem der Hauptabnehmer von Produkten der chemischen Industrie. Deutsche Firmen stiegen in die Weltspitze auf, weil in Mitteleuropa bei ziemlich guten Böden ein Missverhältnis zwischen Produktionsflächen und Bedarf zustande gekommen war. Die Bevölkerung brauchte weit mehr Nahrungsmittel, als das Land in der herkömmlichen Weise erzeugen konnte. […]

Die Erträge konnten nur vor Ort in Deutschland gesteigert werden, wo Böden und Klima für brauchbare Ernten weit verlässlicher waren als in den tropischen Kolonialgebieten. Doch hier gab es, vor allem im Südwesten und Süden, ein strukturelles Problem. Die Agrarflächen waren durch Erbteilung extrem stark zersplittert, sodass sie eher den Eindruck von Handtuchstreifen als von Produktionsflächen machten. Nur im preußischen Junkerland war das anders. Dort standen für den Großeinsatz auch Großflächen zur Verfügung. Die strukturellen Vorteile wurden rasch offensichtlich, weil auf den zusammenhängenden Flächen weit wirkungsvoller Getreide und andere Feldfrüchte als auf den kleinteiligen Fluren im Süden des Reiches angebaut werden konnten. Diese taugten für die Selbstversorgung, nicht aber für die Läden und Märkte der rasch wachsenden Städte oder für die bevölkerungsreichen Industriegebiete an Rhein und Ruhr. Die großtechnische Erzeugung und der großflächige Einsatz von Kunstdünger veränderten die Lage, aber richtig zur Wirkung kam dieser erst, als nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Flurbereinigung ein ganz neuer Anfang gemacht werden konnte.

Verteilung des Artenreichtums von Vogelarten in Mitteleuropa, die in den
betreffenden Lebensräumen brüten, von den Innenstädten übers Land bis zu
den für besonders artenreich zu erachteten Flussauen. Die Befunde zeigen, wie
reichhaltig die Städte im Vergleich zur offenen Flur in unserer Zeit geworden sind.
Die beiden Weltkriege hatten die Entwicklung weitgehend unterbrochen und gleichsam auf den Anfang zurückversetzt. Noch zwischen den Kriegen bestand die Vollwertdüngung deutscher Flur in einer Menge von 30 bis 50 Kilogramm Stickstoff pro Hektar und Jahr. So viel gelangt seit rund 20 Jahren allein auf dem sogenannten Luftweg als Dünger flächig übers Land. Die Quellen davon sind die modernen Großfeuerungsanlagen, die bei hohen Betriebstemperaturen Luftstickstoff mitverbrennen und so zu Dünger aus der Luft werden lassen, aber auch der Autoverkehr, wenn die Motoren in hohen Drehzahlen laufen. Der direkte Einsatz von Düngemitteln stieg unabhängig von dieser »Düngung nebenbei« produktionsbezogen stark an. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts übertraf die Bilanz zwischen Ernteentzug und Düngung fast überall in Mitteleuropa die Grenze von 100 Kilogramm Stickstoff (als Reinstickstoff gerechnet) je Hektar und Jahr. In den agrarischen Intensivgebieten verdoppelte sich dieser Überschuss und wurde zur Hauptbelastung für Boden, Grundwasser und auch der Luft, weil immer größere Mengen organischen Düngers nicht mehr, wie früher, als Festmist auf die Fluren gebracht wurde, sondern in Form von flüssiger Gülle.

Diese Entwicklung veränderte das Grundwasser, die Nährstoffgehalte der Böden und über diese Lebensgrundlagen auch die Artenzusammensetzung und -vielfalt der Fluren weit stärker als alle früheren »Eingriffe«. Denn nun trat genau das auf, was der Mangel verhindert hatte. Einzelne Pflanzen, die sehr »wüchsig« sind und dafür auch reichlich Nährstoffe brauchen, wucherten und erdrückten die genügsameren und zarteren Arten. Der Stickstoff wurde zum »Erstick-Stoff« für die Artenvielfalt. Die Vegetation wächst nun seit Jahrzehnten schon aufgrund dieser Düngung im Frühjahr viel früher und viel dichter auf als in den »mageren Zeiten«. Bodennah wird es daher im Frühsommer und Sommer feucht und kühl. Je dichter die Vegetation, desto stärker wird dieser Abkühlungseffekt. Die wärmebedürftigen Arten nehmen ab und verschwinden, obgleich »offiziell« das Klima im genau gleichen Zeitraum wärmer wurde. Doch für die Pflanzen und für die meisten Tiere zählen nicht die meteorologisch standardisierten Messwerte, sondern die tatsächlichen Bedingungen in ihren Lebensräumen.

Für die Grille oder für die Raupe am Wiesenboden bleibt das Mikroklima kalt und feucht, auch wenn einen Dreiviertelmeter darüber, wo die Pflanzendecke endet, schönster Sonnenschein frühsommerliche Wärme liefert. Nicht das schmelzende Eis der Gletscher ist, als rein physikalischer Vorgang, maßgeblich für die Auswirkungen leichter Erhöhung der Durchschnittstemperaturen, sondern die Art und Weise, wie die Pflanzendecke reagiert. Sie bestimmt in ausgeprägter Weise die thermischen Lebensbedingungen und damit Mikro- und Mesoklima auf den kleinen und mittleren Ebenen der Natur. In unserer Zeit drehte die übermäßige Versorgung des Landes mit Pflanzennährstoffen somit die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts geradezu ins Gegenteil um. Damals wurden, wie schon ausgeführt, die Fluren schnell aufgewärmt und abgetrocknet, weil sie weithin offen und intensiv genutzt waren. Jetzt sind sie »zugewachsen«, weil weder Ziegen noch Schafe oder fleißige Hände jeden Streifen und alle Ränder frei halten.

Die Städte sind seit Jahrzehnten »magerer«, artenreicher und vielfältiger als »die Natur« draußen auf den Fluren. Denn in Städten, Siedlungen und Industrieanlagen enthalten die Böden inzwischen vielerorts weit weniger Nährstoffe für das Pflanzenwachstum als die anhaltend überdüngten Felder und Wiesen. Die Bodenversiegelung mit Pflaster, Beton und Teer leitet das Niederschlagswasser schnell in die Kanalisationen, sodass sich an vielen Stellen trockenwarme Verhältnisse halten können. Die Aufwärmung der Gebäude durch die Heizungen im Winter und die Aufnahme und (nächtliche) Speicherung von Sonnenwärme im Sommer verstärkt diese Effekte und macht die Städte zu »Wärmeinseln«. Entsprechend groß ist der Kontrast in der Artenvielfalt geworden. Das Land verliert sie, während die Städte umso mehr Arten gewinnen, je größer sie sind. Diese Entwicklung stellt das Leitbild Artenvielfalt im Naturschutz seit geraumer Zeit grundsätzlich infrage. Denn es stammt, wie ausgeführt, aus dem 19. Jahrhundert. Die damaligen Verhältnisse werden jedoch auf absehbare Zeit sicherlich nicht wieder nachzuahmen (und anzustreben) sein. Das geht allein schon deswegen nicht mehr, weil der erreichte, sehr hohe Grad der Selbstversorgung mit den Grundnahrungsmitteln ohne Not nicht wieder aufgegeben werden wird - und auch nicht mehr aufgegeben werden soll. Zurück dreht sich das Rad der Zeit ohnehin nicht. Wie groß die Unterschiede zwischen Stadt und Land in der jüngsten Vergangenheit geworden sind, illustrieren die nachfolgenden Abbildungen.

Die Defizite können direkt berechnet werden, wenn der allgemeine Landesdurchschnitt zugrunde gelegt wird. Für die Vögel gibt es genügend Befunde, aus denen ein solcher berechnet werden kann. Danach sind pro Quadratkilometer Landfläche in Mitteleuropa rund 43 Vogelarten zu erwarten, die auf dieser Fläche auch brüten. Mit Hilfe einer Formel kann berechnet werden, wie viele Arten von Brutvögeln auf Flächen unterschiedlicher Größe zu erwarten wären, wenn diese durchschnittlichen Verhältnissen entsprechen. Die tatsächlichen Befunde ergeben nun im Vergleich mit den Erwartungswerten das Ausmaß an erhöhtem oder vermindertem Artenreichtum. Wo die Minderung unter die Grenze zufälliger Schwankungen abfällt, handelt es sich um echte Defizite. Solche treten ganz besonders auf den großflächig landwirtschaftlich genutzten Fluren auf, während die Städte allgemein über dem Durchschnitt liegen und oft einen Artenreichtum erreichen, wie er in hochwertigen Naturschutzgebieten auftritt oder erwartet wird.

Da nun aber der gesamte Siedlungsraum, einschließlich der Industrieflächen, mit seinem beträchtlichen Artenreichtum in Mitteleuropa nur rund 10 Prozent der Landesfläche einnimmt, die Wälder mit geringen Defiziten an Diversität gut 30 Prozent und die agrarisch genutzte Flur aber 55 Prozent ausmachen, während Naturschutzgebiete und die besonders artenreichen Truppenübungsplätze oder weitere »Restflächen« geringer Nutzungsintensität die restlichen 5 Prozent stellen, kommt insgesamt der in »Roten Listen gefährdeter Arten« dokumentierte, so starke Artenschwund zustande. Hauptverursacher ist die quasiindustrielle Landwirtschaft mit ihrer Überdüngung und der zu ihrer Leistungssteigerung durchgeführten Vereinheitlichung der strukturellen Verhältnisse auf den Fluren. […]

Sofern zu Vorkommen und Häufigkeit der Arten vor 150 Jahren brauchbare Angaben vorliegen, ergibt sich ein gewaltiger Artenschwund für die Fluren. Denn diese waren damals die besonders artenreichen Lebensräume gewesen und nicht die Städte. Pflanzen und Tiere der Fluren stellen daher auch die weitaus höchsten Anteile in den »Roten Listen«. Sie schwanken zwischen gut 50 und über 90 Prozent bei den Rückgängen. Die »Roten Listen der gefährdeten Arten« wurden auch immer länger, weil die Intensität der agrarischen Bewirtschaftung zunahm, und nicht kürzer, weil Maßnahmen des Artenschutzes wirksam geworden wären. Solche kamen nur wenigen Arten zugute, und zwar fast ausnahmslos solchen, die früher intensiv verfolgt worden waren und nun geschützt sind. Hier geht es darum, eine Gesamtbilanz zu ziehen.

Professor Josef Helmut Reichholf im Museum "Mensch und Natur"
im Münchner Schloss Nymphenburg
Sie ergibt für den flächengrößten Anteil der mitteleuropäischen Landschaften, die Flur, die ganz starken Rückgänge der Artenvielfalt und die größte Belastung des Landes. Die Entwicklung führte in weniger als einem halben Jahrhundert vom Mangel zur massiven Überdüngung. Diese, im internationalen Fachjargon Eutrophierung genannte Überversorgung von Böden und Gewässern mit mineralischen und organischen Nährstoffen stellt eines der wichtigsten Kennzeichen der Natur des 20. Jahrhunderts europaweit dar. Doch auch in weiten Regionen der übrigen Welt schreitet die Eutrophierung fort. Sie ist eine der Hauptquellen für klimawirksame Gase wie Methan und Ammoniak, und sie wird im Zusammenhang mit den Klimaveränderungen aus anderem Blickwinkel wieder aufgegriffen. Ausgelöst wurde sie von der Erfindung des Kunstdüngers. Dieser machte Deutschland und weitere große Staaten Europas zu Exporteuren von landwirtschaftlichen Produkten auf dem Weltmarkt. Die davon entscheidend mitdiktierten Preise nehmen Einfluss auf die weitere Intensität der Produktion in Europa wie auch auf die übrigen Produktionsgebiete global - mit ganz gewaltigen Folgen für die Natur und für das Klima.

Umgekehrt bedeuteten Kunstdünger und Ertragssteigerungen natürlich die ungleich bessere Lösung der zu Beginn des 20. Jahrhunderts real vorhandenen Versorgungsproblematik. Der Versuch einer »Ausweitung des Lebensraumes« nach 0sten war der absolut falsche Weg. Verbesserte landwirtschaftliche Produktion und Zurückdrängung des Hungers stabilisierten sodann die Weltlage in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewiss mehr als alle politischen Aktivitäten. Die »Grüne Revolution« trug mit ertragreicheren Getreidesorten dazu ebenso maßgeblich bei wie Kunstdünger und Pflanzenschutzmittel von der chemischen Seite. Das 20. Jahrhundert wird sicher zu Recht als eine neue Stufe mit einem Quantitätssprung in der Nutzung der Produktionskapazität der Erde eingehen. Eine Zunahme der Nahrungsproduktion in diesem Ausmaß und in so kurzer Zeit hatte es vorher noch nie gegeben. Die »Grüne Revolution« entspricht in mancher Hinsicht der »Neolithischen Revolution« mit der Entwicklung des Ackerbaus vor rund 10000 Jahren. Nichts veränderte im ganzen letzten Jahrtausend die Natur in Europa und darüber hinaus weltweit so sehr wie die industrialisierte Landwirtschaft. Der globale »Impakt« der Industrie bleibt weit hinter dem der Landwirtschaft zurück.

Quelle: Josef H. Reichholf: Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends. Fischer, Frankfurt/M. 2007. ISBN 978-3-10-06294-5. Zitiert wurden die Seiten 138-146 und 187-197


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Erik Satie: Klavierwerke (Michel Legrand, 1993)

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Der französische Komponist Erik Satie wurde 1866 in Honfleur geboren. Er ist heute vor allem bekannt durch seine kleinen und exzentrisch betitelten Klavierstücke. Zu Saties Werken zählen aber auch Ballettmusiken wie Mercure, Parade und Relâche, ein sinfonisches Drama mit dem Titel Socrate und die Pantomime Jack-in-the-Box. Satie studierte nur ein Jahr am Pariser Konservatorium; 1882 wurde er aufgrund häufiger Abwesenheit und schlechter, nicht den Forderungen entsprechender Leistungen entlassen. Er setzte sein Klavierstudium bei Mathias fort, war jedoch nach allgemeiner Aussage ein bequemer, wenn auch hochbegabter Schüler. Satie zog später in das Pariser Montmartre-Viertel. In dieser Umgebung und im Freundeskreis des Café Chat Noir legte er allmählich sein schüchternes und verschlossenes Wesen ab.

Das vielseitige Programm dieser CD stellt einige der ausgefalleneren Klavierstücke Saties und andere, mehr im klassischen Stil komponierte Werke einander gegenüber. Den Anfang machen dabei seine berühmtesten Klavierstücke, die drei Gymnopédies.

Saties humorvolle Werke - von Chapitres tournés en tous sens aus dem Jahr 1913 über Sports et divertissements von 1914 bis hin zu Avant-dernières pensées und Sonatine bureaucratique von 1917 - wurden erst ein Vierteljahrhundert später geschrieben. In der Zwischenzeit war Satie bereits eine zeitlang Mitglied des Rosenkreuzer-Ordens gewesen, weshalb ihn Alphonse Allais (der wie Satie aus Honfleur stammte) den Spitznamen »Esostérik Satie« gab. Außerdem hatte er sich unerwarteterweise als Pianist in Kabaretts und Cafés durchgeschlagen. Noch ungewöhnlicher war es, dass sich Satie schließlich im Alter von fast vierzig Jahren ein weiteres Mal auf die Schulbank begab.

Suzanne Valadon: Porträt Erik Satie,
 1892. Öl auf Leinwand, 41 x 22 cm,
 Center Georges Pompidou, Paris
Erst nach etlichen Jahren an der ehrwürdigen Schola Cantorum, wo er sich mit strenger Disziplin dem Kontrapunkt widmete, fühlte sich Satie reif genug dafür, wieder mit dem Komponieren zu beginnen, wobei er nun auf die »zarten Freuden der Einbildungskraft« verzichten wollte. Der außerordentlich begabte katalanische Pianist Ricardo Viñes regte ihn zu einer umfangreichen Sammlung sehr kurzer Stücke an, die wie musikalische Schnappschüsse wirken. Mit Ausnahme von Sports et divertissements sind sie alle in Dreiergruppen zusammen gefasst und basieren auf bekannten Melodien (wie Kinderliedern oder Operettenarien). Diese Melodien verändert Satie auf verschiedenste Weise, ganz nach eigener Laune, oder, wenn man so will, nach der inneren Logik seiner Erfindungskraft. Die fraglichen Lieder griff Satie mit Vorliebe auf der Straße auf - in dieser sorglosen Zeit der französischen Geschichte wurde auf den Straßen tatsächlich noch viel gesungen. Er hoffte dabei, dass die Öffentlichkeit durch die Verwendung dieser bekannten Melodien eher geneigt sein würde, ihn auf seinem ungewöhnlichen kompositorischen Weg zu folgen. Seine Zusammenarbeit mit Ricardo Viñes brachte Satie dazu, in seine Partituren kurze poetische und humorvolle Texte aufzunehmen, die allein für den Interpreten bestimmt sind (»es ist ein Geheimnis zwischen den Aufführenden und mir«). Sie sind ausgeschmückt mit Metaphern, die sich auf die überall in der Musik verstreuten Zitate beziehen.

Es muss festgehalten werden, dass Satie weniger für große Konzerte komponierte, in denen seine Werke nur selten gespielt wurden, als vielmehr für den durchschnittlichen Hörer, der (in einer Zeit, in der das Klavier in jedem Haushalt seinen festen Platz hatte) Ausführender und Zuhörer in einer Person war. Wer Musik hören wollte, spielte sie sich im allgemeinen selbst vor. Deshalb wandte sich Satie mit seinen Kompositionen an den »Menschen von der Straße«. Er schuf damit eine künstlerische Beziehung zum Zuhörer, die gar nicht anders als persönlich sein konnte.

Die posthumen Werke, die auf dieser CD eingespielt wurden, umfassen drei Gigues mit dem Titel Jack-in-the-box. Sie wurden 1889 als Bühnenmusik für eine »Cloonerie« des Montmartre-Humoristen Jules Depaquit geschrieben. Satie beschreibt sie als eine »Grimasse der schrecklichen Menschen, die unsere Welt bevölkern«. Weil Depaquits Stück weder zu seinen eigenen noch zu Saties Lebzeiten je auf die Bühne gelangte, verschwanden die Noten in einer der Taschen jener zwölf gleichen Samtanzüge, die dem Komponisten den Spitznamen »der samtene Herr« einbrachten. Erst nach Saties Tod tauchte dieses Stück wieder auf und wurde zur Grundlage eines Ballettes, das von Diaghilevs Ballets Russes in einer Choreographie von George Balanchine und mit Bühnenbildern von André Derain aufgeführt wurde.

Antoine de La Rochefoucauld: Porträt Erik Satie,
 1894, Öl auf Leinwand, 80 x 68 cm.
Préludes flasques (pour un chien) ist eine Sammlung von vier Stücken, die Satie 1912 komponierte und gleich darauf vernichtete. Satie ersetzte diese Kompositionen danach durch eine Folge neuer Stücke, die zwar anders gestaltet sind, aber den sehr ähnlichen Titel Véritables préludes flasques (pour un chien) tragen. 1967 wurde dieses Werk auf der Grundlage eines erhaltenen Entwurfes rekonstruiert. Bei dem Hund, dem diese Préludes gewidmet sind, handelt es sich fraglos um jenes Biest, das François Rabelais in der Vorrede seines Gargantua und Pantagruel erwähnt, wenn er seine Leser ermahnt, sich nicht durch die offenkundig spaßigen Titel seiner Schriften in die Irre leiten zu lassen. Stattdessen sollen sie es so machen wie der Hund, der »nach Platon … das allerphilosophischste Tier ist … denn saht ihr noch nie, mit welcher Andacht er einen Knochen belauert, wie er ihn vorsichtig bewacht, wie er ihn gierig festhält, wie klug er ihn anfasst und benagt, wie geschickt er ihn aussaugt?«.

Caresse, Deux Rêveries nocturnes und die Six pièces de la periode 1906-1913 beruhen auf Skizzen aus Notizbüchern des Komponisten, die heute in der Bibliothèque Nationale verwahrt werden. Das erste dieser Six pièces - mit dem Titel Désespoir agréable soll »mit ansteckender Ironie« gespielt werden, während das dritte, Poésie (»Dichtung«), mit »ziemlich blauem« und »klösterlichem« Stil vorgetragen werden soll. Das vierte Prélude, Canin (»Kaninchen«), ist eine Studie für die Préludes flasques, während das fünfte, Profoundeur (»Tiefe«), als Teil eines Triptychons gedacht war, dessen andere beide Teile die Titel Bévue Indiscrète (»Indiskreter Schnitzer«) und Le Vizir Autrichien (»Der österreichische Wesier«) hätten tragen sollen. Der Titel des letzten Stückes, Songe Creux (»Hohler Traum«), führt uns zu Rabelais zurück, denn der »hohle Traum« (d.h. sich schimärischen Gedanken hinzugeben) gehört zu jenen Dingen, mit denen sich Gargantua befassen muss, bevor er in das Zeitalter der Vernunft gelangt.

Quelle: Anonymus, im Booklet

Erik Satie: Porträt Erik Satie

TRACKLIST

Erik Satie 1866-1925

Piano Works

01 Gymnopedie No.1 4'03

Sonatine Bureaucratique

02 Allegro 0'50
03 Andante 0'58
04 Vivace 1'12

05 Gymnopedie No.2 3'18

Sports et Divertissements

06 Choral Inappétissant 1'01
07 La Balançoire 0'44
08 La Chasse 0'14
09 La Comédie Italienne 0'31
10 Le Réveil de la Mariée 0'19
11 Colin-Maillard 0'38
12 La Pêche 0'36
13 Le Yachting 0'41
14 Le Bain de Mer 0'18
15 Le Carnaval 0'26
16 Le Golf 0'22
17 La Pieuvre 0'20
18 Les Courses 0'19
19 Les Quatres-Coins 0'33
20 Le Picnie 0'20 45
21 Le Water-Chute 0'37
22 Le Tango 1'15
23 Le Traîneau 0'24
24 Le Flirt 0'22
25 Le Feu d'Artifice 0'21
26 Le Tennis 0'30

27 Gymnopedie No.3 3'02

Préludes Flasques (Pour un Chien)

28 Voix d'Interieur 0'55
29 Idylle Cynique 0'47
30 Chanson Canine 1'14
31 Avec Camaraderie 1'06

Six Pieces de la Période 1906-1913

32 Désespoir Agréable 0'55
33 Effronterie 1'25
34 Poésie 0'36
35 Prélude Canin 0'53
36 Profondeur 1'16
37 Songe Creux 1'55

Deux Rêveries Nocturnes

38 Rêverie No.l 1'14
39 Réverie No.2 2'06

Chapitres tournés en taus sens

40 Celle qui parle trop 0'51
41 Le Porteur de grosses 1'49
42 Regrets des Enfermés 1'42

43 Caresse 1'36

Avant-Derniéres Pensées

44 Idylle, à Debussy 0'50
45 Aubade, à Paul Dukas 1'36
46 Meditation, à Albert Roussel 0'37

Jack-in-the-Box, pantomime for piano

47 Prélude 2'02
48 Entracte 1'41
49 Finale 1/45

Total Timing: 54'08

Michel Legrand, Piano

Recorded at the Studios Guillaume Tell, Suresnes, France, in April 1993
Sound engineers: Roland Guillotel, Alex Firla, Rodolphe Snguinetti
Editing: Studios Guillaume Tell
(P) 1993 (C) 2002


Rothko dekoriert Wände


Mark Rothko: Untitled (Deep Red on Maroon). (Seagram Mural Sketch),
1958. Öl auf Leinwand, 264,8 x 252,1 cm,
Chiba-Ken, Japan, Kawamura Memorial Museum of Art.
Die Seagram Murals

Mitte des Jahres 1958 erhielt Rothko den Auftrag, einen Raum im gerade fertig gestellten Seagram Building an der Park Avenue in New York mit Wandgemälden auszustatten. Das von Mies van der Rohe gemeinsam mit Philip Johnson erbaute Hochhaus ist bis heute Sitz des traditionsreichen Getränkeherstellers Joseph E. Seagram & Sons. Am 25. Juni erging der offizielle Auftrag an Rothko: Er sollte "Dekorationen" für eine Fläche von etwa 50 Quadratmetern erstellen. Es wurde ein Honorar von $ 35.000 ausgehandelt, davon $ 7.000 als Anzahlung, der Rest zu gleichen Teilen über vier Jahre verteilt. Der Raum, den Rothko "dekorieren" sollte, war das "Four Seasons"-Restaurant, das als Restaurant der obersten Kategorie geplant war. Es war das erste Mal, dass Rothko eine zusammenhängende Gruppe von Bildern schuf und auch das erste Mal, dass er für einen ganz bestimmten Raum arbeitete. Der Speisesaal war lang und schmal. Die Bilder mussten, um überhaupt gesehen zu werden, über den Köpfen der Gäste hängen und nicht, wie Rothko es bislang bevorzugt hatte, knapp über dem Boden.

In den Monaten, in denen Rothko an den Seagram Murals arbeitete, malte er drei Serien von riesigen Wandbildern, insgesamt etwa 40 Arbeiten, für die er - zum ersten Mal seit etwa 20 Jahren - zunächst Skizzen anfertigte. Er verwendete für die Bilder eine warme Farbpalette dunkler Rot- und Brauntöne und brach die horizontale Struktur seiner Bilder auf, indem er sie um neunzig Grad drehte. Auf diese Weise entstanden Arbeiten, die sich auf die Architektur des Raumes beziehen. Die Farbflächen erinnern an architektonische Elemente, an Säulen, Begrenzungen, Tür- oder Fensteröffnungen, die dem Betrachter das Gefühl von Eingesperrtsein vermitteln, dahinter jedoch eine unbetretbare Welt erahnen lassen.

Im Juni 1959 beschloss Rothko, eine Pause einzulegen und die Arbeit an den Wandbildern zu unterbrechen. Er wollte mit seiner Familie auf eine Europareise gehen und mit der "SS. Independence" den Ozean überqueren. Auf dem Schiff lernte Rothko John Fischer kennen, der damals Herausgeber der Zeitschrift Harper's Bazaar war. Die beiden Männer freundeten sich an, und im Laufe ihrer Gespräche vertraute Rothko John Fischer an, dass er den Auftrag für die Seagram Murals angenommen hätte, weil er sich erhoffte, "etwas zu malen, das jedem miesen Typen, der je in diesem Raum essen sollte, den Appetit verderben würde. Falls das Restaurant sich weigern sollte, meine Wandbilder aufzuhängen, wäre das für mich das größte Kompliment. Aber sie werden das nicht tun. Die Leute können heute alles aushalten."

Seagram Murals, Rothko Room - Seven Murals, 1958. Innenansicht,
Chiba-Ken, Japan, Kawamura Memorial Museum of Art.
John Fischer schrieb nach Rothkos Tod über diese Begegnung und zitierte ihn mit folgenden Worten: "Ich hasse alle Kunsthistoriker, Experten und Kritiker und misstraue ihnen. Sie sind eine Bande von Parasiten, die sich an der Kunst gütlich tun. Ihre Arbeit ist nicht nur sinnlos, sie ist auch irreführend. Sie haben nichts über Kunst oder den Künstler zu sagen, was sich zu hören oder zu lesen lohnte. Mal abgesehen von persönlichem Klatsch - der manchmal ganz interessant sein könnte - das kann ich dir versichern." Trotz seiner häufig geäußerten Abneigung gegen Kunstkritiker scheint es, als habe Rothko mit seinen polemischen Behauptungen vor allem Eindruck auf den neuen Bekannten machen wollen. Seine Äußerungen zeigen jedoch auch, dass der Maler sich bei den "Dekorationen" für ein Restaurant der Spitzenklasse von Anfang an nicht wohlgefühlt haben muss.

Beide Familien gingen in Neapel an Land und besichtigten Pompeji. Hier habe Rothko, berichtet John Fischer, "eine tiefe Beziehung" zwischen seiner derzeitigen Arbeit und den antiken Wandmalereien in der Villa dei Misteri empfunden. Die Rothkos fuhren weiter nach Rom, Florenz und Venedig. In Florenz suchte er, wie schon auf der Reise von 1950, die von Michelangelo gestaltete Bibliothek in San Lorenzo auf. In einem Gespräch mit Fischer gab er zu, dass das von Michelangelos Wandfassaden im Stiegenaufgang erzeugte Raumgefühl unbewusst die Quelle für die Seagram-Bilder gewesen sei: "Dieser Raum hat genau das Gefühl erzeugt, dass auch ich wollte, er gibt dem Besucher das Gefühl, in einem Raum eingesperrt zu sein, dessen Türen und Fenster zugemauert sind." Von Italien reiste die Familie nach Paris, Brüssel, Antwerpen und Amsterdam, und fuhr schließlich von London aus an Bord der "Queen Elizabeth II" zurück in die Vereinigten Staaten.

Nach ihrer Rückkehr aus Europa gingen Rothko und seine Frau Mell zu einem Abendessen in das "Four Seasons"-Restaurant. Rothko war so entsetzt über das prätentiöse Ambiente, dass er auf der Stelle entschied, das Wandbild-Projekt aufzugeben. 1960 verfügte Rothko über ausreichend Geld, um den Vorschuss zurückzuzahlen und die Wandbilder zurückzuziehen. Dem Rückruf der Murals wurde in der Presse große Aufmerksamkeit gewidmet. Das ursprüngliche Konzept der Hängung lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Die Seagram Murals sind heute über die ganze Welt verstreut; neun davon gehören der Tate Gallery in London, eine zweite Gruppe befindet sich im Kawamura Memorial Museum in Japan, weitere finden sich in der National Gallery of Art in Washington und in den Sammlungen der Kinder Rothkos.

Mark Rothko: Sketch for Mural No. 4 (Orange on Maroon) (Seagram Mural
 Sketch), 1958. Öl auf Leinwand, 265,8 x 379,4,
Chiba-Ken, Japan, Kawamura Memorial Museum of Art.
Rothkos Kunst wird teurer ... und überholt

Einer von Rothkos engsten Freunden aus jener Zeit war der Dichter Stanley Kunitz. Sie trafen sich häufig und diskutierten über die moralischen Dimensionen in Poesie und Malerei. Kunitz sagte einmal: "Im besten Gemälde wie auch in authentischer Poesie ist man sich dessen bewusst, welcher moralische Druck ausgeübt wird; ebenso erkennt man das Bemühen, Einheit in der Vielfalt der Erfahrung zu suchen, Entscheidungen zu treffen, ist dabei wichtig. Moralischer Druck existiert, um richtige oder falsche Entscheidungen zu treffen." Die Freundschaft mit dem Dichter Kunitz tat Rothko gut. "Ich empfand eine starke Affinität zwischen seinen Arbeiten und einem gewissen Geheimnis, das in jedem Gedicht lauert", sagte Kunitz einmal.

Zu dieser Zeit wurde Rothko zunehmend bekannter. Museen wie auch private Sammler wollten Werke von ihm kaufen. Zu den Besuchern in seinem Atelier gehörten auch der Sammler Duncan Phillips und dessen Frau Marjorie aus Washington. Phillips organisierte 1957 und 1960 Einzelausstellungen mit Werken Rothkos in seinem Wohnhaus in Washington, das ihm auch als Museum für seine Sammlung diente. 1960 kaufte Phillips von Rothko vier Gemälde, um in dem neuen Erweiterungsbau des Museums einen eigenen Rothko-Raum einrichten zu können. Die Phillips Collection wurde das erste Museum, in dem die Idee verwirklicht wurde, der Rothko in seinem letzten Lebensjahrzehnt nachstrebte: Er wollte eine vollkommene Beherrschung von Raum und Betrachter erreichen, um Letzterem eine unmittelbare, sowohl körperliche als auch geistige Begegnung mit den Bildern zu ermöglichen.

Mark Rothko: Mural Sketch (Seagram Mural Sketch), 1958.
 Öl auf Leinwand, 167,6 x 152,4,
Chiba-Ken, Japan, Kawamura Memorial Museum of Art.
Ein anderes Sammlerpaar, Dominique und John de Menil, große Kunstliebhaber und Förderer aus Houston, Texas, die in der Erdöl verarbeitenden Industrie tätig waren, kam nach New York, um Rothko kennen zu lernen. Ein weiterer Sammler, der ein Gemälde von Rothko kaufte, war David Rockefeller, damals Chef der Chase Manhattan Bank. Rothko war bereits 57 Jahre alt, als die Preise seiner Bilder endlich zu steigen begannen und bis zu $ 40.000 erzielten. Endlich konnten er und seine Frau Mell sich ein Stadthaus leisten.

Rothko fühlte sich sehr geehrt, als er im Januar 1961 eine Einladung vom designierten Präsidenten John F. Kennedy nach Washington erhielt, an dessen Inaugurationsfeier als 41. Präsident der Vereinigten Staaten teilzunehmen. Gemeinsam mit Franz Kline und seiner Freundin Elizabeth Zogbaum nahmen sie den Zug nach Washington, und nach der Inaugurationsfeier waren sie auch auf den abendlichen Ball geladen, wo man ihnen einen Logenplatz neben dem Vater des Präsidenten, Joseph Kennedy, zugewiesen hatte.

Im gleichen Jahr veranstaltete das Museum of Modern Art eine bedeutende Rothko-Retrospektive mit 48 Gemälden. Der Kurator dieser Ausstellung hieß Peter Selz, der auch einen Essay für den Katalog schrieb. Darin heißt es, "um den Tod der Zivilisation zu feiern ... erinnern die offenen Rechtecke an die Ränder von Flammen in lodernden Feuern oder sie evozieren die Eingänge zu Grabmälern, etwa die Torwege zu den Ruhestätten der Toten in ägyptischen Pyramiden, hinter denen die Bildhauer die Könige für alle Ewigkeit im Ka ,lebendig' hielten. Doch im Gegensatz zu den Türen vor den Totenstätten, die die Lebenden von dem Ort der absoluten Macht ausschließen sollten, vor allem vom Tod der Höhergestellten, wagen diese Gemälde - offene Sarkophage - auf fast melancholische Weise, den Betrachter aufzufordern, in ihre orphischen Kreise einzutreten; ihr Thema könnte Tod und Auferstehung in der klassischen, nichtchristlichen Mythologie sein." Rothko besuchte täglich seine Ausstellung im Museum und betrachtete intensiv seine Gemälde. Die Ausstellung wurde ein großer Erfolg. Im Anschluss gab Rothko einige seiner Gemälde in eine Wanderausstellung, die durch London, Amsterdam, Brüssel, Basel, Rom und Paris reiste und später auch in mehreren amerikanischen Museen zu sehen war.

The Rothko Rom. Phillips Collection, Washington, DC.
Anfang der 60er Jahre begann der Stern des Abstrakten Expressionismus in Amerika allmählich zu sinken. Junge Künstler wie Andy Warhol, Roy Lichtenstein, Tom Wesselmann, James Rosenquist und andere bezogen sich auf die aus England importierte Pop-Art und entwickelten sie weiter. Die Pop-Art schöpfte aus der Bildwelt der Massenmedien und der Werbung. Mit ihrer provozierenden Hinwendung zum Alltäglichen, zum "Niedrigen" und Profanen wurde sie in Windeseile tatsächlich populär. Die abstrakte Kunst, die bis dahin vorherrschend gewesen war, wirkte plötzlich überanstrengt, hochmütig und elitär. Für manche Abstrakte Expressionisten der New York School war Pop-Art so etwas wie Antikunst. Rothko bezeichnete die Popartisten als "Scharlatane und junge Opportunisten". Für Kritiker bedeutete das Aufkommen der Pop-Art das Ende des Abstrakten Expressionismus, der ihrer Ansicht nach bereits überholt war. 1962 stellte der Kunsthändler Sidney Janis neue Arbeiten von einigen Popkünstlern aus und zeigte auch eine Gruppe von französischen Künstlern wie Yves Klein, Arman und César, die als Nouveaux Réalistes (Neue Realisten) bekannt geworden waren und von dem französischen Kunsthistoriker und Kritiker Pierre Restany angeführt wurden. Daraufhin verließen Rothko, Kline, Motherwell und De Kooning wütend die Galerie. Rothko sagte damals: "Haben diese jungen Künstler es darauf abgesehen, uns umzubringen?"

Karfreitag, Ostern und Auferstehung

Zu Beginn der 60er Jahre bekam Rothko wiederum Gelegenheit, mit einem Ensemble von Bildern einen Raum auszustatten. Er hatte mit der Harvard University die Abmachung getroffen, für einen Speisesaal des noch im Bau befindlichen, von dem spanischen Architekten José Luis Sert geplanten Penthouses des Holyoke Centers in Harvard eine Reihe von Wandgemälden zu entwerfen. Sie sollten eine Schenkung des Künstlers sein, wobei sich die Universität das Recht vorbehielt, die Bilder abzulehnen. Rothko fertigte insgesamt 22 Skizzen, nach denen fünf Murals entstanden, die dann im Holyoke Center installiert wurden. Rothko malte ein Triptychon und zwei weitere große Wandbilder, in denen er die portalartige Struktur der Seagram Murals aufgriff und weiterentwickelte. Alle Gemälde hatten einen tiefroten Untergrund, der je nach den darüber aufgetragenen Farbschichten in Helligkeit und Farbton variiert.

Mark Rothko: Five Studies for the Harvard Murals, um 1958-1960.
Tempera auf farbigem Zeichenpapier, verschiedene Maße, Privatbesitz.
Als Rothko die Murals vollendet hatte, kam der damalige Harvard-Präsident Nathan Pusey, der sehr wenig von zeitgenössischer Kunst verstand, in Rothkos New Yorker Atelier, um sich die Arbeiten anzuschauen und sie abzusegnen. Der Künstler begrüßte ihn in seinem Atelier mit einem Glas Whiskey, und nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten, erwartete Rothko sein Urteil. Nach einer Weile des Zögerns antwortete der Harvard-Präsident, ein Methodist aus dem mittleren Westen, er empfände die Arbeiten als "sehr traurig". Rothko erklärte, dass die düstere Stimmung des Triptychons das Leiden Christi am Karfreitag vermitteln solle, die beiden etwas helleren großen Gemälde verwiesen auf Ostern und die Auferstehung. Mr. Pusey war von Rothkos Erklärung sehr angetan und beeindruckt. Sie zeige, dass der Maler auch ein Philosoph war, der eine universelle Botschaft und Vision hatte. Er kehrte nach Cambridge zurück und empfahl dem Vorstand, die Gemälde anzunehmen, die im Januar 1963 unter Aufsicht des Künstlers gehängt wurden.

Als der Speisesaal kurze Zeit später umgestaltet wurde, waren die Murals vom 9. April bis zum 2. Juni in einer Ausstellung im Guggenheim-Museum in New York zu sehen. Nach dem Ende der Ausstellung fuhr Rothko noch einmal nach Harvard, um die erneute Anbringung seiner Werke zu überwachen. Die Einrichtung und vor allem die Lichtverhältnisse im Speisesaal waren Rothko ein Dorn im Auge. Mit eher mäßigem Erfolg versuchte man, das einfallende Tageslicht durch Fiberglasvorhänge zu dämpfen. Als die Arbeiten Anfang 1964 endgültig abgeschlossen waren, war Rothko noch immer "sehr unzufrieden mit dem Ganzen". Durch die Sonneneinstrahlung verblasste die rote Farbe mit den Jahren so weit, dass der ursprüngliche Zustand der Gemälde nur noch mit Hilfe von Dias rekonstruiert werden kann. 1979 wurden die durch Sonnenlicht und Kratzer stark beschädigten Werke abgenommen und in einem dunklen Raum gelagert.

Am 31. August 1963, als Rothko fast 60 Jahre alt war und seine Frau Mell bereits 41, kam der Sohn Christopher Hall zur Welt. Im selben Jahr unterzeichnete Rothko auf Anraten seines Steuer- und Finanzberaters Bernard J. Reis einen Vertrag mit Frank Lloyd, dem Besitzer der Marlborough Gallery in New York. Er sicherte ihm die Exklusivrechte an seinen Arbeiten außerhalb der Vereinigten. Staaten für einen Zeitraum von fünf Jahren zu. Die aufstrebende, erfolgversprechende Galerie wollte ihn in Europa vertreten, während Rothko selbst seine Bilder weiter von seinem New Yorker Atelier aus verkaufte. Was als scheinbar lukrative Geschäftsbeziehung begann, sollte sich nach Rothkos Tod als einer der größten Kunstskandale des 20. Jahrhunderts herausstellen, zu dem Doppelverkäufe, Täuschung, Verrat, Betrug, Habgier und Vertuschung gehörten. Die Betrugsaktion, die bereits zu Rothkos Lebzeiten betrieben wurde, kam erst nach seinem Tod ans Licht. Rothko hatte lange Zeit nicht gewusst, dass Reis zugleich der Steuerberater der Marlborough Gallery war und so ein doppeltes Spiel treiben konnte.

Mark Rothko: Panel One (Harvard Mural Triptych), 1962 Öl auf Leinwand,
267,3 x 297,8 cm. Harvard, Fogg Art Museum,
Harvard University Art Museums. Geschenk des Künstlers.
Eine Kapelle für die St. Thomas Catholic University

Das Sammlerpaar John und Dominique de Menil aus Houston war von Rothkos Malerei stark beeindruckt, vor allem von seinen Harvard Murals und den Wandgemälden für das Seagram Building, die sie in seinem Atelier gesehen hatten. Anfang 1965 gaben sie bei Rothko für eine Summe von insgesamt $ 250.000 mehrere große Wandgemälde in Auftrag. Sie waren für eine Kapelle gedacht, die die de Menils in der St. Thomas Catholic University in Houston zu bauen beabsichtigten. Dominique de Menil leitete die dortige Kunstabteilung. Rothko war höchst erfreut über diesen Auftrag. In einem Brief mit Neujahrsgrüßen für das Jahr 1966 schrieb Rothko an die de Menils: "Die Großartigkeit auf jeder Ebene der Erfahrung und der Bedeutung dieser Aufgabe, die Sie mir übertragen haben, übersteigt alle meine ursprünglichen Vorstellungen und lehrt mich, über mich selbst hinauszuwachsen, über das hinaus, was ich für mich für möglich gehalten habe. Dafür danke ich Ihnen."

Als Rothko im Herbst 1964 an den Gemälden für Houston zu arbeiten begann, war er gerade in sein neues - und zugleich letztes - Atelier in der 157 East 69th Street umgezogen. Er stattete den großen Raum mit Flaschenzügen und fallschirmartigen Stoffbahnen aus, mit denen er das Licht regulieren konnte. Das Atelier war ein ehemaliges Kutschenhaus mit einer zentralen Kuppel, durch die das Tageslicht einfiel. Der Raum war 15 Meter hoch und Rothko zog provisorische Zwischenwände mit den Maßen der sechs Wände ein, die er in der geplanten Kapelle vorfinden würde. Den ganzen Herbst verwandte Rothko auf die Arbeit an diesem Projekt und beschäftigte sich bis in das Jahr 1967 hinein fast ausschließlich damit. Freunden sagte er, dass es seine wichtigste künstlerische Aussage beinhalten würde.

Man hatte Rothko das Recht zugestanden, auch bei der architektonischen Ausführung mitzuwirken. Er schlug einen achteckigen Grundriss vor, ähnlich einer Taufkapelle, so dass der Betrachter ganz von den Gemälden eingeschlossen sein würde. Das Licht sollte wie in seinem Atelier von oben durch eine Kuppel einfallen und durch Stoffbahnen gefiltert werden. Außerdem bestand Rothko auf einem schlichten, unauffälligen Bau, der seine Bilder in den Vordergrund stellen würde. Als Architekt war ursprünglich Philip Johnson ausgewählt worden, der 1967 auf Drängen Rothkos zurücktrat, weil sich Johnson und Rothko über die Raumgestaltung nicht einig werden konnten. Als neue Architekten bestellte man Howard Barnstone und Eugene Aubry aus Houston, die sich ganz nach Rothkos Vorstellungen richteten.

Rothko Chapel, Houston, Texas. Außenansicht mit
Skulptur Broken Obelisk von Barnett Newman.
Für die großen Wandgemälde wählte Rothko eine dunkle Farbpalette. Mehrere Assistenten, auf deren Hilfe Rothko körperlich angewiesen war, zogen Baumwollsegelleinen auf die vorbereiteten Keilrahmen auf. Rothko wollte eine sehr wässrige Ölfarbe, so dass sie mit Terpentin stark verdünnt werden musste. Seine Assistenten trugen unter Rothkos Aufsicht möglichst zügig kastanienbraune Farbe auf die großen Flächen auf. Es entstanden insgesamt 14 großformatige Arbeiten, drei Triptychen und fünf einzelne Gemälde, dazu eine Vielzahl von Skizzen und Vorstudien. Die Hälfte der Gemälde für Houston beließ Rothko zum ersten Mal als monochrome Bilder. In die anderen Arbeiten fügte er schwarze Vierecke ein, deren scharfe Begrenzungen eine weitere Neuerung in seinem Werk darstellten. Er verzichtete erstmals auf die verführerische Wirkung seiner "Farbwolken" mit ihren zarten, verschwommenen Begrenzungen. An der zentralen Wand der Kapelle wurde ein monochromes Triptychon in einem weichen Braunton angebracht. Die beiden Triptychen zur Rechten und zur Linken füllten Vierecke in opakem Schwarz. Vier einzelne Gemälde wurden zwischen den drei Triptychen platziert und ein weiteres Gemälde befand sich direkt gegenüber dem zentralen Triptychon. Während der Arbeit an den Wandbildern für Houston bat Rothko häufig Freunde zu sich ins Atelier, um ihre Meinung zu hören. Offensichtlich war er noch unsicher über den neuen Weg, da die Bilder hermetischer waren als alles, was er bisher geschaffen hatte. Ende 1967 waren die Wandgemälde fertig gestellt.

In seinen letzten beiden Lebensjahren befasste sich Rothko weiter mit der Erkundung dunkler Farben. Die Black on Gray-Gemälde von 1969-70 und die großformatigen Brown on Gray-Arbeiten auf Papier nehmen die düstere Stimmung der Wandbilder der Kapelle auf und halten ebenso wie diese den Betrachter auf Distanz. Sie besitzen jedoch - etwas ganz Neues für Rothko - nicht die meditative Aura dieser Wandbilder; ihre grauen Bereiche weisen eine Bewegung auf, wie man sie in Rothkos Werk seit über 20 Jahren nicht mehr gesehen hat. Und wenn es auch verlockend ist, diese düsteren Werke als Ausdruck von Rothkos schwerer Depression zu interpretieren, so muss man doch auch sehen, dass er in seinen letzten Monaten großformatige Papierarbeiten in pastelligem Blau, Pink und Terracotta auf weiß malte.

Rothko Chapel, Houston, Innenansicht.
1969 erwarben die de Menils die Skulptur Broken Obelisk (Zerbrochener Obelisk) von Barnett Newman und ließen sie in dem spiegelnden Wasserbecken gegenüber der Rothko-Kapelle aufstellen. Die Skulptur war dem Andenken an den ein Jahr zuvor ermordeten Martin Luther King gewidmet. Wie Rothko starb auch Newman im Jahr 1970 - beide konnten die Einweihung der Kapelle nicht mehr erleben. Am 26. Februar 1971, ein Jahr nach dem tragischen Tod Rothkos, wurde die ökumenische Kapelle geweiht. Es waren katholische, jüdische, buddhistische, muslimische, protestantische und griechisch-orthodoxe Religionsführer anwesend; aus Rom war ein Kardinal angereist.

In ihrer Ansprache sagte Dominique de Menil: "Ich denke, die Gemälde sagen uns selbst, was wir von ihnen halten sollen, wenn wir ihnen eine Chance geben. Jedes Kunstwerk schafft das Klima, in dem es verstanden werden kann ... Auf den ersten Blick sind wir vielleicht enttäuscht darüber, dass es den uns umgebenden Gemälden ein wenig an Glamour fehlt. Je länger ich mit ihnen lebe, desto beeindruckter bin ich. Rothko wollte seinen Gemälden die größtmögliche Eindringlichkeit verleihen, die er ihnen abringen konnte. Er wollte, dass sie intim und zeitlos sind. Und sie sind tatsächlich intim und zeitlos. Sie umfangen uns, ohne uns einzuschließen. Ihre dunklen Oberflächen lassen den Blick nicht erstarren. Eine helle Oberfläche ist aktiv, sie bringt das Auge zum Stillstand. Aber durch diese Rot-Braun-Töne können wir hindurchblicken, blicken wir ins Unendliche. Wir werden mit Bildern überschüttet, und nur die abstrakte Kunst kann uns an die Schwelle zum Göttlichen führen. Es erforderte großen Mut von Rothko, so nachtschwarze Bilder zu malen. Doch ich empfinde gerade das als seine Größe. Maler werden nur durch Mut und Eigensinn groß. Denken Sie an Rembrandt, an Goya. Denken Sie an Cezanne ... Diese Gemälde sind vielleicht das Schönste, was Rothko geschaffen hat." Die dunklen Wandbilder in der fensterlosen Kapelle scheinen die Melancholie und Einsamkeit widerzuspiegeln, die Rothko in seinen letzten Jahren zunehmend empfand. Die Kunsthistorikerin Barbara Rose verglich die Kapelle mit Michelangelos Sixtinischer Kapelle in Rom und der Matisse-Kapelle in Südfrankreich: "Die Gemälde scheinen auf mysteriöse Weise von innen zu glühen", sagte sie.

Mark Rothko Room, London, Tate Gallery.
Anerkennung und Depression

Im Sommer 1966 unternahmen die Rothkos ihre dritte und letzte Europareise, auf der sie Lissabon, Mallorca, Rom, Spoleto und Assisi besichtigten. Von Italien aus reisten sie weiter nach Frankreich, Holland, Belgien und England. Die letzte Station auf ihrer Reise war ein Besuch der Londoner Tate Gallery. Seit Monaten stand Rothko mit dem Direktor der Tate, Sir Norman Reid, in Verhandlungen. Reid hatte den Maler in New York besucht und ihm vorgeschlagen, einen permanenten Rothko-Raum in der Tate Gallery einzurichten. Rothko verwarf den Vorschlag, eine "repräsentative" Gruppe seiner Gemälde auszustellen. Statt dessen schlug er Reid vor, ihm eine Gruppe der Seagram Murals zu überlassen. Die Verhandlungen erstreckten sich aufgrund von Missverständnissen und wegen Rothkos zögerlicher Haltung über mehrere Jahre. Gleichwohl gefielen ihm die Größe des Raums wie auch das Licht. Zurück in New York, schrieb Rothko im August 1966 Reid: "Mir scheint, der Kern des Problems, zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt, ist, wie man dem Raum, den Sie vorschlagen, die größte Aussagekraft und Intensität verleihen kann, zu denen meine Bilder fähig sind. Es wäre enorm hilfreich, wenn ein Plan existierte, den Sie mir zusenden könnten. Ich könnte dann aufgrund einer realen Situation über die Sache nachdenken und es würde sie etwas konkreter machen, zumindest für mich." Rothko machte Reid gegenüber deutlich, dass er seine Gemälde gern in dem älteren Teil der Tate Gallery in der Nähe der Gemälde von Turner sehen würde. Nach langen Verhandlungen wurden schließlich neun der Seagram Murals kurz vor Rothkos Tod nach London verbracht und in einem Raum dauerhaft installiert.

Rothkos Wunsch, die Seagram Murals vereint in einem Raum auszustellen, entsprach seiner Vorstellung von der idealen Präsentation seiner Arbeiten. Er hatte das Gefühl, mit diesen Gemälden einen Ort, "ein Zuhause" geschaffen zu haben, in das der Betrachter eintreten konnte. Wie er es früher schon einmal formuliert hatte, sollte das Betrachten seiner Gemälde ein Dialog, "eine vollkommene Erfahrung zwischen Bild und Betrachter" sein. Rothko wollte, wenn der Betrachter sein Universum der Stille betrat, ihn in eine Atmosphäre von meditativer Versenkung und Ehrfurcht versetzt wissen.

Mark Rothko: Untitled, 1969. Acryl auf Papier
 auf Leinwand, 193 x 122 cm.
Im Frühjahr 1968 wurde bei Rothko ein Aneurysma an der Aorta in Folge seines erhöhten Blutdrucks festgestellt. Er wurde angewiesen, auf seine Ernährung zu achten und vor allem den übermäßigen Alkoholkonsum und das Rauchen aufzugeben. Außerdem verbot ihm sein Arzt, an Bildern zu arbeiten, die höher als ein Meter waren. Hinzu kam, dass die Ehe mit Mell immer schlechter wurde und Rothko durch die Erkrankung impotent geworden war. Obwohl ihn sein Gesundheitszustand ängstigte, hörte er nicht auf zu rauchen und zu trinken. Den Sommer 1968 verbrachte die Familie in Provincetown. Rothko hatte aufgrund seines gesundheitlichen Zustandes begonnen, an kleinformatigen Acrylbildern auf Papier zu arbeiten. Die schnell entstandenen Werke weisen seine klassischen rechteckigen Farbformationen auf. "Als Rothko die Houston-Serie vollendet hatte, war er am Ende", beschrieb Katherine Kuh, "er hatte an den Kapellenbildern mit solch einer Hingabe gearbeitet, dass er nach deren Vollendung praktisch ausgebrannt war." Auch ein gemeinsamer Urlaub konnte die Entfremdung zwischen Mell und Mark Rothko nicht aus der Welt räumen. Sie trennten sich am 1. Januar 1969, und Rothko lebte fortan in seinem Atelier. Trotz steigender Einkünfte war er weiterhin sehr sparsam. Seine Freunde berichteten, dass sein Gesundheitszustand besorgniserregend war und er selbst immer misstrauischer, verängstigter und einsamer wurde. Er war depressiv, litt unter Verwirrungszuständen und war manchmal benommen vom starken Trinken und Rauchen und übermäßigem Tablettenkonsum. Eine Zeit lang traf er sich häufig mit Rita Reinhardt, der aus Deutschland stammenden, attraktiven Witwe von Ad Reinhardt, kam aber dennoch über die Trennung von Mell nicht hinweg.

Während sich Rothko zunehmend isoliert und verzweifelt fühlte, wuchsen Anerkennung und Ruhm mit jeder Ausstellung. So war beispielsweise seine Ausstellung in der Londoner Whitechapel Gallery 1965 von der britischen Presse und von der Öffentlichkeit enthusiastisch aufgenommen worden. Der Kritiker Bryan Robertson staunte über das Gesamtwerk und seine emotionale Kraft und stellte fest: "Wir sind einer enormen Präsenz ausgesetzt, nicht so sehr einer spezifischen Identität." Der Kritiker David Sylvester schrieb in The New Statesman vom 20. Oktober 1968: "Es ist die vollendete Weiterführung Van Goghs, die Farbe dazu zu benutzen, die Leidenschaften des Menschen zu vermitteln." Der Kritiker und Maler Andrew Forge schrieb: "Als ich Rothkos Arbeiten zum ersten Mal sah, hatte ich das Gefühl, ich sei in einen Traum gefallen."

Mark Rothko: Untitled (Black on Gray), 1969/70. Acryl auf
Leinwand, 203,8 x 175,6 cm, New York, Solomon R. Guggenheim
 Museum, Gift of The Mark Rothko Foundation, Inc., 1986.
Im Mai 1968 wurde er zum Mitglied des National Institute of Arts and Letters gewählt; ein Jahr später erhielt er das Ehrendoktorat der Yale University. In der Rede hieß es: "Als einer der wenigen Künstler, der zu den Begründern einer neuen amerikanischen Malschule gezählt werden kann, haben Sie sich für immer einen Platz in der Kunst dieses Jahrhunderts gesichert ... Die Kennzeichen Ihrer Gemälde sind die Einfachheit der Form und die Großartigkeit der Farbe. In ihnen haben Sie eine optische und eine spirituelle Grandiosität erzielt, die in der tragischen Schicksalhaftigkeit aller menschlichen Existenz ihre Grundlage hat."

Inzwischen konnte Rothko es sich leisten, den Verkauf seiner Gemälde einzuschränken und nur noch an solche Menschen zu verkaufen, die ihm lieb waren. Dazu führte er mit ihnen "Interviews", bevor er ihnen ein Bild verkaufte. Einem Freund vertraute er an, dass er keine Galerie benötige. Er könnte leicht mehrere Gemälde pro Jahr von seinem Atelier aus verkaufen, und das wäre zum Leben genug. Als sein Vertrag mit Marlborough 1968 auslief, erneuerte er ihn nicht sofort, weil er mit Lloyds Geschäftsgebaren sehr unzufrieden war. Ungeachtet dessen unterschrieb er im Februar 1969 einen zweiten Vertrag mit der Marlborough Gallery, worin er sie zu seinem alleinigen Vertreter für die nächsten acht Jahre bestimmte. Dieser Sinneswandel war auf die Ratschläge von Bernard Reis zurückzuführen. Reis beriet ihn mittlerweile nicht nur in Finanzfragen, sondern war auch sein engster persönlicher Vertrauter, der sich in alle seine Angelegenheiten einmischte. Rothko, krank und unsicher, war mit der Zeit vollkommen von Reis abhängig geworden. Reis war es auch, der ihn bei der Gründung einer Stiftung beriet. Schon seit längerem hatte Rothko diesen Plan gehegt. Im Juni 1969 kam endlich die Gründung der Mark Rothko Foundation mit William Rubin, Robert Goldwater, Morton Levine, Theodoros Stamos und Reis zustande. Als Direktor wurde der Produzent Clinton Wilder, ein Klient von Reis, eingesetzt. Die Stiftung sollte nach Rothkos Tod viele wertvolle Bilder erhalten und - so war es in den GrÜndungsstatuten formuliert - wissenschaftlichen und/oder pädagogischen Zwecken dienen. Aus Rothkos Sicht war die Foundation der Versuch, seine Bilder nach seinem Tod zu bewahren und dem Kunstmarkt vorzuenthalten. Trotzdem befolgte er weiterhin die Ratschläge von Reis und verkaufte seine Bilder an Marlborough. Im Februar 1970 wollte ein Vertreter der Marlborough Gallery namens Donald McKinney gemeinsam mit Rothko in dessen Lager gehen, um neue Gemälde für die Galerie auszuwählen. Das Treffen sollte am 25. Februar stattfinden, doch dazu ist es nie gekommen.

Quelle: Jacob Baal-Teshuva: Rothko. 1903-1970. Bilder als Dramen. Taschen, Köln, 2003. ISBN 3-8228-1818-6. Zitiert wurden die Seiten 61 bis 79


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Fanny Mendelssohn | Clara Schumann: Klaviertrios

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Fanny Mendelssohn wurde 1805 geboren, Clara Schumann — geborene Wieck —1819. In den Jahren dazwischen erblickten keine Geringeren als Fannys Bruder Felix Mendelssohn (1809), Frédéric Chopin und Robert Schumann (beide 1810), Franz Liszt (1811), Richard Wagner und Giuseppe Verdi (beide 1813) das Licht der Welt. Dies war jedoch eine Zeit, in der Frauen als Berufsmusiker wenig galten, weshalb Fanny Mendelssohn, die ein beschütztes Leben in Komfort und Wohlstand führte, Trost im Erfolg ihres brillanten Bruders Felix fand. Dagegen wurde aus Clara Schumann zunächst nur dank der Bemühungen ihres Vaters Friedrich Wieck, eines Mannes von erheblichem Ehrgeiz, der fest entschlossen war, seiner Tochter zum Erfolg zu verhelfen, eine Pianistin von internationalem Ruf. Außerdem war es Clara bestimmt, später die liebende Gattin eines siechen Genies zu werden, die Mutter von acht Kindern und eine Komponistin von beachtlicher Schaffenskraft.

Psychologen spekulieren seit langem über das Verhältnis dieser beiden Frauen zu Männern, die nicht ihre Ehegatten waren. Obwohl weder bei der einen noch bei der anderen konkrete Beweise vorliegen, wird kaum bestritten, daß Fannys Liebe zu ihrem Bruder Felix eine Kraft war, die ihm selbst durchaus bewußt war und mit der er gelegentlich ein gefährliches Spiel trieb, bis ihm schließlich (glücklicherweise) klar wurde, daß Ermutigung jeglicher Art zu einer unheilvolleren, weniger normalen Anhänglichkeit hätte führen können. Bei Clara war es ihre emotionale Bindung an den jungen Johannes Brahms, die Spekulationen auslöste, und auch hier hat es den Anschein, als hätten beide Beteiligten davon abgesehen, ihre gegenseitige Zuneigung über eine rein platonische Beziehung hinausgehen zu lassen.

Fanny Mendelssohn im Alter von 16 Jahren.
Ein seltsamer Zufall will es, daß der Altersunterschied zwischen Fanny und Felix Mendelssohn genau der gleiche war wie der zwischen Wolfgang Amadeus Mozart und seiner Schwester Nannerl. Während jedoch Vater Mozart die öffentlichen Auftritte seiner Tochter entschieden förderte, war es bei Abraham Mendelssohn genau umgekehrt. „Nur das Weibliche ziert die Frauen", erklärte er. Überraschenderweise teilte Felix Mendelssohn teilweise diese Ansicht, obwohl er sich der überaus hohen Begabung seiner Schwester eindeutig bewußt war - so bewußt, daß er sich mit Fanny häufig über neue Stücke beriet, an denen er arbeitete. Dieser Zwiespalt drückt sich ferner darin aus, daß Felix zwar die Kompositionen seiner Schwester bewunderte, aber nicht damit einverstanden war, daß sie ihre Lieder veröffentlichen ließ. Zugleich hielt er einige davon für gut genug, um sie unter seinem eigenen Namen herauszugeben. Es ist ihm hoch anzurechnen, daß er sich, als sie erfolgreich waren, dazu bekannte, von wem sie tatsächlich stammten.

Die Beziehung zwischen Felix und Fanny hätte sich hinsichtlich ihrer und seiner Chancen, einen Ehepartner zu finden, als verhängnisvoll erweisen können, doch Fanny heiratete 1829 mit vierundzwanzig Jahren und nach langem Gewissenskampf den Maler Wilhelm Hensel. Die beiden waren damals seit sechs Jahren miteinander bekannt, nur hatte Leah Mendelssohn Hensel zunächst als ungeeignete Partie für ihre Tochter betrachtet. Aber die Ehe war trotz der restriktiven Bedingungen der damaligen Zeit ein Erfolg und führte keineswegs dazu, daß Fanny ihre musikalische Betätigung einschränken mußte. Vielmehr wurde sie ermutigt, sie zu verstärken. 1838 durfte sie endlich öffentlich als Pianistin auftreten, und zwar bei einem Wohltätigkeitskonzert, wo sie das Klavierkonzert in g-Moll ihres Bruders spielte.

Felix Mendelssohn im Alter von 12 Jahren.
Hiernach begann sich Fanny, was ihre Musik anging, allmählich durchzusetzen, und schließlich schrieb Felix ihr, nachdem er Kopien von mehreren kürzlich herausgegebenen Werken Fannys erhalten hatte: „… mögest Du Vergnügen und Freude daran haben, daß Du den andern so viel Freude und Genuß bereitest, und mögest Du nur Autor-Pläsiers und gar keine Autor-Misere kennen lernen, und möge das Publikum Dich nur mit Rosen und niemals mit Sand bewerfen, und möge die Druckerschwärze Dir niemals drückend und schwarz erscheinen, — eigentlich glaube ich, an allem ist gar kein Zweifel denkbar. Warum wünsche ich Dirs also erst?" Rund ein Dutzend Werke von Fanny Mendelssohn wurden vor und nach ihrem Tod veröffentlicht, doch liegen noch viele im Mendelssohn-Archiv der Staatsbibliothek zu Berlin — Preußischer Kulturbesitz. Man kennt sie auch heute noch vor allem als Schwester von Felix Mendelssohn, und es könnte durchaus sein, daß sie damit zufrieden gewesen wäre.

Bei Clara Schumann war die Lage völlig anders. Sie begann ihre Karriere als Interpretin im Alter von acht Jahren mit der Darbietung eines Mozart-Konzerts. Ihr Fleiß wurde damit belohnt, daß ihr Vater ihr ein neues Stein-Klavier schenkte. Wir erfahren, daß sie bald nicht nur das normale Klavierrepertoire einübte, sondern auch Opern wie Oberon und Die Zauberflöte durchspielte. Was für ein bemerkenswert musikalisches Kind! Mit zehn Jahren lernte Clara Paganini kennen und wurde von ihm in einen Kreis renommierter Künstler eingeführt, und ein Jahr später wandte sich Robert Schumanns Mutter ratsuchend an Claras Vater, um sich beraten zu lassen, ob die Jurisprudenz oder die Musik für die Zukunft ihres Sohnes in Frage kämen. Auf Friedrich Wiecks Anraten widmete sich Robert mit großem Vergnügen der Musik. Es war eine Wahl, die ernsthafte Auswirkungen auf den weiteren Lebensweg von Wieck, Clara und Robert haben sollte.

Fanny und Wilhelm Hensel.
Mittlerweile wurde Clara zum Kontrapunktstudium zu Christian Theodor Weinlig geschickt, dem Kantor der Leipziger Thomaskirche (Bach hatte diesen Posten in den letzten siebenundzwanzig Jahren seines Lebens innegehabt). Weinlig war ein ausgezeichneter Lehrer, der später in Richard Wagner einen bewundernden Schüler hatte. Clara bildete sich fort, indem sie viel las - sowohl griechische und lateinische Klassiker als auch Romantiker wie Byron und E.T.A. Hoffmann. Interessierten Lesern sei das ungeheuer informative Buch Clara Schumann — A Dedicated Spirit von Joan Chissell (Hamish Hamilton) empfohlen, das viele faszinierende Details aus dem Leben der Künstlerin enthält. Darunter befinden sich Berichte über die Pariser Begegnungen Claras mit berühmten Zeitgenossen wie Berlioz.

Im Jahr 1843, drei Jahre nach ihrer Hochzeit mit Robert Schumann, fiel Clara das Komponieren alles andere als leicht, was ihr Mann ohne weiteres einzugestehen bereit war: Clara habe eine Reihe kleinerer Stücke geschrieben, die eine bis dahin unerreichte Musikalität und sensible Erfindungsgabe bewiesen. Doch Kinder und ein Mann, der ewig im Reich der Phantasie lebe, gingen mit dem Komponieren nicht gut zusammen, meinte er — sie könne sich nicht regelmäßig der eigenen Musik widmen und er sei oft besorgt darüber, wie viele ihrer feinfühligen Ideen mangels Ausarbeitung verloren gingen.

Clara Wieck. Lithographie von Andreas
 Staub, 1838. Das Vorbild für den
100-DM-Schein 1990.
Als sie ihr viertes Kind erwartete und daher im Winter 1845 nicht auf Tournee gehen konnte, wandte sich Clara der Komposition zu. Insbesondere beschäftigte sie sich zusammen mit ihrem Mann eingehend mit Bach und Cherubini. Das bemerkenswerteste Ergebnis des Fleißes, den Clara um diese Zeit an den Tag legte, war ihr Klaviertrio in g-Moll - ein Werk, das ihr, wie aus dem Manuskript hervorgeht, zu Beginn große Schwierigkeiten bereitete. In seiner endgültigen Form stellt sich das Trio jedoch als wohlproportioniertes Werk dar, einfühlsam zugeschniten auf die beteiligten Instrumente.

Im ersten Satz könnte man Claras Inspiration stellenweise mit der ihres Mannes verwechseln. Das Hauptthema ist lyrisch, das Nebenthema akkordisch mit bezaubernden Synkopen. Eine scheinbar mühelose Durchführung offenbart die Befähigung der Komponistin zum kontrapunktischen Satz. Die Reprise wird ausgesprochen geschickt bewältigt und legt die Grundtonart g-Moll erneut eindeutig fest.

Das folgende reizende Scherzo setzt einen punktierten Rhythmus nach Art des "Scotch snap” (Sechzehntel und punktiertes Achtel) ein. Die Triopassage verwandelt den Zweiertakt in einen Dreiertakt, genau wie es im Finale des Klavierkonzerts von Robert Schumann der Fall ist. Das anschließende Andante in G-Dur verwirklicht wegen seiner recht simplen Harmonisierung nie ganz sein volles Potential. Der erregte Mittelteil kehrt in die Molltonart zurück, ehe eine Reprise beginnt, in der das Cello auf charmante Art eine Passage gekonnt abwechslungsreicher Instrumentierung bestreitet.

Das Finale in G-Dur ist in Sonatenform angelegt und zeigt Clara auf dem Höhepunkt ihres Könnens als Komponistin. Raffiniert wird auf die einleitende Phrase des Andante angespielt, und die Durchführung bedient sich eines kontrapunktischen Satzes, der selbst Mendelssohn keine Schande gemacht hätte. In der Coda schließlich wird die Spannung nicht nur angemessen erhöht, sondern auch wunderbar kontrolliert.

Clara und Robert Schumann,
Lithographie von Eduard Kaiser, 1847.
Fanny Mendelssohns Klaviertrio in D-Dur ist ein Spätwerk, das 1850 publiziert wurde, drei Jahre nach ihrem Tod. Es ist von der Struktur und Instrumentierung her ein äußerst vollendetes Werk — nicht nur die Schöpfung einer gebildeten Gelegenheitskomponistin, sondern auch die einer begnadeten Künstlerin. Das einleitende „Allegro molto vivace" stellt seine kühnen Themen selbstbewußt vor. Unmittelbar spürbar ist die sensible Art und Weise, in der die Klavierstimme in das Instrumentalgefüge eingepaßt ist. Bemerkenswert ist ferner die gelungen klangvolle Formgebung der Baßlinie des Cellos. Das Trio ist musikalisch sehr auf seine Zeit festgelegt und verrät zwangsläufig den Einfluß des berühmten Bruders der Komponistin. Ein weiterer Einfluß ist der von Schubert, dessen Musik sowohl Felix als auch Fanny geradezu anbeteten.

Der Andante überschriebene zweite Satz fängt ruhig an, steigert jedoch bald das Tempo, und diese schnellere Passage geht logisch zu einer überaus einfallsreichen Durchführung des einleitenden Materials des Satzes über. Der dritte Satz ist um einiges schwächer als die übrigen, doch das Finale beginnt mit einer unerwarteten kadenzialen Passage des Klaviers, ehe Violine und Cello einsetzen. Hier ist das musikalische Material weniger einprägsam als das im ersten Satz verwendete, und die weite Lage der Klavierakkorde wurde möglicherweise zu weit getrieben, doch im allgemeinen ist der Umgang mit dem Medium nie weniger als fähig.

In Anbetracht dieses Werks kann man nur spekulieren, daß Fanny Mendelssohn, hätte ihr kurzes Leben eine normalere Spanne erreicht, der Nachwelt möglicherweise eine Anzahl weiterer bedeutender Kompositionen hinterlassen hätte. Vielleicht können Einspielungen wie die vorliegende sogar zu einer Wiederentdeckung anderer Stücke von ihr führen, die derzeit im Archiv der Staatsbibliothek zu Berlin — Preußischer Kulturbesitz untergebracht sind.

Quelle: Peter Lamb [Übersetzung Anne Steeb/Bernd Müller], im Booklet


TRACKLIST

Fanny Mendelssohn / Clara Schumann: Piano Trios

Clara Schumann
(1819-1896)

Piano Trio in G minor Op. 17 29'31
01. I. Allegro 10'58
02. II. Scherzo and Trio 5'05
03. III. Andante 5'32
04. IV. Allegretto 7'34

Fanny Mendelssohn
(1805-1847)

Piano Trio in D major Op. 11 26'46
05. I. Allegro molto vivace 10'55
06. II. Andante espressivo 6'45
07. III. Lied: Allegretto 2'21
08. IV. Finale: Allegretto moderato 6'32

Duration: 56'17

The Dartington Piano Trio:
Oliver Butterworth, violin
Michael Evans, cello
Frank Wibaut, piano

Recorded on 28 and 29 November 1988
Recording Engineer Antony Howell
Recording Producer Mark Brown
Executive Producers Cecile Kelly, Edward Perry
(P) 1989 (C) 2001


Erich Auerbach: Fortunata



Aus »Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der Abendländischen Literatur«

Erich Auerbach (1892-1957)
[Die folgende Passage] stammt aus dem Roman des Petronius, von dem nur eine Episode, das Gastmahl bei dem reichen Freigelassenen Trimalchio, vollständig erhalten ist. […] Der Erzähler, Encolpius, erkundigt sich während des Mahles bei seinem Tischnachbarn, wer denn die Frau sei, die durch den Saal hin und her laufe, und erhält Antwort, die ich im folgenden, möglichst stilgerecht, deutsch wiederzugeben versuche:

Das ist Fortunata, Trimalchios Frau, die das Geld mit dem Scheffel mißt. Und früher, was glauben Sie wohl, was die gewesen ist? Nehmen Sie es mir nicht übel, Sie hätten aus ihrer Hand kein Stück Brot genommen. Aber jetzt ist sie mir nichts dir nichts ins Paradies abgeschwommen, und ist dem Trimalchio sein ein und alles. Also ich sage Ihnen, wenn die ihm am hellen Mittag sagt, es ist dunkel, er glaubt es. Der weiß gar nicht, wieviel er hat, so steinreich ist er; aber sie, das Luder, paßt auf, auch wo man es gar nicht vermuten sollte. Sie trinkt nicht, ist sparsam, und weiß immer Rat; dabei aber ein Schandmaul, eine richtige Elster. Wen sie mag, den mag sie, und wen sie nicht mag, den mag sie nicht. Der Trimalchio hat Grundstücke, so weit die Falken fliegen, unzählige Millionen. Im Keller von seinem Portier liegt mehr Geld als andere Leute überhaupt im Vermögen haben. Und das Sklavenpersonal, ich glaube nicht, daß auch nur der zehnte Teil davon je seinen Herren zu sehen kriegt. Also ich sage Ihnen, neben dem kann jeder von den Maulaffen hier einpacken. Und glauben Sie nicht, daß der irgendwas zu kaufen braucht; alles ist eigene Produktion: Wolle, Wachs, Pfeffer - und wenn Sie Hühnermilch haben wollten, sie wäre da. Also ich sage Ihnen, er hatte nicht genug eigene Produktion an guter Wolle; da hat er sich Widder aus Tarent gekauft, und sie in seine Herde gesteißt … Sie sehen, wieviel Kissen hier herumliegen; da ist keines dabei, das nicht mit Purpur- oder mit Scharlachwolle gefüllt wäre: da können Sie sehen, was für ein glücklicher Mann das ist. Auch seine Mitfreigelassenen sind nicht zu verachten. Die haben ihr Schäfchen im Trocknen. Sehen Sie den letzten da hinten? Der hat heute seine Achtmalhunderttausend. Er hat mit nichts angefangen. Es ist noch gar nicht lange her, da schleppte er Holz. Aber wie die Leute erzählen — ich weiß es nur vom Hörensagen — er hat einem Heinzelmännchen die Kappe stiebitzt, und dann hat er einen Schatz gefunden. Na, ich bin nicht neidisch, wenn Gott es einem gibt. — Er ist übrigens erst eben freigelassen und hat noch große Rosinen im Kopf. Neulich hat er in einer Anzeige seine Wohnung zum Vermieten angeboten: «C. Pompeius Diogenes ver- mietet zum Juli seine Wohnung; er hat sich nämlich ein Haus gekauft.» Und der da auf dem Platz des Freigelassenen, wie gut ist es dem früher gegangen! Ich will nichts Böses von ihm sagen, er hat mal eine Million gehabt, aber dann ist es schief gegangen, und jetzt gehören ihm, glaube ich, nicht mal mehr die Haare auf seinem Kopf …

Die Antwort, die in der gleichen Art noch eine Weile fortgeht, ist also recht ausführlich geworden. Nicht nur die Frau, nach der sich Encolpius erkundigt hat, sondern auch der Gastgeber und mehrere Gäste werden behandelt, und überdies schildert der Sprecher auch sich selbst — seine Sprache und die Bewertungsmaßstäbe, die er anlegt, geben einen deutlichen Begriff von seiner Persönlichkeit. Die Sprache ist der ordinäre, etwas breiige Jargon eines ungebildeten städtischen Geschäftsmanns, voll von Klischees — […] und sie wird vorgetragen mit jenem sanguinischen Akzent, der lebhafte, aber triviale Affekte ausdrückt: Staunen, Bewunderung, Beteuerung, Achselzucken, Wichtigtuerei — kurz, in ihrer sprachlichen Form verraten die tam dulces fabulae, wie sie gleich darauf genannt werden, unverkennbar das, was sie sind, nämlich ordinärer Klatsch, obgleich ein guter Teil ihres Inhalts wahr sein mag; und sie verraten zugleich, wer der Mann ist, der sie ausspricht, nämlich jemand, der vollkommen in das Milieu hineinpaßt, das er schildert.

Dafür zeugen auch seine Bewertungsmaßstäbe. Denn ganz selbstverständlich liegt all seinen Worten die Überzeugung zugrunde, daß Reichtum das höchste Gut ist, je mehr desto besser (tanta est animi beatitudo), daß die Güter des Lebens nichts sind als Überfluß an Waren bester Qualität und gemeinster Genuß derselben, und daß jeder Mensch ganz selbstverständlich in diesem Sinne nach seinem materiellen Vorteil handelt. Und bei alledem ist er selbst wohl nur ein kleiner oder mittlerer Mann, der die ganz Reichen ehrlich bewundert. So schildert der Gute nicht nur Fortunata, Trimalchio und ihre Tischgenossen, sondern zugleich, ohne es zu wissen, sich selbst. Er hat zwar, wie wir sehen, einen etwas einseitigen Standpunkt, spricht auch mehr gefühlsmäßig und in Assoziationen als logisch, aber er spricht ausführlich und sozusagen plastisch — er macht aus seinem Herzen keine Mördergrube, und sagt alles, was zur Sache gehört. Er läßt nichts im Dunkel, er schwatzt sich aus, wie bei Homer ergießt sich helles, gleichmäßiges Licht über die Menschen und Gegenstände, die er behandelt; er hat, wie Homer, Muße genug zur Ausformung; was er sagt, ist eindeutig, und es bleibt nichts Hintergründig-Verborgenes ungesagt.

Freilich bestehen auch bedeutende Unterschiede gegen die Art Homers. Zunächst ist die Ausformung ganz subjektiv; denn was uns vorgeführt wird, ist nicht etwa der Kreis Trimalchios als objektive Wirklichkeit, sondern als subjektives Bild, so wie es sich im Kopf jenes redenden Tischnachbarn, der aber auch selbst zu dem Kreise gehört, darstellt. Petronius sagt nicht: dies ist so — sondern er läßt einen Ich, der weder mit ihm, noch auch nur mit dem fingierten Erzähler Encolpius identisch ist, den Scheinwerfer seines Blicks auf die Tischgesellschaft werfen — ein höchst kunstvolles, perspektivisches Verfahren, eine Art doppelte Spiegelung, die in der erhaltenen antiken Literatur, ich wage nicht zu sagen einzig, aber doch jedenfalls sehr selten ist.

Die äußere Form dieses perspektivischen Verfahrens ist zwar keineswegs neu, denn selbstverständlich sprechen überall in der antiken Literatur die Personen über ihre Erlebnisse und Eindrücke. Aber das ist entweder, wie in den Erzählungen des Odysseus bei den Phäaken oder des Äneas bei Dido, nur eine Form der Exposition und durchaus objektiv behandelt — oder aber es handelt sich um die Stellungnahme einer Person gegenüber Menschen oder Ereignissen, von denen sie, im Rahmen einer Handlung, gerade betroffen wird, und wo also das Subjektive unvermeidlich und auch ganz kunstlos natürlich ist. Hier aber handelt es sich um schärfsten Subjektivismus, der noch durch die Individualsprache hervorgehoben wird, einerseits — und um eine objektive Absicht andererseits, denn die Absicht zielt auf objektive Schilderung der Tischgesellschaft, den Sprecher eingeschlossen, vermittels des subjektivistischen Verfahrens. Das Verfahren führt zu einer sinnlicheren und konkreteren Lebensillusion — indem der Tischnachbar die Tischgesellschaft schildert, zu der er, innerlich und äußerlich, selbst gehört, wird der Blickpunkt ins Bild hinein versetzt, dieses gewinnt Tiefe, und von einem seiner Orte selbst scheint das Licht auszugehen, von welchem es beleuchtet wird.

Nicht anders arbeiten moderne Schriftsteller, etwa Proust, nur viel konsequenter auch innerhalb des Tragischen und Problematischen, wovon wir alsbald sprechen werden. Das Verfahren Petrons ist also im höchsten Maße kunstvoll, und, wenn er keine Vorgänger gehabt hat, genial — die Tischgesellschaft wird mit ihren eigenen Maßstäben gemessen, diese Maßstäbe richten sich durch ihr bloßes Lautwerden, zudem wird das Pöbelhafte dieser Neureichen schon durch die Tatsache, daß an ihrem eigenen Tisch so von ihnen gesprochen wird, aufs schärfste beleuchtet. Es finden sich wohl Ansätze zu ähnlicher Technik auch sonst in der satirischen Literatur der Antike — ein ähnlich durchdachtes und durchgeführtes Beispiel kenne ich aber sonst nicht.

Ein anderer bedeutender Unterschied gegenüber dem homerischen Vorgehen besteht in folgendem. Dem Tischnachbarn ist es bei seiner Schilderung besonders wichtig, zu betonen, was all diese Leute einst waren, im Gegensatz zu dem, was sie jetzt sind. Et modo, modo quid fuit, so sagt er bei Fortunata; de nihilo crevit, und quam bene se habuit, bei den beiden Tischgenossen. Auch Homer liebt es […] die Abkunft, Geburt und Vorgeschichte seiner Personen einzuschalten. Aber seine Angaben sind ganz anderer Art. Sie führen uns nicht ins Werdende und sich wandelnde, im Gegenteil, sie fuhren uns zu einem festen Anhaltspunkt. Der mythologisch-genealogisch geschulte griechische Hörer soll Abstammung und Familie der in Rede stehenden Person erkennen, er soll sie in dieser Weise einordnen, genau wie man in der modernen Zeit in einem geschlossenen aristokratischen oder altbürgerlichen Kreis einen neu Erschienenen durch Angaben über seine väterliche und mütterliche Familie bestimmt. Dadurch soll weniger der Eindruck der geschichtlichen Wandlung als vielmehr die Illusion eines unwandelbaren Festbegründetseins der gesellschaftlichen Verfassung hervorgerufen werden, neben der der Wechsel der Personen und ihrer persönlichen Schicksale vergleichsweise unbeträchtlich erscheint.

Unser Tischnachbar aber (und darin fühlt er, wie in allem, was er sagt, genau wie seinesgleichen) hat wirklich das geschichtlich sich Wandelnde‚ den Glückswechsel im Sinn. Ihm ist die Welt in ständiger Bewegung begriffen, nichts ist sicher, vor allem aber Wohlstand und gesellschaftliche Stellung sind äußerst unbeständig. Sein geschichtlicher Sinn ist einseitig, denn es dreht sich nur ums Geldhaben, aber er ist echt. (Auch die andern Tischgenossen kommen immer wieder auf die Unbeständigkeit des Lebens zu sprechen.) Das Hinundherfluten des Besitzes ist das, was ihn am Dasein interessiert, und was ihn gelehrt hat, ihn und seinesgleichen, aller Stabilität zu mißtrauen. Eben war man noch Sklave, Lastträger, Lustknabe — eben konnte man noch verprügelt, verkauft, verschickt werden — mit einem Male ist man als reicher Großgrundbesitzer und Spekulant im tollsten Luxus — und morgen konnte es wieder aus damit sein. Selbstverständlich fragt er: et modo, modo quid fuit? Das ist nicht, oder nicht nur, Neid und Mißgunst, was aus ihm spricht — er ist im Grunde wohl ganz gutmütig —, sondern sein wahres und tiefstes Interesse.

Nun ist es bekannt, daß der Glückswechsel in der antiken Literatur überhaupt einen sehr bedeutenden Platz hat und auch die philosophische Ethik sich vielfach auf ihm aufbaut. Aber, seltsam genug, er vermittelt anderswo nur selten den Eindruck geschichtlichen Lebens. Er erscheint entweder in der Tragödie, als ein einmaliges ungeheures Schicksal, oder in der Komödie, als Ergebnis eines ganz außerordentlichen Zusammentreffens besonderer Umstände; ob es sich um König Ödipus handelt, den der längst vorausgesagte Fluch getroffen und ins entsetzlichste Elend gestoßen hat, oder um das arme Mädchen oder den Sklaven, die sich als die einst geraubten oder nach einem Schiffbruch vermißten Kinder eines reichen Mannes entpuppen, so daß sie sogleich die von ihnen erwünschte Ehe eingehen können, in beiden Fällen geschieht etwas Außerordentliches, besonders Präpariertes, was aus dem gewohnten Lauf der Dinge herausfällt und was nur einen oder wenige trifft, indes die übrige Welt in Unbewegtheit zu verharren und bei dem außerordentlichen Ereignis gleichsam zuzuschauen scheint.

In der literarisch nachahmenden Kunst der Antike hat der Glückswechsel fast immer die Form eines von außen in einen bestimmten Bezirk hineinbrechenden, nicht den eines sich aus der inneren Bewegung der geschichtlichen Welt sich ergebenden Schicksals — während freilich die populär-philosophische Sentenzenliteratur den Glückswechsel bei jedermann und in jeder Lage im Auge hat, aber dies nur in theoretischer Form verträgt. Die sentenziösen Betrachtungen über den Wechsel des irdischen Geschicks finden sich auch im Gastmahl des Trimalchio sehr häufig, und andererseits geistert in der Incubusanspielung des Tischnachbars noch etwas von der Neigung fort, den Glückswechsel besonderen Eingriffen von außen zuschreiben zu wollen. Aber vorherrschend ist in dem Werk des Petronius doch die höchst praktisch-irdische, und also durchaus innergeschichtliche Anschauung der Schicksalswendungen — höchst praktisch-irdisch berichtet Trimalchio die Entstehung seines Vermögens, und auch sonst findet sich Ähnliches; vor allem aber ist es das Serienhafte, was hier den Eindruck des Innergeschichtlichen vermittelt.

Nicht einer oder wenige werden von einem einmaligen außerordentlichen Schicksal betroffen, während die übrige Welt in Ruhe verharrt; sondern es sind allein in der Rede des Tischnachbarn vier Personen, die alle in dem gleichen Wasser schwimmen, alle der gleichen Art wechselvoller Glücksjägerei obliegen, wobei sie zwar alle ein ähnliches, aber doch jeder ein verschiedenes und bei aller Bewegtheit höchst gewöhnliches, ja ordinäres Schicksal haben — und hinter den vier beschriebenen Personen sieht man die ganze Tafelrunde, bei der man vermuten kann, daß jedes ihrer Mitglieder ein ähnliches und ähnlich beschreibbares Leben führt — und dahinter wiederum stellt sich die Phantasie eine ganze Welt von ähnlichen Existenzen vor, so daß ein überaus lebhaftes wirtschaftlich- geschichtliches Bild entsteht, ein von innen ständig bewegtes Auf und Ab der nach Reichtum und dummem Lebensgenuß haschenden Glücksjäger. Es ist leicht zu verstehen, daß eine Gesellschaft von Geschäftsmännern niedrigster Abkunft sich ganz besonders für diese Darstellungsweise, für diesen Blick auf die Dinge eignet — in ihr spiegelt sich am klarsten das Auf und Ab des Geschehens, ohne daß irgend etwas Festes ihm die Waage hielte; denn sie besitzen weder innerlich eine Überlieferung noch äußerlich einen Halt; sie sind nichts ohne Geld. Es gibt in diesem Sinne in der antiken Literatur kaum ein Stück, das so stark wie dieses innere Geschichtsbewegung zeigte.

Und hier kommen wir zu einem dritten, wohl dem wichtigsten Unterschied gegenüber dem homerischen Stil und zu der wohl bedeutendsten Eigentümlichkeit des petronischen Gastmahls: es kommt der modernen Vorstellung von realistischer Darstellungsweise näher als was uns sonst aus der Antike erhalten ist; und zwar nicht etwa in erster Linie wegen der gemeinen Niedrigkeit des Stoffes, sondern vor allem wegen der genauen, ganz unschematischen Festlegung des gesellschaftlichen Milieus. Die Leute, die bei Trimalchio sich versammeln, sind süditalische freigelassene Parvenus des ersten Jahrhunderts; sie haben deren Anschauungen und sprechen fast ohne literarische Stilisierung deren Sprache.

Das findet man sonst kaum. Die Komödie gibt das gesellschaftliche Milieu in viel allgemeinerer und mehr schematischer, örtlich und zeitlich unbestimmterer Weise; sie zeigt kaum Ansätze zur Individualsprache der Personen; in der Satire ist wohl manches in die gleiche Richtung Weisendes erhalten, doch ist die Darstellung nicht so breit angelegt, sondern eher moralistisch und auf die Kritik irgendeiner bestimmten lasterhaften oder lächerlichen Eigenschaft abgestellt; der Roman schließlich, fabula milesiaca, zu welcher Gattung ja das Werk Petrons wohl auch gehörte, ist in den uns sonst erhaltenen Werken und Fragmenten so stark mit zauberhaften, abenteuerlichen, mythologischen und so unmäßig mit erotischen Dingen angefüllt, daß er unmöglich als eine Nachahmung des damals alltäglichen Daseins angesprochen werden kann — von der unrealistischen, rhetorischen Stilisierung der Sprache ganz zu schweigen.

Am nächsten kommt der breiten, wirklich alltäglichen Darstellung manches aus der alexandrinischen Literatur; etwa die beiden Frauen beim Adonisfest, von Theokrit, oder der Prozeß des Bordellwirts, von Herodas. Aber auch diese beiden Stücke — Versdichtungen — sind in bezug auf die Realistik, den soziologischen Unterbau, spielerischer und auch stärker sprachlich stilisiert als Petronius. Dieser setzt, wie ein moderner Realist, seinen künstlerischen Ehrgeiz daran, ein beliebiges, alltägliches, zeitgenössisches Milieu mit seinem gesellschaftlichen Unterbau ohne Stilisierung nachzuahmen und die Personen ihren Jargon sprechen zu lassen. Damit hat er die äußerste Grenze erreicht, bis zu der der antike Realismus vorgedrungen ist; ob er der erste und einzige war, der derartiges unternahm — wie weit etwa der römische Mimus ihm vorgearbeitet hat — kann hier außer Betracht bleiben.

Wenn nun Petronius die äußerste Grenze zeigt, bis zu der der antike Realismus vorgedrungen ist — so läßt sich an seinem Werk auch erkennen, was dieser Realismus nicht geben konnte oder mochte. Das Gastmahl ist ein Werk rein komischen Charakters. Die darin auftretenden Personen im Einzelnen sowie die Verbindungen des Ganzen sind bewußt und einheitlich im niedrigsten Stil gehalten, sowohl im sprachlichen Ausdruck wie in der Behandlung; und damit ist notwendig verbunden, daß alles Problematische, was, sei es psychologisch, sei es soziologisch, an ernsthafte oder gar tragische Verwicklungen erinnert, fernbleiben muß — es würde den Stil durch allzuschweres Gewicht zerstören.

Denken wir hier einen Augenblick an die realistischen Autoren des 19. Jahrhunderts, an Balzac oder Flau- bert, an Tolstoj oder Dostojewski. Der alte Grandet (Eugénie Grandet) oder Fedor Pawlowitsch Karamasoff sind keine bloßen Karikaturen wie Trimalchio, sondern fürchterliche Wirklichkeit, sehr ernst zu nehmen, in tragische Verwicklungen verwoben, ja sogar selbst tragisch, obgleich sie doch auch grotesk sind. In der modernen Literatur kann jede Person, gleichviel welchen Charakters und welcher sozialen Stellung, jedes Ereignis, gleichviel ob sagenhaft, hochpolitisch oder beschränkt häuslich, durch die nachahmende Kunst ernsthaft, problematisch und tragisch gefaßt werden, und wird es zumeist.

Das aber ist in der Antike ganz ausgeschlossen. Es gibt zwar in der Hirten- und Liebespoesie einige Zwischenformen, aber im ganzen gilt die Stiltrennungsregel […]: alles gemein Realistische, alles Alltägliche darf nur komisch, ohne problematische Vertiefung vorgeführt werden. Das setzt aber dem Realismus enge Grenzen; und wenn man das Wort Realismus etwas schärfer faßt, so muß man sagen: jedes literarische Ernstnehmen der alltäglichen Berufe und Stände — Kaufleute, Handwerker, Bauern, Sklaven — der alltäglichen Schauplätze — Haus, Werkstatt, Laden, Feld — der alltäglichen Lebensgewohnheiten — Ehe, Kinder, Arbeit, Ernährung — kurzum des Volkes und seines Lebens fiel fort.

Damit hängt dann auch zusammen, daß in der antiken Realistik die den jeweils dargestellten Verhältnissen zugrunde liegenden gesellschaftlichen Kräfte nicht deutlich gemacht werden; das könnte ja nur im Rahmen des Ernsthaft-Problematischen geschehen; da aber die Personen den Bezirk des Komischen nicht verlassen, ist ihr Verhältnis zur Allgemeinheit entweder geschickte Anpassung oder grotesk-tadelnswerte Absonderung; das realistisch dargestellte Individuum hat im letzteren Fall der Gesellschaft gegenüber stets unrecht, und diese erscheint als gegebene, in ihrer Entstehung und Auswirkung nicht erklärungsbedürftige, im Hintergrund des jeweiligen Ereignisses unveränderlich ruhende Institution.

Auch das ist in neuerer Zeit sehr anders geworden. Für die antike realistische Literatur existiert die Gesellschaft nicht als geschichtliches Problem, sondern allenfalls als moralistisches, und überdies bezieht sich der Moralismus mehr auf die Individuen als auf die Gesellschaft. Die Kritik der Laster und Auswüchse, mögen auch noch so viel Personen als lasterhaft und lächerlich dargestellt werden, stellt das Problem individualistisch, so daß die Kritik der Gesellschaft nie zu einer Aufdeckung der sie bewegenden Kräfte führt. Es ist daher auch hinter dem ganzen Getriebe, das Petronius uns vorführt, nichts spürbar, was uns die Dinge aus ihrem ökonomisch-politischen Zusammenhang begreiflich machte, und die geschichtliche Bewegung, von der wir oben sprachen, ist nur eine Bewegung der Oberfläche.

Natürlich meinen wir nicht, daß Petronius in sein Gastmahl eine volkswirtschaftliche Studie hätte einflechten sollen. Er hätte nicht einmal so weit zu gehen brauchen wie Balzac, der in seinem eben schon erwähnten Roman Eugénie Grandet die Entstehung von Grandets Vermögen in einer Weise beschreibt, daß die gesamte französische Geschichte von der Revolution bis zur Restauration in ihr sich widerspiegelt. Eine ganz unsystematische, aber ständige und bewußte Verbindung mit Zeitereignissen und Zeitverhältnissen hätte genügt. Die modernen Petrone knüpften die Schilderung von Schiebern etwa an die Inflation nach dem ersten Weltkrieg oder an sonstige bekannte Krisenzeiten; schon Thackeray, obgleich noch eher moralistisch als eigentlich historisch entwickelnd, bindet seinen großen Roman an den Hintergrund der napoleonischen und nachnapoleonischen Epoche — bei Petron findet sich nichts davon. Wenn etwa von den Lebensmittelpreisen, von sonstigen städtischen Verhältnissen, von der Lebens- und Vermögensgeschichte der Tischgenossen die Rede ist, so fehlt jede Anspielung auf einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit, eine bestimmte politisch-wirtschaftliche Lage.

Zwar handelt es sich deutlich um eine süditalienische Stadt in der ersten Kaiserzeit, wir stellen das leicht fest, der moderne Wirtschaftshistoriker kann die Angaben als Material verwerten, und die Zeitgenossen erkannten das selbstverständlich ebenfalls, sogar vermutlich noch genauer als wir — aber Petronius legt auf die zeitgeschichtliche Seite seines Werkes keinen Wert. Hätte er es getan, hätte er die einzelnen Verhältnisse und Ereignisse mit bestimmten politisch-ökonomischen Lagen der ersten Kaiserzeit verknüpft, so wäre vor dem Auge des Lesers ein geschichtlicher Hintergrund entstanden, den die Erinnerung ergänzt hätte - es hätte sich eine geschichtliche Tiefe ergeben, neben der der Perspektivismus Petrons, von dem wir oben sprachen, als bloße Oberfläche erscheint, und dann hätte man wirklich, und nicht nur vergleichsweise, von geschichtlicher Bewegung sprechen können.

Aber das hätte den Stil gesprengt, in dem sich Petronius zu halten gedachte, und wäre nicht möglich gewesen ohne eine Vorstellung, die ihm nicht zugänglich war, der Vorstellung nämlich von geschichtlichen «Kräften». So wie es ist, bleibt die Bewegung, trotz aller Lebhaftigkeit, nur im Bilde selbst, dahinter bewegt sich nichts, die Welt steht still. Es ist zwar deutlich ein Zeitgemälde, aber die Zeit gibt sich, als hätte sie immer unverändert so bestanden, wie jetzt und hier, mit Herren, die den Sklaven, die ihnen geschlechtlich zu Willen sind, große Teile ihres Vermögens hinterlassen, mit riesigen Verdiensten, die man im Handel machen kann, und so fort — die Zeitbedingtheit oder Geschichtlichkeit all dieser Umstände interessiert als solche weder Petronius noch seinen antiken Leser, erst wir konstatieren sie und moderne Wirtschaftshistoriker ziehen daraus ihre Schlüsse.

Quelle: Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der Abendländischen Literatur. 2. Auflage. Francke Verlag Bern, 1959 [Sammlung Dalp, Band 90]. Seiten 28-36.



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Mendelssohn: Lieder ohne Worte (Daniel Barenboim)

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Der Zugang zu Mendelssohns kleinen Klavierstücken fällt heute schwer. Ihre einstige Popularität steht ihnen im Wege. Das romantische, gleichsam von Heine nonchalant hingestreute Paradoxon »Lied ohne Worte« weckt die Vorstellung von Salon, Klavierstunde, Albumblatt, Kurzatmigkeit und Sentiment. Kaum ein Pianist wagt noch , Mendelssohns Miniaturen aufs Programm zu setzen oder zumindest als Zugaben einzustreuen; in der zweiten Hälfte des l9. Jahrhunderts, vor dem Sieg Wagners und der symphonischen Dichtung, sind Mendelssohns »Lieder ohne Worte« nicht nur Säulen des Repertoires. sondern ein Hausbuch gewesen, verbreitet wie die Märchen der Brüder Grimm, wie Ludwig Richters Graphik oder Uhlands Verse.

Wir haben die Bildkunst des vorigen Jahrhunderts wieder schätzen gelernt. Sie führt uns zu Mendelssohns Klavierstücken. Felix Mendelssohn Bartholdy — das Sonntagskind, »der schöne Zwischenfall der deutschen Musik« (Nietzsche) — hatte, im Gegensatz zu vielen Musikern, eine leidenschaftliche und fruchtbare Beziehung zur bildenden Kunst, teils als Folge seiner klassisch—humanistischen Bildung, teils aus Anlage, denn er war, was widersprüchlich klingen mag, ein Augenmensch nach Art seines Mentors Goethe. Das zeigen seine Reisebriefe, die zu den schönsten Landschaftsbildern deutscher Prosa gehören. Das belegen die vielen Zeichnungen, die er — »das wandelnde Skizzenbuch«‚ wie ihn Schwager Henselt nannte — unterwegs mit sicherem Strich aufs Papier zu werfen liebte. Wie alles in der Kunst und im Leben fiel ihm das Zeichnen leicht. Er besaß den aufs Wesentliche des Objekts gerichteten, aufnehmenden Blick, den Sinn für das räumliche Tiefe gewinnende Detail, die schlanke Präzision der Umrisse und die Gabe, eine Szenerie in sich zu runden, zu intimisieren und dem Betrachter ans Herz zu legen — kurz, jene Tugenden, wie sie den aus der Seh-Schule des Klassizismus hervorgegangenen Malern und Graphikern des Biedermeier wie der Romantik deutscher und englischer Herkunft eigen sind.

Felix Mendelssohn Bartholdy
 nach Carl Jäger, um 1870.
Die »Lieder ohne Worte« sind, ungeachtet ihres melodisch-kantablen Titels, solche Bildkunst zu zwei Händen nebst wenig Pedal, mehr noch für den schwebenden Ton des alten Hammerflügels als für den ausladenden Klang des modernen Konzertinstruments gedacht. Zeichnerisch ist der klare Aufbau der meist liedhaft-dreiteiligen Form (A-B-A), der verbindliche Grundriß des als »Impromptu«‚ »Moment musical«‚ »Phantasiestück« oder »Prélude« auftretenden romantischen Klavierstücks. Auf den Duktus, auf die Disposition des Raumes wird alles Pianistisehe wie Beiwerk bezogen: Kadenzen, Effekte, harmonische Regelwidrigkeiten, spieltechnische und Zuweilen etüdenhafte Probleme. Die malerische Technik der Miniatur und des kleinen Formats greift auf die Klaviermusik über: anders als bei Schubert, der monologisierend und selbstvergessen nach innen blickt, anders auch als bei dem mitunter anklingenden Schumann, dessen Phantastik eine literarische Wurzel hat in der Lektüre Jean Pauls, in den Nachtgeschichten E.T.A. Hoffmanns, in der dem Buchhändlerssohn schier angeborenen Beziehung zum Wort.

Mendelssohns Klavier—Graphik versagt sich, Goethescher Maximen eingedenk, dem »Experiment«‚ der uferlosen Expression, dem Visionären und Provokanten. Mendelssohn mißtraute der explosiven französischen Romantik; in Frankreich, wo der Reiz des Ungewöhnlichen zählt, hat er denn auch nie Furore gemacht. Hingegen begegneten sich er und die distinguierte englische Romantik. Das viktorianisehe England war neben Leipzig und Berlin die Hochburg der Mendelssohn-Verehrung. Die insulare Neugotik entsprach Mendelssohns Oratorien und Bach-Adaptionen, das englische Genrebild seinen Jäger- und Spinnerliedern, seine Symmetrie den in Oxford und Cambridge gelehrten platonisch—aristotelischen Grundsätzen der Ästhetik.

Felix Mendelssohn Bartholdy im Doktormantel,
 Stich nach Hildebrandt, um 1835.
Das Kleinformat birgt den Bezugspunkt in sich: den Salon, die gute Stube, den häuslichen Kreis. Die drei Begriffe verlangen, mit historischem Takt gewürdigt zu werden. Nach dem Erdrutsch der napoleonischen Jahre war Europa verarmt; Genügsamkeit wurde Bürger- wie Monarchenpflicht. Der Rückzug nach innen begann, beschleunigt durch restaurative Repressalien gegen die nun frustrierten Freiheitsideale von 1814/15. Man fand sich auf die eigenen vier Wände verwiesen. Verarmung und Passivität lehren das Große im Kleinen lieben. Eine Intimkunst entstand. Sie kennzeichnet den »Vormärz«, aus dem Mendelssohns »Lieder ohne Worte« datieren; die 48 Kla- vierstücke wurden zwischen 1830 und 1845 geschrieben und seit 1834 in sechsteiligen Heften veröffentlicht. (Werke ab Opuszahl 80 sind postum ediert worden; es steht nicht fest, ob der sorgfältig redigierende Mendelssohn sie durchweg in der vorliegenden Gestalt belassen hätte.) Mendelssohns Klavierstücke gaben der Zeit, was sie benötigte. Daher ihr rascher Erfolg.

Der Begriff Salon schillert. Er bezeichnet die gute Stube des Bürgers, wo das Klavier, das Leitfossil der bürgerlichen Musikkultur, stand und wo die kleinformatigen Bilder der Zeitgenossen zwischen biedermeierlichem Mobiliar hingen; er benennt aber auch den Treffpunkt anspruchsvoller, avantgardistischer und mitunter exzentrischer Geister, die sich zu Kunstgenuß und Gespräch um eine kluge Frau von Welt scharten, wie etwa um Rahel Varnhagen von Ense im Berlin des jungen Mendelssohn. Im Salon herrschte nicht unbedingt Stickluft. Im Gegenteil, die Fenster standen weit offen zur Natur. Die Natur, »das Natürliche« waren Themen der Zeit. Keine Epoche der bildenden Kunst hat — die alten Niederländer ausgenommen — so viel Natur dargestellt. Auch das beliebte Interieur war ein Stück Natur, Umwelt, Zuständlichkeit.

Der Augenblick, der Zustand, das Verweilen prägen diese bei aller Bewegtheit des Details statische Kunst. Wenig später kommt die Photographie auf, die Momentaufnahme. Der Ire John Field (1782—1837), der Vater des Nocturne und des pianistischen Salonstücks, lehrte, nur »Melodien in Ruhelage« seien wahrhafte Melodien, und träumte von einer »stehenden Musik«‚ dem äußersten Gegensatz zur großräumig bewegten Musik der Klassik.

Die musikalische Entsprechung zur Natur und Natürlichkeit war für Mendelssohn das Lied, das er, ähnlich wie Clemens Brentano und die Frühromantiker, in der reinsten, einfachsten Gestalt anonym dem Volksmund entsprungen glaubte. Dieser Schlichtheit gilt es nachzueifern. Die Einfachheit des melodischen Einfalls deckt sich mit der klaren Prägnanz des zeichnerischen Grundrisses. Mendelssohn hat viele Lieder mit und ohne Worte komponiert; durch geradlinige Sanglichkeit unterscheidet sich ihre komprimierte Lyrik von den differenzierten Seelenzuständen Schuberts wie Schumanns. Goethes Auffassung wirkte nach, einer schlicht geprägten Melodie müsse man sämtliche Strophen eines Gedichts unterlegen können, ganz wie im Volkslied. Es gibt »Lieder ohne Worte«, die Mendelssohn sogar mit »Volkslied« überschrieben hat, so Opus 53 Nr. 5, wo eine Sackpfeifermelodie einem a-moll—Lied im schottischen Tonfall präludiert.

Arbeitszimmer des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy
Museum im Mendelssohn-Haus.
Goethes Gedicht »Schäfers Klagelied« soll der h-moll-Elegie op. 67 Nr. 5 zugrunde liegen: eine bukolische Klage mit monotoner Hirtenflötenmelodie und altväterlichen Dudelsackquinten im Baß des Vorspiels. Manche Lieder suggerieren das uralte Bild des Sängers, der sich auf der Harfe begleitet.Vor— und Nachspiel auf der Harfe rahmen die schwärmerische, sich steigernde Liedmelodie von Opus 19 Nr. 4 ein. Dieser Typus wiederholt sich in Opus 30 Nr. 3 und in Opus 38 Nr. 4. Das nachträglich »Frühlingslied« benannte A-dur-Stück aus Opus 62 — trotz seiner anspruchsvollen Transparenz (Grazioso, Dolce, Pedalwechsel, Vorschlagsarpeggien) ein Lieblingsstück der Amateure des Klaviers — bewegt sich auf das Naturbild und Genrestück zu, unmittelbar benachbarte Spielarten des Lieds ohne Worte.

Das Stimmungsbild im Kleinformat, der verdichtete Augenblick, zieht sich, meist andeutungsweise programmatisch, durch fast alle acht Hefte der Liederfolge. Es wurde — gegen Mendelssohns Willen, dem Illustratives, handgreiflich Programmatisches und biederer Naturalismus verhaßt waren — zum Ausgangspunkt für das rasch in Banalität ausgleitende »Charakterstück«, die Salon-Pièce der höheren Töchter. Mendelssohn behandelt solche Szenen mit einem schwerelosen Realismus. der vollends von der feingegliederten Form, vom Absolut-Musikalischen aufgefangen wird. Das eichendorffisch überhauchte, sogenannte »Jägerlied« (op. l9 Nr. 3) intensiviert die gängige Jagdszene der romantischen Malerei: schmetternde Einleitungsfanfaren, eine chorische A-dur-Melodie in dreiteiliger Verarbeitung (Mittelteil in cis-moll), breites, sozusagen orchestrales Nachspiel in der Coda. Das später so genannte »Spinnerlied« (op. 67 Nr. 4) ist ein Perpetuum mobile, das mit Presto-Sechzehnteln um einen Hauptton kreist, was wohl zur Assoziation Spinnrad geführt hat. Der Vergleich mit dem ungefähr gleichzeitig entstandenen Spinnrad-Chor der norwegischen Mädchen in Wagners »Fliegendem Holländer« — Heinrich Eduard Jacob stellt ihn an in seinem unübertroffen poetischen Werk über Mendelssohn — zeigt sogleich den Unterschied zwischen intimer und expansiver Romantik, zwischen Miniatur- und Großformatmalerei.

Musiksalon der Familie Mendelssohn,
Museum im Mendelssohn-Haus
Am populärsten wurden jene Stimmungsbilder, die eines der abgegriffensten Klischees der europäischen Musik veredeln: die »Venezianischen Gondellieder«. Der 6/8-Takt, die Barcarole, das Siciliano, der schaukelnde Rhythmus waren vom Barock bis zur Filmmusik das musikalische Standardsymbol für südländische Stimmung. Die Italien—Schablone veredelte Mendelssohn durch einen für seine Kunst der einfachen Mittel bezeichnenden »Verfremdungseffekt«: Er setzte die Gondellieder (bis auf eine Ausnahme) in Moll. Damit war Venedig nicht mehr das Traumziel der Touristen, sondern die geheimnisvolle Stadt der Morbidezza, wie bei E.T.A. Hoffmann, Wagner und Thomas Mann. Mendelssohns Gondellieder sind Nachtstücke mit italianisierenden Terzen und Sexten, durchzogen vom schwermütigen Ruf des Gondoliers. Urbild ist Opus 19 Nr. 6 in g-moll; es wird in Opus 30 Nr. 6 durch stärkere dynamische Kontraste abgewandelt und in Opus 62 Nr.5 mit weitgriffigem Klaviersatz und synkopischen Mittelstimmen versehen. Die Entwicklung der Gondellieder allein zeigt die Entwicklung von Mendelssohns Klaviersatz. Opus 19, entstanden zur Zeit der »Italienischen Symphonie«, geht noch aus von der Klaviertechnik, wie sie Mendelssohn bei Ignaz Moscheles erlernt hatte; ihr Vorbild war Mozart, nicht Beethoven, der ohne tieferen Einfluß auf den im Grunde klassizistisch formgebundenen Mendelssohn blieb. Der Klaviersatz reichert sich mit den Jahren an, wird voller, schwieriger, »romantischer«. Das diffizile Opus 62 — Nr.3 ist jener bei dem Optimisten Mendelssohn befremdende »Trauermarsch« in e-moll, den Moscheles später für die Totenfeier seines einstigen Schülers instrumentierte — hat bezeichnenderweise Clara Schumann zur Widmungsträgerin. Sie gestand, unter den Pianisten sei ihr Mendelssohn der liebste von allen. und sie hat auch in ihren Briefen einen Eindruck von Mendelssohns Klavierspiel übermittelt: »Er spielte so meisterhaft und so feurig, daß ich mich wirklich in einigen Momenten nicht der Tränen enthalten konnte«.

Mendelssohn-Haus, Leipzig
Worauf es Mendelssohn klaviertechnisch ankam, zeigen umrißhaft die »Sechs Kinderstücke«, die kurz nach seinem Tode als Opus 72 ediert wurden: verkleinerte Lieder ohne Worte, unaufdringlich didaktisch, vom Rhythmus bestimmt. Der Familienvater — Mendelssohn war ganz im Sinne des Biedermeier ein häuslicher Mensch — zeigt den Kindern keine der großbogigen. pedal-trunkenen Melodien à la Schumann oder Liszt, sondern feinziselierte Kantilenen zu sprechender Begleitung (Nr. 2 und 4). Der kernige Zugriff (Nr. 1) wird gelehrt, das Staccato (Nr. 3 und 5), die lockeren Sexten (Nr. 4), die perlenden Akkordbrechungen und das Sichablösen der Hände (Nr. 6). Das romantische Kinderstück aus dem Geiste der auf Mozart zurückgehenden Schule um Hummel, Moscheles, Czerny und Weber.

Man zeige jemandem, der keine Noten lesen kann, einige Seiten Mendelssohn und lasse ihn den Eindruck des Druckbilds wiedergeben. Er wird es graphisch, ja kalligraphisch nennen. In der Tat ist Mendelssohn ein musizierender Graphiker, in den nadelfeinen Linien seiner Melodik, in der kontrapunktischen Schraffierung, im Aussparen und Andeuten, in der zeichnerischen Klarheit des Aufrisses. Es war ein Irrtum der wagnerisch beeinflußten Nachwelt, Mendelssohn auf betuliche Kurzatmigkeit, Lavendel, Albumblattpoesie und Konservatorium festzulegen. Er war als Graphiker auf dem Klavier ein Seitenstück zu William Turner — dessen Zeichnungen übrigens denen Mendelssohns ähneln —, zu Ingres, Corot, Whistler und Theodore Rousseau; letztere in ihrer Eigenschaft als Graphiker verstanden. Wo Mendelssohn Farben verwendet, in den Klavierstücken wie in den Orchesterpartituren, bleiben diese Farbwerte stets in den zeichnerischen Umriß eingebunden. Er ist kein Kolorist, so viele Valeurs er auch kennt. Als Maler von Landschaften und Interieurs hat er zwar den Impressionismus vorbereiten helfen, aber er würde ihn nicht gebilligt haben.

Interieurs, Innenräume, Seelenansichten sind die rein instrumental angelegten Lieder ohne Worte, die in jedem der acht Hefte neben die lied- und genrehaft empfundenen Stücke treten. Manches streift Chopins Verbindung von poetischer Idee und technischer Studie, so die »Zwei Klavierstücke«, die erst 1860 gedruckt wurden, so das Perpetuum-mobile-Scherzo in b-moll op. 30 Nr. 2, so das auf Geläufigkeit der linken Hand und Oktavenmelodik der rechten abzielende Andante op. 30 Nr. 5, so die Leggiero-Studie op. 67 Nr. 2. Einige Agitato-Szenen sympathisieren mit dem Freunde Schumann, seinen Aufschwüngen, Nachtstücken, Visionen und Humorausbrüchen, seinem dichteren Klaviersatz und seiner verschränkten Stimmführung. Eine Nachtszene im schumannesken fis-moll ist Opus 19 Nr. 5, entwickelt aus einem gespenstischen Piano; das Seitenstück im hämmernden 3/8-Takt bildet das Agitato e con fuoco op. 30 Nr. 4, weitere Pendants sind Opus 38 Nr. 5 im 12/8-Rhythmus und mit Mittelstimmensynkopen, das Molto Allegro, vivace opus 53 Nr. 6 und das Allegro agitato opus 85 Nr. 2. Das 1872 als Opus 117 edierte »Albumblatt« entspricht im Aufbau dem kantablen Typus der Lieder ohne Worte und klingt in seinem E-dur-Mittelteil ausgesprochen schubertisch.

Felix Mendelssohn Bartholdy: Blick aus Reichels Garten auf das winterliche
 Leipzig, 1836, Aquarell, Mendelssohn-Haus Leipzig.
Vollends instrumental empfunden ist das a-moll-Andante op. 19 Nr.2: ein dreistimmiger Satz, der sich mit Mendelssohns Bach-Studien in Beziehung bringen läßt. Auf den nachmaligen Mendelssohn-Verehrer Brahms und dessen kleine Klavierstücke weist das synkopisch schwebende Andante tranquillo opus 67 Nr.3 voraus. Das Presto-Scherzo opus 102 Nr. 3 ist ein Streichtriostück, eine Spiccato-Studie. Der instrumentale Duktus vermischt sich zuweilen mit dem kantablen Urtypus der »Lieder ohne Worte«; das F-dur-Adagio op. 53 Nr. 4 wirkt wie der ernste, langsame Satz eines Streichquartetts, das As-dur-Andante op. 53 Nr. 1 orientiert sich mit seinen weichen Gegenstimmen am Streichersatz und das Andante espressivo op. 30 Nr. 1 — das Stück, das Mendelssohn besonders wert war — , scheint über Harfenbegleitung zu singen. Offenkundiger Spaß, der sich ja auf die von Mendelssohn beargwöhnte Programmatik hätte stützen müssen, findet sich in den »Liedern ohne Worte« nicht, es sei denn, man werte das »Duetto« bezeichnete Andante con moto op. 38 Nr. 6 als Parodie einer Opernszene: Ein Sopran und ein Tenor — beide fast durchweg von Melodien der rechten Hand dargestellt — wetteifern in leidenschaftlichem Gesang und verweisen auf Mendelssohns unterschwellige, stets an Librettomängeln gescheiterte Liebe zur Oper.

Jedes Lied ohne Worte rundet sich, maßvoll, verbindlich, wie in einem feingeschnitzten Rahmen. Abrupte Schlüsse, Verblüffungseffekte, Ausbrechen aus der Grundtonart und ähnliche Praktiken der bekenntnissüchtigen, autobiographischen Romantik kommen nicht vor. Mit gutem Grund konnte Hans von Bülow sagen, ein Lied ohne Worte sei für ihn ebenso klassisch wie ein Gedicht von Goethe; wobei sein Vergleich hellsichtig das Goethesche in Mendelssohn erkennt. Der Typus »Lied ohne Worte« — dessen ungefähre Vorläufer in Beethovens Bagatellen und im Albumblatt »Für Elise«, bei Field und (weniger komprimiert) bei Schubert zu suchen wären — zieht sich durch die ganze Instrumentalmusik Mendelssohns. So ist das Streichquartett op. 13 die Explikation eines als Motto vorangestellten Liedes ohne Worte. Das kleine Format, die formvollendet gezeiehnete Miniatur, enthält das Essentielle Mendelssohns, des Biedermeier, der frühen Romantik und des Europa um 1840.

Quelle: Karl Schumann, im Booklet

Die Bilder zu diesem Text stammen vom Webportal des »Mendelsohn-Hauses und Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Stiftung«

William Turner: Venedig, 1834. Öl auf Leinwand, 90 x 122 cm, National Gallery of Art, Washington (D.C.) [Quelle]

Und hier noch ein Link zu einer privaten Webside über Joseph Mallord William Turner mit vielen, zum Teil wenig bekannten Bildern.


TRACKLIST


FELIX MENDELSSOHN BARTHOLDY
(1809-1847)

Lieder ohne Worte
Songs without Words - Romances sans Paroles - Romanze senza parole - Romanzas sin palabras

Kinderstücke op. 72
Pieces for Children - Pièces Enfantines - Pezzi infantili - Piezas infantiles

Gondellied
Gondola Song - Chanson des Gondoliers - Canto del gondoliere - Canción del gondolero

2 Klavierstücke
2 Piano Pieces - 2 Pièces pour Piano - 2 Pezzi per pianoforte - 2 Piezas para piano

Albumblatt op. ll7
Album leaf - Feuille d’Album - Foglio d’album - Hoja de álbum

DANIEL BARENBOIM, Piano


COMPACT DISC 1 [60:03]

Lieder ohne Worte, op. 19

01. Nr 1 E-Dur [03:08]
02. Nr 2 a-moll [02:19]
03. Nr 3 A-Dur "Jägerlied" [02:09]
04. Nr 4 A-Dur [02:02]
05. Nr 5 fis-moll [03:02]
06. Nr 6 g-moll "Venezianisches Gondellied" [01:52]

Lieder ohne Worte, op. 30

07. Nr 1 Es-Dur [04:23]
08. Nr 2 b-moll [01:55]
09. Nr 3 E-Dur [02:13]
10. Nr 4 h-moll [02:29]
11. Nr 5 D-Dur [01:38]
12. Nr 6 fis-moll "Venezianisches Gondellied" [02:56]

Lieder ohne Worte, op. 38

13. Nr 1 Es-Dur [02:40]
14. Nr 2 c-moll [01:53]
15. Nr 3 E-Dur [02:12]
16. Nr 4 A-Dur [02:26]
17. Nr 5 a-moll [02:15]
18. Nr 6 As-Dur "Duetto" [02:17]

Lieder ohne Worte, op. 53

19. Nr 1 As-Dur [03:22]
20. Nr 2 Es-Dur [02:39]
21. Nr 3 g-moll [02:29]
22. Nr 4 F-Dur [02:23]
23. Nr 5 a-moll "Volkslied" [02:46]
24. Nr 6 A-Dur [02:35]


COMPACT DISC 2 [72:43]

Lieder ohne Worte, op. 62

01. Nr. 1 G-Dur [02:03]
02. Nr. 2 B-Dur [01:36]
03. Nr. 3 e-moll "Trauermarsch" [02:48]
04. Nr. 4 G-Dur [01:25]
05. Nr. 5 a-moll "Venezianisches Gondellied" [02:50]
06. Nr. 6 A-Dur "Frühlingslied" [02:08]

Lieder ohne Worte, op. 67

07. Nr. 1 Es-Dur [02:24]
08. Nr. 2 fis-moll [02:08]
09. Nr. 3 B-Dur [02:41]
10. Nr. 4 C-Dur "Spinnerlied" [01:54]
11. Nr. 5 h-moll [02:10]
12. Nr. 6 E-Dur "Wiegenlied" [02:11]

Lieder ohne Worte, op. 85

13. Nr. 1 F-Dur [02:24]
14. Nr. 2 a-moll [00:56]
15. Nr. 3 Es-Dur [02:22]
16. Nr. 4 D-Dur [02:51]
17. Nr. 5 A-Dur [01:48]
18. Nr. 6 B-Dur [02:01]

Lieder ohne Worte, op. 102

19. Nr. 1 e-moll [03:10]
20. Nr. 2 D-Dur [02:13]
21. Nr. 3 D-dur [01:17]
22. Nr. 4 g-moll [02:16]
23. Nr. 5 A-Dur [01:06]
24. Nr. 6 C-Dur [02:34]

Kinderstücke op. 72

25. Nr 1. Allegro non troppo [00:58]
26. Nr 2. Andante sostenuto [01:47]
27. Nr 3. Allegretto [00:57]
28. Nr 4. Andante con moto [01:47]
29. Nr 5. Allegro assai [01:31]
30. Nr 6. Vivace [01:28]

31. Gondellied (Barcarole) A-Dur
Allegretto non troppo [02:32]

2 Klavierstücke

32. 1. Andante cantabile [03:07]
33. 2. Presto agitato [02:31]

34. Albumblatt op. 117, Allegro [04:49]


Recording: Paris, Studio Europa Sonor, 6/1973; London, Rosslyn Hill Chapel, l2/l973
Executive Producer: Günter Breest - Recording Producer: Cord Garben
Tonmeister (Balance Engineer): Hans Peter Schweigmann
(P) 1974


Werner Krauss: Gracián und die Psychologen


Baltasar Gracián y Morales S.J. (1601-1658).
Gracián verdankt seinen modernen Ruf vor allem der psychologischen Vorliebe des 19. und 20. Jahrhunderts. Doch, — mit welchem Recht darf sich die Psychologie auf Gracián berufen? Psychologie tritt ja nicht einfach in die Erbschaft von allem Wissen um die menschliche Seele. Umfang und Tiefe der Erfahrung, analytischer Geist und formulierender Scharfsinn sind entscheidende Merkmale echter Menschenkenntnis. Sie kommen zu allen Zeiten vor. Die Zugehörigkeit eines Denkens zur Psychologie ist von hier aus nicht zu entscheiden. Die psychologische Fragestellung bezweckt wohl die Erfassung seelischer Tatbestände, jedoch in einer besonderen Sicht, in der sondernden Betrachtung eines abgeschlossenen Zusammenhangs, in den das seelische Leben als Gegenstand eines eigenen Erkenntnisverfahrens abrückt. Psychologie ist also alles weniger als die Umfassung aller bisher geglückten Erkenntnisse über das menschliche Wesen. Sie beschränkt sich darauf, inmitten der Ausbreitung einer verdinglichten und spezialisierenden Kultur die unauflösbaren Restbestände des Seelischen zu ergreifen und in den Nexus der Wissenschaften einzuarbeiten. Ihr Entstehen ist einfach die Antwort darauf, daß die anderen Wissenschaften seelenblind geworden waren.

Kant hatte die Stellung der Psychologie mit großer Vorsicht ausgemittelt und ihr „ein Plätzchen in der Metaphysik“ verstattet, obgleich „sie schon durch die Idee derselben davon gänzlich ausgeschlossen“ wäre. Denkbar war indessen nur eine „empirische Psychologie“. Der Begründer der positivistischen Wissenschaftslehre, Comte, war konsequent genug, um die Psychologie aus seinem System zu. verbannen. Das betrachtende Subjekt kann nicht zugleich betrachtetes Objekt sein: an die Stelle der Psychologie tritt daher folgerichtig die Soziologie. Unterdessen hatte die experimentelle Psychologie den Beweis erbracht, daß sie auf ihrem beschränkten Gebiet mit einem streng naturwissenschaftlichen Induktionsverfahren zu arbeiten verstand. Die Unergiebigkeit dieser Richtung, ihre grundsätzliche Blindheit gegenüber allen eigentlich seelischen Phänomen führte im Verlauf des Ablösungsprozesses von der positivistischen Wissenschaft zu der Entdeckung, daß den seelischen Erscheinungen nur Introspektion und Intuition gerecht werden könne. Das Verhältnis zu den Geisteswissenschaften, die sich ihrerseits zu konstituieren begannen, blieb dabei völlig in der Schwebe.

El Criticón (Erster Teil), Zaragoza 1651,
 von Baltasar Gracián.
Der Erkenntnisanspruch der Psychologie, gestützt auf ein neues Verfahren zur Erschließung der Tiefe und der Innerlichkeit, wuchs ins Unermeßliche — bis die Entdeckung der Intentionalität aller psychischen Vorgänge und die daran gelehnte Beschreibung der außerpsychologischcn Verstehensprozesse von neuem Grenzen setzte, in denen sich die wissenschaftliche Psychologie nie mehr ganz erholen konnte. Die Psychologie war nun mit einem Mal in die Defensive zurückgedrängt. Von allen Seiten wurde ihr Besitzstand streitig gemacht. Aber diese schon vor einem Menschenalter eingetretene Wendung fand außerhalb ihrer wissenschaftlichen Geltung bis heute fast keine Beachtung. Der Grund ist leicht ersichtlich. Man gab eine Stellung nicht leichterhand preis, in der die ersehnte Übereinstimmung einer wissenschaftlichen Methode mit dem Verfahren des außerwissenschaftlichen Menschen endlich erreicht zu sein schien. Das Leben ist naturgemäß immer wissenschaftsfeindlich. Nun aber fand man in der Psychologie die jedermann angeborene Erkenntnisweise, die dem „Technizismus“ und der „Lebensfremdheit“ der Wissenschaft kein Opfer zu bringen brauchte. So kam es zu einer wahren Inflation des Psychologischen, und die Menschenkunde wurde in alle mögliche „charakterologische Disziplinen“ eingebettet. In der Psychologie lag ja die Vorahnung einer Philosophie des Lebens. Ansätze dafür fanden sich schon bei Schopenhauer und Nietzsche. Man konnte fordern, daß diese erneuerte Psychologie „wieder als Herrin der Wissenschaften anerkannt werden möge.“ (Nietzsche)

Oraculo Manual y Arte de Prudencia, 1669,
von Baltasar Graciàn.
Um es noch einmal zusammenzufassen: Die Konstituierung einer eigenen psychologischen Wissenschaft war offenbar gerade dadurch möglich geworden, daß der moderne Wissenschaftsgeist sich aus all den Gebieten zurückgezogen hatte, in denen früher immer die psychischen Momente mitsprachen, in denen der Mensch wie in der Naturphilosophie und Geschichtswissenschaft vergangener Jahrhunderte ein Abbild seiner eigenen Ordnungen vorfand. Der Sieg des mathematisch-naturwissenschaftlichen Weltbilds über die Humanitäten hatte den inneren Menschen gebietsfremd gemacht in der Welt. Der Mensch war sich selbst zum Fremdling geworden, und seine eigene Bemühung setzte seitdem ein, um dieses exterritoriale Wesen im Weltverständnis „irgendwie“ mitzubetreffen. Die Neugier des Psychologen wurde gestachelt durch eine Erkenntnis, die nach der Mitte einer ausgebreiteten Unendlichkeit zustrebt, durch den Kitzel des Machtverlangens, mit etwas Unergründlichem ins Reine zu kommen. Die Psychologie fühlt sich durch das Geheimnis einer vor sich selbst verborgenen oder entäußerten Seele gerufen. Die Weise ihrer seit Nietzsche geübten Beschreibung hat daher immer den Charakter einer Entlarvung. Sie glaubt sich im Besitz eines Schlüssels, um die Geheimschrift der Welt zu entziffern. Das ist der Weg der schematischen Typologie, die ebenso in einem wahnhaften und abergläubigen wie in jedem empirischen System der Wißbegierde und dem Machtverlangen schmeichelt.

Gracián gibt seinen beiden Helden einen solchen „Entzifferer“ (descifrador) als Begleiter mit durch das Maskentreiben der Einbildung. Seine Chiffrierkunst dringt mit ihren emblematischen Schlüsseln in jede Erscheinung. Sie legt mit einem einzigen Kennwort die innerste Absicht bloß. Grammatische Figuren geben mit einem Schlag das Bewegungsgesetz von ganzen Menschengruppen zu erkennen. Der Entzifferer kennt Menschen, die nur Diphthonge sind, bei denen die Mischung der Teile so gründlich verfehlt ist, daß sie nur lose oder in widerspruchsvoller Einheit zusammenhängen. Und neben der verunglückten Harmonie dieser Monstren gibt es die eingeklammerten Existenzen, die Parenthesenmenschen, „die nichts binden und lösen, sondern nur den Weltlauf verwickeln“, diese Ausgeburten der geschöpflichen Verlegenheit. Der Entzifferer ist kein anderer als der Gott der Desillusion (desengaño). Über ihn sind die Meinungen geteilt. Für den abgeklärten Geist Crítilos ist er ein „Sohn der Wahrheit“— für Andrenios noch fester dem Dasein verhafteten Sinn ein „Stiefvater des Lebens“.

Gracians "El Discreto" von 1645, 1693 ins Französische übersetzt [Quelle]
Die Desillusion verallgemeinert eine Grunderfahrung. Die Wahrheit, die sie am Menschen antrifft, bleibt an der Oberfläche der Allgemeinheit hängen. Andrenio und Crítilo brauchen einen neuen Führer, um in tiefere Schichten der menschlichen Seele vorzudringen: den „zahori“, den magischen Herzerkenner, der mit dem schnell umgreifenden Blick der Intuition das Wesen der Menschen ergründet. Im stolzen Bewußtsein eines bisher nie geübten Vermögens wird der magische Seelenführer zum Fürsprecher der Fortschrittslehre. Der Verlust an Gewißheit in einer undurchsichtig gewordenen Welt wird durch den Zuwachs der Erkenntnismacht ausgeglichen. Die schematische Psychologie mit ihrem deduktiven Verfahren drang nicht ins Innere der Seele. Erst der seherische Blick erfaßt den Menschen in seinem Bewegungsantrieb als das aufbauende Prinzip einer Wahrnehmungswelt, die sich ihre Farben zu den Dingen auslegt. Solche Kennerschaft „ermißt den Umfang von größter Tiefe. Man versteht sich vollkommen darauf, ein seelisches Vermögen herauszupräparieren. Man braucht eine Person nur zu sehen, um sie zu verstehen und in ihrem Wesen zu treffen. Mit spärlichem Beobachtungsmaterial, ein großer Entzifferer der verborgensten Innerlichheit! Er merkt scharf, hat ein feines Begreifen und ein sicheres Urteil: er entdeckt alles, alles gewahrt er, alles erreicht er und alles versteht er.“

Kein Wunder, daß die Psychologen hier Morgenluft wittern. Immer wieder spricht Gracián von den „zahoríes del corazón“, den magischen Deutern des Herzens. Sie brauchen keinen Spalt, um ins Innere zu gelangen.

Aus einem Eintrag über Gracián
 in einem spanischen Blog [Quelle].
Gracián teilt mit Machiavelli die Leidenschaft der Analyse, oder, um das ihm teure, damals modische Wort zu gebrauchen, der „seelischen Anatomie“. Es ist die spezifische Operation der Urteilskraft, die „Anatomie der Seele“ zu betreiben. Menschen mit sicherer Urteilskraft vermögen „auf diese Weise ein Subjekt bis ins Innerste zu zergliedern und es dann nach seinen Eigenschaften und nach seinem Wesen zu bestimmen.“ Intuition dagegen überspringt die einzelnen Phasen und setzt sich schlagartig in den Besitz des Innersten. Die Dinge wollen von ihrem Wesen her ergriffen werden. Bloßlegen seelischer Vorgänge erschöpft sich aber in keiner selbstgenügsamen Tatsachenwissenschaft, sondern verhilft ihnen zur Steuerung an die Oberfläche des Bewußtseins. Eine psychologische Theorie gewinnt sich erst in der pädagogischen Praxis. Elend und Glanz liegen so nahe in der menschlichen Welt, daß oft nur ein falscher Einsatz für ein Leben oder über einen Charakter entscheidet. Die große Chance des Lernens bilden die Fehler der andern. Dagegen gehört es zum Wesen der Vollendung, daß sie sich „unergründlich“ macht und dem bestimmenden Zugriff geflissentlich ausweicht. Ein anderes Verfahren ist hier am Platz als bei der Analyse von Fehlern. Die Beschreibung beschränkt sich auf ein andeutendes Evozieren: sie greift nicht, — sie sucht zu umfassen mit einem für alle Unendlichkeiten geöffneten Sprachvermögen.

Andere Geister haben vielleicht zur selben Zeit in tieferen Lagen der menschlichen Seele geschürft (Pascal) oder ihr beschränkteres Wissen zur Einheit des Systems gebracht (wie Vives, Huarte de San Juán, Descartes) oder durch ihre blasierte Haltung in dem Glanz einer rein beschreibenden Haltung den Anschein unbedingter Sachtreue wahren können. Das ist der Fall des Herzogs von La Rochefoucauld, der offensichtlich vielerorten an seinen spanischen Vorgänger anknüpft. Wenn Gracián beispielsweise den Rat gab, den Leidenschaften kurz vor Toresschluß zu entsagen, so heißt es in La Rochefoucaulds Maximen monumental: nicht wir verlassen die Leidenschaften, vielmehr sind es die Leidenschaften, die uns verlassen! Zweifellos faßt die geschliffene Eleganz dieses skeptischen Spruchs nur die eine Seite der menschlichen Wahrheit. Das Streben nach Dauer bleibt ja, auch wenn die Leidenschaft wegging. Mit seiner ewig wiederkehrenden Doppelthese, daß alles Streben auf Eigenliebe und alle Eigenliebe auf Schwachheit beruht, kreist La Rochefoucauld um den Befund des erlösungsbedürftigen Menschen, um den Menschen, der ohne die Gottesliebe ins Nichts absinkt.

Baltasar Gracián, Porträt nach einer Zeichnung
von Vicente Carderera (1796-1880) [Quelle]
Diese negative Theologie gehört ins Vorgelände von Port Royal, wo sich die Christlichkeit des Menschen noch einmal grundsätzlich festmachen konnte. Aber Gracián blieb nicht bei der halben Wahrheit stehen, bei dem Bedürfnis nach Dauer, das in der irdischen Knechtschaft der Leidenschaften verschmachtet. Der Mensch hat es in der Hand, sich selbst zu befreien. Für Gracián ist die Analyse nicht das letzte Wort (das dann zum Stichwort eines zürnenden oder gnädigen Gottes werden könnte). Seine Lebenslehre nimmt sich vor, den Menschen inmitten der Unbeständigkeit in der Richtung der Dauer zu versetzen, ihn flott zu machen für ein Überleben über die Schwäche, und zwar aus eigenster Kraft, mit denselben menschlichen Mitteln, deren Fehlanwendung die Schuld bei jedem Unglück erklärt. Gracián stellt die Seele auf sich selbst, und er weiß einen ersten Beitrag zu der bänglichen Frage an ein unwirtlich gewordenes, ungesichertes Leben: wie werde ich erfolgreich? — Das war mehr als genug, um seinen Ruhm bei der Moderne in einer dauerhaften Weise anzulegen. Diese Wendung ließ Gracián als Vorgänger einer psychologischen Sicht auf den Menschen erscheinen. Sie beweist nicht die größere Bedeutung, Tiefe oder den Vorsprung seiner Lehre vor den Lehren seiner Zeitgenossen, denen das Glück versagt blieb, ins Zwielicht einer Modernität zu geraten. Die moderne Vorliebe für Gracián gilt hier nur als ein Wink für ein ausführlicheres Eingehen auf die Neigungen seines Geistes — sie gibt eine erste Bestimmung für den Vorgang einer Emanzipation der menschlichen Seelenkräfte, der, geschichtlich gesehen, verknüpft ist mit der Emanzipation des politischen Wesens, und als eine politische Setzung erstmals von Machiavelli gewagt worden war.

Werner Krauss (1900-1976),
Romanist und Widerstandskämpfer
Quelle: Werner Krauss: Graciáns Lebenslehre. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main, 1947. Seiten 39-44

Krauss schrieb dieses Buch über den spanischen Moralisten Baltasar Gracián in der Todeszelle des Zuchthauses Plötzensee.



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Mendelssohn für vier Hände (Oktett op. 20 & Sinfonie Nr. 1 op. 11)

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Das 19. Jahrhundert ist als die Blütezeit des Vierhändigen Klavierspiels anzusehen. Schuf doch diese Form des Musizierens nicht nur Freude und Entspannung bei Interpreten und Zuhörenden, sondern bot zudem die Möglichkeit, sich im häuslichen Rahmen mit Orchester- und Vokalwerken zu beschäftigen, die sonst nur im Konzertsaal oder auf der Bühne erklingen konnten. Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847), selbst ein ausgezeichneter Pianist, hat sich des Klavierspiels mit Freunden und Familienmitgliedern ausgiebig angenommen. Zwar komponierte er nur wenige Originalwerke für Klavier zu Vier Händen, doch entstammen seiner Feder nicht weniger als achtzehn Bearbeitungen eigener Stücke, darunter zweier Sinfonien, eines Streichquartetts, mehrerer Ouvertüren sowie der gesamten Musik zu Shakespeares Ein Sommernachtstraum. Dazu kamen verschiedene Arrangements von Werken Haydns, Mozarts, Cherubinis sowie von Ignaz Moscheles.

Als Moscheles den Gewandhauskapellmeister Mendelssohn 1835 in Leipzig besuchte, berichtete er seiner Frau: „Mit ihm spielte ich vierhändig meine Ouvertüre und sein Octett; das ging wieder wie geschmiert […].“ Das Oktett für vier Violinen, zwei Violen und zwei Violoncelli op. 20 gehört zu den bekanntesten Werken Mendelssohns. Es entstand im Spätsommer 1825, knapp ein Jahr vor der Sommernachtstraum-Ouvertüre, und zeigt in eindrucksvoller Weise, wie der heranwachsende Komponist, damals sechzehn Jahre alt, zu seinem charakteristischen Stil fand. Die handschriftliche Partitur, die sich heute in der Library of Congress, Washington, D.C., befindet, wurde am 15. Oktober 1825 beendet und seinem Geigenlehrer Eduard Rietz kurz darauf zum 23. Geburtstag geschenkt. Von besonderer Originalität galt bereits bei den Zeitgenossen der dritte Satz des Werkes, ein leise dahinhuschendes Scherzo, das selbst die sonst kritische Schwester Fanny als „wahrlich gelungen“ bezeichnete. In einer kleinen Biographie führte sie dazu aus: „Er versuchte die Stelle aus Faust zu komponiren:

Wolkenflug und Nebelflor
Erhellen sich von oben,
Luft im Laub und Wind im Rohr
Und Alles ist zerstoben.


[…] Mir allein sagte er, was ihm vorgeschwebt. Das ganze Stück wird staccato und pianissimo vorgetragen, die einzelnen Tremulando-Schauer, die leicht aufblitzenden Pralltriller, alles ist neu, fremd und doch so ansprechend, so befreundet, man fühlt sich so nahe der Geisterwelt, so leicht in die Lüfte gehoben, ja man möchte selbst einen Besenstiel zur Hand nehmen, der luftigen Schaar besser zu folgen. Am Schlusse flattert die erste Geige federleicht auf — und Alles ist zerstoben.”

Mendelssohn selbst hatte eine besondere Affinität zu diesem Satz, der ihm von vornherein besonders gelungen erschien. Dafür spricht nicht nur der Umstand, dass das Scherzo im Zuge der Drucklegung sieben Jahre später als einziger Satz keinerlei nennenswerte Änderungen erfahren hat, sondern auch die Tatsache, dass das Scherzo außerhalb des Oktetts im Rahmen einiger Aufführungen der 1. Sinfonie op. 11 in einer um Bläserstimmen erweiterten Form eine eigene Überlieferungstradition bildete. Diese Sinfonie war zwar bereits 1824, also ein Jahr vor dem Oktett, entstanden, doch als Mendelssohn 1829 auf seine erste Englandreise ging, überarbeitete er das Orchesterstück für das Londoner Publikum. Die Konzerte dort hatten einen so durchschlagenden Erfolg, dass nun ein großes Interesse bestand, das Werk auch in kleinerer Besetzung zugänglich zu machen. Während Mendelssohn eine gewünschte Septettbesetzung ablehnte, ließ er sich doch dazu bewegen, ein Klavierarrangement mit zusätzlichen Streicherstimmen zu realisieren, wobei er wiederum als dritten Satz das Scherzo einbezog, das in dieser Version um 32 Takte kürzer ist als in der Originalfassung des Oktetts.

So erschien 1830 die Sinfonie Nr. 1 in c-Moll op. 11 bei J. B. Cramer, Addison &amb; Beale zunächst ohne Opuszahl als Grand Symphony in einer Besetzung, die im Gesamtschaffen Mendelssohns singulär ist: Klavier zu vier Händen mit Violine und Violoncello ad libitum. Es handelt sich um ein Arrangement auf höchstem künstlerischen Niveau, das sich aufgrund seines teilweise virtuosen Klavierparts an den anspruchsvollen Interpreten richtet. Zudem wird der Charakter eines selbständigen Kammermusikwerkes angestrebt. Der Zusatz ad libitum, der eine gewisse Entbehrlichkeit der Streichinstrumente nahelegen könnte, hatte wohl in erster Linie pragmatische Gründe, die eine Aufführung des Stückes auch dann rechtfertigen sollten, wenn nur zwei Pianisten anwesend waren.

Denn die zusätzlichen Streicherstimmen bieten einen das Klavier auf verschiedene Weise unterstützenden, in den besten Passagen völlig eigenständigen Part, der die drei Instrumente zu gleichberechtigten Partnern im Sinne eines (erweiterten) Klaviertrios werden lässt, so dass eine heutige Aufführung ohne Violine und Violoncello über weite Strecken als Kompromiss empfunden werden dürfte. Die Streicherstimmen verstärken orchestral angelegte Tuttistellen (besonders in den Rahmensätzen), unterstreichen andererseits durch klangfarbliche Kontraste die kammermusikalischen Züge mancher Passagen (besonders eindrucksvoll im 2. Satz durch die hohen Violoncellotöne, die zum Teil über denen der Violine liegen).

Gerade die Möglichkeit, mit Streichinstrumenten bestimmte dynamische Schattierungen vorzunehmen, die einem Tasteninstrument verschlossen sind, machen Violine und Violoncello besonders geeignet zur Ergänzung des vierhändigen Arrangements. So sind es nicht zuletzt diese Ad-libitum-Stimmen, die bei einer Aufführung des Werkes gegenüber der vierhändigen Klavierfassung zu einer stärkeren Klangdifferenzierung und zu der fulminanten Gesamtwirkung dieser Version beitragen.

Quelle: Ralf Wehner, im Booklet


Track 4: Mendelssohn: Oktett op. 20 in der Fassung für Klavier zu vier Händen, IV. Presto

Track 4: Mendelssohn: Oktett op. 20 in der Fassung für Klavier zu vier Händen, IV. Presto


TRACKLIST


FELIX MENDELSSOHN BARTHOLDY (1809-1847)

Octet for four Violins, two Violas & two Cellos in E-flat major, Op. 20
Oktett für vier Violinen, zwei Violen & zwei Violoncelli Es-dur op. 20

Version for piano duet by the composer
Fassung für Klavier zu vier Händen vorn Komponisten

[1] Allegro con fuoco ma moderato 14:05
[2] Andante 7:04
[3] Scherze. Allegro leggiero 4:11
[4] Presto 5:58

Piano Duo Yaara Tal & Andreas Groethuysen

Symphony No. 1 in C minor, Op. 11
Sinfonie Nr. 1 c-moll op. 11

Version for piano duet, with violin & cello (ad lib.) by the composer
Fassung für Klavier zu vier Händen, mit Violine & Violoncello (ad lib.) vom Komponisten

[5] Molto allegro e vivace 9:25
[6] Andante con moto 6:29
[7] Intermezzo 3:46
[8] Finale. Allegro vivace 7:30

Piano Duo Yaara Tal & Andreas Groethuysen
Oliver Wille, Violin
Mikayel Hakhnazaryan, Cello

Total Time: 58:53


Recording: September 9-12, 2008, Funkstudio des SWR Stuttgart
Producer: Marlene Weber-Schäfer Recording Producer: Michael Sandner
Audio Engineer: Martin Vögele Editing: Michael Sandner
(P) + (C) 2009


Sechs Blinde stürzen quer durchs Bild


Pieter Bruegel d. Ä. (ca. 1525-1569): «Der Blindensturz», 1568, Tempera auf Leinwand,
 Museo e Gallerie Nazionali di Capodimonte, Neapel.
Bruegels «Blindensturz» erzählt weniger von persönlicher Verfehlung als vielmehr vom Fall der christlichen Religion

Sechs Blinde haben sich zusammengetan, um gemeinsam zu betteln. Ein Teil der Gruppe wird musizieren, während der andere um Almosen bittet. Wahrscheinlich ist, dass die Gruppe auf dem Weg zur Kirche war, um den herauskommenden Gläubigen aufzuspielen. Das Unglück des kollektiven Sturzes ereignet sich in flacher brabantischer Landschaft. Besonders das spätmittelalterliche Kirchengebäude auf der rechten Bildhälfte sticht ins Auge. Während die meisten Gegenstände des Hintergrunds überschnitten dargestellt und verdeckt sind, ist die Kirche für den Betrachter gut erkennbar. Unser Augenpunkt befindet sich auf ihrer Höhe. Sie ist der Fluchtpunkt unserer Wahrnehmung.

Bruegels Gemälde «Der Blindensturz» stellt den Versuch dar, das Geschehen des Sturzes in seinem Verlauf zu beschreiben. Dabei muss man sich den ungeheuren Anspruch des Künstlers vor Augen führen, bemüht er sich doch, Beschleunigung darzustellen. Zudem stellt das Bild ein Meisterwerk der Affektdarstellung dar. Folgt man den Personen von links nach rechts, so steigert sich Unsicherheit zu blankem Entsetzen.

Diesem formalen Anspruch eines Historienbildes steht der niedere Inhalt des Gemäldes entgegen, will doch nicht recht passen, dass es sich bei den dargestellten Personen um versehrte Menschen handelt. Der Künstler wird allen Ansprüchen eines Historienbildes gerecht und hat dennoch keines geschaffen.

Rivalität der Konfessionen

Als Vergleichsbeispiel für den flämischen Künstler wurde ein Holzschnitt nach Hans Holbein d. J. zur Erklärung herangezogen. Links haben sich einfache evangelische Christen versammelt, die Christus als «wahrem Licht» folgen, rechts hingegen erkennt man die falschen katholischen Würdenträger, die trotz aller Autorität und antiker Gelehrsamkeit in die Grube fallen.

Dieser Hinweis auf den Holbeinschen Holzschnitt ist wichtig, weil er uns die Konfessionalisierung vor Augen führt, die mit der Blindensturz-Ikonografie im Reformationszeitalter einhergeht. Schon vor Bruegel wurde das biblische Gleichnis also genutzt, um die jeweils andere Konfession zu denunzieren. Immer wieder nennt Luther den Papst einen Blindenführer.

Wer je das Gemälde in Neapel hat studieren können, entdeckt, dass man vor der Kirche schemenhaft den Oberkörper eines Menschen erkennt. Durch unsachgemässe Reinigung sind die oberen Farbschichten der Leinwand stark abgerieben, so dass man einige Motive nur erahnen kann. Erst durch den Vergleich mit frühen Kopien des «Blindensturzes» lässt sich der ursprüngliche Motivbestand rekonstruieren.

Dann erkennt man auf der Wiese zwischen der Kirche und den Blinden einen Hirten mit Gänsen und Kühen, der sich auf seinen Stab stützt und in Richtung der Blinden schaut. Dabei entgeht ihm, dass sich eine seiner Kühe entfernt hat und nun im Begriff ist, in einen Wassergraben zu stürzen. Um zu trinken, hat sie sich zu weit vornübergebeugt. Im nächsten Moment wird sie fallen.

Der Fall der Blinden hat im Sturz des Tieres eine Entsprechung. Diese Analogie zielt darauf, dass wir nicht nur den Sturz, sondern im Anschluss daran den untreuen Hirten mit der steinernen Kirche parallelisieren können. Zudem fällt auf, dass alle Kopisten das Werk nach oben und rechts ergänzt haben. Bei Bruegel endet das Bild unmittelbar über der Kirchturmspitze, so dass es nicht zur Darstellung eines Kreuzes kommt. Aber warum fehlt es?

Eine wichtige Verstehenshilfe liefert ein Stich nach Hans Bol aus dem Jahr 1561. Dargestellt sind zwei blinde Jakobspilger, die in einen Bach stürzen. Aber anders als bei Bruegel werden in diesem Stich positive und negative Exempla gegenübergestellt. Im Hintergrund sieht man zwei Menschen, die vor einem Wegekreuz beten. Deutlich wird das dunkle Steinkreuz hervorgehoben, befindet es sich doch auf einer vertikalen Bildachse mit der dahinter befindlichen Kirche.

Bol führt dem Betrachter dadurch vor Augen, dass die katholischen Jakobspilger die christliche Botschaft verfehlt haben, während die fromm Betenden im Hintergrund auf dem rechten Weg zu Gott sind. Die dargestellte Kirche und ihr Kreuzzeichen werden den Blinden ausdrücklich gegenübergestellt. So hat in Bols ikonografischem Konzept das Kreuz durchweg die Funktion, den rechten Glauben anzuzeigen.

Genau diese besitzanzeigende Funktion des Kreuzes findet sich bei Bruegel nicht. Durch seinen Bildausschnitt erzwingt der Künstler die Abwesenheit des Kreuzes. Das Kreuz als Zeichen der Heilsgewissheit taucht nicht auf. Es ist kein besitzanzeigendes Zeichen der Orthodoxie mehr. Im Gegenteil ist das Kreuz lediglich ein weiterer Gegenstand, den die Blinden bei sich tragen. Der zweite Blinde von links trägt es um den Hals. Es bewahrt ihn jedoch weder davor, zu irren, noch davor, zu stürzen.

Schwierige Gottessuche

Wenn dies zutrifft, muss Bruegels «Blindensturz» dann nicht als ein Sinnbild für die Schwierigkeit der Gottessuche gelesen werden? In seinem Bild reicht es offensichtlich nicht aus, ein Kreuz um den Hals zu hängen. Mit einigem Grund hat Hans Sedlmayr im Rahmen seiner Deutung des «Blindensturzes» auf den Gegensatz von Ecclesia und Synagoge hingewiesen.

Der steinernen Kirche stünden die Irrlehren der Häretiker gegenüber, die von den Blinden repräsentiert werden. In mittelalterlicher Kathedralplastik steht dem Triumphkreuz der Kirche traditionell das zerbrochene Herrschaftszeichen der Synagoge gegenüber. Zudem wird deren Blindheit durch eine Augenbinde offenbar. Doch gerade was im Rahmen dieser Opposition so zwingend und einleuchtend erscheint, wird von Bruegel infrage gestellt.

Im Zusammenhang der blinden Synagoge und der Vorstellung häretischer Irrlehren ist es unerlässlich, auf Sebastian Francks «Ketzerchronik» von 1531 hinzuweisen, die sich in der «Chronica, Zeytbuch und geschychtbibel» findet, die schon 1558 ins Niederländische übersetzt wurde. Seine Vorrede beginnt der deutsche Theologe damit, dass der Leser nicht glauben dürfe, er würde wirklich all jene für Ketzer halten, die er im Folgenden aufzählt. Im Gegenteil würde ein solches Urteil nicht dasjenige des Verfassers, sondern des Papstes wiedergeben. Radikaler als Franck kann man es kaum formulieren, der Christus als ersten Ketzer erachtet und die wahren Christen in dessen Tradition sieht.

Bruegels «Blindensturz» und sein «Misanthrop» im Museum Capodimonte
Bruegels «Blindensturz» inszeniert diese Weltsicht. Die Kirche selbst sieht sich am Ende als Blindenführerin entlarvt. Vor dem Hintergrund von Francks positiver Bewertung des Ketzertums erscheint das Bild der Blinden in neuem Licht. Wir haben zu lernen, dass in Bezug auf die Gotteserkenntnis alle Menschen blind sind und es nicht ändern können. So gesehen wäre der Blindenstock ein ambivalentes Dingsymbol.

Solange er als Wissensmetapher fungiert und die prinzipielle Ausschnitthaftigkeit der Erkenntnis vergegenwärtigt, ist er positiv zu bewerten und stellt ein radikales Bild für die prinzipielle Unerkennbarkeit Gottes dar. Wenn man jedoch glaubt, er könne den rechten Weg garantieren, und ihn als zuverlässigen Richtungsindikator missversteht, so, als könne man Gott ertasten, geht es schief, wie wir unschwer erkennen können.

Im Sinn irenischer Theologie erzählt Bruegels «Blindensturz» weniger von persönlicher Verfehlung als vielmehr vom Fall der christlichen Religion. Diese wird zur Blindenführerin, wenn sie sich als eine um Orthodoxie bemühte Institution missversteht. Bruegel wäre nicht Bruegel, würde er nicht auch dem Betrachter des Bildes eine Botschaft mitteilen und ihn zur Selbstbescheidung auffordern.

Bequem könnte sich dieser in einer Welt voller religiöser Irrtümer eingerichtet haben und glauben, dass ihm ein solcher Fall erspart bleibt. Aber das Bild enthält eine Pointe, die auf den Betrachter zielt und ihn auf diskrete Weise ermahnt. Wie beschrieben, ist die Spitze des Kirchturms durch die Bildgrenze abgeschnitten. Allerdings ist genau dieser fehlende Teil des Turms jenseits des Hügels links von der Bildmitte am Horizont sichtbar.

Skulptur von Alexander Taratynov, aus einer Ausstellung im
Katharinenpark bei St. Petersburg [Quelle]
Die Erkenntnis eigener Schuld

Der Maler lässt also den fehlenden Teil des Kirchturms an anderer Stelle wiederauftauchen. Dabei kann man die Kirchturmspitze hinter dem Hügel als Achse für das Geschehen im Vordergrund begreifen. Sie teilt die Personengruppe in diejenigen, die schon im Fall begriffen sind, und jene, die noch fallen werden. Geht man zu weit, wenn man dies als eine Ermahnung des Betrachters verstehen will? Dieser befindet sich in derselben Position wie der dritte Blinde von links, von dem wir nicht wissen, ob er stürzen wird.

Zu Unrecht erhöbe sich der Rezipient über die unglücklichen und verblendeten Menschen des Vordergrunds, läuft doch auch er Gefahr, einer Blindenführerin zu folgen, ohne es zu merken. Seit je gehören Blindheit und Blindensturz im Christentum zu den bestimmenden Exklusionsmetaphern der Orthodoxie. In meiner Deutung des «Blindensturzes» ging es darum, dass der Künstler den ausschliessenden Gegensatz von wahrer Kirche und Irrlehre infrage stellt. Sein Bild kritisiert das Prinzip von Denunziation und Ausschluss.

Jacob Burckhardt hat einmal geschrieben, ein gelungenes Kunstwerk sei wie ein Pfeil, der durch die Jahrhunderte schiesst. Wer in die leeren Augen des stürzenden Blinden schaut, wird dies nicht so schnell vergessen. Denn in diesen Augenhöhlen sehen wir nicht nur den Schrecken angesichts des Sturzes, sondern die jähe Erkenntnis eigener Schuld.

Quelle: Jürgen Müller: Sechs Blinde stürzen quer durchs Bild. Neue Zürcher Zeitung vom 09.04.2017


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Fritz Kreisler spielt Fritz Kreisler

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Liebesfreud, Liebesleid, Schön Rosmarin: Wer kennt sie nicht, die "Alt-Wiener Tanzweisen", jene etwas altmodisch wirkenden, und doch zeitlosen Melodien. Auf der ganzen Welt werden sie gespielt. Ihren Charme entfalten diese kleinen Stücke erst durch die Kunst ihrer Darbietung. Keiner vermochte sie so elegant zu präsentieren wie ihr Schöpfer, der Geiger Fritz Kreisler.

Geboren wurde er am 2. Februar 1875 in Wien-Wieden. Seine Begabung für Musik zeigte sich früh. Mit sieben spielte er dem bekannten Violinisten Joseph Hellmesberger jun. vor und fand prompt Aufnahme in dessen Klasse. Nach drei Jahren schloss Fritz die Ausbildung am Wiener Konservatorium ab. Zwei Jahre später errang er in Paris den "Premier Grand Prix". Als 13-Jähriger debütierte er in Amerika.

Zurück in Wien, ließ der Vater den Buben die Schulbildung nachholen. 1892 maturierte Fritz am Piaristengymnasium. Bis zu seinem Präsenzdienst inskribierte er an der Universität Wien Medizin. "Als Offizier - na gut. Als Arzt - bestenfalls mittelmäßig. Als Musiker - erstklassig", befand Professor Theodor Billroth. Der junge Kreisler hat den Rat verstanden. Inzwischen 20-jährig, wandte er sich nochmals der Geige zu.

Aufstieg in den Olymp

Wenige Wochen Vorbereitung - während der auch die beiden berühmten Kadenzen zu Beethovens Violinkonzert entstanden - sollten genügen, um ein Probespiel für das Hofopernorchester zu bestehen. Kreisler trat an - und scheiterte. "Er kann nicht vom Blatt lesen", beschied ihm der strenge Konzertmeister Arnold Rosé. Dass es just diese Schwäche gewesen sein soll, verwundert. In Rhythmik und Stimmführung war Kreisler firm. Schon als Kind hatte er bei Anton Bruckner Unterricht in Tonsatz. Zudem war er ein ausgezeichneter Pianist.

Fritz Kreisler, 1875-1962
Im Jänner 1898, nur zwei Jahre später, stand Kreisler erneut vor den Mitgliedern des Hofopernorchesters. Diesmal aber nicht als Aufnahmewerber in deren Reihen, sondern als Solist eines philharmonischen Konzerts. Kreislers Spiel fand allseits Anerkennung. Dennoch kam seine Karriere nur langsam in Schwung. Noch fehlte der große, durchbrechende Erfolg.

Am 1. Dezember 1899 war es dann so weit. Kreisler spielte mit den Berliner Philharmonikern unter Arthur Nikisch. Mit dem Mendelssohn-Konzert wollte er sein ganzes Können unter Beweis stellen. Der Industrielle Ernst Posselt hatte ihm diese Chance eröffnet. Kreisler nützte sie. Unter den Zuhörern befand sich auch der berühmte belgische Geiger Eugène Ysaÿe. Er sprang nach dem ersten Satz spontan auf und spendete dem jungen Künstler demonstrativ Applaus. Damit war der Bann gebrochen. Am folgenden Tag überschlugen sich die Kritiken. Kreisler war in den Olymp der Violinisten aufgenommen.

Mit Ysaÿe verband Kreisler seither eine lebenslange Freundschaft. Daher war es für ihn eine Selbstverständlichkeit, dem älteren Kollegen zwei Jahre später auszuhelfen und ohne Verständigungsprobe mit den Berliner Philharmonikern das Beethoven-Konzert zu spielen - allerdings mit einem geliehenen Instrument. Seine Geige hatte Kreisler wenige Tage zuvor in Paris versetzt.

Mit derartigen Eskapaden war es zu Beginn des neuen Jahrhunderts vorbei. Auf der Überfahrt von Amerika nach Europa lernte Kreisler die selbstbewusste, adrette Harriet Woerz Lies kennen, Tochter eines Tabakhändlers aus Brooklyn. Für Kreisler war es Liebe auf den ersten Blick. Noch an Bord der "Fürst Bismarck" verlobten sich die zwei. Im folgenden Jahr heirateten sie.

Fritz Kreisler, 29 yrs old
Eiserne Managerin

Harriet erkannte schnell, dass Kreislers Leben besser organisiert werden muss. Sie managte ihn, drängte ihn zum Üben, bestimmte über sein Leben. Ihren Kritikern - darunter vielen Freunden Kreislers - hielt sie entgegen: "Schließlich kenne ich Fritz am besten. Ich habe ihn geformt. Die ganze Welt lobt das Resultat. Ich weiß, was für ihn gut ist". Kreisler fügte sich. Manch lieb gewordene Gewohnheit gab er für Harriet auf. Zeitlebens blieb er ihr treu ergeben. Wiederholt erklärte er öffentlich in der für ihn so typisch bescheidenen Art: "Alles, was ich als Geiger bin, habe ich Harriet zu verdanken".

Seinen Wohnsitz nahm das junge Paar zunächst in London. Dort brachte Kreisler am 10. November 1910 unter dem Dirigat Edward Elgars dessen Violinkonzert zur Uraufführung. Elgar hatte das Konzert Kreisler gewidmet, der es durch sein Spiel weltweit bekannt machte. Von London aus eroberte Kreisler sämtliche Kulturzentren Europas. Hinzu kamen ausgiebige Amerika-Tourneen. Kreislers Pensum ist beeindruckend. Im Oktober 1912 gab er 32 Konzerte. Im Folgejahr trat er allein sieben Mal in New York auf.

Während dieser Zeit entstanden Kreislers schönste Kompositionen, darunter die "Klassischen Manuskripte". Sie sorgten 25 Jahre später für einen Eklat. Kreisler gab nämlich vor, es handle sich bei dieser Musik um verschollene Werke alter Meister. Die Noten hätte er in einem Kloster bei Avignon entdeckt und den Mönchen um eine erkleckliche Summe Geldes abgekauft. Die Geschichte war frei erfunden. Tatsächlich hatte Kreisler die Stücke im Stil der Barockmusik selbst geschaffen. Just an seinem 60. Geburtstag, den Kreisler in Wien beging, wurde seine Urheberschaft enttarnt.

Fritz Kreisler with colleagues Harold Bauer,
Pablo Casals, and Walter Damrosch
 at Carnegie Hall on March 13, 1917
Eigentlich habe ihn gewundert, dass es so lange gedauert hatte, bis die Herkunft der Stücke hinterfragt wurde, meinte Kreisler lakonisch. Schließlich habe er den Großteil seiner Kompositionen schon 1910 zum Druck freigegeben. Aufgelegt wurden die Stücke zunächst im Schott-Verlag. Die Noten fanden reißenden Absatz. Binnen sechs Monaten waren rund 70.000 Exemplare verkauft.

Man wollte Kreisler nicht nur spielen, sondern in erster Linie hören. Die Sorge, die Leute würden zwar seine Platten kaufen, aber nicht mehr in die Konzerte kommen, war unbegründet. Wer Kreisler auf Schellack hörte, wollte ihn erst recht live erleben. Das neue Medium hat die Popularität des arrivierten Künstlers noch gesteigert. Wiederum hatte Harriet für ihren Mann die richtige Entscheidung getroffen.

Als Mensch blieb Kreisler auch in Zeiten größter Erfolge bescheiden und seinen Prinzipien treu. Er setzte dabei zunächst sein Leben und später die Karriere aufs Spiel. Als ihn 1914 der Einberufungsbefehl erreichte, entzog er sich nicht und sagte alle Konzertverpflichtungen ab. Den Fronteinsatz in Galizien bezahlte er mit einer Verletzung am Bein. Mehr als die physischen Schmerzen trafen ihn aber die Vorwürfe nach seiner Rückkehr in Amerika, er würde mit seinen Konzerteinnahmen die Anschaffung von Kriegsgerät in Europa finanzieren.

Fritz Kreisler playing the violin in an NBC studio premium photographic print
Mehrfach legte Kreisler seine Finanzen offen. Dem greisen Vater lasse er eine kleine Rente zukommen; alles Übrige seien Spenden an Kriegsopfer in der Heimat. Allein, man glaubte ihm nicht. Tief gekränkt zog sich Kreisler zurück und widmete sich bis Kriegsende ganz dem Komponieren. In dieser Zeit entstanden die Operetten "Apple Blossoms" und "Sissy" sowie das - selten aufgeführte - Streichquartett in a-moll. "Es ist mein Bekenntnis zu Wien", wie Kreisler später sagte.

Am 27. Oktober 1919 gab Kreisler in der Carnegie Hall, New York, sein Comeback. Das Publikum jubelte ihm zu. Es war, als wäre er nie fort gewesen. In den folgenden Jahren feierte er Triumphe im Fernen Osten, in Australien und Südamerika. Die Welt aber steckte in einer tiefen Krise. Insbesondere in Europa litten die Menschen als Folge des Krieges an Hunger und Armut. Kreisler übersah sie nicht. Er, der wie kein Zweiter in seiner Branche verdiente, gab auch, reichlich. Vor allem die Kleinsten bedachte das kinderlos gebliebene Ehepaar. Fritz und Harriet überwiesen die Honorare zahlreicher Wohltätigkeitskonzerte; sie verteilten, jährlich zu Weihnachten, selbst geschnürter Hilfspakete.

So berührend diese Herzlichkeiten waren - in einer Frage blieb Kreisler hart: Wilhelm Furtwängler - und die Mächtigen hinter ihm - ließ er wissen, dass er in Deutschland erst wieder auftreten werde, wenn dort auch alle anderen Künstler wieder willkommen seien. Für diese Haltung gab Kreisler sein schmuckes Haus in Berlin Grunewald auf, nahm die Trennung von Freunden und Besitz in Kauf. 1939 wandte er sich endgültig von Europa ab und kehrte nach Amerika zurück.

Die Schrecken eines weiteren Krieges blieben Kreisler erspart, doch wäre er im April 1941 beinahe bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Gedankenverloren überquerte der Künstler die New Yorker Madison Avenue und übersah einen abzweigenden Lastwagen. Diagnose: Schädelfraktur. Wochenlang lag er im Koma. Es war ungewiss, ob er je wieder spielen können würde.

Photographers surrounding the Austrian violinist Fritz Kreisler and his wife,
 Harriet Lies Woerz, upon their arrival on an unknown ship in New York
 Harbor. The gathering of newsmen on ships’ decks was a frequent
 scene in the early 1900s. 1921.
Wertvoller Nachlass

Nach seiner Genesung trat Kreisler noch auf. Er spürte aber, dass es Zeit war, Abschied zu nehmen. Am 1. November 1947 gab er sein letztes öffentliches Konzert. Auf dem Programm stand Chaussons "Poème". Das Autograph hatte ihm Ysaÿe vermacht. Kreisler schenkte es der Library of Congress. Ihr stiftete er auch das Original von Brahms’ Violinkonzert und seine geliebte Konzertgeige, eine Guarneri del Gesù. Die kostbare Bibliothek ließ er zugunsten karitativer Zwecke versteigern. Von anderen wertvollen Violinen, darunter mehreren Geigen von Stradivari, hatte er sich bereits getrennt. Am 29. Jänner 1962 schloss Kreisler, kurz vor Vollendung des 87. Lebensjahres, für immer die Augen. Harriet ist ihm 16 Monate später gefolgt.

Geblieben sind von Fritz Kreisler neben rund 200 Kompositionen und Arrangements zahlreiche Plattenaufnahmen. Sie lassen erahnen, wie innig, zu Herzen gehend sein Ton gewesen sein muss. Die große Sopranistin Nellie Melba riet einst einem Gesangsschüler: "Hören Sie Kreisler zu, wenn er spielt, dann werden Sie wissen, wie man beim Singen zu phrasieren hat." Für den Violinisten Fritz Kreisler kann es kein schöneres Kompliment geben.

Quelle: Peter Kastner: Botschafter der Musik. In: Wiener Zeitung vom 27.01.2012


Track 4: Fritz Kreisler: Liebesleid (recorded 1942)


TRACKLIST

Great Violinists - Kreisler

Kreisler plays Kreisler
(Recorded from 1942-1946)


01 KREISLER: Caprice viennois, Op. 2 4:18
Recorded 15th January 1942 in the Academy of Music, Philadelphia
on matrix CS-07l315-2A.
First issued on Victor 11-8230 in album M-910.

02 KREISLER: Tambourin chinois, Op. 3 3:57
Recorded 15th January 1942 in the Academy of Music, Philadelphia
on matrix CS-071316-2.
First issued on Victor 11-8230 in album M-910.

03 KREISLER: Liebesfreud 3:42
Recorded 15th January 1942 in the Academy of Music, Philadelphia
on matrix CS-071317-1.
First issued on Victor 11-8231 in album M-910.

04 KREISLER: Liebesleid 4:15
Recorded 15th January 1942 in the Academy of Music, Philadelphia
on matrix CS-07l318-1.
First issued on Victor 11-8231 in album M-910.

05 KREISLER: Schön Rosmarin 1:49
Recorded 15th January 1942 in the Academy of Music, Philadelphia
on matrix CS-071320-1.
First issued on Victor 11-8232 in album M-910.

06 KREISLER: La gitana 3:13
Recorded 15th January 1942 in the Academy of Music, Philadelphia
on matrix CS-07l3l9-l.
First issucd on Victor 11-8232 in album M-910.

07 KREISLER: The Old Refrain 3:26
Recorded 4th May 1945 in the Lotos Club, New York City
on matrix D5-RB-740-2.
First issued on Victor 10-1202 in album M-1044.

08 KREISLER: Marche miniature viennoise 3:01
Recorded 9th May 1945 in the Lotos Club, New York City
on matrix D5-RB-750-1.
First issued on Victor 10-1202 in album M-1044.

09 KREISLER: Rondino on a Theme by Beethoven 2:58
Recorded 4th May 1945 in the Lotos Club, New York City
on matrix D5-RB-739-1.
First issued on Victor 10-1203 in album M-1044.

10 HEUBERGER (arr. KREISLER): Midnight Bells 3:44
Recordcd 4th May 1945 in the Lotos Club, New York City
on matrix D5-RB-742-2.
First issucd on Victor 10-1203 in album M-1044.

11 TRADITIONAL (arr. KREISLER): Londonderry Air 3:42
Recorded 4th May 1945 in the Lotos Club, New York City
on matrix D5-RB-741-1.
First issued on Victor 10-1204 in album M-1044.

12 HAYDN (arr. KREISLER): Hungarian Rondo 3:20
Recorded 9th May 1945 in the Lotos Club, New York City
on matrix D5-RB-75l-1.
First issued on Victor 10-1204 in album M-1044.

13 KREISLER: Chanson Louis XIII and Pavane 4:55
Recorded 9th May 1945 in the Lotos Club, New York City
on matrix D5-RC-954-1A.
First issued on Victor 1 l-9265 in album M-1070.

14 NEVIN (arr. KREISLER): The Rosary 2:06
Recorded 20th December 1946 in the Lotos Club, New York City
on matrix D6-RB-3497-2A.
First issued on RCA Victor 10-1395.

15 KREISLER: Stars in My Eyes (from "The King Steps Out") 3:04
Recorded 20th December 1946 in the Lotos Club, New York City
on matrix D6-RB-3498-3A.
First issued on RCA Victor 10-1395.

16 KREISLER: Viennese Rhapsodie Fantasietta 8:35
Recorded 20th December 1946 in the Lotos Club, New York City
on matrices D6-RC-6642-2 and 6643-2.
First issued on RCA Victor 11-9952.


Fritz Kreisler, violin

Charles O'Connell / Victor Symphony Orchestra (Tracks 1 - 6)
Donald Voorhees / Victor Symphony Orchestra (Tracks 7 - 13)
Donald Voorhees / RCA Victor Orchestra (Tracks 14 - 16)

Archivist and Restoration Producer: Mark Obert-Thorn
(P) + (C) 2001



Die Passion



Caravaggios Stationen. Von der Lieblichkeit zur Grausamkeit

Caravaggio: Kopf der Medusa, 1597. Galleria degli Uffizi, Florenz.
Paul Valéry erfand Monsieur Teste und machte ihn zu einem Prominenten des 20. Jahrhunderts. Von seinem intellektuellen Helden wollte Valéry das Äußerste wissen. Er fragte nach den Bildern, die kurz vor dem Eintritt des Todes den menschlichen Geist durchziehen. »Vielleicht«, schrieb Valéry in seinen Cahiers, »werde ich ganz und gar in einem erschreckenden, kurzen Blick enthalten sein.« Weil Paul Valéry alles über diesen »kurzen Blick« erfahren wollte, mußte Monsieur Teste leiden.

Vierhundert Jahre vor Valérys Todeserkundung ging der Künstler Caravaggio als Maler des Schmerzes, der Lust, des Lichts und des »kurzen Blicks« in die Kunstgeschichte ein. Caravaggio verfolgte eine eigene Strategie. Selbstverständlich erzählte auch er die alten Geschichten, die zu seiner Zeit in aller Munde waren, denn jedes Dorfkind sollte die Geschichten von Maria, Joseph und dem Kind, von den Heiligen und Märtyrern, von den Wundern und die Mord- und Totschlagszenen aus der Bibel in- und auswendig kennen.

Der Maler Caravaggio erzählte persönlich und unverwechselbar. Aus den Details heraus sagte er allen, die es sehen wollten, daß sein Vertrauen in die Kataloge menschlicher Tugenden gering war, daß er wußte, was hinter dem Rücken geschah, daß Spieler Falschspieler sind, die ihre Karten im Ärmel verstecken, und gutgekleidete Frauen jungen Männern Ringe vom Finger ziehen, während sie vorgeben, ihnen die Zukunft aus den Händen zu lesen. Caravaggios Abwehr gegenüber christlichen und humanistischen Denkweisen kann bei einer so offensichtlichen Alltagsskepsis jeder erkennen. Alles zusammen ist eine direkte Abwehr und Reaktion auf die ideologischen Auseinandersetzungen seiner Zeit, in der sich die Überlieferungen der Antike mit den Erkenntnissen und dem Verlangen der Frühen Neuzeit kreuzten.

Caravaggio: Knabe mit Früchtekorb, 1593/94, Galleria Borghese, Rom.
Caravaggio inszeniert die alten Geschichten so, daß uns auch heute noch der Atem stockt. Die riskante Dramatik, die er in seine Personen hineinlegte, ließ ihn zum Außenseiter unter den Malern frommer Sujets werden. Caravaggios Erzählungen dringen durch die Oberfläche der Auftragsmalerei zum Kern des Menschlichen vor. Seine Bilder sind nicht zum Schein gemalt. Sie sind subjektive, von den Energien des Unbewußten geleitete Interpretationen. Aber seine künstlerische Produktion steht noch unter einer ganz anderen Spannung: »Das Licht und der Körper, zwei große Mächte!« Valérys pathetischer Ausruf ist der Wegweiser zu Caravaggios Kunst-Dichotomie, von der seine Interpreten bis heute nicht viel wissen wollen. Sie kapitulieren vor dem Realismus dieses Malers und beschwichtigen sich mit dem Fleiß psychologisierender Deutungen.

Die Scheu vor der realistischen Nähe ist Schuld daran, daß Caravaggio, der eigentlich Michelangelo Merisi hieß, entweder unter den Phantasien seiner Interpreten begraben liegt oder zum Joker für Schriftsteller und Filmregisseure wurde. Wer einen Maler verehrt, zieht ihn zu sich, in seine eigene Zeit. Caravaggio, ein ideales Mannsbild, kämpferisch, widerstandsfähig und homoerotisch, schön, stark, zornig und pervers wie der abgeschlagene Kopf Goliaths, der Caravaggios eigenes Selbstbildnis sein soll. In der Euphorie wurden jedes Männerporträt oder jede Männergruppe als Beweisstück gefeiert und seine lieblichen und innigen frühen Magdalena- und Mariendarstellungen übersehen.

»Der Mann namens Caravaggio stößt alle Fenster im Zimmer auf, damit er die Geräusche der Nacht hören kann. Er zieht sich aus, reibt sich mit den Handflächen sanft über den Nacken und legt sich eine Weile auf das ungemachte Bett.« Michael Ondaatje nannte die zwielichtigste Figur in seinem Roman Der englische Patient Caravaggio. Dieser Mann, der eine Karriere als Dieb und Spion hinter sich hat, soll ein Wiedergänger des Malers Caravaggio sein, der in der Zeit der Gegenreformation ein Leben auf der Flucht, ein Leben von Gewalt und Gegenwehr hinter sich brachte. Derek Jarman verfilmte 1986 in Caravaggio die Biographie des Künstlers als homoerotische Ausschweifung. Jarman bediente sich aller Legenden aus dessen Leben und erweiterte es zu einem Tableau nach seinem Geschmack, changierend zwischen Eros und Gewalt.

Caravaggio: Knabe, der von einer Eidechse gebissen wird,
 1594/95. Florenz, Fondazione Longhi.
Bis heute ist Caravaggios Werk mit seiner Biographie eng verflochten. Jeder Interpret ist voreingenommen von Caravaggios persönlicher Geschichte, die blutrünstig, abenteuerlich und ausschweifend war. Die These vom homoerotischen Künstler Caravaggio kann für viele Zwecke gefügig gemacht werden, und schon werden die Enthauptungen von Goliath und Holofernes zum Sinnbild der Kastration, eine Tischplatte ist eine Sargplatte, eine geknotete Schleife, zwei Pfirsiche und Weintrauben sind offensichtliche Zeichen sexueller Passion, die sich in jedem Fetzen nackter Haut, in halbgeöffneten Mündern und hinabrutschenden Blusen abbilden. Nachträglich wurde Caravaggio zum Mitglied homoerotischer Zirkel stilisiert. Das ist mehr als ungenau, denn die »trennscharfe Unterscheidung zwischen Erotik, Homoerotik und Freundschaft« erzwang erst, wie Jutta Held in ihrem Caravaggio-Buch ausführt, die moderne Lebensweise und ihre Rechtsprechung.

Caravaggio hat das Spiel mit Sinnlichkeiten und special effects jedoch selbst angezettelt. Er lieferte die Gruselangebote von Schlangen, Maden, Eidechsen, blanken Schwertern, Blutströmen und Medusenhäuptern, Mördern und Mörderinnen. Er brachte Gewaltdarstellungen in den frömmsten Szenen unter, denn nur zu Beginn seiner Karriere malte er profane Bilder, und schon der Knabe mit Fruchtkorb preßt einen überladenen, mit Feigenblattern dekorierten Korb an seine Brust und fixiert flehentlich den Betrachter. Er will den Korb behalten und gleichzeitig verschenken, denn, ach, es wohnen zwei Seelen in seiner Brust, Eros und Thanatos.

Schon in diesem frühen Bild zählt die Geschichte hinter der Geschichte, der Subtext ist der Stoff, um den es auch in den folgenden Jahren geht. Im Bild vom Knaben, der von einer Eidechse gebissen wird zeigt der Maler seine große Lust an der Übertreibung. Der Schmerz des Echsenbisses verzerrt die Gesichtszüge des Knaben, der sich mit einer Rose hinter dem Ohr geschmückt hat.

Caravaggio: Berufung des Matthäus, um 1600.
Contarelli Kapelle, San Luigi dei Francesi, Rom.
Schönheit und Gefahr war das Gegensatzpaar, das dem intellektuellen Spiel des späten 16. Jahrhunderts seine Aufregung verlieh. Die Eidechse, die auch in Lorenzo Lottos Bildnis vom jungen Mannüber die blaue Fransendecke kriecht, ist ein phallisches Symbol, die Rose gehört zu den Attributen der Venus, die Rose hinter dem Ohr des Jünglings ist ein amouröses Angebot, ebenso die Kirschen und der Jasmin, die über den Tisch verstreut sind. Ein Spiel mit doppelter Bedeutung, so malte Caravaggio Bilder der Lust und versteckte sein Thema hinter der Fratze des Schmerzes.

Michelangelo Merisi kam als provinzieller Fremder aus Caravaggio, einem Ort unweit Mailands, in die »ewige« Stadt. Sein Vater, Signor Fermo, wird mal als Maurer, mal als Haushofmeister oder Architekt im Dienst des Marquese di Caravaggio, Francesco Sforza, eingestuft; mal ist Caravaggio, der 1571 geboren wurde, plebejischer Herkunft, mal Sohn des aufstrebenden Bürgers. Im Alter von elf Jahren schickte seine Mutter ihn nach Mailand zum Bergamesker Künstler Simone Peterzano in die Lehre. Nach dem Tod der Eltern, aber spätestens 1593, setzte er sich nach Rom ab. Ob Caravaggio, wie oft behauptet wird, auf der Reise in Venedig Station machte, ist nicht belegt.

Die Historiker haben sich angewöhnt, von einer Krise im langen 17. Jahrhundert zu sprechen. Ein Grund für die Probleme (die uns fernliegen wie die heutigen Schwierigkeiten der Dritten Welt) war unter anderem die Umstellung der Landwirtschaft auf die Produktionsbedürfnisse der Textilindustrie. Aus Getreideanbauland wurde Weideland für die Schafherden, die Brotversorgung brach zusammen, und das Getreide mußte importiert werden, was so kompliziert war, wie es heute klingt. Rom hatte ein Hungerjahr hinter sich, und niemand wartete auf einen unbekannten Maler aus dem Norden.

Caravaggio: Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, um 1594.
 Galleria Doria Pamphilj, Rom.
Zuerst beschäftigte ihn ein Genremaler, der sein Geschäft unter freiem Himmel betrieb, dann durfte er beim Maler Cavalier d’Arpino Blumen und Früchte malen - was Caravaggio dort lernte, ist auf seinen Bacchusdarstellungen und Obstkorb-Stilleben zu sehen. Schließlich wurde Kardinal Del Monte auf Caravaggio aufmerksam, nahm ihn bis um das Jahr 1600 auf und unter seinen Schutz.

Heute wie damals war Rom die Stadt der großen Synthese, die heidnische Antike trifft auf das Christentum, das eine wächst aus und über dem anderen. Der Mann, der mit seinem Mädchen bei einer großen Demonstration auf der Piazza Navona gerade das rote Tuch mit Hammer und Sichel geschwenkt hatte, als ginge es um sein junges Leben, rollt jetzt seine spitz zulaufende Fahne vor der Kirche S. Agostino ein und stellt sie schräg in die Ecke vor der Tür. Vor Caravaggios Madonna von Loreto in der Cavalletti-Kapelle klopft er ein schnelles Kreuzzeichen auf Stirn, Schultern und Brust. Das Bild zeigt eine Bäuerin und einen Hirten, die breitbeinig mit bloßen schmutzigen Fußsohlen vor Maria knien, sie zieht das Baby an sich, ein Monster unter den Neugeborenen.

Maria spürt das Gewicht des Kindes in ihren Armen nicht, ihre Beine sind übereinandergeschlagen, sie tänzelt auf Spitzen. Maria schaut nicht, wie auf den Bildern vieler Zeitgenossen, auf den Betrachter, sie hat sich den Betenden zugewandt, und ihr Blick ist eine weiche Liebkosung. Der junge Mann und das junge Mädchen und all die anderen, alle die da stehen und sehen, sind gefangen von diesem Blick. Doch das Licht geht aus, der für eine 500-Lire-Münze eingekaufte Strom ist verbraucht, ein allgemein verfluchter Trick der italienischen Bildbetrachtungsregie, es wird wieder dunkel, und das Andachtsbild entzieht sich den Augen.

Ruhe auf der Flucht nach Ägypten,
Detail: Josef und der musizierende Engel
Etwas Klügeres hätte Ermete Cavalletti nicht machen können, als die 500 scudi seiner Hinterlassenschaft zum Erwerb einer Seitenkapelle zu bestimmen, in der das Bild der Madonna von Loreto links vom Haupteingang hängt. Cavalletti wollte sich durch diese gute Tat dem Himmel und allen Heiligen empfehlen. Was auch immer mit seiner Seele geschehen sein mag: Caravaggios Bild ist Balsam fur viele, auch für viele, die ungläubig sind.

Caravaggio wohnte während seiner römischen Zeit, die acht oder neun Jahre gedauert haben mag, auch nachdem er nicht mehr Gast im Haus des Kardinals Del Monte war, immer im Quartier um die Piazza Navona. Del Monte war in Rom wohl eher eine politische Randfigur, aber er umgab sich mit einem ungewöhnlichen Freundeskreis aus Esoterikern und Naturwissenschaftlern, zu dem auch Galilei gehörte, was beweist, daß der Kardinal seine gesellschaftliche Standesgrenze weit überschritt. Außerdem sammelte er Saiteninstrumente, das mag der Grund dafür sein, daß auf Caravaggios Bildern niemals ein Blasinstrument vorkommt.

Von der Piazza Navona zur Kirche S. Luigi dei Francesi ist es nicht weit. In der Contarelli-Kapelle hängen Caravaggios berühmte Szenen aus dem Leben des Matthäus. Das erste der drei Bilder, die Berufung des Matthäus, machte Caravaggio als Lichtmaler bekannt und war Vorbild für den um sich greifenden »Caravaggismus«. Der geniale Beleuchter Caravaggio war ein Maler der Dunkelheit und, wie der lichtbringende Prometheus, ein Aufbegehrer. Er reißt die Finsternis im Raum mit dem hohen verschlossenen Fenster einen Spaltbreit auf, ertappt und erschrickt mit einem diagonal einfallenden Lichtstreifen die fünf um Geld spielenden Männer am Tisch. Mit Daumen und Zeigefinger deutet sich Matthäus ungläubig auf die Brust.

Caravaggio: Büßende Magdalena, um 1597.
 Galleria Doria Pamphilj, Rom.
Als Jugendlicher war W., unser alter Freund, zum letzten Mal in der Galleria Doria Pamphilj. Es ist nicht einfach, in diese Galleria, die nur selten geöffnet ist, hineinzukommen. Eine herrschaftliche Treppe führt in die Belle Etage der Pamphiljs. W. sucht nicht Velázquez’ strenges und maßlos forderndes Porträt von Papst Innozenz X., dessen Augenpaar alle fixiert, die sich ihm nähern. Der Papst, so sagt es Velázquez, wollte keines seiner Schafe dem Wolf oder dem Protestantismus überlassen. Doch W. sucht, er sucht Caravaggios Ruhe auf der Flucht und seine Magdalena, die er im Tonfall der Entrücktheit schon seit Tagen »meine Winter-Somnam bule« nennt. K. preßt, als unser Freund W. die beiden Bilder endlich gefunden hat, ein rigoroses »Unbedeutend«, »Sind doch niemals Caravaggios« heraus, und unser Freund W. dreht sich, uns mit schrecklichen Blicken verdammend, um. Es gibt Bilder, die verstecken sich. Sie blenden und verlangen, geöffnet zu werden. Unser Freund W. ist abgetaucht, unsere Fragen und Bemerkungen, unsere gesamte Existenz nimmt er nicht mehr wahr.

Der Engel auf Caravaggios Gemälde zeigt seine mit einer weißen Schärpe dekorierte Rückenansicht. Das Band weißen Stoffs, das in einem eleganten Schwung von der Taille über die Knie in einem auslaufenden Zipfel den Boden streift: erinnert an Diors berühmte Ballkleider aus den fünfziger Jahren. Auch Tintoretto und Caravaggios Konkurrent Annibale Carracci konnten Schleifen drapieren, aber bei Carracci fallen sie voluminöser aus. Hier entspricht die kurvig fallende Schärpe dem Schwung der rötlichen Locken des Engelskopfs, der im Profil zu sehen ist. Konzentriert streicht der Engelsknabe die Violine, und der alte Joseph, den man zu dieser Zeit eigentlich schon als jüngeren Mann malte, damit die Familienidylle plausibel erscheint, hält die Noten.

Daß es sich bei den aufgeschlagenen Notenblättern um eine Motette aus der Marien-Vesper handelt, haben Musikwissenschaftler herausgefunden, obwohl nur die In- itiale »Q« zu lesen ist. »Quam pulchra es et quam decora carissima in delicii« (»Wie schön, wie hold bist Du, Geliebte, Du Wonnevolle!«). Diesen Text des Hohelieds 7,7—8 hat auch Monteverdi vertont. Bevor der Begriff »Vesper« in den Alltag überführt und das Wort für eine deftige Brotzeit wurde, bezeichnete der lateinische Begriff den beginnenden Abend. In diese Dämmerstimmung versenkte Caravaggio sein durch die Gestalt des Engels in eine Licht- und Schattenseite zweigeteiltes Bild.

Caravaggio: Die Bekehrung des Paulus, 2.Fassung,
 um 1604, Cerasi-Kapelle, Santa Maria del Popolo, Rom.
Joseph sitzt auf dem Gepäcksack, eine Korbflasche ist daran gelehnt. Er hält die Noten und schaut dabei dem Engel direkt in die Augen. Der Esel, dicht an ihn geschmiegt, tut das auch. Diese unmittelbare Nähe ist untypisch für die Zeit, in der man sich von den Tieren fernzuhalten begann. Aber diesen alten Joseph stört das nicht, er reibt sich seine bloßen Zehen aneinander, vor denen Steine liegen, die allen Vorbeikommenden sagen, daß er unfruchtbar ist, damit auch niemand an der Makellosigkeit des Wunderkinds zweifelt. Die rechte Hälfte des Bildes schimmert in honigfarbenes Licht gebettet.

Marias Haupt ist auf den blonden Kopf des Babys gesunken, ihr Arm in dem sanft roten Kleid ist übers Knie gerutscht, die rötlichen Haare, die von einem dünnen goldgelben Schal gehalten werden, der um ihren Ausschnitt fällt, liegen üppig und ungeordnet um ihren Kopf. Das starke Grün des Grases, aus dem Pflanzen mit fetten Blättern wachsen, unterscheidet sich von der Herbstfärbung des Baums und der Farbe des Schilfs, die an einem Bachbett stehen. Auch die filigranen Bäume auf der anderen Seite des Wassers sind schon herbstlich gefärbt.

Der berückende Engel mit den wuchtigen dunklen Vogelflügeln spielt das Vesperlied für Maria und das Kind. Die Melodie vertreibt die Aufregung der Reise, und Maria, auch das sagt der Maler Caravaggio in diesem Bild voraus, wird später die Schmerzensmutter sein, die den Leichnam ihres Kindes auf dem Schoß hält, traurig und starr, wie ihr toter Sohn.

Caravaggios lyrisches Frühwerk gehört zum Genre der Concert champêtre, den ländlichen Konzerten, wie Giorgione sie gemalt hat und wie sie Frankreich im 18. Jahrhundert liebte. Caravaggio hat in das Bild die Träume des Joseph einfließen lassen, die der Evangelist Matthäus aufgeschrieben hat. Im dritten Traum erfährt Joseph, daß Herodes nicht mehr am Leben ist und daß sich der pater familias ganz schnell mit seiner Kleinfamilie auf den Weg in das Heilige Land machen soll.

Caravaggio: Kreuzigung Petri, um 1604.
Cerasi-Kapelle, Santa Maria del Popolo, Rom.
Caravaggios Büßende Magdalena, in der wir Caravaggios Maria-Modell wiedererkennen, hängt in der Galleria Doria Pamphilj gleich neben dem Familienbild. Magdalena ist keine Sünderin, sie ist ein unschuldiges Kind. Sie schläft. Magdalena sitzt auf einem Kinderstuhl. Eine Träne klebt an ihrem Nasenflügel, wie der Tropfen Glyzerin, den Man Ray 1932 seinem Modell aufgeklebt hat. Magdalena schläft mit geöffnetem Mund, das lange glatte rote Haar hängt, im Nacken lose zusammengebunden, auf ihren Schultern, ein paar Strähnen sind auf den weißen weiten Ärmel geglitten, ein braunroter Umhang liegt über ihrem Schoß und fällt in breiten Bahnen auf die Fliesen. Der Damast ihres Kleides ist prachtvoll gemustert, Ohrringe, Perlen, Armbänder, Ketten liegen auf dem Boden, und man sieht das leere Loch, das der fehlende Ohrring hinterlassen hat, in ihrem durchstochenen Ohr. Magdalena schläft vor einem olivdunklen Grund, nur am rechten Bildrand ist ein Dreieck erhellt. Das gläserne Salbgefäß, Attribut Magdalenas, ist zu Dreiviertel mit Salböl gefüllt. Caravaggio malte keine Büßerin, sondern ein schlafendes Kind, ein Bild totaler Unschuld.

Und wieder interpretiert Caravaggio einen überkommenen biblischen Stoff ganz anders als all die Maler seiner Zeit. Tizian zum Beispiel bedeckte den Leib und die üppigen Brüste seiner Maria Magdalena mit nichts als ihrem bodenlangen welligen Haar, und auch die meisten Magdalenen anderer Künstler sind herzerweichende, schuldbeladene Büßerinnen. Soviel Sanftmut wie im Ausdruck der »Winter-Somnambulen« sieht man allerdings auch bei Caravaggio nie wieder.

Caravaggio: David mit dem Haupte Goliaths,
1605/06, Galleria Borghese, Rom.
Um 1600, nachdem er in der Kirche Santa Maria del Popolo die Bekehrung des Paulus und das Martyrium Petri fertiggestellt hat, gerät er aus der Bahn. Wiederholt ist er in Streitigkeiten verwickelt, eine gerichtliche Auseinandersetzung zieht eine andere nach sich. Im Zorn greift er Personen an und beleidigt sie, wirft einem Wirt einen Teller ins Gesicht, trägt illegal Waffen bei sich, randaliert, bleibt seine Miete schuldig und verspottet die Werke anderer Künstler. Als er 1601 im Streit um eine Wette oder um ein Spiel Ranuccio Tommasoni da Terni, Sohn aus einflußreicher Familie, tötet, flieht er. Zuerst nach Neapel, wo er für eine karitative Vereinigung die Sieben Werke der Barmherzigkeit malt, dann nach Malta, dort wird er in den Malteserorden aufgenommen. Als Caravaggio auch in Malta mit der Justiz aneinandergerät und seine Mordtat bekannt wird, entkommt er nach Messina. In Neapel stellen ihn seine Feinde und verletzen ihn schwer. Kardinal Gonzaga versucht für ihn eine Amnestie zu erwirken, Caravaggio macht sich auf den Weg nach Rom und stirbt am 18. November 1610 unterwegs, »so elend«, wie Giovanni Baglione in seinen Vite dè pittori, scultori, et architetti schreibt, »wie er gelebt hatte«.

Die Maßlosigkeit des Gefühls, die sich auf Caravaggios frühen Bildern als wunderbare Ruhe zu erkennen gibt, wird zurückgedrängt von Gewaltdarstellungen, genau und mitleidend erzählt, eine Bilderfolge über erfahrene Schmerzen und den Kummer der Trauernden. David hält in der linken Hand den Kopf Goliaths, der Caravaggios Züge trägt. Die blutige Stirn ist in Falten gelegt, die Augen sind halb geschlossen, der Mund mit den groben Zähnen ist zum Schrei erstarrt.

In diesem Goliathskopf hat sich der Künstler selbst ein Andenken gesetzt. Auch die Naturphilosophie des 16. Jahrhunderts interessierte sich für den Zusammenhang zwischen Körper und Seele. Caravaggio malt den Schmerz und schildert die Empfindung. In dem Gemälde vom enthaupteten Goliath hätte Paul Valérys Monsieur Teste sein Verlangen nach dem kurzen Blick, der das gesamte Leben zusammenfaßt, wiederfinden können.

Quelle: Verena Auffermann: Das geöffnete Kleid. Von Giorgione zu Tiepolo. Essays. Berlin Verlag, 1999. ISBN 3-8270-0309-1. Seiten 97-111


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Mendelssohn: Auf Flügeln des Gesanges (Klavierlieder)

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Mendelssohn Ruf hat mehr Auf- und Abbewegungen erlebt als der eines jeden
anderen großen Komponisten. Zu seinen Lebzeiten wurde er in ganz Europa sowohl als progressiver Romantiker als auch als Erbe der großen barocken und klassischen Tradition gefeiert. Schumann taufte ihn „den Mozart des 19. Jahrhunderts“, während er für Liszt die „Wiedergeburt Bachs“ war. Doch ein Umschwung fand bald nach seinem Tod im Jahr 1847 statt. Obwohl die Musiker weiterhin Mendelssohn wertschätzten (mit der bemerkenswerten Ausnahme von Wagner, der seine „komplexe Gekünsteltheit“ anprangerte) und seine Chorwerke in England und Deutschland weiterhin zu den geläufigsten gehörten, erschienen seine Kompositionen der von der Erotik und dem apokalyptischen Glanz von Tristan und Der Ring der Nibelungen sowie von der großartigen Virtuosität Liszt berauschten Offentlichkeit lahm.

In unserem Jahrhundert sind Mendelssohns Werke allmählich wieder in der Gunst der Hörer gestiegen, da diese Erholung von der fiebrigen, neurasthenisch emotionellen Welt der späten Romantik notig hatten. Heute können wir die Pomposität und die zuckersüße Frömmigkeit einiger seiner Chorwerke und die Kaminfeuersentimentalität der schwächeren Lieder ohne Worte zugeben, während wir seine einzigartige fantastische, poetische und pathetische Ader schätzen, die er mit Hilfe einer Technik ausdrückte, die ebenso raffiniert wie Mozarts war. Tatsächlich scheint Mendelssohn mit seinem (manchmal trügerischen) Schliff und seiner subtilen Beherrschung der klassischen Formen den idealen Formen des späten 18. Jahrhunderts näherzustehen als den subjektiveren Ergüssen seine Zeitgenossen — und forderte damit Hans Kellers Bemerkung heraus, daß er der „einzige natürlich überlegene Rückführer“ des 19. Jahrhunderts sei.

Heinrich Heine (1797-1856)
Es überrascht uns nicht, daß Mendelssohns klassische Orientierung sich in seinem Ansatz bei der Komposition von Liedern widerspiegelt. Carl Zelter, sein brüsker alter Lehrer in Berlin, wollte nichts mit den neuen Ansätzen bei der Vertonung von Texten zu tun haben, mit denen Schubert und weniger bedeutende Wiener Komponisten experimentierten. Zelters Ideal entsprach dem seines engen Freundes Goethe: eine symmetrische strophische Behandlung (d.h., die gleiche Musik wird für jeden Vers verwendet), die das Gedicht für sich selbst sprechen läßt mit bildhafter oder suggestiver und auf ein Minimum beschränkte Tastenmusik. Besonders die Lieder, die Mendelssohn in seiner Jugend bis in seine frühen Zwanziger geschrieben hat, folgen im allgemeinen Zelters Prinzipien, obwohl die lyrische Grazie, die harmonische Subtilität und die schiere Finesse seiner Werke alles, was Zelter und andere norddeutsche Liederkomponisten jemals geschrieben hatten, überstieg.

Typische Beispiele in dieser Einspielung sind das bezaubernde wenn auch phlegmatische Maienlied (Track 4)(Mendelssohn mißachtet die düstere Stimmung im zweiten Vers) und das bewegte Geständnis (3) mit seinen sprunghaften dynamischen Veränderungen. Doch in einer anderen strophischen Vertonung, dem Frühlingsglauben (1), deuten die verbalen Wiederholungen darauf hin, daß wie in verschiedenen späteren Liedern der Komponist entschlossen war, die Worte ohne jede Flexibilität in eine bereits bestehende musikalische Form zu pressen. Mendelssohns Lied verfügt über einen einnehmenden Elan obwohl es unweigerlich neben Schuberts sublimer, tragender Vertonung des gleichen Gedichts leidet.

Marianne von Willemer (1784-1860)
Manchmal hingegen, haben Mendelssohns frühere Lieder doch etwas mit Schuberts inspirierter Einfachheit und geistiger Unschuld gemeinsam, wie zum Beispiel in der Frage (2), deren eröffnende Phrase sowohl im Geständnis als auch im Quartett in a-Moll, Op 13, auftraucht; oder im Gruss (6) mit seinen läutendenden Pedalnoten und seinem wie von selbst vonstattengehenden Wechsel von D-Dur nach H-Dur in „Klinge, kleines Frühlingslied“. Das „Hexenlied“ (5), eine graphische und virtuose Klavierkomposition‚ vermittelt ein Bild der wahnsinnigen Ereignisse beim Hexensabbat auf dem Brocken mit von rasender Energie getriebener Musik im halb spöttischen halb bedrohlichen Ton, die ihre Dynamik aus der hartnäckigen Wiederholung kurzer hämmernder Phrasen bezieht. Die Vertonung des Gedichts Neue Liebe von Heine (7) verfügt über die flinke, fantasievolle Feinheit und die rhythmische Flexibilität von Mendelssohns feenhaften Scherzos. Doch in dem plötzlichen explosiven Sforzandi liegt ein Hauch von Bedrohung; und genau wie im „Hexenlied“ ist die Musik für den dritten Vers neu erfunden und weist eine unheimliche Pause bei Heines charakteristischer überraschenden Wendung in der letzten Zeile auf.

Die variierte strophische Form mit einer modifizierten der vollkommen überarbeiteten letzen Strophe gehört zu den beliebtesten und am meisten in seinen Liedern eingesetzten Formen ab Opus 34 (1837 veröffentlicht). Das berühmteste Beispiel natürlich, ist „Auf Flügeln des Gesanges“ (8), das von den beinahe ohnmächtig werdenden Sopranistinnen in den Salons des Biedermeier und der Gründerjahre geliebt wurden. Obwohl Heine sich offensichtlich nicht viel aus Mendelssohns Vertonung machte, so harmonisiert die exquisite schmelzende Musik doch perfekt und ohne die Rührseligkeit‚ die den Komponisten so oft ergriff, mit der Stimmung des Gedichts. Schubert wird wiederum mit den zwei Suleikaliedern herausgefordert, Vertonungen von Gedichten der Schauspielerin Marianne von Willemer, mit der der alternde Goethe eine seiner leidenschaftlichen Affairen hatte.

Joseph Freiherr von Eichendorff (1788-1857)
Das Lied „Ach, um deine feuchten Schwingen“ (10), dessen gebrochene Akkordbegleitung ebenso wie bei dem Lied „Auf Flügeln des Gesanges“ sich nach dem Bild flatternder Flügel richtet, verfügt über einen reflektiven Pathos, der auffällig im Kontrast zu Schuberts feuriger, aspirierender Vertonung steht; der letzte in Dur gehaltene Vers wird direkt im leidenschaftlicheren zweiten Suleikalied, „Was bedeutet die Bewegung?“ (11) zitiert, und deutet damit an, daß obwohl die beiden Stücke unter verschiedenen Opusnummern veröffentlicht wurden, sie doch als Paar konzipiert waren.

Mit verschiedenen Liedern erzielt Mendelssohn mit äußerst geringfügigen Veränderungen im letzten Vers einen wirkungsvollen Effekt. Das Waldschloss (21), eine von zwei Eichendorffvertonungen, die ohne Opusnummer veröffentlicht wurden; in der dritten Strophe wird der triumphierende Ausruf des Jägers „Die droben‚ das ist mein Lieb!“ durch ein flüchtiges Abgleiten in die verwandte Tonart G dargestellt, was die Schlußzeilen noch mehr voller bitterer Ironie erscheinen läßt. In anderen Liedern modifiziert Mendelssohn die strophische Struktur durch die Hinzufügung einer kurzen Koda wie in dem Wanderlied von Eichendorff (24) mit seiner charakteristischen Erweiterung am Ende eines jeden Liedes, dem Minnelied von Tieck (15) und der wunderschönen Vertonung von Geibels „Der Mond“ (20) mit seiner üppigen, tiefen Begleitung.

Ludwig Uhland (1787-1862)
Noch feiner ist jedoch ein anderes Notturno, das Nachtlied von Eichendorff (23), das ursprünglich 1845 komponiert doch im Herbst 1847 überarbeitet wurde als Mendelssohn sich vom Tod seiner Schwester, Fanny, erholte. Innerhalb weniger Wochen sollte auch er tot sein. Die hartnäckige Synkopierung der Klaviatur verleiht der Feierlichkeit der ersten Strophen eine beunruhigende Schärfe und wird dann zur Steigerung auf einen leidenschaftlichen, gipfelnden Höhepunkt in „Gott loben wollen wir vereint“ eingesetzt. Zusammen mit Werken wie dem Streichquartett in f-Moll, wirkt das Nachtlied der äußerst oberflächlichen Ansicht entgegen, daß Mendelssohns Genie in seinen späteren Werken unwiederbringlich nachließ.

In den 1840ern war Mendelssohn schließlich eher geneigt, das strophische Lied zugunsten eines freien ABA-Arienmusters aufzugeben oder in selteneren Fällen für eine sich frei entwickelnde, durchkomponierte Struktur. Die dreiteilige Form des Lieds „Erster Verlust“ (13) wurde durch ein Gedicht von Goethe inspiriert, doch wie auch in anderen Werken zeigen die häufigen Wiederholungen (die Goethe höchstwahrscheinlich zu einem Wutanfall veranlaßt hätten), daß der Komponist den Text in eine bestehende melodische Form presste. Es ist praktisch unmöglich, Schuberts wunderbarer, bittersüßer Vertonung zu folgen, obwohl Mendelssohns raffiniertere Behandlung mit ihrer ungewöhnlich abwechslungsreichen Struktur in seinen äußeren Abschnitten über einen eleganten Pathos verfügt sowie einen karftvollen, chromatisch intensiven zentralen Höhepunkt.

In dem Lied „Es weiss und rät es doch keiner“ (22) maß der Komponist sein Können an dem Schumanns, der vor kurzem das Gedicht in seinem Liederkreis mit Texten von Eichendorff vertont hatte. Mendelssohns Behandlung ist wiederum aufwendiger, wobei die ersten beiden Verse mit einem nachdenklichen Andante in g-Moll beginnen und die letzten beiden vermitteln ein Bild des Höhenflugs in einem erregten doch übereifrigen Allegro in G-Dur. Wenn keine dieser Vertonungen in Opus 99 eine vollkommen zufriedenstellende Antwort auf das Gedicht ist, so ist die nächtliche Wassermusik des Schilflieds (16) eines von Mendelssohns vollkommensten Liedern mit seiner klagenden melodischen Linie und evokativen, exquisit in Abständen verteilten Begleitung (tiefe Orgelpunkte zur Andeuten des stillen Weihers); um noch ein Detail herauszustellen, beachte man den plötzlichen Wechsel von fis—Moll zu D-Dur bei „im tiefen Rohr“.

Emanuel Geibel (1815-1884)
Wenn Mendelssohn für gewöhnlich schlechter wegkommt, wenn er den gleichen Text wie Schubert oder Schumann behandelt, so komponierte er doch mindestens zwei Lieder, die es sehr wohl mit vergleichbaren Vertonungen der größten Liederkomponisten aufnehmen können: „Des Mädchens Klage“, sein einziges Lied auf der Grundlage von Versen von Schiller und das Sonnet von Goethe „Die Liebende schreibt“. Beide Lieder zeichnen sich dadurch aus, daß sie bemerkenswert frei und flexibel sind was sowohl ihre rhythmische Struktur und den Gesamtentwurf angeht. Des Mädchens Klage (19) ist komplexer und leidenschaftlicher als Schuberts elegische Vertonung von 1815 und ist eines von Mendelssohns aufwendigsten Versuchen in seiner vertrauten Agitato-Ader im 6/8-Takt mit der turbulenten Klaviaturkonfiguration (aufgrund des Anfangs des Gedichts) und gespannten, chromatisch überladenen Linien. Noch feiner ist sein Lied „Die Liebende schreibt“ (12), das er im Sommer 1831 in der Schweiz komponierte (viel früher als seine Opusnummer uns glauben läßt), und übertrifft damit sowohl Schubert als auch Brahms; was die psychologische Durchdringung angeht. Die Musikform wie bei „Des Mädchens Klage“ wird vollkommen von Goethes Text diktiert und Mendelssohn stellt subtil jede Nuance der Sehnsucht und der ekstatischen Erregung der. Die Modulation ist ungewöhnlich breit und ausrucksvoll‚ und die herrliche Erweiterung der Phrase bei „Die einzige; da fang ich an zu weinen“, die die verlassene, sinnliche Melancholie des Mädchens perfekt widerspiegelt.

Quelle: Richard Wigmore (Übersetzung Anke Vogelhuber), im Booklet


Track 8: Auf Flügeln des Gesanges, Op. 34,2 (Heine)

TRACKLIST

Felix Mendelssohn
(1809-1847)

"On wings of song"
Klavierlieder

01. Frühlingsglaube, Op. 9/8 (L. Uhland) [01:40]
02. Frage, Op. 9/1 (J.H. Voss) [01:34]
03. Geständnis, Op. 9/2 (unbekannt) [02:36]
04. Maienlied, Op. 8/7 (J. von der Warte) [01:59]
05. Andres Maienlied, Op. 8/8, 'Hexenlied' (L. Hölty) [02:28]
06. Gruß, Op. 19a/5 (H. Heine) [01:36]
07. Neue Liebe, Op. 19a/4 (H. Heine) [02:05]
08. Auf Flügeln Des Gesanges, Op. 34/2 (H. Heine) [03:34]
09. Frühlingslied, Op. 34/3 (K. Klingemann) [02:42]
10. Suleika, Op. 34/4, 'Ach, um deine feuchten Schwingen' (M. von Willemer) [02:46]
11. Suleika, Op. 57/3, 'Was bedeutet die Bewegnung?' (M. von Willemer) [03:31]
12. Die Liebende schreibt, Op. 86/3 (J.W. von Goethe) [03:05]
13. Erster Verlust, Op. 99/1 (J.W. von Goethe) [03:07]
14. Volkslied, Op. 47/4 (E. von Feuchtersleben) [03:35]
15. Minnelied, Op. 47/1 (L. Tieck) [01:55]
16. Schilflied, Op. 71/4 (N. Lenau) [03:01]
17. There be none of Beauty's daughters (George London, Lord Byron) [02:46]
18. Sun of the sleepless! (George London, Lord Byron) [02:03]
19. Des Mädchens Klage (F. Schiller) [01:51]
20. Der Mond, Op. 86/5 (E. von Geibel) [01:52]
21. Das Waldschloss (J. von Eichendorff) [02:21]
22. Es weiß und rät es doch keiner, Op. 99/6 (J. von Eichendorff) [02:30]
23. Nachlied, Op. 71/6 (J. von Eichendorff) [02:49]
24. Wanderlied, Op. 57/6 (J. von Eichendorff) [01:59]

Time total: [59:24]


Margaret Price, soprano
Graham Johnson, piano

Recorded in Studio 3, Bayerischer Rundfunk, Munich, on 9-11 March 1993
Recording Engineer: Gerhard von Knobelsdorff Editor: Susanne Herzig
Recording Producer: Helene Steffan
Executive Producers: Joanna Gamble, Edward Perry
Front illustration: "In the valley meadow" (1876) by Hans Thoma (1839-1924)
(P) 1994 (C) 2004


Charles Baudelaire: Spleen et idéal


Charles Baudelaire (1821-1867)

ÉLÉVATIONERHEBUNG
Au-dessus des étangs, au-dessus des vallées,
Des montagnes, des bois, des nuages, des mers,
Par delà le soleil, par delà les éthers,
Par delà les confins des sphères étoilées,

Mon esprit, tu te meus avec agilité,
Et, comme un bon nageur qui se pâme dans l’onde,
Tu sillonnes gaiement l’immensité profonde
Avec une indicible et mâle volupté.

Envole-toi bien loin de ces miasmes morbides;
Va te purifier dans l’air supérieur,
Et bois, comme une pure et divine liqueur,
Le feu clair qui remplit les espaces limpides.

Derrière les ennuis et les vastes chagrins
Qui chargent de leur poids l’existence brumeuse,
Heureux celui qui peut d’une aile vigoureuse
S’élancer vers les champs lumineux et sereins;

Celui dont les pensers, comme des alouettes,
Vers les cieux le matin prennent un libre essor,
— Qui plane sur la vie, et comprend sans effort
Le langage des fleurs et des choses muettes!
Hoch über den Weihern, hoch über den Tälern, 
Gebirgen, Wäldern, Wolken und Meeren,
jenseits der Sonne, jenseits des Äthers,
jenseits der Grenzen der gestirnten Sphären

Regst du, mein Geist, dich voll Behendigkeit,
und wie ein guter Schwimmer, dem die Flut behagt,
durchfurchst du froh die tiefe Unermeßlichkeit
mit unsäglicher Lust und männlichem GenuB.

Nimm ferne deinen Flug, sehr fern von diesen kranken Dünsten;
geh, läutere in den höheren Lüften dich,
und trinke, gleich reinem Himmelssaft,
das klare Feuer, das die lichten Räume füllt.

Jenseits der Sorgen und des ungeheuren Grams,
die auf dem nebeldüstren Dasein lasten,
glücklich, wer sich mit kräftigem Flügel
aufschwingen kann den heiter leuchtenden Gefilden zu!

Ihm steigen die Gedanken lerchengleich
in freiem Flug zum Morgenhimmel,
— über dem Leben schwebt er, und mühelos
versteht er die Sprache der Blumen und der stummen Dinge!


CORRESPONDANCES
ENTSPRECHUNGEN
La Nature est un temple où de vivants piliers
Laissent parfois sortir de confuses paroles;
L'homme y passe à travers des forêts de symboles
Qui l'observent avec des regards familiers.

Comme de longs échos qui de loin se confondent
Dans une ténébreuse et profonde unité,
Vaste comme la nuit et comme la clarté,
Les parfums, les couleurs et les sons se répondent.

Il est des parfums frais comme des chairs d’enfants,
Doux comme les hautbois, verts comme les prairies,
— Et d’autres, corrompus, riches et triomphants,

Ayant l’expansion de choses infinies,
Comme l'ambre, le musc, le benjoin et l’encens,
Qui chantent les transports de l’esprit et des sens.
Die Natur ist ein Tempel, wo aus lebendigen Pfeilern 
zuweilen wirre Worte dringen;
der Mensch geht dort durch Wälder von Symbolen,
die mit vertrauten Blicken ihn beobachten.

Wie langer Hall und Widerhall, die fern vernommen
in eine finstere und tiefe Einheit schmelzen,
weit wie die Nacht und wie die Helle,
antworten die Düfte, Farben und Töne einander.

Düfte gibt es, frisch wie das Fleisch von Kindern,
süß wie Hoboen, grün wie Wiesen,
— und andere, zersetzt, üppig und triumphierend,

Ausdehnend sich Unendlichkeiten gleich,
so Ambra, Moschus, Benzoe und Weihrauch,
die die Verzückungen des Geistes und der Sinne singen.


L'HOMME ET LA MERDER MENSCH UND DAS MEER
Homme libre, toujours tu chériras la mer!
La mer est ton miroir; tu contemples ton âme
Dans le déroulement infini de sa lame,
Et ton esprit n’est pas un gouffre moins amer.

Tu te plais à plonger au sein de ton image;
Tu l’embrasses des yeux et des bras, et ton cœur
Se distrait quelquefois de sa propre rumeur
Au bruit de cette plainte indomptable et sauvage.

Vous êtes tous les deux ténébreux et discrets:
Homme, nul n'a sondé le fond de tes abîmes;
O mer, nul ne connaît tes richesses intimes,
Tant vous êtes jaloux de garder vos secrets!

Et cependant voilà des siècles innombrables
Que vous vous combattez sans pitié ni remord,
Tellement vous aimez le carnage et la mort,
O lutteurs éternels, ô frères implacables!
Freier Mensch, immer wird das Meer dir lieb sein! 
Das Meer ist dein Spiegel; du schaust deine Seele
in der unendlichen Entrollung seiner Wogen,
und dein Geist ist kein minder bitterer Abgrund.

Gerne tauchst du in deines Bildes Tiefe;
du umarmst es mit Augen und Armen, und bisweilen
vergißt dein Herz seinen eigenen Aufruhr
über dem Brausen dieser unbezähmbar wilden Klage.

Beide seid ihr finster und verschwiegen:
Mensch, niemals hat jemand deine Abgründe ausgelotet;
o Meer, niemand kennt deinen verborgenen Reichtum,
so eifersüchtig seid ihr, eure Geheimnisse zu hüten!

Und doch unzählbare Zeiten schon
bekämpft ihr unbarmherzig euch und ohne Reue,
so heftig liebt ihr das Gemetzel und den Tod,
o ewige Streiter, o unversöhnliche Brüder!


LA BEAUTÉ
DIE SCHÖNHEIT
Je suis belle, ô mortels! comme un rêve de pierre,
Et mon sein, où chacun s’est meurtri tour à tour,
Est fait pour inspirer au poëte un amour
Éternel et muet ainsi que la matière.

Je trône dans l’azur comme un sphinx incompris;
J’unis un cœur de neige à la blancheur des cygnes;
Je hais le mouvement qui déplace les lignes,
Et jamais je ne pleure et jamais je ne ris.

Les poëtes, devant mes grandes attitudes,
Que j’ai l’air d’emprunter aux plus fiers monuments,
Consumeront leurs jours en d’austères études;

Car j’ai, pour fasciner ces dociles amants,
De purs miroirs qui font toutes choses plus belles:
Mes yeux, mes larges yeux aux clartés éternelles!
Schön bin ich, o ihr Sterblichen! wie ein Traum aus Stein, 
und meine Brust, an der noch jeder, einer um den andern, sich zerschunden,
sie ist geschaffen, dem Dichter eine Liebe einzuhauchen,
die ewig und stumm ist wie der Stoff.

Ich throne in der Bläue gleich einer unverstandenen Sphinx;
ein Herz aus Schnee schlägt unter meiner schwanenweißen Haut;
ich hasse die Bewegung, die die Linien verschiebt,
und niemals weine und niemals lache ich.

Die Dichter vor meinen großen Haltungen,
die ich den stolzesten Denkmalen zu entlehnen scheine,
werden in strengem Forschen ihre Tage verzehren;

Denn mein sind, diese gefügigen Liebhaber zu bannen,
zwei reine Spiegel, die alle Dinge schöner machen:
meine Augen, meine weiten Augen voll ewiger Klarheiten!


REMORDS POSTHUME
SPÄTE REUE
Lorsque tu dormiras, ma belle ténébreuse,
Au fond d'un monument construit en marbre noir,
Et lorsque tu n’auras pour alcôve et manoir
Qu’un caveau pluvieux et qu’une fosse creuse;

Quand la pierre, opprimant ta poitrine peureuse
Et tes flancs qu’assouplit un charmant nonchaloir,
Empêchera ton cœur de battre et de vouloir,
Et tes pieds de courir leur course aventureuse,

Le tombeau, confident de mon rêve infini
(Car le tombeau toujours comprendra le poëte),
Durant ces grandes nuits d’où le somme est banni,

Te dira: »Que vous sert, courtisane imparfaite,
De n'avoir pas connu ce que pleurent les morts?«
— Et le ver rongera ta peau comme un remords.
Wenn du einst schlafen wirst, o schöne Finstere, 
am Grunde eines Grabmals aus schwarzem Marmor,
und wenn du dann als Bett und Haus
nur einen regenfeuchten Keller und eine tiefe Grube hast;

Wenn der Stein, auflastend deiner scheuen Brust
und deinen Flanken, die eine reizende Lässigkeit schmeidigt,
dein Herz dann hindern wird zu schlagen und zu wollen,
und deine Füße, zu laufen ihren abenteuerlichen Lauf,

Dann wird das Grab, als ein Vertrauter meines unendlichen Traumes
(denn immer versteht das Grab den Dichter),
in jenen langen Nächten, aus denen der Schlaf verbannt ist,

Zu dir sagen: »Was nützt es dir nun, unvollkommene Kurtisane,
daß du niemals erfuhrst, was die Toten beweinen?«
— Und der Wurm wird deine Haut zernagen wie ein Gewissensbiß.


Que diras-tu ce soir, pauvre âme solitaire,
Que diras-tu, mon cœur, cœur autrefois flétri,
A la très-belle, à la très-bonne, à la très—chère,
Dont le regard divin t’a soudain refleuri?

— Nous mettrons notre orgueil à chanter ses louanges:
Rien ne vaut la douceur de son autorité;
Sa chair spirituelle a le parfum des Anges,
Et son œil nous revêt d’un habit de clarté.

Que ce soit dans la nuit et dans la solitude,
Que ce soit dans la rue et dans la multitude,
Son fantôme dans l'air danse comme un flambeau.

Parfois il parle et dit: »Je suis belle, et j'ordonne
Que pour l’amour de moi vous n’aimiez que le Beau;
Je suis l’Ange gardien, la Muse et la Madone.«
Was wirst du heute abend, arme einsame Seele, 
was wirst du, o mein Herz, einst ganz verwelktes Herz,
was der Sehr-Schönen, der Sehr-Guten, der Sehr-Lieben,
sagen, von deren Götterblick du plötzlich wieder aufgeblüht bist?

— Wir setzen unsren Stolz darein, ihr Lob zu singen:
nichts gleicht der Süße ihrer Herrschaft über uns;
geistig ihr Fleisch haucht Engels-Duft,
ihr Auge umkleidet uns mit einem Licht-Gewand.

Ob in Nacht und Einsamkeit,
ob auf der Straße in der Menge,
immer tanzt ihr Bild wie eine Fackel in der Luft.

Bisweilen spricht es und sagt: »Schön bin ich, und ich befehle,
daß mir zu Liebe ihr nur das Schöne liebt;
Schutzengel bin ich, Muse und Madonna!«


CONFESSION BEICHTE
Une fois, une seule, aimable et douce femme,
A mon bras votre bras poli
S’appuya (sur le fond ténébreux de mon âme
Ce souvenir n’est point pâli);

Il était tard; ainsi qu’une médaille neuve
La pleine lune s’étalait,
Et la solennité de la nuit, comme un fleuve,
Sur Paris dormant ruisselait.

Et le long des maisons, sous les portes cochères,
Des chats passaient furtivement,
L’oreille au guet, ou bien, comme des ombres chères,
Nous accompagnaient lentement.

Tout à coup, au milieu de l'intimité libre
Éclose à la pâle clarté,
De vous, riche et sonore instrument où ne vibre
Que la radieuse gaieté,

De vous, claire et joyeuse ainsi qu’une fanfare
Dans le matin étincelant,
Une note plaintive, une note bizarre
S’échappa, tout en chancelant

Comme une enfant chétive, horrible, sombre, immonde,
Dont sa famille rougirait,
Et qu’elle aurait longtemps, pour la cacher au monde,
Dans un caveau mise au secret.

Pauvre ange, elle chantait, votre note criarde:
»Que rien ici-bas n’est certain,
Et que toujours, avec quelque soin qu’il se farde,
Se trahit l'égoîsme humain;

Que c’est un dur métier que d’être belle femme,
Et que c’est le travail banal
De la danseuse folle et froide qui se pâme
Dans un sourire machinal;

Que bâtir sur les cœurs est une chose sotte;
Que tout craque, amour et beauté,
Jusqu’à ce que l’Oubli les jette dans sa hotte
Pour les rendre à l’Eternité!«

J’ai souvent évoqué cette lune enchantée,
Ce silence et cette langueur,
Et cette confidence horrible chuchotée
Au confessionnal du cœur.
Ein Mal, ein einziges, du Liebenswürdige und Sanfte, 
stützte auf meinen Arm sich dein blanker Arm
(am finstern Grunde meiner Seele
lebt unverblichen die Erinnerung);

Es war spät; wie eine frischgeschlagene Münze
stand voll der Mond am Himmel,
und nächtlicher Feierschimmer wie ein Strom
ergoß sich auf das schlummernde Paris.

Und längs den Häusem, unter den Toreinfahrten,
huschten die Katzen
mit gespitztem Ohr, oder gleich teuren Schatten
gaben sie langsam uns das Geleit.

Und plötzlich, inmitten der gelösten Vertraulichkeit,
die an der bleichen Helle erblüht war,
entrang dir, du reiches Instrument des Wohllauts,
das nur von strahlendem Frohsinn erklingt,

Dir, der Hellen und Heiteren gleich einer Fanfare,
schmetternd in funkelnder Frühe,
entrang sich klagend eine Note dir,
sehr sonderbar und schwankend

Gleich einem schwachen Kinde, garstig, finster, ekelhaft,
dessen die Eltern sich schämen
und das sie seit langem, um der Welt es zu verheimlichen,
in einem Keller versteckt gehalten.

Armer Engel, sie sang, diese kreischende Note:
»Wie ist hienieden alles ungewiß,
und wie verrät sich immer, ob sie sich noch so sorglich schminkt,
des Menschen Eigensucht;

Welch hartes Handwerk, eine schöne Frau zu sein,
und welch banale Arbeit,
ausgelassen sich und kalt
mit aufgesetztem Lächeln im Tanz zu wiegen;

Wie töricht, auf die Herzen zu bauen;
denn alles wankt und splittert, Liebe und Schönheit,
bis das Vergessen sie in seine Kiepe wirft,
der Ewigkeit sie zu erstatten!«

Oft hab ich mir im Geiste jenen Zaubermond zurückgerufen,
jene Stille, jenes Schmachten,
und jenes gräßliche Geständnis,
hingeflüstert im Beichtstuhl des Herzens.


CHANT D’AUTOMNE HERBSTGESANG
I

Bientôt nous plongerons dans les froides ténèbres;
Adieu, vive clarté de nos étés trop courts!
J'entends déjà tomber avec des chocs funèbres
Le bois retentissant sur le pave’ des cours.

Tout l’hiver va rentrer dans mon être: colère,
Haine, frissons, horreur, labeur dur et forcé,
Et, comme le soleil dans son enfer polaire,
Mon cœur ne sera plus qu’un bloc rouge et glacé.

J’écoute en frémissant chaque bûche qui tombe;
L’échafaud qu’on bâtit n’a pas d’écho plus sourd.
Mon esprit est pareil à la tour qui succombe
Sous les coups du bélier infatigable et lourd.

Il me semble, bercé par ce choc monotone,
Qu’on cloue en grande hâte un cercueil quelque part.
Pour qui? — C’était hier l’été; voici l’automne!
Ce bruit mystérieux sonne comme un départ.

II

J’aime de vos longs yeux la lumière verdâtre,
Douce beauté, mais tout aujord’hui m’est amer,
Et rien, ni votre amour, ni le boudoir, ni l’âtre,
Ne me vaut le soleil rayonnant sur la mer.

Et pourtant aimez-moi, tendre cœur! soyez mère,
Même pour un ingrat, même pour un méchant;
Amante ou sœur, soyez la douceur éphémère
D’un glorieux automne ou d’un soleil couchant.

Courte tâche! La tombe attend; elle est avide!
Ah! laissez-moi, mon front posé sur vos genoux,
Goûter, en regrettant l'été blanc et torride,
De l'arrière-saison le rayon jaune et doux!
I

Bald werden wir in kalte Finsternisse tauchen:
leb wohl, strahlende Helle unsrer allzu kurzen Sommer!
Schon in den Höfen höre ich das Holz zu Boden prasseln,
das auf dem Pflaser unheimlich widerhallt.

Der ganze Winter wird wieder in mich einziehn: Zorn,
Haß, Schauder und Grauen, harte Fron,
und wie die Sonne in ihrer Polar-Hölle
wird mein Herz nur noch ein roter Eisblock sein.

Mit Zittern höre ich jedes Scheit, das fällt;
das Blutgerüst, das man errichtet, tönt nicht dumpfer wider.
Mein Geist ist gleich dem Turme, der von den Stößen
des unermüdlichen und schweren Sturmbocks wankt.

Eingelullt von diesem monotonen Poltern ist mir,
als nagle man irgendwo in großer Eile einen Sarg zusammen ...
Für wen? — Gestern war Sommer; nun kam der Herbst!
Wie Abschied tönt dies geisterhafte Pochen.

II

Ich liebe deiner schmalen Augen grünliches Licht,
du sanfte Schöne, doch heute ist mir alles bitter,
und nichts, nicht deine Liebe, nicht Schlafgemach noch Herd,
kann heute mit der Sonne sich vergleichen, die auf dem Meere strahlt.

Und dennoch, liebe mich, zärtliches Herz! sei Mutter,
auch einem Undankbaren, auch einem Bösen;
Geliebte oder Schwester, sei die flüchtige Süße
prangenden Herbstes oder sinkender Sonne.

Wie rasch ist dies getan! Das Grab schon wartet; es ist voll Gier!
Ach! laß mich, meine Stirn auf deine Knie gestützt,
bedauernd, daß der weiß und heiße Sommer ging,
am sanften gelben Spätjahr-Strahl mich laben!


LE MORT JOYEUX
DER FREUDIGE TOTE
Dans une terre grasse et pleine d’escargots
Je veux creuser moi-même une fosse profonde,
Où je puisse à loisir étaler mes vieux os
Et dormir dans l’oubli comme un requin dans l’onde.

Je hais les testaments et je hais les tombeaux;
Plutôt que d’implorer une larme du monde,
Vivant, j’aimerais mieux inviter les corbeaux
A saigner tous les bouts de ma carcasse immonde.

O vers! noirs compagnons sans oreille et sans yeux,
Voyez venir à vous un mort libre et joyeux;
Philosophes viveurs, fils de la pourriture,

A travers ma ruine allez donc sans remords,
Et dites-moi s’il est encor quelque torture
Pour ce vieux corps sans âme et mort parmi les morts!
In einer fetten Erde voller Schnecken 
will ich mir selber eine tiefe Grube graben,
wo ich meine alten Knochen gemächlich strecken kann
und im Vergessen schlafen wie ein Hai im Meer.

Ich hasse die Testamente, und ich hasse die Gräber;
lieber will ich, statt die Welt um eine Träne anzuflehen,
bei lebendigem Leibe die Raben zu Gaste bitten,
daB sie mein scheußliches Gerippe allerenden schröpfen.

O Würmer! schwarze Freunde, ohr- und augenlos,
seht einen frei und frohen Toten zu euch kommen!
Wohlweise Prasser, Söhne der Fäulnis,

Kriecht unbesorgt durch meine Reste hin
und sagt mir: blieb eine Marter noch für diesen alten Leib,
den seelenlosen und toten unter Toten schon?


Avec ses vêtements ondoyants et nacrés,
Même quand elle marche on croirait qu’elle danse,
Comme ces longs serpents que les jongleurs sacrés
Au bout de leurs bâtons agitent en cadence.

Comme le sable morne et l’azur des déserts,
Insensibles tous deux à l'humaine souffrance,
Comme les longs réseaux de la houle des mers,
Elle se développe avec indifférence.

Ses yeux polis sont faits de minéraux charmants,
Et dans cette nature étrange et symbolique
Où l’ange inviolé se mêle au sphinx antique,

Où tout n’est qu’or, acier, lumière et diamants,
Resplendit à jamais, comme un astre inutile,
La froide majesté de la femme stérile.
In ihren wogenden und schillernden Gewändern 
— selbst wenn sie schreitet, ist es, als tanze sie,
wie jene langen Schlangen, welche heilige Gaukler
am Ende ihrer Stäbe im Takte wiegen.

Wie öder Sand und der Azur der Wüste,
fühllos beide für menschliches Leiden,
wie auf den Meeren Welle zahllos sich an Welle knüpft,
so sich entfaltend zieht sie unteilnehmend hin.

Blank ihre Augen aus zauberhaften Mineralen;
bedeutungsvoll, seltsam ein Mischgebild
aus unbeflecktem Engel und antiker Sphinx,

Wo alles nichts als Gold ist, Stahl, Licht und Diamanten,
erglänzt auf immer in ihr, wie ohne Zweck ein Stern,
die kalte Hoheit des unfruchtbaren Weibes.


Quelle: Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. Vollständige zweisprachige Ausgabe. Aus dem Französischen übertragen, herausgegeben und kommentiert von Friedhelm Kemp. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1997. ISBN 3-423-12349-4

Die optischen Zwischenspiele zu Baudelaires Gedichten stammen von Tamara de Lempicka, geborene Górska (1898-1980).


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Franz Schubert: Schwanengesang (Dietrich Fischer-Dieskau, Gerald Moore, 1969/70) | Aus Spaniens Goldener Zeit. Lyrik von San Juan de la Cruz bis Calderon de la Barca.


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Mozart / Mendelssohn: Violinkonzerte mit Jascha Heifetz

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Wolfgang Amadeus Mozart: Violinkonzert D-Dur, KV 218

Ob Wolfgang Amadeus Mozart ein "Weltgeiger" war, ist aus heutiger Sicht kaum objektiv zu beurteilen. Sein Vater Leopold, der immerhin einer der bedeutendsten Violinpädagogen des 18. Jahrhunderts war und seinem Sprößling schon im zartesten Knabenalter die Geigentöne beibrachte, hielt jedenfalls große Stücke auf das Virtuosentalent des Juniors:

… du weißt selbst nicht wie gut du Violin spielst, wenn du nur dir Ehre geben und mit Figur, Herzhaftigkeit und Geist spielen willst, ja so, als wärest du der erste Violinspieler in Europa.

Solch anerkennende und mahnende Worte schrieb der Ältere im Oktober 1777 an den Jüngeren, der damals gerade in Augsburg weilte. Damals freilich hatte Mozarts Interesse an der Geige bereits nachgelassen. Zwar legte er nach wie vor "bei Abspielung" seiner "letzten Caßationen" soviel Können an den Tag, daß offenbar stets "alle groß darein geschauet" haben; gleichwohl wandte sich Mozart verstärkt seinem Lieblingsinstrument – dem Klavier – zu.

Zwei Jahre zuvor hatte er sich freilich noch in hochfürstlich salzburgischen Diensten als Konzertmeister verdingt. Der anspruchsvolle Erzbischof hätte ihn gewiß nicht in dieser Position akzeptiert, wenn er ein eher mittelmäßiger Geiger gewesen wäre. Als Mitarbeiter der Kirche schuf Mozart in einem bemerkenswert kurzen Zeitraum – nämlich zwischen April und Dezember 1775 die berühmte Fünfzahl seiner populären Violinkonzerte.

Mag sein, daß derlei Arbeiten in seinem Amt ganz einfach erwartet wurden; vielleicht plante er auch, als Solist in eigener Sache auf Tournee zu gehen. Unbestreitbar ist jedenfalls: Die fünf Werke mit den Köchel Nummern 207, 211, 216, 218 und 219 verraten einerseits eine genaue Kenntnis älterer Vorbilder (etwa von Tartini, Locatelli, Nardini oder Borghi); andererseits sprechen sie eine neuartige Sprache. Jedes von ihnen gibt sich als Mitglied derselben Familie zu erkennen und beweist zugleich einen höchst selbständigen, individuellen Charakter.

Die Vier Jahreszeiten, 1988
Wie seine Geschwister, so enthält sich auch das vorletzte Werk der Fünfergruppe jeglicher Zurschaustellung zirkusreifer Bravour. Vielmehr beschränkt sich die Virtuosität des Soloparts auf das Maß des künstlerisch Notwendigen. Trotzdem bot es seinem Schöpfer genug Gelegenheiten, geigerisch zu glänzen. So konnte er voller Stolz dem Vater melden:

Auf die Nacht beim Soupee [19. 0ktober 1777] spielte ich das straßburger=Concert. Es gieng wie Öhl.

Die Bezeichnung "Straßburger Konzert" hat unter den Mozart Forschern einige Verwirrung gestiftet. Man erklärt den Namen heute mit einem musetteartigen Thema im Rondo, das an den "Ballo Strasburghese" aus der Karnevals Sinfonie von Karl Ditters von Dittersdorf erinnert und wohl auf eine Volksweise zurückgeht.

Schon der Beginn des Kopfsatzes bringt zwei Überraschungen, an denen dieses Konzert so reich ist: Verblüffend wirkt die hohe Lage des Soloparts, der durchweg auf subtile Weise mit dem Orchestersatz verschmilzt. Und gleichfalls mit Erstaunen nimmt man zur Kenntnis, daß die marschmäßig intonierte Fanfare des Beginns nirgends wieder aufgegriffen wird – für Mozarts Zeit ein kühner Bruch mit formalen Regeln.

Den ruhenden Pol und damit eine Art geistiges Zentrum der Komposition bildet der Mittelsatz, der formal einem Sonatenhauptsatz mit zwei Themen (aber ohne Durchführung) ähnelt. Hier singt die Solovioline einen unausgesetzten Gesang – "ein Geständnis der Liebe", wie Alfred Einstein es formulierte.

Das abschließende Rondo trägt gleichermaßen französische wie italienische Züge und ist ganz nach dem Kontrastprinzip gebaut. Daß Mozart Humor besaß – wer wollte es angesichts dieses Satzes bestreiten? Das Konzert als ganzes steht übrigens in einem auffallenden Verwandtschaftsverhältnis zu einem um zehn Jahre älteren Stück von Boccherini. Aber die Wege der Musikforschung sind unergründlich: Manche Wissenschaftler argwöhnen, daß Boccherinis angebliches Konzert eine spätere, nach dem Vorbild von Mozarts D-Dur-Konzert gearbeitete Fälschung sei.

Quelle: Wolfgang Lempfrid, KölnKlavier

Papagena, 1988

Wolfgang Amadeus Mozart: Violinkonzert A-Dur, KV 219

Schlussendlich hatte Mozart genug vom Geigen. Im September 1778, als die Rückreise von Paris nach Salzburg bevorstand und die Fron der heimatlichen Hofmusik ihren bedrohlichen Schatten vorauswarf, schrieb er an den Vater: “Nur eines bitte ich mir zu Salzburg aus, und das ist: dass ich nicht bey der Violin bin, wie ich sonst war. Keinen Geiger gebe ich nicht mehr ab; beym Clavier will ich dirigieren.” Es war der Schluss-Strich unter die große Zeit des Geigers Mozart.

Sie hatte im August 1772 mit der Ernennung zum “besoldeten” Konzertmeister der Salzburger Hofkapelle begonnen. Der neue Fürsterzbischof Hieronymus von Colloredo wies dem strahlenden Stern am Salzburger Musikhimmel einen festen Platz am höfischen Firmament zu - einen Platz, an dem Mozart zwar gebührend leuchten, aber nicht über Gebühr strahlen konnte. Denn für seine eigentliche Doppelbegabung als Klaviervirtuose und Opernkomponist hatte der Erzbischof vorerst keine Verwendung. Mozarts wahre Berufung sollte sich erst unter den Auspizien der Mannheim-Paris-Reise fünf Jahre später immer mehr in den Vordergrund schieben. Endpunkt dieser Entwicklung war der zitierte Brief aus Paris vom 11. September 1778. Dieser Bruch in der Biographie erklärt, warum Mozart alle seine fünf Violinkonzerte vor 1777 komponiert hat, genauer: in den Jahren 1773 und 1775. Es waren die großen Jahre, in denen er sich selbst als Geiger sah - fast gleichberechtigt neben seinem Klavierspiel.

Kaum eine Akademie bei Hofe, ohne dass er sich mit einem seiner Violinkonzerte oder im Solo einer Orchesterserenade präsentiert hätte. Leider haben wir von diesen Auftritten im heimatlichen Salzburg keine authentischen Zeugnisse, wohl aber von geigerischen Höhenflügen andernorts. Aus München berichtete Mozart im Oktober 1777 dem Vater: “Zu guter Letzt spielte ich die letzte Cassation aus dem B von mir. Da schaute alles groß drein. Ich spielte, als wenn ich der größte Geiger in ganz Europa wäre.” Der Vater verfolgte diese Auftritte aus der Ferne mit Begeisterung und ermunterte den Sohn: “Du weißt selbst nicht, wie gut du Violin spielst, wenn du nur dir Ehre geben und mit Figur, Herzhaftigkeit und Geist spielen willst, ja so, als wärest du der erste Violinspieler in Europa … O wie manchmal wirst du einen Violinspieler, der hoch geschätzt wird, hören, mit dem du Mitleiden haben wirst!”

Der Wirsingtechnologe, 1978
Das schönste Zeugnis dieser Hochphase von Mozarts Violinspiel ist das A-Dur-Konzert, KV 219. Es ist das längste und anspruchsvollste, melodisch einprägsamste und im Orchesterklang reichste seiner fünf Violinkonzerte. Mozart hat es am 20. Dezember 1775 beendet, kurz vor Weihnachten also, wo sich die Gelegenheit zu einer besonders prachtvollen Akademie bei Hofe geboten haben muss. Sicher dachte er aber auch schon an den bevorstehenden Fasching, da er das Finale als eine regelrechte Maskerade im türkischen Stil anlegte.

Der Beginn des ersten Satzes strahlt eine geradezu elektrisierende Spannung aus: Erwartungsvoll aufsteigende A-Dur-Dreiklänge werden von prickelndem Tremolo grundiert und von herrischen Einwürfen unterbrochen. Später wird der Solist über diesem spannungsvollen Klanggrund sein jubelndes Thema in hoher Lage anstimmen, das sogleich durch Passagen und große Sprünge angemessen brillant daherkommt. Dennoch ist der Satz auch reich an weichen, gesanglichen Episoden. Die schönste von ihnen spielt die Solovioline gleich bei ihrem ersten Einsatz. Statt das kraftvolle Allegro des Orchesters aufzugreifen, lehnt sie sich entspannt zurück und spielt ein Adagio, das wie die zärtliche Arie einer Primadonna wirkt, untermalt von “flüsternden” Terzen der Tuttigeigen. Die zauberhafte Stelle kommt leider nur einmal - ein Theatercoup des geborenen Opernkomponisten Mozart mitten in einem Violinkonzert.

Das folgende Adagio steht in der bei Mozart seltenen Tonart E-Dur und wird völlig von den Seufzerfiguren des ersten Taktes beherrscht, die sich wie ein Band durch den ganzen Satz ziehen. Der Mittelteil wagt sich weit in Mollregionen vor. Für ein Salzburger Violinkonzert war dieses Adagio eigentlich “zu studiert”, wie es der spätere Konzertmeister Brunetti ausdrückte.

Umso unbeschwerter gibt sich das Rondo, zunächst als Menuett. Die Solovioline intoniert das berühmte Thema, das sich im Schlagabtausch mit dem Orchester immer schwungvoller entfaltet. Dann aber macht der Tanz einer romantisch-nächtlichen Episode in a-Moll Platz, die sich alsbald in einen drastischen “Türkischen Marsch” verwandelt, voller fremdartiger Harmonien und krasser Akzente. Die tiefen Streicher missbrauchen ihre Celli und Kontrabässe als Schlagwerk. Der Einschub entfaltet eine angemessen “barbarische” Wirkung, um das Menuett bei seiner Rückkehr noch höfischer und eleganter erscheinen zu lassen. Am Ende macht es sich auf leisen Sohlen davon - ein Mozartscher Scherz. Die türkische Episode dieses Finales übernahm Mozart wirklich aus einer Ballettmusik im türkischen Stil, “Le gelosie del Seraglio”, “Die Eifersüchteleien im Serail”, die er für seine letzte Mailänder Oper “Lucio Silla” skizziert, aber nicht ausgeführt hatte. So fand echte Ballettmusik Eingang in sein schönstes Violinkonzert.

Quelle: Kammermusikführer der Villa Musica Rheinland-Pfalz

Der Schneck, 1988

Felix Mendelssohn: Violinkonzert e-Moll, op. 64

Mit Zeichenbuch und Notenpapier “bewaffnet”, mit einem Strohhut auf dem Kopf und in entspanntester Laune konnte man Felix Mendelssohn in den 1840er Jahren nur an einem Ort beobachten: in Bad Soden am Taunus. Seit der viel beschäftigte Dirigent und Komponist aus dem Norden die schöne Frankfurterin Cécile Jeanrenaud geheiratet hatte, zog es ihn immer wieder in die Bürgerstadt am Main und ihre lieblichen Umgebung, die sich bis in die sanften Hügel des Vordertaunus erstreckt. Bad Soden war seit der Anlage des Kurparks 1821 auf dem besten Wege, sich in einen Treffpunkt der feinen Welt zu verwandeln, und auch die Familie Mendelssohn bewohnte hier 1844/45 eine Sommervilla in der Königsteiner Straße. Von ihr aus konnte der Komponist mit Gattin und Kindern ungestört die Wanderwege zum Taunus erkunden und die wunderschönen Ausblicke genießen, insbesondere den berühmten bei den “Drei Linden” in Neuenhain, wo später auch Tschaïkowsky und Wagner im sanften Anblick der Taunuslandschaft schwelgten. Hier entwarf und vollendete Mendelssohn im Sommer 1844 sein Violinkonzert – man wäre geneigt, den schwärmerischen Zug des Werkes unmittelbar in die Landschaft hineinzuprojizieren, wäre Bad Soden heute nicht nurmehr ein nobler Vorort von Frankfurt, unweit des Rhein-Main-Flughafens gelegen und entsprechend bedrängt vom Flug- und Straßenlärm. Damals trübten keine Bausünde und keine Autobahn die Idylle, wie uns Mendelssohns e-Moll-Konzert eindrucksvoll vor Ohren führt.

Das Werk ist ein Liebling des Publikums wie der Virtuosen. Darüber vergisst man leicht, wie viel Neuerungen Mendelssohn in dieses eine Stück hineinlegte, etwa die Position der Solokadenz mitten im ersten Satz, sowie die Anlage dieses Geigensolos, das wie eine auf vier Saiten reduzierte Orchesterdurchführung wirkt. Dass alle drei Sätze ineinander übergehen, ist ebenso originell wie der unprätentiöse Einstieg. Die Violine beginnt ohne langes Orchestervorspiel gleich mit dem Hauptthema, dessen schwärmerische Linie Mendelssohn offenbar so lange im Kopf herum gespukt hatte, bis er das Konzert endlich ausarbeitete. Im Hauptthema liegt der Kern des Ganzen. Dies spürt man auch später noch, in der harmonisch gewagten Überleitung vom Kopfsatz in den langsamen Satz und besonders in der Überleitung zum Finale. Dessen elfenhaft flirrendes und schwirrendes Hauptthema wandert von der Violine munter ins Orchester und zurück und entzündet dabei ein wahres Feuerwerk an Instrumentationseffekten.

Quelle: Kammermusikführer der Villa Musica Rheinland-Pfalz

Der König (Schach), 1988

Track 9: Mendelssohn: Violinkonzert op. 64 - III. Allegretto non troppo - Allegro molto vivace

TRACKLIST

Mozart - Mendelssohn: Violin Concertos

Jascha Heifetz, Violin


Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)

Violin Concerto N°4 in D major, K. 218 [21:31]
01. 1. Allegro [08:05]
02. 2. Andante cantabile [06:43]
03. 1. Rondeau: Andante grazioso - Allegro ma non troppo [06:47]
(Cadenzas by Heifetz)
Thomas Beecham; Royal Philharmonic Orchestra
Recorded on 10th November, 1947 in EMI Abbey Road Studio No. 1

Violin Concerto N°5 « Turkish » in A major, K. 219 [27:30]
04. 1. Allegro [09:55]
05. 2. Adagio [10:50]
06. 3. Rondeau: Tempo di menuetto [06:44]
(Cadenzas by Joseph Joachim)
John Barbarolli; London Philharmonic Orchestra
Recorded on 23rd February, 1934 in EMI Abbey Road Studio No. 1

Felix Mendelssohn (1809-1847)

Violin Concerto in E minor. Op. 64 [24:24]
07. 1. Allegro molto appassionato [11:00]
08. 2. Andante [07:24]
09. 3. Allegretto non troppo - Allegro molto vivace [05:54]
Thomas Beecham; Royal Philharmonic Orchestra
Recorded on 10th June, 1949 in EMI Abbey Road Studio No. 1

Playing Time: [73:27]

Producer and Audio Restoration Engineer: Mark Obert-Thorn
(C)+(P) 2000



Fritz von Herzmanovsky-Orlando


Maskenspiel der Genien


Kapitel I

Selbstbildnis
Es ist eine traurige, aber unbestreitbare Tatsache, daß die Welt dem Phänomen Österreich mit tiefem Unwissen gegenübersteht. Sie nimmt gerade noch zur Kenntnis, was ein paar im Ausland verlegte Reisehandbücher über die gängigen Touristenrouten an Falschem aussagen, und damit gut.

Nicht geringe Schuld an diesem beklagenswerten Zustand tragen die internationalen Fahrplankonferenzen, die es zustande bringen, daß bedeutende Schnellzugslinien, deren Expresse unter Pomp, Gestank und Donner von irgendeiner Grenzstation abgelassen werden, im Innern Österreichs schon nach kurzer Frist spurlos versickern, nachdem sie irgendwann auf der Strecke durch einen rätselhaften Abschuppungsprozeß den Speisewagen verloren haben. Meistens geschieht das in der Gegend von Leoben, diesem Gewitterwinkel des europäischen Reiseverkehrs. »Leoben … ja, Leoben! Ein Zug, der was da drüberkummt, der is aus’n Wasser!« Dies die ständige Redensart der großen österreichischen Eisenbahnfachleute (indessen die Anteilnahme der übrigen Chargen am Bahnbetrieb hauptsächlich darin besteht, mit Kind und Kegel, umsonst oder um hohnvoll kleine Beträge, in der Luxusklasse der Netze spazierenzufahren). Mehr als einmal habe ich es erlebt, daß alte, erfahrene Stationschefs einem aus Leoben ausfahrenden Expreß lange kopfschüttelnd nachschauen, wobei sie wohl auch ein kaum hörbares »Wieder einer …!« vor sich hin murmeln. Dann gehen sie ins Dienstzimmer zurück, stellen die Telegraphenleitung ab, werfen sich seufzend aufs schwarzlederne Sofa und stöhnen noch lange: »jo … jo, jo … jo«, ehe sie in traumgequälten Schlummer versinken.

Unter solchen Umständen ist es kein Wunder, man weiß im allgemeinen nur wenig von jenem eigentümlichen Staatengebilde, welches knapp nach dem Laibacher Kongreß von 1821 ins Leben trat und sich seither immer weiterfrißt, unmerklich und unaufhaltsam, bis es eines hoffentlich nicht allzu fernen Tags die Welt erobert haben wird.

Verschiedene Herrschaften, 1986
***

Am Laibacher Kongreß war vernünftigerweise beschlossen worden, zwischen die deutschen, slawischen und romanischen Gebiete im Südosten Europas einen Pufferstaat zu legen, das »Burgund der Levante«, wie einige es poetisch benannten, und sie hatten so unrecht nicht. Denn gerade Burgund hängt innig mit dem Osten zusammen, gerade Burgund hatte das ganze Mittelalter hindurch nach der Herrschaft über die Levante gestrebt und hatte im Verlauf der Kreuzzüge nicht nur Griechenland, sondern dazu noch Teile Vorderasiens erobert, wo es das Königreich Jerusalem und die Fürstentümer Edessa, Tripolis und Antiochia gründete. In Griechenland zählten Athen, Elis, Achaia und Korinth zu den stolzesten burgundischen Eroberungen. Nirgends herrschte solcher Glanz wie an diesen Höfen, und besonders Achaia war lange Zeit das Vorbild allen höfischen Lebens und eine Hochburg des Minnesangs.

Daß der neuzugründende Pufferstaat eine streng monarchische Konstitution bekommen mußte, erklärte sich ohne weiteres aus der Epoche seiner Entstehung. Kopfzerbrechen gab es nur über die Frage der Dynastie, denn es kamen mehrere Häuser in Betracht. Dem großen Bayernkönig Ludwig zum Beispiel lag der Orientkenner Fallmerayer unaufhörlich in den Ohren, beschwor ihn, alte Anrechte geltend zu machen, und pinselte Sr. Majestät in glühenden Farben ein Kaisertum Kärnthen vor Augen. Zum Glück brach bald darauf der von England zur Ablenkung arrangierte griechische Freiheitskampf aus, und die im Londoner Nebel gebrauten Machenschaften leiteten die wittelsbachische Gefahr nach Hellas um. Jetzt schien dem Hause Coburg der neue Thron gewiß. Aber da raunzte Kaiser Franz und wollte dort eine Quartogenitur der Habsburger errichten, was wiederum die anderen Herrscherfamilien lebhaft zu verschnupfen begann. Endlich, als das europäische Gleichgewicht schon so weit verschleimt war, daß man wie einen dumpfen Husten die Säbel rasseln hörte, ließ Metternich seinen Geist leuchten. Die von ihm gefundene Lösung war einfach, war so dynastisch wie möglich und war zugleich so durch und durch dem tiefsten Volksempfinden, ja den Idealen des kommenden Jahres 1848 angepaßt, daß wir wieder einmal mit ehrfürchtigem Staunen den kühnen Gedankenflug dieses bedeutenden Staatsmannes bewundern müssen: er schuf das Reich der Tarocke, von Nörglern, denen nie etwas recht ist, auch das »Spiegelreich des linken Weges« geheißen.

Saturn, 1991
Die Verfassung war vorbildlich. Sie basierte auf den strengen Gesetzen des in Österreich ungemein populären Tarockspiels, dessen esoterische Bedeutung viel zur Lösung des Welträtsels beitragen könnte (aber das ginge weit über den Rahmen dieser schlichten Erzählung hinaus). Nach Art der antiken Tetrarchen herrschten im neuen Reich vier Könige, die nach einer geradezu genialen Methode alljährlich neu gewählt wurden. Der Begrenzung ihres Wirkens auf ein Jahr lag die Beobachtung zugrunde, daß bei einem Tarockspiel, wenn es ein ganzes Jahr in Gebrauch ist, die Könige bis zur Unkenntlichkeit verschmutzt werden. Und man kann zwar die Könige eines Kartenspiels notdürftig mit Benzin reinigen, fleischerne Könige aber nicht.

Grundlage für die Wahl der Landesväter war das Sogenannte »Normaltarockspiel«, das in der Hauptstadt des Landes aufbewahrt wurde — vergleichbar dem »Urmeter« zu Paris, dieser Stadt der gockelhaft aufgeblasenen Symbole. Das Kartenpaket wurde Tag und Nacht von einer Nobelgarde bewacht und alle vierzehn Tage durch Gelehrte von Weltruf gemischt und kontrolliert. Die vier Männer, die man alljährlich zu Monarchen machte, mußten lediglich die eine Bedingung erfüllen, den Königen des Normaltarockspiels möglichst ähnlich zu sehen. Durch dieses Wahlsystem war jedem Schwindel und jeder Korruption der Weg abgeschnitten. Männer aller Stände, ohne Ansehen von Bildung, Abkunft und sogar Sittsamkeit, gelangten solcherart zur erhabensten Würde — ein Vorgang, wie ihn nur noch das Papsttum für sich in Anspruch nehmen darf.

Der mächtigste Mann im Reich war der »Sküs«, benannt nach der höchstwertigen, wenngleich ein wenig harlekinartig kostümierten Figur des Kartenspiels. (Doch wurde von dieser unbedeutenden Äußerlichkeit die erhabene Würde seiner Stellung nicht in Mitleidenschaft gezogen; große Staatsmänner wirken nach außenhin immer ein wenig komisch). Der Sküs also lenkte die Staatsgeschäfte mit diktatorialer Gewalt, schüttelte unaufhörlich neue Gesetze aus dem Ärmel und tat mindestens einmal in der Woche irgend etwas Umwälzendes. Ihm zunächst an Rang und Ansehen stand der »Mond«, seinem Ziffernwert nach ein Einundzwanziger, was ihn in den Augen vordergründiger Tarockspieler lediglich dazu befähigt, die zwanzig übrigen Tarocke zu stechen; davon, daß diese Figur den einundzwanzigsten Grad einer höchst mystischen Freimaurerei bekleidet, weiß man am Stammtisch natürlich nichts. An dritter Stelle rangierte der »Pagat«, der als Finanzminister eine sehr wichtige Stimme hatte. Alle drei zusammen bildeten die »Trull«, ein niemals zu stürzendes Kabinett.

Der Pressezar, 1986
Das Reich umfaßte bei seiner Gründung einen nicht unbeträchtlichen Teil Südösterreichs‚ ehemals Freysingisches, Salzburgisches, Bambergisches und Brixner Enklavengebiet, grenzte im Norden an die Steyermark und Kärnthen, im Osten an Kroatien, reichte im Süden ans Meer und im Südwesen bis an die Grenze des märchenversponnenen Lagunenreichs Venedig, das es wohl als ersten Fremdkörper verschlingen wird. Denn welche andere Stadt wäre so phantastisch und unwirklich, wäre so wenig von dieser Welt und darum so sehr geschaffen für den Übergang ins Traumreich!

Um hier nur eine Kleinigkeit ins Treffen zu führen: noch kein normaler Mensch, einschließlich der geborenen Venetianer, hat sich in Venedig jemals ausgekannt. Ich selbst, der ich dort jahrelang das Gymnasium besuchte, habe zum väterlichen Palazzo, obwohl er keine drei Minuten vom Markusplatz entfernt lag, nur mit Mühe und manchmal erst nach stundenlangem Suchen heimgefunden. Wie oft erschien ein Professor nicht zum Unterricht, weil er sich verirrt hatte! Wie oft traf ich meine Mutter mit einer störrisch schluchzenden Magd — sie hatten beim Einkaufen den Weg verloren! Oder ich sah irgendwo meinen Vater, düster zu Boden blickend, am ergrauten Schnurrbart kauend und bisweilen heftig mit dem Stock gegen das Pflaster stoßend. »Geh nur nach Hause, mein Kind«‚ pflegte er mir auf meine besorgten Erkundigungen zu antworten. »Ich lasse Mama grüßen, und sie möchte die Suppe auftragen lassen. In längstens fünf Minuten bin ich da.« Aber nicht selten wurde es Abend, ja tiefe Nacht, ehe der übermüdete Mann sich endlich zur Mittagstafel setzen konnte.

Der Spielmann, 1989
Es gehört nämlich zu den sonderbaren Marotten jedes auch nur vorübergehend in Venedig Seßhaften, lieber obdachlos umherzuirren, als nach dem Weg zu fragen, geschweige denn sich führen zu lassen. Das würde auch gar nichts nützen. Immer wieder habe ich selbst Eingeborene der Lagunenstadt — darunter Briefträger und Polizisten oder städtische Ingenieure mit Meßlatten — wehklagend vor Madonnenbildern gefunden: falsche Scham verbot diesen Unglücklichen, Auskünfte über den Weg einzuholen. So wandten sie sich in ihrer Verzweiflung an die höheren Mächte, und die Kirche strich schmunzelnd manchen Batzen für die Gelübde der Verirrten ein. Übrigens bekommt man in Venedig außer den fehlerhaften Kursbüchern, die in ganz Italien zu stark herabgesetzten Preisen erhältlich sind, um ein wahres Spottgeld auch falsche Stadtpläne zu kaufen. Es ist ja doch alles eins. Sogar geistlos kopierte Schnittmuster werden dem naiven Reisenden als Stadtplan aufgeschwatzt.

Damit dürfte auch das auffallend rege Straßenleben der im Grunde nur wenig bevölkerten Stadt endlich eine Erklärung gefunden haben: es kommt von den vielen Verirrten.

***

Als Metternich die eisenfesten Grundzüge der tarockanischen Konstitution für die Ewigkeit verankert und somit dem nordischen Ordnungsgeist Genüge getan hatte, tauchte die Frage auf, was mit den Südprovinzen geschehen solle und wie dort wohl die nötige Zufriedenheit zu schaffen sei, damit das unter der Asche glimmende Feuer der neuen nationalen Bewegungen nicht als lodernde Flamme emporschlage. Nach langem Grübeln kam dem genialen Staatsmann der rettende Gedanke: man mußte ein uraltes, zutiefst poetisches Volksideal zur politischen Realität machen, mußte das geheimnisvolle Maskenreich verwirklichen, die wahre Lebensform des Südens, die bisher nur in den Figuren der Commedia dell’arte zu traumhaftem Dasein erwacht war.

Der Trompetenreiter
Und wie einstmals aus den von Kadmos gesäten Drachenzähnen die Geharnischten sich aus den Furchen des Ackers erhoben, tauchten jetzt schellenklingend die Legionen des Harlekinheeres auf, geführt von ernsten, krummnasigen Scaramuzzen mit riesigen schwarzen Nasenlöchern, von Brighella, dem Vertreter der Fresser und Prahler, von Policinello, dem Bajazzo mit Höcker und Hakennase, vom alten Pantalone, in dem der ängstliche, geizige, verliebte und vielgeprellte Kleinbürger sich ausgeprägt sah. Der schwatzhafte Dorsemus der Antike hatte sich zum Dottore gewandelt, zur Inkarnation des Rechtsgelehrten, der die Leute beschwatzt und betrügt. Die höheren Stände fanden sich mit befriedigter Eitelkeit im schwadronisierenden Tartaglia verkörpert, das Militär, insonderheit die Generalität, im Napparoni Flagrabomba und im Capitano Spavento, die alten Kriegshelden im Malagamba und im Capitano Cuccuruzzù. Dem Arlecchino, damit er nicht zu üppig werde, waren als Konkurrenten der tölpelhafte Truffaldino und die dummdreisten Mezzetin und Gelsomino beigegeben. Das schöne Geschlecht spiegelte sich lieblich in der sanften Colombine, der pikanten Zerbinetla, in Pulcinella, Spiletta, Zurlana und Civetta. Figuren der Ewigkeit waren das, vom wackeren Ficoroni festgehalten in seinem prachtvollen, wenn auch planlosen Kupferstichwerk »De larvis, scenis et figuris comicis, Romae 1754«.

Sie alle gelangten in Tarockanien alsbald zu hohen gesellschaftlichen Würden und wichtigen Ämtern. In stilvoller Maskerade beherrschten und regulierten sie das öffentliche Leben. Immer wirbelten sie bunt durcheinander, unkomplimentierten sich aufs feierlichste, ohne das geringste zu arbeiten und ohne etwas anderes als pompöse, ruhmtriefende Erlässe hervorzubringen. Selbst bei der Verlegung von Hundehütten oder anläßlich der Erneuerung eines Sitzbrettes auf einer ländlichen Bedürfnisanstalt gab es Flaggen, Spaliere, Ehrensalven und stundenlange pathetische Reden. Gelegentlich konnte es geschehen, daß zum Abschluß der Feierlichkeiten auf schäumendem Renner der Schlußmann einer Stafette herangebraust kam, um zu melden, daß man an falscher Stelle amtiert habe. Doch tat das der gehobenen Stimmung und der allgemeinen Selbstzufriedenheit keinen Abbruch. Und erfahrungsgemäß sind es gerade solche Staaten, welche blühen und gedeihen und sich hohen internationalen Ansehens erfreuen.

Nun aber wird es Zeit, daß wir uns dem Helden unserer Geschichte zuwenden, dem eine Reise in dieses Land zum Schicksal werden sollte.

Karl Jagerfell, 2005
***

Cyriakus von Pizzicolli, der Sohn angesehener Eltern, erblickte zu Stixenstein in der Steyermark das Licht der Welt. Jedem andern hätte die Wahl dieses Geburtsortes zu denken gegeben. Ihm nicht. Er wuchs in den denkbar angenehmsten Verhältnissen auf, und alles schien darauf hinzudeuten, daß ihm ein geregeltes, sorgenfreies‚ von bürgerlicher Achtung umhegtes Leben bevorstünde.

Die Familie Pizzicolli stammte aus Ancona, wo, als dieser Teil der sogenannteten Legationen des Kirchenstaates noch unter österreichischer Verwaltung stand, der Großvater Cyriaks den Posten eines k. k. Münzwardeins des dorthin dislozierten Herzoglich Rovere’schen Münzamtes von Urbino bekleidet hatte — ein überaus verantwortliches, wenngleich so gut wie ressortloses Amt, denn die besagte Münze hatte ihren Betrieb 1631 eingestellt.

Der Grund hiefür lag in einem fiskalischen Prozeß, der frühesten in einigen Jahrhunderten abgeschlossen sein wird, nämlich erst dann, wenn endgültig geklärt ist, wieso der erste Herzog Urbinos aus dem Hause della Rovere nicht nur der Sohn des letzten, 1508 verstorbenen Herzogs aus dem Hause Montefeltre, sondern zugleich ein Sohn des Papstes Julius II. sein konnte. Tatsache ist, daß Julius II. seinen Sohn Francesco della Rovere, bis dahin Tyrannen von Sinigaglia, der nun eben ein Sohn des erwähnten Guidobaldo von Montefeltre gewesen sein soll, zum Herzog von Urbino ernannte. Ich habe, offen gesagt, diese Darstellung nie so recht verstanden; doch tritt die Universität Lecce in Apulien mit Nachdruck für sie ein. Fest steht jedenfalls, daß Leo X.‚ der Nachfolger Julius’ II., dessen Weg zur Hölle buchstäblich mit mißratenen Söhnen gepflastert war, sich von den Rechts- und Kompetenzfragen dieser komplizierten Sachlage dergestalt angewidert fühlte, daß er Franzen vertrieb und seinen Nepoten Lorenzo de Medici — nach Gemälden zu urteilen, wohl eher der Sohn einer ausnahmsweise schon damals existenten Negerjazzband — mit Urbino belehnte. Leos Nachfolger Urban VIII. entschloß sich aber im Jahre 1631, Urbino dem Kirchenstaat einzuverleiben. Dort blieb es bis 1860 und wurde schließlich nach längerer Belagerung an einem langweiligen Nachmittag durch Garibaldi ganz allein gestürmt. Die anderen Herren hatten sich beim Mokka verplauscht.

Des Kaisers neue Kleider, 2004
Von alledem wußte der junge Cyriak wenig, oder es kümmerte ihn nicht. Er war ein hübscher, wohlerzogener Junge, der sehr streng gehalten wurde. Zumal seine Mutter, eine geborene Baronin Inacher-Kadmic´, auf den ungewöhnlichen Namen Authonoë getauft, pflegte ihn für alles Erdenkliche verantwortlich zu machen. Das ging so weit, daß sie einmal, als eine vorbeifliegende Taube seinen neuen schwarzen Sonntagshut verunreinigt hatte, den schüchternen Jungen anherrschte: »Schau, was du da wieder gemacht hast …!« Vielleicht war seine außerordentliche Wanderlust, die später zum Durchbruch kam, auf den uneingestandenen Wunsch zurückzuführen, diesen ewigen Vorwürfen zu entfliehen, vielleicht hatte sie weit tiefere Ursachen, die in einem früheren Vorleben wurzeln mochten — eine Möglichkeit, für die auch noch andere seltsame Eigenschaften des jungen Menschen zu sprechen schienen: zum Beispiel die, daß er Wildbret, insbesondere Hirschfleisch‚ verabscheute; daß er ferner in einem höchst sonderbaren Verhältnis zum Jagdwesen stand, welches ihn bald anzog, bald abstieß; und daß der Name »Anna« ihm geradezu Entsetzen einflößte, wobei der Artikel »die« vor dem ominösen Namen sein Entsetzen ins Maßlose steigerte. Doch schwanden alle diese Erscheinungen nach seinem siebenten Lebensjahr restlos.

Am weitaus merkwürdigsten war die Beziehung Cyriaks zu Hunden. Oft preschten ganze Rudel von ihnen mit gesträubtem Fell auf ihn los, ohne daß irgend jemand wußte, wie sie sich so plötzlich zusammengeschart hatten. Aber jedesmal hielten sie knapp vor Cyriak inne, wurden verlegen und machten sich dann Stück für Stück allerhand anderes zu schaffen, als ob das Ganze sie nichts anginge. Schließlich verkrümelten sich die ordinären Gesellen, unter denen rätselhafterweise immer ein paar Molosser zu sehen waren, Angehörige einer Hundesorte, die lediglich in antiken Erzählungen auftritt.

Zeitdruck, 2006
Von ein paar kleineren Reisen abgesehen, war Cyriak niemals weit von Graz, wo die Familie Pizzicolli wohnte, weggekommen. Das änderte sich, als eine Katastrophe von seltener Tragik ihn plötzlich zum Waisenkind machte. Seine guten Eltern ertranken gelegentlich einer sonntäglichen Unterhaltung in der Mur, und nur den verbeulten Zylinder des Vaters — an jenem Tag ganz ausnahmsweise und wohl zum Jux mit einem heiteren Gamsbärtchen geschmückt — spieen die grauen Wogen ans Land. Der bestürzte Junge sah sich frei, machte auch das unbewegliche Erbgut zu Geld und begab sich an einem strahlenden Frühlingsmorgen auf die Bahn. Er bestieg bei voller körperlicher und geistiger Gesundheit den um 8 Uhr 30 aus Bruck kommenden Personenzug, erreichte wenige Stunden später die Grenze des Traumreichs und befand sich knapp vor Mitternacht desselben Tages über eigenes Verlangen in einer Irrenanstalt. Aber wir wollen den Ereignissen nicht vorgreifen.

Quelle: Das Beste von Herzmanovsky-Orlando. Erzählungen und Stücke. Herausgegeben und bearbeitet von Friedrich Torberg. Tosa Verlag, Wien, 1995. ISBN 3-85001-527-0. Seite 123-130



Alle Bilder zu diesem Post stammen von Hans Reiser (* 1951)

Er selbst bezeichnet sich als „Karikaturist, Illustrator, Schönfärber“. Dabei tarnt er sich als Feinmaler und Geschichtenerzähler. Offensichtlich mühelos bedient er sich altmeisterlicher Maltechniken wie der Grisaille-Untermalung oder der Lasurmalerei, um seine außergewöhnlichen Bildsujets umzusetzen. Virtuos und mit viel Liebe zum Detail arrangiert er Gegenstände, kostümiert seine Protagonisten und gestaltet den Bildraum seiner surreal anmutenden Ölportraits wie eine Bühne.

Er ist der legitime geistige Sohn von Michael Mathias Prechtl (1926-2003).

Hans Reiser (* 1951), „Karikaturist, Illustrator, Schönfärber“

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Chopin: Klavierkonzerte Nr. 1 und 2 (Alexis Weissenberg, 1967)

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Die beiden Klavierkonzerte von Frédéric Chopin stehen beim Publikum weitaus höher im Kurs als bei der Musikkritik. Ein Vorwurf, den sie sich oft gefallen lassen müssen, gilt der Behandlung des Orchesters. Diese sei dürftig, heißt es, und beschränke sich darauf, dem Solisten bloß eine Begleitung zu unterlegen. Gemessen an den sinfonischen Konzerten Beethovens mag dieser Einwand plausibel scheinen. Nur hieße das, ein Maß anlegen, das unangemessen ist, denn Chopins Konzerte streben einen sinfonischen Dialog zwischen Klavier und Orchester gar nicht an. Sie haben nicht Beethoven, sondern das romantische Virtuosenkonzert zum Vorbild, dem Komponisten wie John Field, Friedrich Kalkbrenner oder Henri Herz zuzurechnen sind. Dass deren Werke heute vergessen sind und sich nur Chopins Konzerte halten konnten, spricht schon allein für die herausragende Qualität der Chopin-Werke.

Auch in seinen beiden Klavierkonzerten verwendet Chopin typisch polnische Elemente und stilisiert in den Schlußsätzen die Tänze Krakowiak (E-Moll-Konzert) und Mazurka (F-Moll-Konzert). Beide Konzerte sind Jugendwerke, Chopin komponierte sie kurz hintereinander in den Jahren 1829 und 1830, wobei das heute als Nr. 2 bezeichnete Konzert in f-moll op. 21 das zuerst komponierte ist. Es wurde aber nach dem E-Moll-Konzert veröffentlicht und gilt somit als das zweite Klavierkonzert Chopins. Die beiden Konzerte sind sich in mehreren Aspekten ähnlich: Beide stehen in einer Molltonart, die Kopfsätze sind formal groß angelegt, die Satzbezeichnungen sind in Grunde identisch (Maestoso - Larghetto - Vivace), die Schlußsätze sind stilisierte Tänze und beenden die Konzerte in den entsprechenden Durtonarten. Aber auch in der Biografie des Komponisten stehen die Werke eng nebeneinander, nicht nur, weil sie beide in die letzten Warschauer Jahre fallen, sondern vor allem, weil die Liebe zu einer jungen Sängerin - nach Chopins eigenen Angaben - eine Inspiration für die beiden Mittelsätze gewesen ist.

Frédéric Chopin (1810-1849)
Diese Liebe galt Konstancja Gladkowska, von der Chopin seinem engen Jugendfreund Tytus Wojciechowski 1829 schrieb: Sie ist mein Ideal, dem ich, ohne mit ihm zu sprechen, bereits ein halbes Jahr treu diene, von dem ich träume, zu dessen Andenken ich das Adagio zu meinem neuen Konzerte [f-moll] komponiert habe. Chopin lernte Gladkowska noch besser kennen, er begleitete sie am Klavier und man könnte ihre Beziehung als freundschaftlich bezeichnen. Besser als er es je mit Worten gekonnt hätte, richtete sich Chopin mit seiner Musik an Gladkowska und es muß ein besonderer Augenblick für den jungen Komponisten gewesen sein, als er am 11. Oktober 1830 sein E-Moll-Konzert in Warschau uraufführte und sie seine neue Musik hörte. Es war Chopins letzter Auftritt in Polen, in der zweiten Hälfte des Konzerts sang Gladkowska die Kavatine aus der Rossini-Oper La Donna del lago. Anschließend spielte Chopin noch seine Fantasie über polnische Volksweisen für Klavier und Orchester (op. 13).

Für die beiden zwanzigjährigen Talente war es ein erfolgreicher Abend. Ob Chopin seine Liebe gestanden hat, bleibt unklar, aber als er am 2. November 1830 in eine Kutsche stieg, um Polen zu verlassen, trug er einen Ring am Finger und ein Band am Herzen, beides waren Geschenke von Gladkowska. Chopin sollte seine Heimat nie wieder sehen, Gladkowska gab ihre Karriere zwei Jahre später auf und heiratete den reichen Landadligen Józef Grabowski.

Frédéric Chopin, Gemälde von Ivan Boxel
(Chopin Museum, Zelazowa Wola)
Frédéric Chopin: Klavierkonzert Nr.1 e-Moll op.11

Eine so ausführliche Orchestereinleitung wie im E-Moll-Konzert hat Chopin kein zweites Mal geschrieben. In temperamentvoller Melancholie beginnt das Hauptthema der Sonatensatzform mit einem großen melodischen Bogen, der in den ersten acht Takten genau zwei Oktaven ausfüllt. Der höchste Ton wird deutlich hervorgehoben und steht - wie so oft bei Chopin - in der Mitte der Phrase. Aus dem Hauptthema leitet Chopin einen lyrischen Seitengedanken ab. Die drei Achtelnoten aus dem Kopfmotiv des Hauptthemas bilden hier den Auftakt zu einer sehr schönen Kantilene in den ersten Violinen. Die Celli spielen zwischen Vorder- und Nachsatz das leicht variierte Kopfmotiv und machen somit den Bezug zum Hauptthema deutlich.

Der weitere Verlauf führt über ein großes Crescendo zum Seitenthema in E-Dur. Die hier vorgestellten Motive sind von Tonschritten geprägt, Sprünge gibt es nur an wenigen Stellen und die Tonlage entspricht der einer Sopranistin. Um den Gedanken an die menschlichen Stimme ganz deutlich zu machen, schreibt Chopin noch die Spielanweisung cantabile in die Partitur. Nach diesen schwärmerischen Momenten kehrt die Musik zu ihrer anfänglichen Dynamik zurück und erreicht im 99. Takt des Satzes einen Höhepunkt mit der Wiederkehr des Hauptthemas, dessen Kopfmotiv hier - trugschlußartig erreicht - in C-Dur erklingt. Nach dem abrupten Abbruch folgt ein leises Zwischenspiel, dann wieder in voller Besetzung das Kopfmotiv, dem sich dann die ruhige Überleitung zum Klaviereinsatz anschließt.

Wie auch in den meisten klassischen Konzerten steht auch bei Chopin vor der ersten Note des Pianisten die komplette Exposition durch das Orchester. Wenn man heute eine Aufführung dieses Konzertes besucht, wird man beobachten, dass der Pianist die fast 140 Takte lange Exposition am Flügel abwartet. Im Zusammenhang mit dem Virtuosenkult des 19. Jahrhunderts kam es damals in Paris oft zu einer anderen Aufführungspraxis: Während das Orchester die Exposition spielte, blieb der Pianist noch hinter der Bühne und betrat das Podium erst wenige Momente vor seinem Einsatz. Dabei wurde er vom oft stürmischen Applaus des sensationsgierigen Publikums begleitet. Der Komposition an sich und den ausführenden Orchestermusikern zollte man dabei wenig Respekt. Dass auch Chopins Konzerte gelegentlich in dieser Praxis aufgeführt wurden, ist zwar nicht belegt, aber durchaus denkbar.

Frédéric Chopin, Gemälde von Ambrozy
Mieroszewski, 1829 (Bild seit 1945 verschollen)
Der wuchtige Einsatz des Klaviers gibt dem Solisten die Möglichkeit eines fulminanten Auftritts, wie man ihn von einem Virtuosen erwartet. Er beginnt mit dem Kopfmotiv des Hauptthemas, dem sich eine typisch konzertante Spielfigur anschließt. Nun wird die Exposition wiederholt, die Themen erklingen erneut und werden diesmal ausschließlich vom Pianisten gestaltet. Zwischen den eindrucksvollen Spielfiguren erscheinen der Seitengedanke und das Seitenthema mit mannigfaltigen Umspielungen. Das Orchester tritt dabei ganz in den Hintergrund und schafft lediglich eine bestimmte Atmosphäre, in der die Töne des Klavier veredelt erscheinen.

Die Reprise hat aufgrund der vielen Läufe und Akkordbrechungen den Charakter einer zweiten Durchführung. Das Seitenthema - nun in G-Dur - bildet für einige Takte einen Ruhepol und nimmt die Bewegung und die Dynamik des Satzes zurück. Schließlich geht es aber wieder mit Tempo dem Ende entgegen und eine über 50 Takte angelegte Steigerung mündet in die Coda, die dem Ende der Exposition gleicht.

Der zweite Satz zeigt Chopins lyrische Empfindungs- und Gestaltungsgabe. Das Stück ist mit Romanze überschrieben und wie bereits erwähnt eine Liebeserklärung an Konstancja Gladkowska. Es handelt sich dabei - für einen 20jährigen! - um ein erstaunlich reifes Werk. In einem Brief vom 15. Mai 1830 an Tytus Wojciechowski beschrieb Chopin den Charakter seines Stückes: Es ist mehr romantisch, ruhig, melancholisch; es soll den Eindruck eines liebevollen Hinblickens auf eine Stätte machen, die tausende von angenehmen Erinnerungen aufsteigen läßt. Es ist wie ein Hinträumen in einer schönen mondbeglänzten Frühlingsnacht. Darum ist denn auch die Begleitung mit Sordinen.

Frédéric Chopin,
Gemälde von Maria Wodzinska, 1836
Wie viele sensible Künstler war auch Chopin im Kontakt mit anderen Menschen eher zurückhaltend. Gerade was Konstancja Gladkowska betraf, war sein Mitteilungsbedürfnis natürlich groß, aber anscheinend war es dem Komponisten unmöglich, seine Gefühle in Worten auszudrücken: O, wie entsetzlich, wenn man sein Herz bedrückt fühlt und die Last nirgends ablegen kann! Du weißt wohl, was ich damit sagen will. Was ich Dir oft mitteilen möchte, muß ich meinem Klavier erzählen (Brief vom 3. 10. 1829 an Tytus Wojciechowski). Man könnte viel über diesen zweiten Satz schreiben, über die Themen und Motive, über die Harmonik, über die Instrumentation, über den Klavierpart ... aber auch die besten Analysen können das Wesentliche dieses Satzes nicht beschreiben. Die Aussage dieser Musik, das was hinter den Noten steht, wird nur beim aufmerksamen Zuhören verständlich.

Mit einem temperamentvollen, polnischen Tanz endet das Konzert. Der Krakowiak, benannt nach der Stadt Kraków (Krakau) im Süden Polens, ist international lange nicht so bekannt wie die Mazurka oder die Polonaise. Typisch für diesen Tanz ist die Betonung auf den schwachen Taktzeiten, die schon zu Beginn deutlich wird. Wir hören im ersten Takt drei Achtelnoten, alle werden akzentuiert, aber durch den Abbruch der Tonfolge auf der zweiten Zählzeit erhält diese ihre Betonung. Auch das Hauptthema des Satzes zeigt diese besondere Rhythmik: Das Thema besteht aus Sechzehntel-, Achtel- und Viertelnoten. Typisch ist auch der wellenförmige Melodieverlauf. Später erscheint im Orchester noch ein Repetitionsmotiv, das noch deutlicher durch diese Betonung geprägt wird.

Auch der Schlußsatz ist formal betrachtet ein Rondo mit mehreren Zwischensätzen. Die groß angelegte Form des Klavierkonzerts erlaubt eine Reprise des B-Teils, der gegen Ende des Satzes nochmals in H-Dur (statt wie zuvor in E-Dur) beginnt. Zwischen den beiden B-Teilen beweist der Romantiker Chopin Humor: Aus einem chromatischen Lauf heraus beginnt der Pianist wieder mit dem Hauptthema - aber in Es-Dur, wo doch in den Takten davor alle Weichen auf E-Dur gestellt worden waren. Sieben Takte lang hören wir dann diese Es-Dur-Einlage, bis sich der Solist schließlich "korrigiert" und nach einer kurzen Modulation das Thema in E-Dur wiederholt. Die Schlußtakte sind von schnellen, aufwärts strebenden Läufen des Klaviers geprägt und mit einer großen Geste zieht Chopin den Schlußstrich.

Frédéric Chopin, Fotografie
 von Louis-Auguste Bisson, 1849
Frédéric Chopin: Klavierkonzert Nr.2 f-Moll op.21

Verglichen mit seinem sehr romantischen und gefühlvollen ersten Klavierkonzert ist das zweite bei weitem ausgereifter, der emotionale Ausdruck beinahe schon verhalten. Dennoch scheinen die Emotionen gerade durch Chopins Versuch, sie zu unterdrücken, an Kraft und Stärke gewonnen zu haben.

Der erste Satz, Maestoso, beginnt mit einer getragenen Melodie, dargebracht von der Violine und den tieferen Streichern. Nach und nach schwillt sie an und findet mit einem Paukenschlag ihren Höhepunkt. Holzbläser und Violinen gesellen sich hinzu. Der gemessene Klavierteil wechselt behände zwischen kraftvollen und ruhigen Passagen. Bis zum Schluss reißen die Stimmungswechsel nicht ab. Der Ton bleibt verhalten. Doch dann brechen die zurückgehaltenen Gefühle in einem gewaltigen Klangstrudel hervor, gespielt vom gesamten Orchester, wobei die Schlaginstrumente besonders hervortreten. Es folgt die Ruhe nach dem Sturm. Zu hören ist nur das leise Klavier. Die Beherrschung hat wieder Einkehr gehalten.

Konstancja Gladkowska (1810-1889)
Anders im zweiten Satz, dem Larghetto: Hier unterliegen die Gefühle keinem Reglement. Zu Beginn ist die Musik geradezu hymnisch, bis das Klavier sich aus den Tiefen seiner Bassklänge erhebt und eine Stimmung schafft, deren Zartheit von sanften Geigenklängen aufgenommen wird. Der Ton wird nachdenklich. Im Nu schlägt das Klavier ein schnelleres Tempo an und holt die Gedanken in die Gegenwart zurück - wenn auch die klagenden Violinen stets mahnend der Vergangenheit gedenken.

Der dritte Satz, Allegro vivace, ist lebhafter. Das Klavier leitet das Orchester in eine optimistischere Stimmung. Der Ton wird heiterer, obwohl die nachdenkliche Stimmung des vorangegangenen Satzes immer wieder in Erscheinung tritt. Diese wird jedoch in einem Crescendo von Streichern und Blechbläsern, einer kurzen Trompetenfanfare und einem freudig-optimistischen Klavier hinweggefegt. Der Schluss wird einzig vom Klavier bestritten, und das Konzert endet wie es begann - alle Emotionen sind unter Kontrolle.

Die Uraufführung des Konzerts f-moll fand am 7. Februar 1830 im geschlossenen, aber exquisit ausgewählten Kreis statt. Chopin hatte die musikalische Elite Warschaus und seine Freunde in seinen Salon eingeladen, darunter natürlich Elsner, Zywny und Kurpinski, der sich auch bereit erklärt hatte, zu Chopins Begleitung ein kleines Orchester zu dirigieren. Das werk hinterließ bei den Gästen einen großen Eindruck und reif Bewunderung hervor. Sogar in der Presse fand das Ereignis Widerhall - so berichte am 12.2.1830 die "Gazeta Warszawska" ("Warschauer Zeitung"):

"Unser Virtuose Chopin schrieb ein neues Konzert für Klavier in f-moll, dessen Probe mit vollem Orchester am vergangenen Sonntag stattfand. Kenner verehren diese neue musikalische Frucht; es ist ein Werk, das zahlreiche ganz neuartige Einfälle enthält und zu den schönsten neuen Werken gerechnet werden kann. Man hört, dass sich H. Chopin nach Italien begibt, aber diese Reise sicherlich nicht unternehmen wird, ohne zuvor ein öffentliches Konzert in der Hauptstadt Polens zu geben, was die Verehrer seines großen Talents sich wünschen."

Konstancja Gladkowska singt "Oh, quante lacrime
per te versai" aus Rossini's La donna del lago.
 (Grafik von Montserrat Rivero).
Die Vorbereitungen zu einem öffentlichen Konzert nach dieser Privatvorstellung im Februar zogen sich noch über einen Monat hin. Schließlich nahte der 17. März, der Tag an dem der Künstler im Nationaltheater am Krasinski-Platz mit Orchester unter der Leitung von Kurpinski auftreten sollte. Der Saal war übervoll - schon am Vortag hatte die Presse berichtet, dass es keine freien Plätze mehr gäbe. Das Programm begann mit der Ouvertüre zu Elsners "Leszek Bialy" ("Leszek der Weiße"), danach spielte Chopin den ersten Satz seines Konzerts f-moll, Karol Goerner führte auf dem Horn sein Divertissement auf, und danach erklagen die übrigen Sätze von Chopins Konzert. Nach der Pause folgten die Ouvertüre zu "Cecylia Piaseczynska" von Kurpinski, Paers Variationen "La Biondina", gesungen von Barbara Majerowa, und schließlich Chopins Grande Fantaisie sur des airs polonais.

Die Presse widmete diesem Konzert ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit und druckte umfangreiche Artikel. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte Fryderyk in nur wenigen Tage derart viel über sich selbst lesen! Es herrschte Begeisterung: "Der junge Virtuose stellte die Anwesenden zufrieden; es wurde ihm allgemein zugestanden, dass er zum Kreis herausragender Meister gehöre. Mit verdientem Beifall bedachte man die Aufführung seines Konzerts und Potpouris [sic!]. Das Adagio dieses Konzerts halten Kenner in seiner Ausführung wie auch in seiner Komposition für meisterhaft, und das Rondo begeisterte alle. Der Mazurek in diesem Rondo, von den allerangenehmsten Veränderungen bereichert, wird sicherlich überall gefallen, wo auch immer H. Szope (Chopin) ihn spielen wird." ("Warschauer Kurier" 18.03.)

Quellen: Peter Blaha im Klassik- und Jazz-Magazin RONDO, Thomas Pehlken in klassik.com, Joseph Hölzl im Onlineportal »Frédéric Chopins Leben und Werke«



Track 6: Klavierkonzert Nr 2 in f moll op. 21 - III. Allegro vivace

TRACKLIST


Frédéric Chopin
(1810-1849)


Klavierkonzert Nr. 1 e-moll op. 11

1. I. Allegro Maestoso 21:01
2. II. Romance: Larghetto 10:30
3. III. Rondo: Vivace 10:03

Klavierkonzert Nr. 2 f-moli op. 21

4. I. Maestoso 14:59
5. II. Larghetto 10:52
6: III: Allegro vivace 8:43

Total 76:28


Alexis Weissenberg, Klavier
Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire
Dirigent Stanislaw Skrowaczewski

Aufgenommen: IX.1967, Salle Wagram, Paris
Produzent: Michel Glotz Tonmeister: Paul Vavasseur

(P) 1968


Erwin Panofsky:

Interpretatio Christiana


Abb. 1. Bibliothèque Nationale, Paris, MS. lat. 15158  (Ovid, De remediis amoris,
 Teil eines 1289 datierten Psychomachia-Manuskripts), fol. 47,
 die Erzählung von Pyramus und Thisbe.
Die karolingische Kunst belebte und benutzte […] dutzendweise »Bilder«, die antike Form glücklich mit antikem Inhalt verbanden und nicht nur mit einer Ausdruckskraft ausgestattet waren, die ihren Vorbildern fehlte, sondern ihnen auch, wie ich es formulierte, »erlaubte, ihrem ursprünglichen Zusammenhang zu entwischen, ohne ihre ursprüngliche Natur aufzugeben«. Die ikonographische Bedeutung dieser Bilder aber blieb unverändert. Die Verwandlung von z. B. Orpheus zu Christus, Polyhymnia zur Jungfrau Maria, antiker Dichter zu Evangelisten, Viktorien zu Engeln, waren in der frühchristlichen Kunst eine vollendete Tatsache und die karolingischen Künstler scheinen keine weiteren Schritte in dieser Richtung unternommen zu haben.

Die antiken Bilder blieben entweder in situ, wie es der Fall ist, wo immer illustrierte Handschriften im Ganzen kopiert wurden; oder sie dienten einem anderen Zweck (und neigten deshalb dazu, in ein anderes Medium übertragen zu werden) wie es der Fall ist bei den Virgilianischen Hirtenmotiven‚ die das Flabellum von Tournus zieren, die fingierten Kameen, die die Seiten mit den Evangelisten im Ada-Evangeliar schmücken, oder — um zwei noch nicht erwähnte Beispiele hinzuzufügen — die runden Silberplatten, die für Theodulf von Orléans gearbeitet wurden und uns durch seine Beschreibung bekannt sind; eine gestaltet als eine Art Mappa mundi die Personifikationen der Erde und des Ozeans, die andere stellt einen »Baum der freien Künste« dar, und jede davon mit ihren Attributen (die Astronomie z. B. mit einer Scheibe, die wie eine Himmelskarte von einer Aratea-Handschrift ausgesehen haben muß); oder sie wurden schließlich in biblische Erzählungen gebracht, zu denen sie früher keinen Zugang hatten, wie es — außer den vielen Personifikationen, die es reichlich im Utrechter und im Stuttgarter Psalter gibt - mit den Gestalten von Sol und Luna, Oceanus und Terra in zahlreichen Kreuzigungen der Fall ist.

Abb. 2. Bodleian Library, Oxford, MS. Douce 195 (Roman
de la Rose, um 1470), fol. 150, Pygmalion bekleidet seine Statue.
Nirgendwo in der karolingischen Kunst scheinen wir jedoch auf das Bestreben zu stoßen, einem gegebenen antiken Bild eine andere Bedeutung zu verleihen als die, die sie von Anfang an hatte: ein Atlas oder ein Flußgott im Utrechter Psalter mögen ihr Vorbild an Belebung und Ausdruckskraft bei weitem übertreffen, aber sie bleiben Atlas oder Flußgott; wir haben eher, wie geschickt und geistvoll sie auch sein mögen, Zitate oder Paraphrasen vor uns als Neuinterpretationen. Umgekehrt — und das ist noch wichtiger — scheinen wir nirgendwo in der karolingischen Kunst auf einen Versuch zu stoßen, eine Formel zu erfinden, mit der man einen gegebenen antiken (oder anderen weltlichen) Text in ein neues Bild übersetzen könnte: wo Illustrationen solcher Texte verfügbar waren, wurden sie kopiert und ohne Ende wieder kopiert; wo keine verfügbar waren, wurden auch keine ausgedacht.

In beiden Rücksichten bewirkt der gleichzeitige Aufstieg von Protorenaissance und Protohumanismus einen entscheidenden Wandel. Wie wir gesehen haben, wiederholten die Bildhauer des 11., 12. und 13. Jahrhunderts auf einer neuen Ebene, was die frühchristlichen Künstler so ausgiebig getan hatten, was aber ihre karolingischen Erben zu tun sich so bemerkenswert enthalten haben: sie unterzogen antike Originale einer interpretatio Christiana, wobei der Begriff Christiana hier zusätzlich zum Inhalt der Bibel und Heiligengeschichte alle Arten von Vorstellungen einschließt, die unter dem Titel christlicher Philosophie laufen. So wurde Antoninus Pius in St. Peter verwandelt, Herkules zur Fortitudo, Phaedra zur Jungfrau Maria, Dionysos zu Simeon; Venus Pudica konnte zu Eva werden und Terra zur Luxuria.

Abb. 3. Bibliothèque Nationale, Paris, MS. fr. 373 ("Ovide moralisé" in
Versen, um 1380), fol. 207, Venus mit der Seegans.
Gleichzeitig jedoch wurden antike Vorstellungen ebenso wie antike Persönlichkeiten (wirkliche oder fiktive) und antike Erzählungen (historische oder mythische) in einer Weise verbildlicht, die völlig unabhängig ist von den antiken Bildquellen. Die vier Elemente und die sieben freien Künste, Sokrates und Platon, Aristoteles und Seneca, Pythagoras und Euklid, Homer und Alexander der Große, Pyramus und Thisbe, Narziß und Europa, die Helden des trojanischen Krieges und alle antiken Götter wurden dargestellt entweder in der Weise, wie der Künstler es von Leben und Kunst seiner Zeit her gewohnt war oder aufgrund sprachlicher Beschreibungen — die, nebenbei bemerkt, eher von sekundären als von primären Quellen geliefert wurden; im Unterschied zu der großen Zahl nachantiker Kompilationen, Kommentare und Paraphrasen, die von mittelalterlichen Buchmalern illustriert wurden, sind uns nur drei spärlich illustrierte Vergils und kaum ein illustrierter Ovid aus dem Mittelalter erhalten.

All diese Illustrationen bezeugen eine merkwürdige und meines Erachtens grundlegend wichtige Erscheinung, die man das »Disjunktionsprinzip« nennen könnte: wo immer im hohen und späten Mittelalter ein Kunstwerk seine Form einem antiken Vorbild entlehnt, erhält diese Form fast ausnahmslos eine nichtantike, gewöhnlich christliche Bedeutung; wo immer im hohen und späten Mittelalter ein Kunstwerk sein Thema der antiken Dichtung, Sage, Geschichte oder Mythologie entlehnt, ist dieses Thema ausnahmslos auf nichtantike, gewöhnlich zeitgenössische Weise dargestellt. […]

Abb. 4. Bibliothèque Publique et Universitaire, Genf, MS. fr. 176 ("Ovide
 moralisé" in Versen, Ende 14. Jahrhundert), fol. 216,
Venus mit der Seegans, verbesserte Fassung.
In den Bildern, die Remigius von Auxerres Kommentar zu Martianus Capella begleiten — der, obwohl im 9. Jahrhundert verfaßt, erst um etwa 1100 illustriert zu werden begann —, ist Jupiter in der Rolle eines thronenden Herrschers dargestellt, und der Rabe, der dem Text zufolge als heiliger Vogel der Weissagung zu ihm gehört, trägt einen hübschen kleinen Heiligenschein, weil der Illustrator unfreiwillig das Bild des thronenden und von einem heiligen Vogel begleiteten Herrschers dem des von der Taube des heiligen Geistes besuchten Papstes Gregor anglich. Apollo — auch er getreu den Angaben des Textes dargestellt — sitzt in etwas, das wie ein Bauernkarren aussieht, und hält in der Hand eine Art Blumenstrauß, aus dem als kleine Büsten die Gestalten der drei Grazien ragen. Die griechischen und trojanischen Helden und Heroinen, die in den volkssprachlichen Erzählungen des trojanischen Sagenzyklus als »Barone« und »Fräuleins« bezeichnet werden, bewegen sich immer in einer mittelalterlichen Umgebung, handeln nach mittelalterlichen Sitten und sind mit mittelalterlichen Waffen und Gewändern versehen.

Achill und Patroklos sieht man ebenso wie Medea und Jason und Dido und Aeneas beim Schachspiel. Der »Priester« Laokoon erscheint mit Tonsur. Thisbe unterhält sich mit Pyramus durch eine Wand, die zwei verkürzt gezeichnete gotische Gebäude trennt, und wartet auf ihn auf einer gotischen Grabplatte, deren Inschrift (»Hic situs est Ninus rex«) mit dem damals unerläßlichen Kreuz versehen ist (Abb. 1). Pygmalion ist dargestellt als ein Meister der haute Couture, der letzte Hand legt an ein raffiniertes mittelalterliches Gewand, das er für seine schöne Statue gemacht hat (Abb. 2). Und gelegentlich kann eine in einem mythologischen Text verdorbene oder zweideutige Stelle den arglosen Illustrator - oft noch im 15. oder 16. Jahrhundert, als bestimmte mittelalterliche Quellen und ihre Abkömmlinge selbst in Italien immer noch benutzt wurden — zu Mißverständnissen verleiten, die den modernen Betrachter ebenso verwirren wie amüsieren.

Abb. 5. Königliche Bibliothek Kopenhagen, MS. Thott 399, 2º
 ("Ovide moralisé" in Versen, mit einer französischen Übersetzung
 der Einleitung zu Petrus Berchorius "Ovidus Moralizatus",
 um 1480), Venus mit der blumengeschmückten Tafel.
Durch Irrtümer dieser Art wurde Vulkan, »nutritus ab Sintiis« (d. h. genährt von den Einwohnern der Insel Lemnos, wo er landete, als er vom Olymp geschleudert wurde), entweder in der Gesellschaft von Nymphen oder in der von Affen dargestellt, weil das ab Sintiis in Servius’ Virgilkommentar— ein hapax legomenon in der lateinischen Literatur — fälschlich als ab ninfis oder ab simiis gelesen wurde; wurde die Göttin Kybele gezeigt, wie sie durch eine unpassend von leeren Stühlen und Sesseln gezierte Landschaft fährt, weil ein Abkürzungszeichen falsch gesetzt wurde, wodurch der Satz sedens pingatur (»sie ist sitzend darzustellen«) verdorben wurde zu sedes pingantur (»Sitze sind darzustellen«); oder die aus der See auftauchende Venus wurde dargestellt, wie sie einen ansehnlichen Vogel statt einer Seemuschel in der Hand hält, weil ein Wort in Berchorius’ Metamorphosis Ovidiana verderbt war: in seiner Beschreibung der Venus als »in mari natans et in manu concham marinam continens, quae rosis erat ornata et columbis circumvolantibus comitata« (»sie schwimmt im Meer und hält eine mit Rosen geschmückte Muschel in der rechten Hand und ist von um sie her flatternden Tauben begleitet«), wurden die Wörter concham (oder concam) marinam fälschlich als aucam marinam, »Seegans«‚ gelesen (Abb. 3); und bei zumindest einem Beispiel - dem schönen, aber wenig bekannten Ovide moralisé in der Genfer Universitätsbibliothek — ging ein Illustrator von überdurchschnittlicher Intelligenz beim schwierigen Versuch, diese »Seegans« von der gewöhnlichen Landgans zu unterscheiden, so weit, sie mit einem Fischschwanz und mit Schuppen zu versehen (Abb. 4). In einer anderen Gruppe von Handschriften und Inkunabeln verwandelte eine noch raffiniertere Verderbnis desselben Textes, die concam marinam in canam laminam verstümmelte und das Komma zwischen continens und quae rosis beseitigte, die Seemuschel in eine Schiefertafel (passend mit einem kleinen Liebeslied beschrieben); und diese Schiefertafel und nicht die Göttin erscheint »mit Rosen geschmückt und von Tauben begleitet« (Abb. 5). […]

Abb. 6. Kathedrale von Auxerre, Westfassade, Herkules; Joseph wird
in den Brunnen geworfen (Genesis, Kap. 37), um 1280.
Die ziemlich provinziellen Reliefs in Schöngrabern (ausgeführt um 1230, aber noch entschieden romanisch) zeigen außer einem Mann, der gegen ein Untier kämpft, und einem harfenspielenden Kentauren mit Fischschwanz, der auf einem unbestimmbaren Vierfüßer steht, drei Szenen aus der antiken Mythologie, die offensichtlich aufgrund optischer Erfahrung und nicht der Textüberlieferung entworfen sind: Sisyphus, wie er den Stein aufwärts wälzt; Tantalus, der vergeblich nach dem Wasser greift, und Ixion auf seinem Rad. Daß Ixion zwei Köpfe trägt, drückt meines Erachtens nur seine schnelle Bewegung auf dem Rad aus: »Volvitur Ixion et se sequiturque fugitque«, (»so wird Ixion gedreht, daß er sich verfolgt und sich flieht«, Ovid, Metamorphosen IV, 461). Tatsächlich hat die Verdopplung eine Entsprechung in deutschen Rechtsbüchern des 13. und 14. Jahrhunderts, wo Personen, die aufgefordert werden, verschiedene Handlungen in schneller Folge auszuführen, auch mit zwei Köpfen und jeder Menge von Armen dargestellt werden.

All diese Darstellungen haben eine moralische, sogar eschatologische Bedeutung. Während man fragen kann, ob der mit dem Untier kämpfende Mann und der musikalische Seekentaur die Laster des Zorns und der curiositas anzeigen sollen (in mittelalterlicher Vorstellung bedeutet curiositas, Neugier, sich dem Vergnügen von Schauspielen und »weltlicher Musik« zu ergeben), lassen die Kommentare zu Ovid und anderen klassischen Texten keinen Zweifel an der Tatsache, daß die im Hades gequälten Sisyphus, Ixion und Tantalus als Musterbilder dreier großer in der Hölle bestrafter Sünden verstanden wurden: Sisyphus stellt den Stolz dar (weil sein Felsen, der immer ins Tal rollt, sobald er ihn auf den Gipfel gewälzt hat, das Schicksal der Tyrannen symbolisiert, die »quant ilz se sont bien hault montez, ilz en trebuchent soubdainement«, sobald sie genügend hoch gestiegen sind, plötzlich straucheln); Tantalus (»le plus chiche du monde«, der ärmste Tropf der Welt) steht für Geiz, und Ixion, des Versuchs schuldig, Juno Gewalt anzutun, steht für Zügellosigkeit.

Abb. 7. Kathedrale von Auxerre, Westfassade, Amor carnalis, um 1280.
Die Auswahl dieser besonderen Dreiheit kann durch die Tatsache begründet werden, daß eine so maßgebende Quelle wie Bonaventuras Speculum animae (gestützt auf den 1. Johannesbrief 2,16) superbia, avaritia und luxuria als die drei Hauptäste des »Baumes der Sünde« ansieht, während die übrigen Laster nur Zweige dieser Äste sind. Die ganze Serie vermittelt so die gleiche mahnende Botschaft, wie es in nichtmythologischer Sprache so viele andere Werke der romanischen Skulptur tun; begreiflicherweise waren die Reliefs in Schöngrabern an der Kirchenfassade plaziert anstelle — oder vielleicht sogar als Teil — des Jüngsten Gerichts.

Ungefähr fünfzig Jahre später - überraschend spät und erklärbar nur durch das Vorhandensein einer berühmten Sammlung antiker Silbergefäße, des »Trésor de St. Didier«, im örtlichen Kirchenschatz — finden wir unter den Reliefs der Kathedrale von Auxerre drei heidnische Gestalten; Herkules mit dem Löwenfell, einen entzückenden Satyr und Cupido, auf seiner Fackel schlafend (Abb. 6, 7). Sie wurden, wie jeder zuzugeben scheint, »nur ihrer Schönheit wegen inmitten biblischer Szenen untergebracht« (»placés au milieu des scènes bibliques sans autre motif que leur beauté«). Es sollte aber beachtet werden, daß diese Unterbringung keineswegs willkürlich ist.

Abb. 8. Bibliothèque du Palais des Arts, Lyon, MS. 22 (Prudentius,
 Psychomachia, um 1100), fol. 17 v., Cupido auf der Flucht.
Der Herkules und der Satyr dienen sozusagen als Titelbilder für die Darstellung von 1. Mose 37, 24-28 (Joseph wird in die »Grube‚ die in der Wüste ist«, geworfen und nach Ägypten verkauft) und 1. Mose 41, 18-24 (Traum des Pharao und der Versuch der Magier, ihn zu deuten). Beide Szenen enthalten die Vorstellung von Ägypten und der Wüste, und mit diesen Vorstellungen waren sowohl Herkules wie der Satyr im mittelalterlichen Denken eng verbunden. Zwei so bekannte Autoren wie Cicero und Pomponius Mela erwähnen einen Hercules Aegyptius, der nach Cicero der Sohn des Nil war; und zwei mittelalterliche Mythenschreiber betonen die Tatsache — die in Verbindung mit dem unbrüderlichen Verhalten von Josephs Brüdern auf dem benachbarten Relief wichtig ist —, daß Herkules den ägyptischen König Busiris beseitigte, der die Gewohnheit hatte, seine Gäste zu schlachten. Der Satyr andererseits galt als eine Art Geist der Wildnis und besonders der ägyptischen Wüste. Optischen Beweis liefert die Illustration des Psalms 77 (78), 51-53 im Stuttgarter Psalter, wo es heißt: »Da er alle Erstgeburt in Ägypten schlug … Und ließ sein Volk ausziehen wie Schafe, und führt sie wie eine Herde in der Wüste. Und er leitet sie sicher, daß sie sich nicht fürchten, aber ihre Feinde bedeckt das Meer.« Um die Vorstellung der Wüste zu verbildlichen und der Anspielung des Psalmisten auf das Schlagen der Erstgeborenen und das Ertränken Pharaos körperlichen Ausdruck zu verleihen, benutzte der Illustrator des Stuttgarter Psalters einen Satyr, den eine Inschrift ausdrücklich identifizierte, als Verkörperung oder genius loci der ägyptischen Wüste.

Abb. 9. Meister Wiligelmus, Cupido mit gesenkter Fackel,
Dom in Modena, Westfassade, um 1170.

Der Herkules und der Satyr scheinen somit unter das Kapitel der lokalen oder regionalen Personifikationen zu fallen. Der auf seiner Fackel schlafende Cupido andererseits kann als ein Fall wirklicher interpretatio Christiana erklärt werden. Genau an den Fuß des Türpfostens gesetzt, dessen Vorderseite die Statuetten der Weisen Jungfrauen zeigt, muß man ihn für die Darstellung der fleischlichen Liebe ansehen, d. h. des Lasters der Zügellosigkeit‚ mit welcher der antike Eros als Amor carnalis in der mittelalterlichen Ikonographie gleichgesetzt wurde, während er seine antiken Attribute behielt: Nacktheit, Flügel und entweder Bogen oder Fackel. In dem Relief in Auxerre wird dieser gefährliche Feind der Tugend, zur Impotenz herabgewürdigt, zu Füßen der Bräute Christi gezeigt, »die mit ihm eingingen zur Hochzeit«.

Der mittelalterlichen Vorstellung, die mit Autoren wie Seneca und Horaz völlig vertraut war, erschien die Fackel als Symbol unheiliger Brunst noch vielsagender als Bogen und Pfeil, so daß die Illustratoren — von Prudentius’ Psychomachia, wo nur Bogen und Pfeile als Attribute Cupidos erwähnt werden, geneigt waren, sie durch die im Text nur seiner Herrin Libido zugehörige Fackel zu ergänzen (Abb. 8). Das sollte man im Gedächtnis behalten bei einem Versuch, die beiden verwickelten und — abgesehen davon, daß links und rechts vertauscht sind — nahezu identischen Reliefs zu deuten, die in die Westfassade der Kathedrale in Modena eingelassen sind (Abb. 9, 10). Beide zeigen einen putto mit gekreuzten Beinen, der in der einen Hand einen Kranz hält und sich auf eine umgekehrte, aber brennende Fackel lehnt.

Wir halten es für ausgemacht, daß ein solches Paar Schlaf und Tod darstellt; aber wir verdanken dieses Wissen nur Winckelmann und vor allem Lessing. Vor dem I8. Jahrhundert hielten selbst so kenntnisreiche Altertumsforscher wie Giovanni Pietro Bellori und Jan Gruyter Gestalten dieser Art für Darstellungen Cupidos. Ohne Frage konnte Meister Wiligelmus von der Kathedrale in Modena, der um 1170 wirkte, sie kaum anders gedeutet haben, und daß er sie mit der üblichen unvorteilhaften Bedeutung versah, erhellt die Tatsache, daß einer von ihnen von einem Vogel begleitet ist, der, obwohl oft als Pelikan bezeichnet, offensichtlich ein Ibis ist.

Abb. 10. Meister Wiligelmus, Cupido mit gesenkter Fackel
und Ibis, Dom in Modena, Westfassade, um 1170.
Der Ibis - und das verdankt er seinen vermutlich wenig anziehenden Lebensgewohnheiten, von welchen die Vorliebe für verfaulte Nahrung und die Abneigung gegen sauberes Wasser noch die am wenigsten abstoßenden sind — wird beständig als Muster des homo carnalis im Gegensatz zu dem »aus dem Wasser und dem heiligen Geist wiedergeborenen Christen« hingestellt. Es genüge, die Bestiarien und Hugo von St. Viktors Abhandlung De bestiis et aliis rebus zu zitieren. Da das Gegenstück zu diesem deutlich bezeichneten Amor carnalis - vermutlich Jocus, den Horaz (Carmina I, 2, 34) und auch Prudentius (Psychomachia I, 433) als Cupidos Begleiter erwähnen, ersterer im Gefolge der Venus, letzterer in dem der Luxuria — sein Attribut verloren hat, kann seine Bedeutung nicht mit gleicher Genauigkeit erwiesen werden; auch kennen wir den Zusammenhang nicht, für den die beiden Reliefs ursprünglich gedacht waren. Aber es ist mehr als wahrscheinlich, daß sie in diesem Kontext eine durch die Moraltheologie bestimmte Rolle spielten.

Quelle: Erwin Panofsky: Die Renaissancen der europäischen Kunst. Übersetzt von Horst Günther. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1990 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 883). ISBN 3-518-28483-5. Zitiert wurden Auszüge aus dem IV. Abschnitt des 2.Kapitel »Renaissance und ›Renaissancen‹« (Seiten 88-90, 91-92, 95-98) sowie die Abbildungen 54-58, 61, 64-67.



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Johann Wolfgang von Goethe: Alterslyrik - Friedrich Schiller: Gedankenlyrik

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Die als Proben von Goethes Alterslyrik zu Gehör gebrachten Gedichte wurden zwischen 1821 und 1829, also zwischen dem 72. und 80. Lebensjahr des Dichters geschrieben. Was aber bedeutet »Alter« bei einem Genius und wann beginnt es? Vorgerückten Jahren spricht man in der Regel überlegene Besonnenheit im Urteil und Mäßigung des Gefühlsüberschwangs zu. Gewiß gilt dies für die ausgewählten Gedichte; zugleich aber bekundet sich in ihnen jugendliche Unmittelbarkeit der Empfindung und der Wagemut, sich ihr dichterisch hinzugeben.

Trilogie der Leidenschaft nannte Goethe die Zusammenfassung von drei Gedichten, von denen An Werther im Frühling 1824 in Weimar, Aussöhnung schon im Sommer 1823 in Marienbad und Elegie kurz danach auf der Rückreise von Karlsbad nach Thüringen geschrieben wurde. Da aber alle drei Gedichte im Magnetfeld von Goethes leidenschaftlicher Neigung zu Ulrike von Levetzow (1804-1899) und des Abschieds von ihr entstanden sind, bilden sie ein organisches Ganzes, von dem Goethe selbst (zu Eckermann, 1831) sagte:

»Zuerst hatte ich bloß die Elegie, dann erweckte die polnische Pianistin Szymanowska, die denselbigen Sommer [wie Ulrike, 1823] mit mir in Marienbad gewesen war, durch ihre reizenden Melodien in mir einen Nachklang jener jugendlichen seligen Tage. Die Strophen, die ich ihr widmete, sind daher auch ganz in Versmaß und Ton jener Elegie gedichtet und fügen sich dieser wie von selbst als versöhnender Ausgang. Dann wollte [der Verleger] Weygand eine neue Ausgabe des Werther veranstalten und bat mich um eine Vorrede, ein willkommener Anlaß zu meinem Gedicht An Werther. Da ich aber noch einen Rest jener Leidenschaft [zu Ulrike] im Herzen hatte, so gestaltete sich das Gedicht wie von selbst zu einer Introduktion jener Elegie. So kam es denn, daß alle drei jetzt beisammenstehenden Gedichte von demselben liebesschmerzlichen Gefühl durchdrungen wurden und jene Trilogie der Leidenschaft sich bildete, ich wußte nicht wie.«

Dieses »ich wußte nicht wie« war in der Tat berechtigt, denn in Wirklichkeit entstand das Gedicht Aussöhnung für die »zierliche Tonallmächtige« Mme Marie Szymanowska (1795-1831, eine der größten Klaviervirtuosinnen jener Zeit) als erstes der Trilogie. Goethe sagte, dieses Gedicht »drücke die Leiden einer bangenden Seele aus«, ein Bangen, das aber keineswegs der schönen Pianistin, sondern der jungen Ulrike von Levetzow galt, die der Dichter sogar heiraten wollte, was aber deren Mutter behutsam zurückwies. Aus dem Gefühl der nach dieser Absage weiter flammenden Liebe, des Verlustes und der Versagung erhoben sich dann auf der Heimfahrt durch Böhmen und Deutschland (zum Teil im rumpelnden Reisewagen) die ebenmäßigen Stanzen der Elegie als »Produkt eines höchst leidenschaftlichen Zustandes«, wie es in Goethes Tagebuch heißt. In dem Gedicht, das alle Phasen der Liebe des Dichters durchläuft, wird zugleich in gewaltigen Visionen die böhmische Landschaft, die Natur, das Weltall selbst aufgerufen, um die Beglückung durch das Ewig-Weibliche im Bilde der Geliebten zu beschwören.

Joan Miró: Silence, 1968
Am 17. September 1826 fand die Aufstellung von Johann Heinrich von Danneckers (1758-1841) Schillerbüste in der Weimarer Schloßbibliothek und die Beisetzung von Schillers Schädel im Postament dieses Bildwerks statt. Goethe wohnte dieser Feier nicht bei, wie er denn zeitlebens formale Trauerzeremonien vermied, wenn seine Seele zutiefst erschüttert war. Am Tage jener Schillerfeier schrieb Goethes Sohn August an Schillers Sohn Ernst: »Mein Vater ist seit gestern über das Bevorstehende so ergriffen, daß ich für seine Gesundheit fürchtete. Heute früh ließ er mich kommen, um mir mit Tränen zu eröffnen, daß es ihm unmöglich sei, dem heutigen feierlichen Akt persönlich beizuwohnen. Ich vertrete ihn daher.« Doch hat Goethe Schillers Schädel allein in Händen gehalten und aus diesem Erlebnis ergaben sich (25., 26. September) jene Terzinen, die sich mit bezwingender Allmählichkeit aus einem fast forscherischen Staunen über die geheimnisvolle Form der kostbaren Reliquie emporsteigern zur ganzen Herrlichkeit des Lebens, zu Ausgleich, Dank und am Ende zu der vielleicht großartigsten Strophe, die Goethe jemals gelang. Die darin erhobene Frage enthält zugleich ihre Beantwortung: Das in der »Gott-Natur« geborgene Gesamtergebnis von Schillers Leben, von Goethes eigenem und von aller Menschheit Leben.

***

Obschon zwischen den beiden Gedichten Eins und Alles (6. Oktober 1821) und Vermächtnis (12. Februar 1829) eine Spanne von fast acht Jahren besteht, gehören sie dennoch zueinander, ja greifen zum Teil auch wörtlich ineinander über. Zwar scheinen die Schlußzeilen des ersten (»Denn alles muß in Nichts zerfallen, wenn es im Sein beharren wlll«) den Anfangszeilen des zweiten (»Kein Wesen kann zu nichts zerfallen…«) zu widerstreiten, aber nur oberflächlich, denn der Unterschied zwischen »in Nichts« und »zu nichts« ist tiefgreifend und über beiden schwebt das Vereinheitlichende »Das Ewige regt sich fort in allen«. Für beide Gedichte gilt Goethes Wort an Eckermann (13. Februar 1829, also am Tage nach dem Entstehen von Vermächtnis ausgesprochen): »Die Gottheit ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Toten. Sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten.«

Beide Gedichte sind von der Gottesidee umschlossen, die sich in der Natur manifestiert, durch die der Mensch in seinem »Fromm-Sein« (Elegie) sich Gott bzw. der Gottheit annähert. Der Mensch muß sich zur höchsten Vernunft befähigen, um an die Gottheit zu rühren, »die sich in Urphänomenen, physischen wie sittlichen, offenbart, hinter denen sie sich hält und die von ihnen ausgehen.« (zu Eckermann am gleichen Tage).

Joan Miró: Triptychon: Hoffnung eines zum Tode Verurteilten, Tafel I, 1974
Friedrich Schiller: Gedankenlyrik



ln einer Zeit, die gültige Lyrik mit Erlebnisdichtung gleichsetzte, bedeutete der Begriff »Gedankendichtung« die Notbrücke, auf der man Schillers philosophische Gedichte als Dichtung retten und vor dem Verdammungsurteil »Lehrdichtung« bewahren zu können glaubte. Als Schiller mit lyrischer Dichtung begann - in der Anthologie auf das Jahr 1782, galten Lehrgedichte schon als veraltet, ob sie sich nun unverhüllt als solche darboten, wie Die Alpen des Albrecht von Haller (1729) oder sich in anmutig-scherzhafte Erzählungen versteckten wie Wielands Musarion (1768). Es muß also auffallen, mit welcher Entschiedenheit sich der junge Dichter der Konfession von Gedanken und Überzeugungen zuwandte. Von Anfang also, schon in der Rühmung der kosmischen Harmonie, welche die Anthologie durchzieht, spricht wahrhaftige, persönliche Bekenntnisdichtung. So führt denn von den Gedichten an Laura bis zu den großen Elegien von 1795 der eine, gleiche Weg.

Das mächtige Bild der Eingangsstrophe in Die Macht des Gesanges von 1795 lebt aus sich selbst und doch ist in ihm, in der Gewalt des Bergstroms, der aus dunkler Tiefe hervorbricht, Sinnbildlichkeit enthalten: Sie teilt sich unausgesprochen in der unmittelbaren Wirkung und Stimmung der Gebirgslandschaft mit. In diesem Introitus wird aber auch schon der Gang der Nemesis spürbar, das Anzeichen tiefer Notwendigkeit und hoher Berufung. Derart hängen die mittleren Strophen mit der ersten insgeheim, aber dicht zusammen. Der stürmischen Gewalt des Bergstroms hält die andersartige, aber ebenso mächtig andringende Szene am Schluß die Waage: die Heimkehr aus der Fremde in die Arme der Mutter. So führt eine einzige, starke Bewegung von jenem Anfang auf diesen Schluß zu. Jetzt erst leuchtet die Sinnbildlichkeit klar hindurch: Schillers Lehre von der heilenden, wiederherstellenden Kraft des Schönen und der Kunst. Das Gedicht behält indessen seine Wirkung und seinen Rang auch dann, wenn dem Hörer die ästhetischen Briefe unbekannt sind.

Joan Miró: Triptychon: Hoffnung eines zum Tode Verurteilten, Tafel II, 1974
Für die folgenden großen Gedichte des für seine Lyrik so fruchtbaren Jahres 1795 hat Schiller eine reimlose Form gewählt, die Paarung von Hexameter und Pentameter, also das elegische Distichon. Aus seinen Briefen an Körner und W. v. Humboldt kennen wir den Grund für diese Wahl: Fortschreiten und Innehalten, Ansteigen und Niedersinken, beschwingte Bewegung und nachdrückliche Pause gesellen sich einander in dieser antiken Versform wundersam. Wie sehr Schiller das ehrwürdige Modell in das eigene Empfinden hereinzunehmen vermochte, wird an seiner dichterischen Kennzeichnung offenbar:

Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule,
im Pentameter drauffällt sie melodisch herab.

Wohl nur in dieser federnden, durch den Reim nicht beschwerten, sozusagen spiritualen Form wurde das Erstaunliche möglich: die Verwandlung eines weit ausgreifenden, reich gegliederten Gedankenganges in ein leibhaftes Gehen und sinnenhaftes Umschauen. Das Fortschreiten des wandernden Dichters durch Flur und Wald gleitet hinüber und hinein in die Bewegung der Geschichte. Derart wird die Elegie Der Spaziergang wohl zum Höhepunkt von Schillers Lehrdichtung. Sie enthält die Idee vom Dreischritt der menschlichen Existenz: die glückhafte Frühe des Kindes und der jungen Völker, in welcher das noch ungeteilte Menschentum traumhaft sicher der Leitung durch den Instinkt folgt, sodann die Mittelzeit, das Erwachen zur Freiheit und zur Wahl deshalb aber auch zur inneren Entzweiung, endlich die Rückkehr des reifen Menschen zum Frieden des Anfangs - ein Weg, der freilich nicht eigentlich zurück, sondern hinauf führt, zur Versöhnung der Freiheit mit dem Glück. Sie gelingt jedoch nur in einer bestimmten Region, durch das Hereinwirken einer eigentlich jenseitigen, wenn auch nicht außerirdischen Macht, der Schönheit, in der Kunst. Die Heilung des Menschen von der notwendigen Versehrung durch die »bange Wahl zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden«, wie das Gedicht Das Ideal und das Leben sagt - darin bestehen Die Macht des Gesanges, das Geheimnis der Schönheit und die Sendung der Kunst. Am Ende der herrlichen Reihe von hochgemuten Gedichten, die alle jene Botschaft vom Paradies am Anfang, vom Eintritt in Würde und Unsal der Geschichte, von der Wiederbringung durch die Macht des Schönen verkünden - Der Tanz, Der Genius, Das Glück, Die Teilung der Erde—, am Ende dieser Reihe steht denn die einzige Klage, das einzige Totenlied, die Nänie schlechthin »Auch das Schöne muß sterben …«. Dieses Gedicht bezeichnet das harte und stumpfe Ende von Schhillers so oft gefeiertem, in Wahrheit aber keineswegs grenzenlosem Optimismus.

Quelle: Johannes Urzidil (Goethe) bzw. Gerhard Storz (Schiller), im Booklet. Beide – im Übermaß redseligen – Texte wurden von mir drakonisch gekürzt



Track 6: Johann Wolfgang von Goethe: Dem aufgehenden Vollmonde (25.August 1828)



TRACKLIST


JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
ALTERSLYRIK
Sprecher: Wilhelm Borchert

FRIEDRICH SCHILLER
GEDANKENLYRIK
Sprecher: Gert Westphal


Johann Wolfgang von Goethe - Alterslyrik

Trilogie der Leidenschaft (1823/24):
(01) An Werther 4:26
(02) Elegie 10:39
(03) Aussöhnung 1:59

(04) Bei Betrachtung von Schillers Schädel (1826) 2:56
(05) Chinesisch-deutsche Tages- und Jahreszeiten (1827) 6:31

Dornburger Gedichte (1828):
(06) Dem aufgehenden Vollmonde (25. August) 1:02
(07) Früh, wenn Tal, Gebirg und Garten (September) 0:53

(08) Der Bräutigam (1828) 1:40
(09) Eins und Alles (1823) 1:22
(10) Vermächtnis (1829) 2:29


Friedrich Schiller - Gedankenlyrik

(11) Der Genius (1795) 4:07
(12) Das Glück (1799) 5:46
(13) Der Tanz (1796) 2:26
(14) Die Macht des Gesanges (1795) 2:34
(15) Nänie (1800) 1:26
(16) Die Worte des Glaubens (1798) 1:40
(17) Die Worte des Wahns (1800) 1:44
(18) Epigramme: Der beste Staat - Die beste Staatsverfassung - 3:40
Politische Lehre - An die Gesetzgeber - Würde des Menschen -
Das Ehrwürdige - Das Höchste - Die idealische Freiheit -
Die Führer des Lebens
(19) Poesie des Lebens (1799) 2:02
(20) Sprüche des Konfuzius (1800) 1:55
(21) Der Pilgrim (1803) 1:46
(22) An die Freunde (1803) 2:46

Total Time 66:55
Aufnahme: Juli 1967 / August 1966
Projektleitung: Dr. Sören Meyer-Eller - Produzent: Hanno Pfisterer
Redaktion: Joachim Berenbold - Titelgestaltung: Thomas Christian
(P) 1967/1965 (C) 1996 Historische Aufnahmen, mono





Track 16: Friedrich Schiller: Die Worte des Glaubens (1798)



Miró auf Mallorca


»Das Schauspiel des Himmels überwältigt mich«

Joan Miró: Triptychon: Les trois bleus, Tafel I, 1961
Als Maler fasziniert Miró das klare Licht Mallorcas, das poetische Blau von Himmel und Meer. Poesie, Licht — mit diesen beiden Begriffen faßt er zusammen, was ihm die Insel bedeutet. ›Son Abrines‹, sein ländliches Anwesen mit Blick hinunter zum Meer, ist in den ersten Jahren ein Locus solus wie die vielen einsam gelegenen Fincas, die auch heute noch im Inneren der Insel und an ihren Steilküsten zu finden sind. Hier umgibt Miró Stille, Weite, der Himmel mit seinen Gestirnen sowie das Meer, das in seiner Bläue ohne Horizontlinie in den Himmel übergeht. Dieses Schauspiel der Natur überwältigt ihn. Wer die Insel kennt, weiß, daß der Himmel hier ein besonderer ist, vor allem der abendliche und nächtliche. In den langen wolkenlosen Sommernächten wölbt er sich mit solcher Klarheit und Transparenz über die Landschaft, als sei er die magische Glasglocke, die sie schützt.

Die ersten Bilder, die im neuen Atelier oberhalb der Bucht von Cala Mayor entstehen, haben diese ihn überwältigenden Erlebnisse zum Thema, teilweise kommen sie sogar im Titel zum Ausdruck. 1960 malt Miro das erste Bild zum Thema Einsamkeit Solitude I, 1968 das wunderbar poetische Werk Silence, ein kalligraphisches Bild, vital in der Farbe und übermütig in den wild über die Leinwand gestreuten schwarzen Lettern, die den Titel Schweigen schon wieder fast in Frage stellen. Zeitlich zwischen diesen zwei programmatischen Bildern vertraut er ganz auf die suggestive Wirkung einer entrückenden, immateriell erscheinenden Farbe: Blau, genauer Azur, in allen Nuancen, das ihn schon seit den frühen Pariser Jahren fasziniert. Dieses Blau von Himmel und Meer findet seine künstlerische Entsprechung in dem ersten großen Triptychon, das Miró im neuen Sertschen Atelier auf Mallorca malt. Er nennt es Les trois bleus, die drei Blaus. Blau ist die Farbe seiner Träume. Das teilt er uns in einem 1925 in Paris entstandenen poetischen Bild mit. Der darin lesbare Satz ›Ceci est la Couleur de mes rêves‹ verweist auf einen großen blauen Farbfleck am Rande einer sonst leeren Leinwand.

Joan Miró: Triptychon: Les trois bleus, Tafel II, 1961
Mit Les trois bleus löst Miró den Traum ein. Die Farbe auf der Leinwand wird jetzt zur Realität, die seit Jahren als Vorstellung hinter den geschlossenen Lidern lag. Er kennt sie aus der Erinnerung und baut nun ganz auf ihre poetische Kraft und das, was sie in Spannung hält: einige wenige Zeichen. Drei monumentale Leinwände mit Farbflächen in teils wässeriger, teils üppig dichter Konsistenz bilden in ihrer Gesamtheit einen Farbraum, der den Betrachter in seiner Intensität der verschiedenen Blautöne und spannungsreichen Leere überwältigt. Als Triptychon ist das Werk aus diversen Miró-Ausstellungen bekannt. Aber erst seit 1994 hat es in seiner Dreiheit auch einen festen Platz in einem Museum gefunden. Besitzer ist das Centre Pompidou, dank der Bemühungen von Dominique Bozo, dem es gelang, die drei Leinwände Stück für Stück für das Museum zu erwerben. Das Triptychon ist die Umkehrung des vom Horror vacui geprägten Frühwerks. Kontrapunktisch greifen in seine offenen Bildhorizonte einige glutvolle rote Lichterscheinungen: Streifen und Feuerbälle sowie hartkonturierte schwarze Scheiben und zarte ganz freigesetzte Linien, die jene Raum suggerierende Bläue zu durchziehen scheinen. In dieser poetischen Variante einer vom amerikanischen Colorfield beeinflußten Farbmalerei erleben wir das offene Kunstwerk, das dem Künstler wie dem Betrachter ein Höchstmaß an Freiheit zugesteht. Das Triptychon Les trois bleus ist das erste von mehreren monumentalen, dreiteiligen Bildzyklen. Miró gab auf den Keilrahmen als Datum den 4. März 1961 an. Es ist der Zeitpunkt, zu dem das Werk fertig wurde. Aus Mirós Kommentaren wissen wir, daß er lange an den drei Bildern arbeitete. Erste Skizzen entstanden im Februar 1960. Er selbst verglich seine intensiven Überlegungen mit den Vorbereitungen, wie sie die japanischen Bogenschützen treffen. »Sie beginnen, indem sie sich in den entsprechenden Zustand versetzen: ausatmen, einatmen, ausatmen.« Miró bereitete diese Kompositionen, wie er das immer tat, in Zeichnungen vor und überprüfte diese lange. Als er dann im Dezember 1960 damit begann, die Farbe in langsamen Bewegungen mit dem Pinsel auf die Leinwände aufzutragen, setzte für ihn eine neue Phase ein: er malte bis zur Erschöpfung. Angesichts der großen Formate von jeweils 270 x 355 cm ist das kaum verwunderlich. Nach Beendigung des Triptychons 1961 gestand er Rosamond Bernier: »Diese Bilder sind die Vollendung all dessen, was ich bisher zu machen versuchte.«

Joan Miró: Triptychon: Les trois bleus, Tafel III, 1961
Zwanzig Jahre bevor Miró in seinem großen Sertschen Atelier mit Les trois bleus das Schlüsselbild schuf, das sein Spätwerk auf Mallorca wie auf die knappe Form eines Gedichts zusammenfaßt, hatte er in einer kleinen Wohnung in Palma in Heften präzise festgehalten, welche von seinen Zeichnungen er in Bilder umsetzen wollte und wie dies zu geschehen hätte. Diese kleinen Zeichenblöcke, die später als ›Hefte von Palma‹ in die Miró-Stiftung in Barcelona kamen, entstanden 1940/41, als er aus Angst vor Repressalien in Palma unterschlüpfte. Interessant ist, daß Miró damals das Triptychon gedanklich schon vorwegnahm. Da heißt es zum Beispiel unter genauen Angaben zur Leinwand, die saugfähig zu sein habe, wie der tiefblaue Untergrund herzustellen ist: »die Vorbereitung der Leinwand hat sehr unregelmäßig zu sein, unter Verwendung von Lappen, Scheuerbürsten und den Pinseln, die in Palma zum Kalken der Wände verwendet werden.« Und an anderer Stelle: »Die Leinwände wie beschrieben vorbereiten, sie jedoch mit Weiß grundieren und gleich anschließend, bevor sie trocknen, Preußischblau auftragen unter Verwendung von Scheuerbürste, Lappen, Geschirrspülbürste, Kalkpinsel ...‚ bis eine tiefblaue Craie-Qualität erzielt ist.« Als weiteres notiert er, was er sich zum Ziel setzt: die Leinwand nicht mit Formen anfüllen, sondern Formen ausmerzen, sie auf das äußerste vereinfachen, zu einer spannungsreichen Leere finden. Leere Räume, leere Horizonte, leere Ebenen machten auf Miró einen großen Eindruck. Er verglich sie mit einem »beredten Schweigen«. Und noch etwas hält er als Forderung fest: Die Graphismen haben Magie, die Formen reine Poesie zu sein.

Joan Miró: Vorbereitende Zeichnungen
 für das Triptychon »Les trois bleus«
Zwei Jahre nach Les trois bleus, 1963, entsteht das zweite Triptychon: Grün, Rot, Orange - Malerei für einen Tempel, 1968 das dritte: Malerei auf weißem Grund für die Zelle eines Einzelgängers, 1974 vollendet er zwei weitere: Hoffnung eines zum Tode Verurteilten und Feuerwerk. Die Zyklen sind jeweils für einsame Orte geschaffen: Tempel, Kloster oder Gefängniszelle. Auf die Aura dieser Plätze antworten sie mit poetischer Leere. Miró wollte ein Höchstmaß an Intensität mit einem Minimum der Mittel erreichen. In der Zeitschrift ›Aujourd’hui: Art et Architecture‹ sprach er 1962 von einer meditativen Malerei. »Vor diesen Leinwänden sollte man sich wie in einem Tempel fühlen, wo nichts vom Objekt der Meditation ablenkt.« Zwei dieser Triptychen haben jeweils ein politisches Ereignis zum Thema. Präzise faßbar ist es im Werk Hoffnung eines zum Tode Verurteilten. Es erinnert an die mit Erschütterung auf- genommene Hinrichtung des Studenten Puig Antich, eines jungen Anarchisten. Ihn traf das letzte Todesurteil, das unter Franco vollstreckt wurde. Der Name Puig Antich steht als letzter auf einem der Monolithen, die heute die Gedenkstätte für die Opfer der Franco-Diktatur bilden. Die Vollstreckung des Todesurteils hatte in vielen europäischen Ländern eine Welle von Empörung ausgelöst.

Mit seinem festen Wohnsitz auf Mallorca beginnt für Miró auch eine rege Reisetätigkeit. Anlaß sind Ausstellungsprojekte und Aufträge für Wandgestaltungen in Paris, New York, Zürich, Düsseldorf, Rom, London, Mailand, Tokio. Die Reisen bleiben nicht ohne Einfluß auf seine Kunst, vor allem nicht die Aufenthalte in den Vereinigten Staaten und Japan. Die Malerei der New York-School — Drip Painting, Color field, Lyrical Abstraction — beeindruckt Miró und hinterläßt Spuren in seiner Malerei. ln Japan, wohin er zweimal reist, zum ersten Mal 1966 anläßlich einer Ausstellung in Tokio und Kyoto, das zweite Mal 1996, um einen Ausstellungspavillon in Osaka zu gestalten, faszinieren ihn vor allem die Zen-Malerei und die Keramik.

Quelle: Barbara Catoir: Miró auf Mallorca. Prestel, München/New York, 1995, (Pegasus). ISBN 3-7913-1478-5. Seiten 49 bis 56.

Miró vor dem begonnenen Triptychon
»Hoffnung eines zum Tode Verurteilten«, 1974
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Joseph Freiherr von Eichendorff: »Und die Welt hebt an zu singen« (gelesen von Gert Westphal). Sowie Gustav Klimts Blick auf die Frauen.

Von den »Worten des Glaubens« zu den »Worten des Wahns« und anderen deutschen melancholischen Gedichten. Dazu paßt Hieronymus Bosch. - Telemann und Watteau auch?

Mehr Bilder von Joan Miró, eingeweicht von Wolfgang Kemp, bespielt von Joseph Haydn.


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Chopin: Klaviersonaten Nr. 2 & 3, Fantasie, Barcarolle (Daniel Barenboim, 1974)

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Chopin schrieb fast ausschließlich für das Klavier als Soloinstrument; Ausnahmen sind die beiden Klavierkonzerte mit Orchester sowie einige Lieder und kammermusikalische Stücke. Dank seiner Konzentration auf das Kleinformat konnte er mit diesen Werken, die bei aller Einfachheit äußerst subtil waren, ein Höchstmaß an Perfektion erzielen. Selbst im Ausland war Chopin seiner Heimat leidenschaftlich zugetan; dementsprechend ist sein ganzes Œuvre von einer gewissen melancholischen Note beseelt. Auch die Melodien und Rhythmen beliebter polnischer Tänze, so die Polonaise und Mazurka, übten ihren Einfluss auf ihn aus, während seine Impromptus, Balladen, Scherzi, Walzer und Variationen von abstrakterer Natur sind, wie auch die Fantasie (1841) und Barcarolle (1845-46). Das Nocturne, ein vom irischen Komponisten John Field geprägter Titel, eignete er sich völlig an — verträumte Stücke mit langen, ruhigen, kantablen Melodien im Stil von Bellini. Chopin komponierte drei Klaviersonaten, von denen zwei hier eingespielt sind: Nr. 2 entstand 1839 (der dritte Satz, der berühmte Trauermarsch, stammt aus dem Jahre 1837) und Nr. 3 1844. Ganz allgemein findet sich in Chopins Œuvre eine beispiellose Harmonik und Rhythmik, die sich auf seine Nachfolger deutlich auswirkte.

George Dunlop Leslie (1835-1921): Rosen [Info]
Klaviersonate Nr. 2 b-moll, op. 35

“So fängt nur Chopin an und so schließt nur er: mit Dissonanzen durch Dissonanzen in Dissonanzen.” Mit diesen Sätzen begann Robert Schumann seine Rezension der b-Moll-Klaviersonate von Chopin, die 1840 im Druck erschienen ist. Zum Verständnis ihrer vier “tollen” Sätze genügt es, Schumann zu zitieren, denn eine treffendere Beschreibung der Sonate ist nicht gegeben worden:

Nach jenem “hinlänglich Chopin’schen Anfange folgt einer jener stürmischen leidenschaftlichen Sätze, wie wir deren von Chopin schon viele kennen. Aber auch schönen Gesang bringt dieser Theil des Werkes; ja es scheint, als verschwände der nationelle polnische Beigeschmack, der den meisten der früheren Chopin’schen Melodien anhing, mit der Zeit immer mehr, als neige er sich (über Deutschland hinüber) gar manchmal Italien zu… Aber, wie gesagt, nur ein leises Hinneigen nach südlicher Weise ist es; sobald der Gesang geendet, blitzt wieder der ganze Sarmate in seiner trotzigen Originalität aus den Klängen heraus.

Der zweite Satz ist nur die Fortsetzung dieser Stimmung, kühn geistreich, phantastisch, das Trio zart, träumerisch, ganz in Chopin’s Weise: Scherzo nur dem Namen nach, wie viele Beethoven’s. Es folgt, noch düsterer, ein Marcia funebre, der sogar manches Abstoßende hat; an seine Stelle ein Adagio, etwa in Des, würde ungleich schöner gewirkt haben. Denn was wir im Schlußsatze unter der Aufschrift ‚Finale’ erhalten, gleicht eher einem Spott, als irgend Musik. Und doch gestehe man es sich, auch aus diesem melodie- und freudlosen Satze weht uns ein eigener grausiger Geist an, der, was sich gegen ihn auflehnen möchte, mit überlegener Faust niederhält, dass wir gebannt und ohne zu murren bis zum Schlusse zuhorchen.”

Heute ist Chopins Opus 35 vor allem aus einem Grund berühmt: wegen des Trauermarschs, der zum berühmtesten Beispiel dieses Genres wurde. In unzähligen Bearbeitungen, besonders für Blaskapelle zu Beerdingungen und Prozessionen, ist die Melodie dieses Satzes so verbraucht, dass man sich ihrem Original doppelt aufmerksam zuwendet. Von dieser “Marche funebre” aus erschließen sich die übrigen Sätze des Werkes, die freilich keinen Anspruch auf “ordentlichen Sonatenstil” erheben. Schumann hielt es für eine “Caprice”, dass Chopin dieses Stück eine “Sonate” nannte, ja gar “einen Uebermuth, dass er gerade vier seiner tollsten Kinder zusammenkoppelte”.

Auf plastisch-anekdotische Weise hat Robert Schumann das Ausmaß an “Zukunftsmusik” in Chopins b-Moll-Klaviersonate deutlich gemacht: “Man nehme an, irgend ein Cantor vom Lande kommt in eine Musikstadt, da Kunsteinkäufe zu machen - man legt ihm Neustes vor - von nichts will er wissen - endlich hält ihm ein Schlaukopf eine ‚Sonate’ entgegen - ja, spricht er entzückt, das ist für mich und noch ein Stück aus der guten alten Zeit - und kauft und hat sie. Zu Hause angekommen, fällt er her über das Stück - aber sehr irren müßt’ ich mich, wenn er nicht, noch ehe er die erste Seite mühsam abgehaspelt, bei allen Musikgeistern darauf schwörte, ob das ordentlicher Sonatenstyl und nicht vielmehr wahrhaft gottloser (sei). Aber Chopin hat doch erreicht, was er wollte: er befindet sich im Cantorat, und wer kann denn wissen, ob nicht in derselben Behausung, vielleicht nach Jahren erst, einmal ein romantischerer Geist geboren wird und aufwächst, die Sonate abstäubt, und spielt und für sich denkt: ‚der Mann hatte doch so Unrecht nicht.’”

Zum Ende dieses Werkes – dem geisterhaft vorüberhuschenden, zweiminütigen Finale in lauten Oktaven ohne erkennbaren tonalen Zusammenhang – meinte Schumann zusammenfassend: “So schließt die Sonate, wie sie angefangen, rätselhaft, einer Sphinx gleich mit spöttischem Lächeln.”

George Dunlop Leslie (1835-1921): Beim Apfelschälen [Info]
Klaviersonate Nr. 3 h-moll, op. 58

1844, fünf Jahre vor Chopins frühem Tod, entsteht ein Werk, das so farbenreich und so monumental ist wie kaum eine andere Komposition des Polen. Chopin gibt ihr den Beinamen "Konzert ohne Orchester".
"Chopin hat das Klavier revolutioniert irgendwo. Vor ihm hat niemand Fingersätze verwendet, die er verwendet hat oder den Klavierklang so ausgereizt wie er es getan hat, also er hat eine ganze neue Ära eingeleitet. Und für das Klavier ist er wahrscheinlich sogar der ideale Komponist." (Ingolf Wunder)

Nach seiner ungestümen ersten Klaviersonate aus Jugendtagen und seiner aufsehenerregenden, zukunftsweisenden zweiten, richtet Chopin das Augenmerk in seiner letzten Sonate erstmals stärker auf die klassische Sonatenform. Ihr Aufbau erinnert an die Werke der Vorbilder. Doch Chopin, Freigeist und Querdenker, lotet zugleich die Grenzen der Sonatenform neu aus: Da, wo sonst ein langsamer Satz kommt, findet sich bei Chopin ein lebendig-bewegtes Scherzo mit perlenden Achtel-Figuren. Frei, intuitiv und gefühlsbetont ist Chopins Umgang mit den musikalischen Mitteln. Seine dritte Klaviersonate brennt vor romantischem Pathos. Ernste musikalische Figuren und zarte Melodielinien erzeugen eine geradezu meditative Stimmung. Doch am Ende lichtet sich die Schwermütigkeit dann doch: Im Finale mündet die Sonate in einen ungezügelten, rauschhaften Ausbruch.

Quellen: Ein Anonymus im Booklet | Kammermusikführer Villa Musica Rheinland-Pfalz | Kristin Amme in BR Klassik


Weiterlesen: Trauermarsch in b-moll - "Marche funèbre" - 3. Satz der Sonate op.35



Track 8 Klaviersonate Nr. 3 h-moll op. 58 - IV. Finale: Presto non tanto


TRACKLIST


Frédéric Chopin
1810-1849


Klaviersonate Nr. 2 b-moll op. 35
01 I: Grave - Doppio movimento 7:46
02 II: Scherzo 6:36
03 III: Marche funèbre: Lento 10:23
04 IV: Finale: Presto 11:27

Klaviersonate Nr. 3 h-moll op. 58
05 I: Allegro maestoso 8:55
06 II: Scherze: Molto vivace 2:42
07 III: Largo 9:27
08 IV: Finale: Presto non tanto 5:00

09 Fantasie f-moll op. 49* 12:57

10 Barcarolle Fis-dur op. 60* . 9:25

Total: 75:25

Daniel Barenboim Klavier

Aufgenommen: VI.1974, bzw. *VI. 1973, Abbey Road Studios, London
Produzent: Suvi Raj Grubb - Tonmeister. Neville Boyling
Abbildung: George Dunlop Leslie (1835-1921): "Rosen"
(P) + (C) 2004



Der gezähmte Tod


Graf Friedrich VII. von Toggenburg auf dem Totenbett auf der Schattenburg in Feldkirch, 1436 [Quelle]
Die neuen Wissenschaften vom Menschen — und die Linguistik — haben die Begriffe Diachronie und Synchronie in Gebrauch gesetzt, die uns möglicherweise zu Hilfe kommen können. Wie zahlreiche Elemente der allgemeinen Geistesverfassung, deren Entwicklung erst vor dem Hintergrund eines langen Zeitraumes zutage tritt, scheint auch die Einstellung zum Tode im Rahmen sehr großer Zeitspannen nahezu unveränderlich zu sein. Sie mutet gleichsam zeitlos an. Dennoch treten zu bestimmten Zeitpunkten Veränderungen in Erscheinung, sehr häufig langsam und zuweilen unbemerkt, heute jedoch schneller und zielstrebiger. […]

Diese Vorbemerkung ist durchaus erforderlich, um deutlich zu machen, in welchem Sinne ich die Themen dieser Abhandlungen ausgewählt habe. Die erste orientiert sich eher im Sinne der Synchronie. Sie umfaßt eine lange Abfolge von Jahrhunderten, etwa in der Größenordnung eines Jahrtausends. Ihr Gegenstand ist der des gezähmten Todes. Mit der zweiten treten wir in den Bereich der Diachronie ein: Welche Veränderungen haben im Mittelalter, ungefähr vom 12. Jahrhundert an, die zeitlose Einstellung zum Tode zu modifizieren begonnen, und welcher Sinn läßt sich diesen Veränderungen abgewinnen? […]

Beginnen wir mit dem gezähmten Tod und fragen wir uns zunächst, wie die Ritter des Heldenliedes oder der späteren mittelalterlichen Romane starben.

Zunächst haben sie eine Vorahnung. Man stirbt nicht, ohne Zeit gehabt zu haben, sich damit vertraut zu machen, daß man sterben wird. Andernfalls handelte es sich um den schrecklichen Tod, etwa den Pest-Tod oder den plötzlichen Tod, und der mußte als außergewöhnlich hingestellt werden, man durfte nicht von ihm sprechen. Normalerweise kündigte er sich dem Menschen jedoch an.

Hans Burgkmair (1473-1531): Sterbeszene mit Testamentaufsetzung
»So erfahrt denn«, sagt Gauvain (Gâwân), »daß ich nurmehr zwei Tage leben werde.« […]

In Roncevaux fühlt Roland, »daß der Tod ihn ganz übermannt. Vom Kopfe steigt er nieder nach dem Herzen«. Er »fühlt‚ daß seine Zeit zuende ist«. Tristan »fühlte, daß sein Leben dahinschwand, er verstand, daß er werde sterben müssen«. Die frommen Mönche gebärdeten sich nicht anders als die Ritter. Im 10. Jahrhundert fühlte ein ehrwürdiger Einsiedler in Saint-Martin de Tours nach vier Jahren Klausnerdasein, »daß er, wie uns Raoul Glaber erzählt, diese Welt würde verlassen müssen«. Derselbe Autor berichtet, daß ein anderer medizinisch erfahrener Mönch, der andere kranke Brüder versorgte, sich beeilen mußte: »Er wußte, daß sein Ende nahe war.«

Festgehalten sei, daß die Ankündigung sich aus natürlichen Zeichen ergab, oder, häufiger noch, eher aus einer inneren Überzeugung als aus einem übernatürlichen oder magischen Vorgefühl hervorging. Es war das etwas sehr Einfaches, sich durch alle Zeiten Hindurchziehendes, das noch in den heutigen Industriegesellschaften zum Teil überlebt hat. Etwas, das sowohl der Sphäre des Wunderbaren wie der der christlichen Frömmigkeit fremd ist: das spontane Erkennen. Da gab es nichts zu mogeln oder so zu tun, als hätte man nichts bemerkt. […]

Im 17. Jahrhundert versuchte Don Quichotte, verstiegen wie er war, dennoch nicht, in den Träumen, mit denen er sein Leben verbrauchte, dem Tode zu entfliehen. Im Gegenteil: Die Vorzeichen des Todes bringen ihn zur Vernunft. »Liebe Nichte«, sagt er sehr einsichtig, »ich fühle mich dem Tode nahe.« […]

Abbildung aus: Bericht, wie es gehe Gar nach dem A,B,C,...
Peter Isselburg, Nürnberg 1616 [Quelle]
So trug sich das auch noch ungezählte Male im rational-positivistischen oder im romantischen, exaltierten Frankreich des 19. Jahrhunderts zu. Es handelt sich um die Mutter von Monsieur Pouget: »Im Jahre 1874 erkrankte sie an der colerine [einer bösartigen Krankheit]. Nach vier Tagen: geht und sucht mir den Herrn Pfarrer, ich werde euch sagen, wenn es soweit ist. Und zwei Tage später: geht und bittet den Herrn Pfarrer, mir die letzte Ölung zu bringen.« Und Jean Guitton — der das 1941 schrieb — kommentiert: »Man sieht, wie die Pougets in diesen alten Zeiten [1874!] aus dieser in die andere Welt hinübergingen, als praktische und einfache Leute, als Beobachter der Zeichen, und zwar zunächst an sich selbst. Sie hatten es mit dem Sterben nicht eilig, aber wenn sie ihre Stunde nahen fühlten, starben sie, nicht zu früh und nicht zu spät, genau wie es sich gehörte, als Christen.« Aber auch andere, Nicht-Christen, starben ebenso einfach.

Wenn er sein Ende nahen fühlte, traf der Sterbende seine Verfügungen. Und alles nimmt, ganz schlicht, seinen Lauf wie bei den Pougets oder bei den Muschiks Tolstois. In einer so vom Wunderbaren geprägten Welt wie der der Romans de la Table ronde ist der Tod eine durchaus einfache Sache. Als Lancelot, verwundet und im wüsten Wald verirrt, gewahr wird, daß »alle Kraft seinen Körper verlassen hat«‚ sieht er ein, daß er sterben muß. Was also tun? Gesten, wie alte Bräuche sie ihm vorschreiben, rituelle Gebärden, wie man sie vollführt, wenn der Tod nahe ist. Er legt seine Waffen ab, streckt sich ruhig auf dem Boden aus: im Bett sollte er eigentlich ruhen (»auf dem Krankenbett«, wiederholen für mehrere Jahrhunderte die Testamente). Er formt seine Arme zum Kreuz — das ist ungewöhnlich. Dem Brauch aber tut er folgendermaßen Genüge: er liegt so, daß sein Gesicht nach Osten und Jerusalem zugewendet ist. […]

In Roncevaux erwartet der Erzbischof Turpin den Tod auf der Erde liegend, »mitten auf der Brust hält er seine schönen weißen Hände gekreuzt«. Das ist, vom 12. Jahrhundert an, die Stellung der liegenden Grabfiguren. Im Urchristentum wurde der Tote mit ausgestreckten Armen in der Haltung des Betenden dargestellt. Man erwartet den Tod ruhend, liegend. Diese rituelle Stellung wird von den Liturgisten des 13. Jahrhunderts vorgeschrieben. »Der Sterbende«, sagt Gulielmus Durandus, Bischof von Mende, »soll auf dem Rücken ausgestreckt liegen, damit sein Gesicht immer dem Himmel zugewendet ist.« Diese Haltung ist durchaus verschieden von der der Juden, wie sie aus Beschreibungen des Alten Testamentes ersichtlich wird: sie kehrten sich, um zu sterben, der Wand zu.

Tod Norberts von Xanten; aus dem Norbert-Zyklus
 im "Traditionskodex" aus Kloster Weißenau
[Quelle]
Derart vorbereitet, kann der Sterbende die letzten Akte des traditionellen Zeremoniells hinter sich bringen. Als Beispiel greifen wir das von Roland heraus, aus dem Rolandslied. Der erste Akt ist der bedauernde Rückblick, trauriges, aber sehr zurückhaltendes Gedenken an geliebte Wesen und Dinge, auf einige wenige Bilder reduzierter kurzer Abriß des Lebens. Roland »begann sich an mancherlei Dinge zu erinnern«. Zunächst »an manche Länder, die der Held erobert hatte, an das holde Frankreich, an die Männer seiner Familie, an Karl den Großen, seinen Herrn, der ihn erzog, seinen Meister und seine Gefährten«. Kein Gedanke an seine Mutter noch an seine Braut. Traurige, bewegende Erinnerung. »Er kann sich der Tränen und Seufzer nicht erwehren.« Aber diese Gemütsregung ist nicht von Dauer — wie später die Trauer der Hinterbliebenen. Sie ist ein Moment des Rituals.

Auf die wehmütige Klage über den Abschied vom Leben folgt die Abbitte bei den immer zahlreichen Gefährten und Angehörigen, die das Bett des Sterbenden umringen. Olivier bittet Roland um Vergebung für den Hieb, den er ihm versehentlich zugefügt hat: »›Und ich verzeihe es Euch hier und vor Gott‹. Bei diesen Worten verneigten sie sich voreinander.« Der Sterbende empfiehlt Gott die Überlebenden: »Gott segne Karl und das holde Frankreich«‚ fleht Olivier‚ »und vor allen anderen seinen Gefährten Roland.« Im Rolandslied ist weder vom Grab noch von der Wahl eines Grabes die Rede. Die Wahl eines bestimmten Grabes kommt erst in den späteren Liederzyklen der Table ronde vor.

Herzog Magnus von Württemberg auf dem Totenbett,
 mit den in der Schlacht von Wimpfen, 1622 erhaltenen
 Hieb- und Schusswunden Kupferstich [Quelle]
Es ist jetzt an der Zeit, die Welt zu vergessen und an Gott zu denken. Das Gebet setzt sich aus zwei Abschnitten zusammen: dem Schuldbekenntnis, »Gott, meine Schuld, durch Deine Gnade zur Strafe für meine Sünden...«, einer verkürzten Form des künftigen confiteor. »Beide Hände gefaltet zum Himmel erhoben, bekennt Olivier laut seine Sünden und bittet Gott, daß er ihm das Paradies schenke.« Das ist die Gebärde der Bußfertigen. Der zweite Abschnitt des Gebetes ist die commendacio animae [Empfehlung der Seele], eine Paraphrase eines sehr alten, möglicherweise bei den Juden der Synagoge entlehnten Gebetes. Im Französisch des 16. bis 18. Jahrhunderts heißen diese Gebete die recommendaces. »Wahrer Gott Vater, der Du niemals gelogen hast, Du hast Lazarus vom Tode erweckt und Daniel von den Löwen gerettet. Rette auch meine Seele wegen der Sünden, die ich in meinem Leben beging.«

Zu diesem Zeitpunkt vollzog sich der einzige religiöse — oder eher kirchliche — Akt (denn alles war religiös), die Absolution. Sie wurde vom Priester erteilt, der die Psalmen las, das Libera, Weihrauch op- ferte und den Körper mit Weihwasser besprengte. Diese Absolution wurde über dem Körper des nunmehr Verstorbenen wiederholt. Wir nennen sie »absoute«. Das Wort hat jedoch keinen Eingang in die Umgangssprache gefunden: In den Testamenten nannte man sie die recommendaces, das Libera […]

Später, in den Romans de la Table ronde, reicht man den Sterbenden das Corpus Christi. Die letzte Ölung blieb den Klerikern vorbehalten, sie wurde in der Kirche feierlich den Mönchen ausgeteilt.

Nach dem letzten Gebet bleibt nur noch das Harren auf den Tod, und der läßt für gewöhnlich nicht lange auf sich warten. Bei Olivier geht das folgendermaßen vor sich: »Sein Herz setzt aus, der Helm sinkt ihm vornüber, sein ganzer Körper streckt sich auf dem Boden. Der Graf ist tot, er weilt nicht mehr (unter uns).« Wenn es vorkommt, daß der Tod sich verzögert, so erwartet ihn der Sterbende schweigend: »Er spricht [sein letztes Gebet] und gibt fürderhin kein Wort mehr von sich« […]

Callixtus-Katakombe in Rom (Rekonstruktion).
Aus: G. B. DeRossi: La Roma sotterranea
cristiana, 1867 [Quelle]
Der Tod war auch eine öffentliche Zeremonie. Das Zimmer des Sterbenden wandelte sich zur öffentlichen Räumlichkeit mit freiem Eintritt. Die Ärzte, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts den ersten hygienischen Grundregeln auf die Spur kamen, erhoben Klage über die Überfüllung der Sterbezimmer. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts trugen Passanten, die auf der Straße dem kleinen Gefolge des Priesters mit dem Viatikum begegneten, ihm ihre Begleitung an und folgten ihm auf dem Fuße bis ins Zimmer des Kranken.

Wichtig war, daß Eltern, Freunde oder Nachbarn zugegen waren. Man führte die Kinder herein: Keine Darstellung eines Sterbezimmers bis zum 18. Jahrhundert ohne einige Kinder.

Man vergegenwärtige sich die Sorgfalt, mit der Kindern heute die gesamte Sphäre des Todes vorenthalten wird.

Schließlich ein letzter Aspekt, der bedeutsamste: Die Einfachheit, mit der die Todesriten hingenommen und vollzogen wurden, auf zeremoniöse Weise zwar, aber doch ohne dramatischen Charakter, ohne exzessive emotionale Regung. […] So ist man im Laufe von Jahrhunderten oder Jahrtausenden gestorben. In einer der Veränderung unterworfenen Welt hat die traditionelle Einstellung zum Tode den Anschein eines Komplexes von Trägheit und Unveränderlichkeit.

Diese alte Einstellung, für die der Tod vertraut und nahe und abgeschwächt, indifferent in eins war, stellt sich in schroffen Gegensatz zur unsrigen, bei der der Tod uns Angst einflößt, bis zu dem Grade, daß wir nicht mehr wagen, ihn beim Namen zu nennen. Deshalb heiße ich jenen vertrauten Tod den gezähmten Tod. Ich will damit nicht sagen, daß er früher wild gewesen sei, zumal er ja aufgehört hat, es zu sein. Ich will im Gegenteil sagen, daß er heute wild geworden ist.

Der eingefriedete Hof um die Kirche, Ort der Toten. Buchillustration von 1513
 (Die Leiche blutet, weil der Mörder sie berührt)
Wir wollen uns jetzt einem anderen Aspekt der alten Vertrautheit mit dem Tode zuwenden: der Koexistenz von Lebenden und Toten. Ein neues und überraschendes Phänomen. Es war im heidnischen und sogar im christlichen Altertum unbekannt. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ist es uns überdies gänzlich fremd geworden.

Trotz ihrer Vertrautheit mit dem Tode scheuten die Alten die unmittelbare Nachbarschaft der Toten und hielten sie abseits. Sie verehrten die Grabstätten: Unsere Kenntnis der alten vorchristlichen Kulturen erwächst uns zum größten Teil aus der Grab-Archäologie, aus den in Gräbern gefundenen Objekten. Eines der Ziele der Grabkulte war es jedoch, die Verstorbenen daran zu hindern, wiederzukehren und die Lebenden zu belästigen.

Die Welt der Lebenden sollte von der der Toten geschieden sein. Deshalb untersagte das Zwölftafel-Gesetz in Rom Bestattungen in urbe, innerhalb der Bannmeile der Stadt. Der theodosianische Codex wiederholt dasselbe Verbot, um die sanctitas der Wohnstätten der Lebenden zu schützen. […] Deshalb lagen die Friedhöfe auch außerhalb der Städte, an den Rändern der Ausfallstraßen wie der Via Appia in Rom, der Alyscamps in Arles.

Der Heilige Johannes Chrysostomus empfand dieselbe Abneigung wie seine heidnischen Vorfahren, als er in einer Homilie die Christen aufforderte, sich einem neuen und noch wenig verbreiteten Brauch entgegenzustellen: »Trage dafür Sorge, nie ein Grab in der Stadt anzulegen. Wenn man einen Leichnam da bettete, wo du schläfst und ißt, was würdest du tun? Und gleichwohl bettest du die Toten nicht da, wo du schläfst und ißt, sondern in den Gliedern Christi«‚ d. h. in den Kirchen.

Dennoch sollte sich der von Johannes Chrysostomus angeprangerte Brauch verbreiten und große Anziehungskraft ausüben, den Verboten des kanonischen Rechtes zum Trotz. Die Toten sollten in die Städte eindringen, aus denen sie für Jahrtausende ferngehalten worden waren.

Der Friedhof Cimetière des Innocents im Paris, um 1550:
Treffpunkt und Begräbnisstätte.
Das hat nicht so sehr mit dem Christentum, sondern mit dem Märtyrerkult afrikanischen Ursprungs seinen Anfang genommen. Die Märtyrer waren in außerstädtischen, für Heiden und Christen gemeinsam zugänglichen Nekropolen bestattet. Die Lageplätze der verehrten Märtyrergräber übten ihrerseits eine starke Anziehungskraft auf andere Grablegungen aus. Der Heilige Paulus ließ den Leichnam seines Sohnes in die Nähe der Märtyrer von Aecole in Spanien überführen, um ihn »den Märtyrern durch das Bündnis des Grabes zuzugesellen‚ damit er in der Nachbarschaft des Blutes der Heiligen von ihnen jene Tugend entlehne, die unsere Seelen reinigt wie das Feuer.« […]

Dieses Streben nach Vereinigung hat mit den außerstädtischen Friedhöfen eingesetzt, auf denen die ersten Märtyrer begraben worden waren. Über der confessio des Heiligen wurde eine von Mönchen betreute Basilika errichtet, in deren Umkreis die Christen bestattet sein wollten. Die Ausgrabungen römischer Städte in Afrika und Spanien bieten außergewöhnliches Anschauungsmaterial, das anderswo durch Elemente späterer Städtegründungen wieder unkenntlich gemacht wird: Anhäufungen von Steinsarkophagen in mehreren Stockwerken übereinander, die insbesondere die Wände der Apsis umschließen, die der confessio am nächsten liegen. Diese Häufung legt Zeugnis ab von der Macht des Wunsches, in der Nähe der Heiligen, ad sanctos, beigesetzt zu sein.

Es trat ein Zeitpunkt ein, zu dem die Trennung zwischen den Vorstädten, wo man ad sanctos bestattete, weil man sich extra urbem befand, und dem für Grablegungen noch immer unzugänglichen Stadtkern hinfällig wurde. Wir wissen, wie sich das im 6. Jahrhundert in Amiens abspielte: Der im Jahre 540 gestorbene Heilige Vaast, Erzbischof von Amiens, hatte sich sein Grab außerhalb der Stadt gewählt. Als aber die Träger den Leichnam aufheben wollten, konnten sie den plötzlich zu schwer gewordenen Körper nicht von der Stelle bringen. Darauf bat der Erzpriester den Heiligen, Anweisung zu geben, »daß Du an den Ort geschafft werdest, den wir [d. h. der Klerus der Kathedrale] für dich vorbereitet haben.« Er deutete den Willen des Heiligen richtig, da der Körper alsbald leicht wurde. Damit der Klerus das traditionelle Verbot derart umkehren und Vorsorge dafür treffen konnte, daß er die heiligen Gräber — und die Grabstätten, die sie nach sich ziehen würden — in der Kathedrale selbst zu umsorgen hätte, bedurfte es einer deutlichen Abschwächung der alten Abneigungen.

Der Friedhof Cimetière des Innocents im Paris im 18. Jahrhundert
Die Trennung zwischen Friedhofsabtei und Kathedralkirche war also dahingeschwunden. Die Toten, die sich bereits mit den Lebenden der vorstädtischen Wohnviertel verquickt hatten, wie sie im Umkreis der Abteien aufgeschossen waren, drangen auch ins historische Herz der Städte vor. Zwischen Friedhof und Kirche gab es jetzt keinen Unterschied mehr.

In der Sprache des Mittelalters bezeichnete das Wort Kirche (église) nicht nur ausschließlich die Baulichkeiten der Kirche, sondern auch den sie umgebenden Raum: dem Sprachgebrauch im Hennegau zufolge umfaßte die église paroichiale (paroissiale [Pfarrkirche]) »das Schiff, den Glockenturm und den Friedhof«.

Man predigte, man teilte an den großen Festtagen die Sakramente aus, man unternahm Prozessionen im Hof oder im atrium der Kirche, das ebenfalls geweiht war. Umgekehrt fanden Beisetzungen zugleich in der Kirche, an ihren Mauern und in deren unmittelbarer Nähe, in porticu, und unter den Dachtraufen, sub stillicidio, statt. Das Wort cimetière meinte insbesondere den äußeren Raum um die Kirche, das atrium oder aître. Aître ist deshalb eines der von der Umgangssprache benutzten Worte zur Bezeichnung des Friedhofs, während der Ausdruck cimetière bis zum I5. Jahrhundert eher dem Kirchenlatein zugehört. […] Es gab im Französischen ein anderes, als Synonym für aître benutztes Wort: charnier (Beinhaus). Es kommt, in der Form carnier, bereits im Rolandslied vor. […]

Schädelkapelle aus dem 30jährigen Krieg,
 Tscherbenei im Riesengebirge
Ursprünglich war charnier synonym mit aître. Es bezeichnete gegen Ende des Mittelalters lediglich einen Teil des Friedhofes, d. h. die Galerien, die, den Hof der Kirche umlaufend, mit Beinhäusern überbaut waren. Auf dem cimetière des innocents in Paris des 15. Jahrhunderts befindet sich »ein großer Friedhof, der dicht von Beinhäuser genannten Gebäuden eingeschlossen ist, in denen die Toten zusammengepfercht werden.« Derart läßt sich also der Friedhof vorstellen, wie er im Mittelalter und noch im 16. und 17. Jahrhundert bis hin zur Zeit der Aufklärung existierte.

Immer ist er der rechteckige Hof der Kirche, deren Mauerwerk im allgemeinen eine seiner vier Seiten bildet. Die drei anderen werden häufig von Bogengängen oder Beinhäusern eingenommen. Über diesen Galerien sind kunstvoll die Gebeine oder Schädel und Gliedmaßen angeordnet: Die Suche nach dekorativen Effekten mit Gebeinen als Material führte mitten im 18. Jahrhundert zu der makabren und barocken Bildkunst, wie man sie beispielsweise noch heute in der Kapuzinerkirche in Rom oder in der hinter dem Palazzo Farnese gelegenen Chiesa della Orazione e della Morte sehen kann — Lüster und Ornamente, die aus nichts als kleinen Knöchelchen verfertigt sind.

Kapuzinerfriedhof in der Kirche
Immacolata Concezione, Rom
Woher kamen diese in den Beinhäusern ausgestellten Gebeine? Hauptsächlich aus den großen Gemeinschaftsgräbern, den sogenannten »Armengräbern«, die mehrere Meter breit und tief waren und in denen die nur einfach in ihre Leichentücher gehüllten Körper, ohne Sarg, zusammengeschichtet wurden. Wenn ein Grab gefüllt war, schloß man es und öffnete ein anderes, älteres, nachdem man die ausgetrockneten Gebeine in die Beinhäuser geschafft hatte. Die sterblichen Überreste sehr Wohlhabender, die im Kircheninneren, nicht in den Gruftgewölben, sondern zu ebener Erde, unter den Steinfliesen des Fußbodens beigesetzt worden waren, hatten eines Tages auch den Weg in die Beinhäuser zu nehmen. Noch war die moderne Vorstellung nicht verbreitet, daß der Tote in einer Art eigenem Haus Wohnung finden sollte, dessen immerwährender Eigentümer — oder wenigstens langfristiger Mieter — er wäre, und daß er damit über ein eigenes Zuhause verfügen sollte, aus dem er nicht verdrängt werden könnte. Im Mittelalter und noch im 16. und 17. Jahrhundert war am genauen Schicksal der Gebeine wenig gelegen, vorausgesetzt, daß sie in der Nähe der Heiligen oder der Kirche, dicht beim Altar der Heiligen Jungfrau oder des Heiligen Geistes ihre Ruhe fanden. Es verschlug wenig, was die Kirche damit anfing, wenn sie sie nur in ihren geheiligten Mauern aufbewahrte.

Daß die Toten Eingang in die Kirche und ihren Hofbezirk gefunden hatten, hinderte beide nicht daran, zu öffentlichen Örtlichkeiten zu werden. Der Begriff des Asyls und des Refugiums steht am Ursprung dieser nicht-funeralistischen Bestimmung des Friedhofs. Für den Lexikographen, wie Du Cange einer war, war der Friedhof nicht immer zwangsläufig der Ort, an dem Bestattungen vorgenommen wurden; er konnte auch, unabhängig von jeder funeralistischen Bestimmung, Ort des Asyls sein und war durch diesen Begriff definiert: azylus circum ecclesiam.

Deshalb entschloß man sich, auf diesem Friedhof genannten Asylbezirk — ob dort nun Beisetzungen stattfanden oder nicht — Häuser zu bauen und sie zu bewohnen. Der Friedhof bezeichnete damit wenn nicht ein Wohnviertel, so doch wenigstens eine inselartige Ansammlung von Häusern, die in den Genuß bestimmter fiskalischer oder Domänen-Privilegien kamen. Schließlich wurde dieser Asylbezirk zu einer Stätte der öffentlichen Begegnung und Versammlung wie das Forum der Römer, die piazza major oder der corso mediterraner Städte, mit dem Zweck, dort Handel zu treiben, zu tanzen und zu spielen oder einfach nur gesellig beisammenzusein. Seitwärts der Beinhäuser richteten sich Gewerbetreibende und Läden ein. […]

Katakomben der Kapuziner in Palermo
Hier jedoch ein Text von 1657, der deutlich macht, daß das unmittelbare Nebeneinander von Gräbern und »fünfhundert nichtigen Tändeleien, wie man sie unter diesen Galerien zu Gesicht bekommt«‚ als lästig empfunden zu werden begann. »Inmitten dieses Gewühls [öffentlicher Schreiber, Wäscherinnen, Buchhändler, Altkleiderhändlerinnen] mußte man eine Bestattung vornehmen, ein Grab öffnen und Leichname ausheben, die noch nicht gänzlich verwest waren, während, selbst bei großer Kälte, der Erdboden des Friedhofes mephitische Geruchsschwaden ausströmen ließ.« Wenn man jedoch gegen Ende des 17. Jahrhunderts Anzeichen von Intoleranz wahrzunehmen beginnt, muß doch eingeräumt werden, daß man diese Promiskuität von Lebenden und Toten für mehr als ein Jahrtausend bereitwillig in Kauf genommen hat.

Das Schauspiel der Toten, deren Gebeine an der Erdoberfläche der Friedhöfe zutage traten wie Hamlets Schädel, beeindruckte die Lebenden nicht mehr als die Vorstellung ihres eigenen Todes. Sie waren an die Toten ebenso gewöhnt, wie sie sich mit dem eigenen Tod vertraut gemacht hatten. […]

Quelle: Philippe Ariès: Studien zur Geschichte des Todes im Abendland. (Übersetzt von Hans-Horst Henschen). (Hanser Anthropologie, Hrsgr Wolf Lepenies u. Henning Ritter.) Hanser, München/Wien 1976. ISBN 3-466-12284-2. Seiten 19 bis 30 (gekürzt)


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Schumann: Kinderszenen – Waldszenen – Papillons – Drei Romanzen (Wilhelm Kempff, 1967-74)

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Kinderszenen. Leichte Stücke für Klavier op. 15

Auch durch die Welt der Kinder ließ sich Robert Schumann in seinem kompositorischen Schaffen inspirieren. Wahrscheinlich im Februar und März 1838 entwarf er eine Reihe von kleineren Klavierstücken, die ein Jahr später bei Breitkopf & Härtel in Leipzig als Kinderszenen op. 15 veröffentlicht wurden. Zwei der Stücke (Nrn. 6 und 9) entstanden vermutlich bereits im Herbst 1837. Ursprünglich waren sämtliche 13 Stückchen im Umfeld zu den später als Novelletten op. 21 gedruckten entstanden. Die Kinderszenen sollten den Anhang einer geplanten Sammlung bilden, emanzipierten sich aber bald als eigenständiges Opus. Die letztlich in zwei Sammlungen eingegangenen Stücke entsprangen alle der optimistisch-heiteren Seite Schumanns, die ihn zu jener Zeit fest an das Zustandekommen einer ehelichen Verbindung mit Clara Wieck glauben ließ.

Seiner Braut schrieb er am 19. März 1838, dass er „an die 30 kleine putzige Dinger geschrieben“, und davon „zwölf ausgelesen und 'Kinderscenen' genannt habe“. Weiter bemerkte er, „Du wirst Dich daran erfreuen, mußt Dich aber freilich als Virtuosin vergeßen.“ Da Schumann hier noch von zwölf Stücken spricht, war möglicherweise „Der Dichter spricht“ zu diesem Zeitpunkt noch nicht zur Veröffentlichung in op. 15 ausgewählt worden. Schumann konzipierte seine Sammlung unter dem Aspekt, die einzelnen Stücke auf verschiedenen Ebenen im zyklischen Sinne miteinander zu verbinden. Neben solchen auf kompositionstechnische Weise erzielten Beziehungen schafft die poetische Idee eine zusätzliche Verflechtung der Einzelstücke zu einem harmonisch-bildhaften Ganzen.

August Schumann (1773-1826) im Alter von 37 Jahren,
Robert Schumanns Vater. Gemälde von L. Glaeser, 1810
Schumann versah seine „putzigen Dinger“ darüber hinaus mit charakterisierenden Titeln, die auch sogleich zu den ersten Missverständnissen führten: Ludwig Rellstabs Besprechung der Kinderszenen in der Zeitschrift Iris im Gebiete der Tonkunst von August 1839 fiel so aus, dass Schumann sich veranlasst sah, erbost zu reagieren: „Ungeschickteres und Bornirteres ist mir aber nicht leicht vorgekommen, als was Rellstab über meine Kinderszenen geschrieben. Der meint wohl, ich stelle mir ein schreiendes Kind hin und suche die Töne dann danach. Umgekehrt ist es. Doch leugne ich nicht, das mir einige Kinderköpfe vorschwebten beim Componiren; die Überschriften entstanden aber natürlich später und sind eigentlich nichts als feinere Fingerzeige für Vortrag und Auffassung.“

Gedacht sind die Stücke aus op. 15 nicht für Kinder und Jugendliche (wie beispielsweise das später entstandene Jugendalbum op. 68), sondern vielmehr für Erwachsene, die sich gerne an die Kindheit zurückerinnern wollen. Es handle sich hierbei um „Rückspiegelungen eines Älteren für Ältere“, schrieb Schumann im Oktober 1848 an den befreundeten Pianisten, Komponisten und Dirigenten Carl Reinecke. Außerdem liefern sie ein Bild der ganz persönlichen Vorstellung Schumanns des von ihm herbeigesehnten Familienidyll mit Clara: Ob nun Kinder spielend herumspringen wie in „Hasche-Mann“ oder „Ritter vom Steckenpferd“, ob ihnen Geschichten erzählt oder ein Schlaflied gesungen wird („Von fremden Ländern und Menschen“, „Kuriose Geschichte“, „Kind im Einschlummern“), ob man ihr Bitten aufgreift wie in „Bittendes Kind“ oder sich schließlich ganz biedermeierlich-gemütlich als Eltern von den Strapazen des Tages „Am Kamin“ erholt und dabei einer „Träumerei“ nachgeht.

Christiane Schumann geb. Schnabel (um 1767-1836)
im Alter von ca. 43 Jahren, Mutter von
 Robert Schumann. Gemälde von L. Glaeser, 1810.
Waldszenen. Neun Stücke für Klavier op. 82

Am Heiligen Abend des Jahres 1848 skizziert Schumann das erste Stück (Jäger auf der Lauer) seiner Klavier-Sammlung Waldszenen op. 82. Ende Dezember entstehen vier weitere Stücke sowie noch zwei am ersten Tag des neuen Jahres 1849. Schumann arbeitet sie während der nächsten Tage aus und schließt diesen Prozess am 3. Januar 1849 mit dem Stück Abschied vorläufig ab. Drei Tage später fügt er das nachträglich komponierte Vogel als Prophet hinzu, das im Druck letztlich an siebter Stelle platziert wird. Im folgenden Jahr 1849, von Schumann als sein „fruchtbarstes“ bezeichnet, entstehen zahlreiche Werke, von denen er mehrere während der nächsten zwei Jahre veröffentlichen möchte. Seine Waldscenen sind für 1850 vorgesehen.

Zwischenzeitlich übersiedelt die Familie nach Düsseldorf, wo Schumann im September 1850 die Stelle des Städtischen Musikdirektors antritt. So kann er erst an seinem neuen Wohnort die endgültige Fassung der Stücke erstellen, deren Revision er Ende September abschließt. Kurz darauf fragt er bei Verleger Senff, ob er das druckfertige Manuskript schicken solle, was dann am 8. Oktober geschieht. Schon am 30. November 1850 kündigt Senff die Waldszenen in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Signale für die musikalische Welt an.

Friedrich Wieck (1785-1873) im Alter von ca. 45
Jahren, Vater von Clara. Robert-Schumann-Haus Zwickau.
Zyklustitel, Überschriften und Titelblattgestaltung der Erstausgabe greifen ein zentrales Thema der Romantik auf, die den Wald zum Symbol der absoluten Harmonie zwischen Mensch und Natur, zum Inbegriff der Natur schlechthin stilisierte. Dies verband sich mit durchaus zwiespältigen Empfindungen: Einerseits galt der Wald als Hort des Dämonischen, Ungewissen und Bedrohlichen, andererseits erschien er als ein Geborgenheit verheißender Zufluchtsort, als Stätte der Ruhe und Besinnung, bis hin zur religiösen Aura (Stück Nr. 7 Vogel als Prophet). Schumann widmet diesem populären Themenkreis mit den Waldszenen erstmals einen ganzen Zyklus, dem er einen zusätzlichen Akzent durch das Motiv der Jagd verleiht. In der Stichvorlage zu op. 82 notiert er sieben literarische Mottos zu den Stücken, von denen drei aus der Sammlung Die Waldlieder von Gustav Pfarrius stammen. Da dieser Gedichtband erst 1850 erscheint, kann Schumanns Plan der Mottos nicht von Anfang an bestanden haben. Er folgt mit dieser Idee einer zu seiner Zeit durchaus gängigen Praxis, die keiner programmmusikalischen Intention, sondern vielmehr einem synästhetischen Gedanken dienen möchte. Die Sorge, den Rezipienten tatsächlich im programmatischen Sinne zu beeinflussen, veranlasst Schumann vermutlich zur Streichung fast aller Mottos. Lediglich die Verse Friedrich Hebbels zum Stück Nr. 4 Verrufene Stelle stehen im Druck.

Den engen äußerlichen Rahmen seiner Waldszenen löst Schumann auch musikalisch ein. Nicht nur namentlich indizieren die beiden Eckstücke Eintritt und Abschied eine bogenförmige Konzeption, sie ähneln einander auch in Tempo, Ton- und Taktart sowie in ihrer abschließenden absteigenden Achtel-Wendung. Schumann achtet in op. 82 auf eine ausgewogene Balance zwischen Wald- und Jagdstücken. Auch die Tonartenfolge aller neun Stücke (B-Dur, d-moll, B-Dur, d-moll, B-Dur, Es-Dur, g-moll, Es-Dur, B-Dur) unterliegt einer Symmetrie. Im tonmalerischen Bereich verwendet Schumann traditionelle Topoi: Vom Gesang der Vögel über das Rauschen der Blätter und das Plätschern der Quellen bis hin zum Jagd- und Hörnerklang. In den Jagdstücken kommen charakteristische musikalische Momente zum Einsatz, wie die Tonart Es-Dur, der 6/8-Takt, prägnante und straffe Rhythmen, lebhafte Tempi sowie die berühmte Signalfolge der Hornquinten (Nr. 2 Jäger auf der Lauer und Nr. 8 Jagdlied). Neben der heiter-beschwingten I dylle und gelösten Atmosphäre von Nr. 1 Eintritt, Nr. 5 Freundliche Landschaft und Nr. 6 Herberge finden sich die melancholische Stimmung in Nr. 3 Einsame Blumen, der wehmütige Nachklang im Schluss-Stück Abschied und die bedrohlich düster wirkenden, dissonanten Akkorde in Nr. 4 Verrufene Stelle. Der geheimnisvoll-schwebende, harmonisch verunklarte Klang in Vogel als Prophet (Nr. 7) weist einen bereits durch den Titel implizierten ambivalenten Charakter auf: Einer stilisierten Nachahmung von Vogellauten steht die andächtig-feierliche Atmosphäre des choralartig konzipierten Mittelteils gegenüber.

Mariane Bargiel (1797-1872), geschiedene
Wieck, geb. Tromlitz. Mutter von Clara.
Substanzielle Verflechtungen unterstützen die Geschlossenheit der Sammlung. Kleine motivische Muster tauchen in ihrer Grundgestalt, variiert oder als einfache Reminiszenz immer wieder auf. Die quasi als Hauptthema gedachte, zweitaktige Achtelwendung aus Nr. 3 Einsame Blumen wird in echoartiger Nachahmung wiederholt und mit sich selbst kontrapunktisch verflochten. Bereits nach wenigen Takten des folgenden Stücks Verrufene Stelle erscheint dieses Motiv wieder. Hier steht auch das einzige der ursprünglich geplanten Mottos, wodurch das musikalische Zitat des 'Blumenmotivs' eine zusätzliche poetische Motivation erhält. Als einziges ist dieses Motiv in allen neun Stücken präsent, erhält in Nr. 6 Herberge mehrere Takte lang sogar thematische Bedeutung. Die für ein Charakterstück als typisch geltende dreiteilige Liedform findet in op. 82 nur in zwei Fällen Verwendung (Nr. 7 und Nr. 8). Im übrigen ergibt sich die formale Struktur viel eher aus der speziellen Motivtechnik.

Die Waldszenen entspringen Schumanns Streben nach Popularität zu einer Zeit, als eine Hinwendung zur tendenziell biedermeierlichen „Hausmusik“ in seinem Schaffen auffällt. Ähnlich wie seine Kompositionen „für die Jugend“ eignen sich auch diese Stücke durch ihre volkstümliche Einfachheit, ihren eingängigen Charakter und die durchaus zu bewältigenden technischen Spielanforderungen für den hausmusikalischen Gebrauch. Von jeher erfreuten sich einige der Stücke größerer Beliebtheit, weshalb sie seit 1867 auch einzeln verlegt wurden, obwohl Schumanns Intention der zyklischen Geschlossenheit dabei verloren geht. Clara Schumann spielte dieWaldszenen als Zyklus erstmals öffentlich 1869 in London.

Robert Schumann (1810-1856) im Alter von 29 Jahren.
Lithografie von Joseph Kriehuber, Wien 1839.
Für Schumann selbst war es offenbar das einzige Porträt,
 das er schätzte: „Von meinen Bildern taugt keines
 viel, etwa das Kriehubersche ausgenommen.“
Papillons op. 2

Zwischen 1829 und Januar 1832 schrieb Robert Schumann zahlreiche tanzartige Stücke, von denen er einige „Papillons“ oder „Papillote“ nannte. Als er schließlich damit begann, aus dem Fundus dieser Skizzen eine druckbares Opus zusammenzustellen, kam ihm wohl der Gedanke, dass sich in diesem Walzerreigen Teile der Handlung des Romans Flegeljahre von Jean Paul widerspiegeln. Gerade die beiden Protagonisten dieses Bildungsromans, das Brüderpaar Walt und Vult, hatten es Schumann von jeher angetan, konnte er doch sein eigenes, oftmals gespaltenes Seelenleben mit deren Charakteren identifizieren. Weiteres musikalisches Material lieferten jene 1828 in Zwickau komponierten, von Schubert beeinflussten und zu Schumanns Lebzeiten unveröffentlichten vierhändigen Polonaisen. Die schließlich im April 1832 als op. 2 bei Friedrich Kistner in Leipzig unter dem Titel Papillons erschienenen zwölf kleinen Tonbilder leben von tänzerischen Rhythmen und überraschenden Ausdruckswechseln.

Nach wenigen unisono und in Akkordbrechungen geführten Einleitungstakten (Introduzione) folgt eine zierliche Miniatur im Ländler-Stil, auf deren Hauptmotiv Schumann im weiteren Verlauf immer wieder zurückgreift. Dem kurzen zweiten Stück „Prestissimo“ aus vorüberhuschenden Sechzehnteln schließt sich in Nr. 3 eine als Kanon fortgeführte, markante Bass-Melodie an, die ihrerseits durch ein graziös-tänzerisch bewegtes „Presto“ abgelöst wird, dessen sehnsuchtsvoller Gestus lange nachklingt. Heiter-beschwingte Partien wechseln im fünften Stück mit eher kraftvollen ab. Prägnante harmonische Spannungen treten erstmals auf und werden im folgenden Stück noch intensiviert. Während in Nr. 7 „Semplice“ eine gemäßigte, feierliche Haltung dominiert, erinnert der brillante Tanz des folgenden Stücks stark an die seinerzeit beliebten Ländler Franz Schuberts. Leidenschaftlich-erregt jagt die Nr. 9 im „Prestissimo“ dahin, dessen dramatisch-fliehenden Motivik vom nächsten Stück („Vivo“) kurz aufgegriffen wird. Im übrigen lebt die gesamte Nr. 10 von zahlreichen Zitaten aus allem bisher Gehörten sowie von plötzlich einsetzenden Kontrasteffekten. Nr. 11 ist das umfangreichste Stück der Sammlung. Nur wenige schwungvolle Einleitungstakte führen zu einer temperamentvollen Polonaise, in deren Mitte sich ein lyrischer „Più lento“-Abschnitt poetisch absetzt.

Clara Wieck (1819-1896) im Alter von 18 Jahren.
Bleistiftzeichnung von Johann Heinrich Schramm,
Prag, November 1837. .
Auf besonderen Effekt zielt die Ausstattung des letzten Stücks Nr. 12, zeigt sich doch hier intensiv Schumanns erste musikalische Auseinandersetzung mit dem literarischen Werk des von ihm überaus geschätzten Dichters und Schriftstellers Jean Paul. Passagen der Papillons lassen sich – mit aller Vorsicht – auf einzelne Szenen des Schlusskapitels aus Jean Pauls Roman Flegeljahre beziehen. Schumanns autograph belegte Äußerungen gestatten vor allem für das Finale derartige Rückschlüsse. Musikalisch gestaltet er die Szene in farbenfrohen, humorvollen, beinahe grotesken Bildern. Nachdenkliche Stimmungen wechseln mit vitalen, kämpferischen und heiteren ab. Mehrfach zitiert Schumann hier den in der romantischen Denkweise als ausgesprochene „Philistermusik“ verlachten Großvatertanz, der später im Carnaval op. 9 wieder erscheint. Plump und schwerfällig setzt sich dessen Thema gegen das leicht vorüberflatternde, ländlerartige zweite Motiv ab, um letztlich mit diesem spurlos zu verschwinden. Ganz so, wie auch im Roman Vult dem Bruder Walt am Ende entflieht. Nachdem sich Schumanns musikalische Gedanken Takt für Takt langsam verflüchtigt haben, markiert er den Schluss seiner Papillons auf eine besonders eindrucksvolle und in der Musikgeschichte neuartige Weise durch eine Akkord-Reduktion: Ein Ton nach dem anderen wird aus dem arpeggiert angeschlagenen Dominantseptakkord von unten nach oben aufgehoben, bis am Ende nur noch der Grundton a übrig bleibt.

Robert Schumann im Alter von 34 Jahren.
Stahlstich von Auguste Hüssener, 1847, nach einem
verschollenem Gemälde von Joseph M. Aigner,1844.
Drei Romanzen für Klavier op. 28

Die Drei Romanzen op. 28 schrieb Robert Schumann im Winter 1839. Ihre gesamte Entstehungsgeschichte ist getragen von jenem Aufschwung, den die bevorstehende Rückkehr seiner Braut Clara Wieck nach Leipzig sowie die immer greifbarer werdende Heirat mit ihr auslösten. Nachdem Schumann einige Monate zuvor seinen Aufenthalt in Wien ohne den gewünschten Erfolg beendet hatte, entwickelte er neue Pläne zur Gestaltung seines zukünftigen Lebens. Es gelang ihm, Clara Wieck zur Rückkehr von ihrer Konzertreise nach Paris zu überreden, um mit ihr gemeinsam endlich sämtliche zur Eheschließung notwendigen Formalitäten zu erledigen. Die enormen Anstrengungen ihres Vaters Friedrich Wieck, die Heirat zu verhindern, sowie seine verleumderischen Anfeindungen gegen Schumann hatten immer größere Dimensionen angenommen.

Aber trotz aller Intrigen, aller erzwungenen Trennungen des jungen Paares konnte Wieck seine Tochter letztlich nicht dazu bewegen, ihr Verlöbnis mit Schumann zu lösen. Die beiden jungen Leute sahen sich schließlich gezwungen, mit Unterstützung Mariane Bargiels, Claras von Friedrich Wieck geschiedener Mutter, Klage beim Leipziger Appellationsgericht gegen den Vater einzureichen, um dessen Einwilligung auf diesem Wege zu erlangen.

Seine in dieser Situation komponierten Romanzen op. 28 wollte Schumann zunächst Clara widmen, da er sie „zuerst u. beim Componiren […] im Sinn“ hatte, doch dann schrieb er ihr: „es ist mir aber beides Deiner nicht gut u. würdig genug“. Clara erwiderte: „Auf die Romanzen mache ich aber Anspruch; als Deine Braut mußt Du mir durchaus noch etwas dedicieren, und da weiß ich denn doch nichts Zarteres als diese 3 Romanzen, besonders die Mittelste, die ja das schönste Liebesduett.“ Aber „die Romanzen sind wahrhaftig nicht gut genug für so ein Mädchen“, so dass Schumann sie dem befreundeten Erfurter Musikliebhaber Heinrich II., Graf von Reuß-Köstritz dedizierte, als sie 1840 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig erschien. Cara allerdings wurde überaus „würdig“ entschädigt durch die kurz darauf gedruckte Liedsammlung Myrthen op. 25 mit ihrer „Brautwidmung“.

Clara Wieck im ihrem 21. Lebensjahr. Aquarellierte
Zeichnung von Johann H. Schramm, Sommer 1840.
In Spanien ursprünglich als „Erzähllied“ weit verbreitet, gewann die Romanze seit der Klassik auch im Bereich instrumentaler Musik zunehmend an Bedeutung. Mit liedhafter Struktur, bei formaler Übersichtlichkeit und ohne extreme Spannungen im Ausdruck sollten derartige Kompositionen leicht fassbar und allgemein verständlich bleiben. Diesen eher biedermeierlichen Postulaten erteilte Schumann in seinen Schriften und Werken eine klare Absage. Seine Drei Romanzen op. 28 weisen in Charakter, Form und kompositorischer Ausführung so große Unterschiede auf, dass seine weit gefasste stilistische Vorstellung der Gattung offensichtlich wird.

In ihrem kraftvoll fließenden Triolen-Duktus bleibt die erste Romanze in b-moll am ehesten dem ursprünglichen balladesken, erzählenden Grundton verhaftet. Düster und voller Unrast hebt die rhythmisch frei disponierte Tonfolge an, aus der sich keine rechte liedhafte Melodie entwickeln will. Nur ein eingeschobener Teil, der von C-Dur nach Fis-Dur führt, durchbricht mit seinem etwas lyrischeren Gestus die unheimliche Grundstimmung.

Die schon von Clara Wieck hervorgehobene zweite Romanze in Fis-Dur stellt ein echtes Juwel dar. Ein subtiles Stimmengewebe umrahmt die liedhaften Melodiefloskeln, deren volkstümliche Einfachheit rhythmisch und harmonisch variiert wird. Die schlichte, aber gefühlsbetonte Innigkeit dieser wohl bekanntesten Romanze aus op. 28 wird nicht zuletzt durch geschickte kompositorische Griffe erzielt.

Die Notation der Musik auf drei Systemen beweist ein weiteres Mal Schumanns Bereitschaft, stets neue Möglichkeiten auf eingefahrenen Wegen zu suchen. Die dritte Romanze in H-Dur ist das umfangreichste Stück der Sammlung op. 28. Mit ihrem marschartigen Charakter und der relativ komplexen Formung zeigt sie am stärksten Schumanns Trennung von der eindimensional lyrischen zur erheblich vielfältigeren Bandbreite dieses Genres. Mit zwei ausdrucksmäßig kontrastierenden, motivisch aber aufeinander bezogenen Motiven gestalten sich die Rahmenteile, während zwei im Tempo abgehobene Intermezzi einem abweichenden Charakter folgen. Seinen besonderen Reiz erhält das zweite Intermezzo durch jene für Schumanns Klavierstil so typische rhythmische Irregularität.

Quelle: Irmgard Knechtges-Obrecht im Robert Schumann Portal


Track 7: Kinderszenen op.15, VII. Träumerei


TRACKLIST

Robert Schumann
(1810-1856)

Kinderszenen op.15

[01] 1. Von fremden Ländern und Menschen 1:40
[02] 2. Kuriose Geschichte 1:01
[03] 3. Hasche-Mann 0:35
[04] 4. Bittendes Kind 0:51
[05] 5. Glückes genug 0:44
[06] 6. Wichtige Begebenheit 0:56
[07] 7. Träumerei 2:26
[08] 8. Am Kamin 1:05
[09] 9. Ritter vom Steckenpferd 0:48
[10] 10. Fast zu ernst 1:38
[11] 11. Fürchtenmachen 1:58
[12] 12. Kind im Einschlummern 2:01
[13] 13. Der Dichter spricht 2:07

Waldszenen op.82

[14] 1. Eintritt. Nicht zu schnell 2:22
[15] 2. Jäger auf der Lauer, Höchst lebhaft 1:24
[16] 3. Einsame Blumen. Einfach 2:19
[17] 4. Verrufene Stelle. Ziemlich langsam 3:16
[18] 5. Freundliche Landschaft. Schnell 1:25
[19] 6. Herberge, Mäßig 2:17
[20] 7. Vogel als Prophet. 3:22
[21] 8. Jagdlied. Rasch, kräftig. 2:44
[22] 9. Abschied. Nicht zu schnell 3:39

[23] Papillons op.2 13:09

Introduzione. Moderato
1.(ohne Bezeichnung)
2. Prestissimo
3.(ohne Bezeichnung)
4. Presto
5.(Grazioso)
6.(ohne Bezeichnung)
7. Semplice
8.(ohne Bezeichnung)
9. Prestissimo
10.Vivo
11.(ohne Bezeichnung)
12.Finale

Drei Romanzen op.28

[24] 1. Sehr markiert 3:52
[25] 2. Einfach 3:51
[26] 3. Sehr markiert - Intermezzo I. Presto 7:45
Intermezzo II. Etwas langsamer -
Wie vorher

Gesamtspielzeit: 69:42

Wilhelm Kempff, Klavier

(P) [01]-[13], [24]-[26] : 1973
(P) [14]-[22]: 1974
(P) [23]: 1967


Track 20: Waldszenen op.82, VII. Vogel als Prophet. Langsam, sehr zart.


Der eigene Tod


Aus der vorausgehenden Darstellung wurde ersichtlich, wie eine bestimmte verbreitete und selbstverständliche Auffassung des Todes von der abendländischen Kultur übernommen wurde. Wir werden jetzt sehen, wie diese Auffassung weder durchbrochen noch getilgt, sondern im Zuge des Hochmittelalters, d. h. vom 11. bis 12. Jahrhundert an, abgeschwächt worden ist. Es handelt sich — und das muß von Anfang an deutlich gemacht werden — nicht um eine neue Einstellung, die sich an die Stelle der früheren, von uns analysierten setzte, sondern um kaum merkliche Modifikationen, die der traditionellen Vertrautheit des Menschen mit dem Tode allmählich einen dramatischen und persönlichen Sinn verleihen. […]

Die Phänomene, die wir herausgreifen, um das zu demonstrieren, sind die folgenden: die Darstellung des Jüngsten Gerichts am Ende der Zeiten; die Verschiebung des Gerichts auf das Ende des einzelnen Lebens, auf den punktuellen Augenblick des Todes; die makabren Motive und das auf Bilder des physischen Zerfalls verlagerte Interesse; schließlich die Rückkehr zur Grab-Epigraphie und der Beginn einer Individualisierung der Gräber.

Christus der Weltenherrscher inmitten der Auserwählten.
Detail des Sarkophags von Bischof Agilbert, Jouarre.
Die Darstellung des Jüngsten Gerichts

Bischof Agilbert ist im Jahre 680 in der Grabkapelle bestattet worden, die er neben dem Kloster hatte errichten lassen, in das er sich zurückziehen und wo er sterben sollte, in Jouarre. Sein Sarkophag steht noch an der alten Stelle. Was ist darauf zu sehen? Auf einer der Querseiten Christus im Strahlenkranz, umgeben von den vier Evangelisten, d. h. das der Apokalypse entlehnte Bild des am Ende der Zeiten wiederkehrenden Christus. Auf der anschließenden Längsseite die Auferstehung der Toten am Ende der Zeiten: die Auserwählten, aufrecht stehend, jauchzen mit erhobenen Armen dem auferstandenen Christus entgegen, der eine Schriftrolle in Händen hält, das Lebensbuch. Es gibt weder Gericht noch Verdammung. Dieses Bild stimmt mit der Eschatologie überein, wie sie den ersten Jahrhunderten des Christentums gemeinsam war: Die Toten, die der Kirche angehörten und ihr ihre Körper anvertraut hatten (ihr, d. h. den Heiligen), entschlummerten wie die sieben schlafenden Epheser (pausantes, in somnio pacis) und ruhten (requiescant) bis zur zweiten Thronbesteigung, bis zur großen Wiederkehr, bei der sie im himmlischen Jerusalem, wenn nicht im Paradies erwachten. In dieser Auffassung war kein Raum für individuelle Verantwortlichkeit, für eine Aufrechnung der guten und der bösen Taten. […]

Im 12. Jahrhundert verändert sich die Szene. Auf den aus Stein gehauenen Tympana romanischer Kirchen, in Beaulieu oder in Conques, herrscht noch die von der Vision der Apokalypse beeinflußte Glorie Christi vor. Darunter aber tritt eine neue, von Matthäus inspirierte Ikonographie in Erscheinung, die Auferstehung der Toten, die Sichtung der Gerechten und der Verdammten: das Gericht (in Conques ist dem Heiligenschein Christi ein Wort einbeschrieben: Judex), die Abwägung der Seelen durch den Erzengel Michael.

Der Pantokrator mit dem Buch des Lebens und den Symbolen
der Evangelisten. Detail des Sarkophags von Bischof Agilbert, Jouarre.
Im 13. Jahrhundert sind der Einfluß der Apokalypse und die Beschwörung der großen Wiederkehr nahezu bedeutungslos geworden. Die Vorstellung des Jüngsten Gerichts hat sie verdrängt, und was dargestellt wird, ist eher ein Gerichtshof. Christus sitzt auf dem Thron des Richters, umringt von seinem Gefolge (den Aposteln). Zwei Vorgänge gewinnen zunehmend an Bedeutung, die Abwägung der Seelen und die vermittelnde Fürsprache der Heiligen Jungfrau und des Heiligen Johannes, die mit gefalteten Händen zu Seiten des richtenden Christus knien. Jeder Mensch wird gemäß seiner Lebensbilanz gewogen, die guten und die bösen Taten werden peinlich genau auf die beiden Schalen der Waage verteilt. Überdies sind sie in einem Buch aufgezeichnet. […]

Dieses Buch, das liber vitae, mag zunächst als furchtbare Bestandsaufnahme des Universums, als kosmisches Buch aufgefaßt worden sein. Gegen Ende des Mittelalters ist es jedoch zum Register individueller Lebensführung geworden. Auf dem großen Fresko vom Ende des 15. oder Anfang des 16. Jahrhunderts in Albi, das das Jüngste Gericht darstellt, tragen es die Auferstandenen um den Hals gehängt wie einen Identitätsnachweis oder eher wie einen an den Pforten der Ewigkeit vorweisbaren Bilanzabschluß. Merkwürdigerweise ist der Augenblick, in dem diese Rechnungslegung — oder Bilanz (italienisch bilancia) — abgeschlossen ist, nicht der Augenblick des Todes, sondern der der dies illa, des letzten Tages der Welt am Ende der Zeiten. […]

So steht die Vorstellung des Jüngsten Gerichts meines Erachtens mit der der individuellen Biographie in Zusammenhang; diese Biographie wird jedoch erst am Ende der Zeiten und nicht schon in der Stunde des Todes abgeschlossen.

Erzengel Michael mit der Seelenwaage. Detail aus dem Altar
 des Jüngsten Gerichts in Beaune (um 1450) von Rogier van der Weyden.
Im Sterbezimmer

Das zweite Phänomen, auf das ich die Aufmerksamkeit lenken möchte, bestand darin, den eschatologischen Zeitraum zwischen dem Tod und dem Ende der Zeiten aufzuheben und das Gericht nicht mehr in den Äther jenes fernen Tages, sondern ins Sterbezimmer, in die unmittelbare Nähe des Bettes des Sterbenden zu verlegen.

Wir begegnen dieser neuen Ikonographie auf gedruckten Holzschnitten, in Büchern, die nichts weniger als Abhandlungen über die Art und Weise heilsamen Sterbens sind: in den artes moriendi des 15. und 16. Jahrhunderts.

Diese Ikonographie führt uns miteins zum traditionellen Grundmuster des Todes im Bett zurück, wie wir es in der vorausgehenden Darstellung untersucht haben.

Der Sterbende ruht im Bett, umgeben von seinen Freunden und Angehörigen. Er ist im Begriff, die Riten zu vollziehen, die wir bereits kennen. Es geht jedoch etwas vor sich, was die Einfachheit der Zeremonie durchkreuzt und was die Umstehenden nicht wahrnehmen, ein allein dem Sterbenden vorbehaltenes Schauspiel, der es überdies mit etwas Unruhe und viel Indifferenz betrachtet. Übernatürliche Wesen sind ins Zimmer herniedergestiegen und drängen sich zu Häupten des »Ruhenden«. Auf der einen Seite die Dreieinigkeit, die Heilige Jungfrau und die himmlischen Heerscharen, auf der anderen Satan und seine gräßliche Schar. Die große Versammlung, die im 12. und 13. Jahrhundert am Ende der Zeiten stattfand, spielt sich also jetzt, im 15. Jahrhundert, im Zimmer des Kranken ab.

Gericht am Sterbelager und Jüngstes
Gericht, 2. Hälfte 15. Jahrhundert
Wie ist diese Szene zu deuten?

Ist sie wirklich noch Gericht? Nicht Gericht im eigentlichen Sinne. Die Waage, auf der Gutes und Böses gewogen wird, ist nicht mehr in Gebrauch. Immer noch gibt es das Buch, und nur allzu häufig kommt es vor, daß der Dämon sich seiner mit triumphierender Geste bemächtigt hat — weil die Lebensbilanz für ihn spricht. Gott aber tritt nicht mehr mit den Attributen des Richters in Erscheinung. Er ist eher Schiedsrichter oder Zeuge im Sinne der beiden Deutungen, die gegeben werden können und sich wahrscheinlich überlagerten.

Die erste Deutung ist die eines kosmischen Kampfes zwischen den Mächten des Guten und des Bösen, die sich das Anrecht auf den Sterbenden streitig machen; der Sterbende selbst sieht ihm als Fremder, Unbeteiligter zu, obwohl sein Schicksal auf dem Spiele steht. Diese Deutung legt die graphische Komposition der Szene in den Drucken der artes moriendi nahe.

Wenn man jedoch die begleitenden Bildtexte zu den Drucken aufmerksam liest, wird man gewahr, daß es sich um etwas anderes handelt, und eben darauf bezieht sich die zweite Deutung. Gott und sein Hofstaat sind anwesend, um festzustellen, wie der Sterbende sich im Verlauf der Prüfung verhält, die ihm vor seinem letzten Seufzer auferlegt ist und über sein Schicksal in der Ewigkeit entscheidet. Der Sterbende sieht sein ganzes Leben, so wie es im Buch verzeichnet ist, ablaufen und wird in Versuchung geführt, sei es durch die Verzweiflung über seine schlechten Taten, sei es durch die »nichtige Ruhmsucht« seiner guten, sei es schließlich durch das leidenschaftliche Verlangen nach Dingen und Wesen. Sein Verhalten beim Aufblitzen dieses flüchtigen Moments tilgt mit einem Schlag die Sünden seines ganzen Lebens, wenn er der Versuchung widersteht, und macht alle seine guten Taten zunichte, wenn er ihr nachgibt. Die letzte Prüfung hat das Jüngste Gericht ersetzt. […]

Ars moriendi: Anfechtung durch Hoffart,
Holzschnitt um 1460, Gutenberg Museum, Mainz.
Der »Erstarrte«

Das dritte Phänomen, das ich Ihrem Nachdenken empfehle, tritt zum selben Zeitpunkt zutage wie die artes moriendi: es handelt sich um das Auftauchen des Kadavers, des »Erstarrten« [le transi] des »Aases«, wie man sagte, in Kunst und Literatur.

Bemerkenswert ist, daß in der Kunst des 14. bis 16. Jahrhunderts die Darstellung des Todes in Gestalt einer Mumie, eines halb zerfallenen Kadavers weniger verbreitet ist, als man annimmt. Man begegnet ihr insbesondere in Illustrationen zu Totenfürbitten in Manuskripten des 15. Jahrhunderts und im Wandschmuck von Kirchen und Friedhöfen (der Totentanz). In der Grabkunst ist sie sehr viel seltener. […]

Das Auftauchen des Kadavers und der Mumie in der Ikonographie hat die Historiker in Erstaunen versetzt. Der große Huizinga hat darin einen Beweis für seine Theorie der moralischen Krise des »Herbstes des Mittelalters« gesehen. Heute faßt etwa Tenenti den Schrecken vor dem Tode eher als Ausdruck der Liebe zum Leben (das »volle Leben«) und als Zeichen für den Umsturz des christlichen Schemas auf. Meine eigene Deutung geht eher in die Richtung von Tenenti.

Vor jeder weiteren Erörterung sei auf das Schweigen der Testamente hingewiesen. Es kommt vor, daß die Testatare des 15. Jahrhunderts von ihrem »Aas« sprechen, während das Wort im 16. Jahrhundert verschwindet. Im allgemeinen aber stimmt das Bild des Todes, wie es die Testamente bieten, mit der versöhnlichen Auffassung des Todes auf dem Sterbebett überein. Der Schrecken vor dem physischen Tod, wie ihn das Zeichen des Kadavers zum Ausdruck bringen könnte, fehlt gänzlich, und das erlaubt die Annahme, daß er auch der gemeinschaftlichen Mentalität fehlte.

Umgekehrt — und das ist eine wesentliche Beobachtung — ist der Schrecken vor dem physischen Tod und vorm körperlichen Verfall in der Poesie des 15. und 16. Jahrhunderts ein vertrautes Thema. […]

Die Dichter werden sich der universellen Gegenwärtigkeit von Verwesung und Verfall bewußt. Sie wohnen den Kadavern inne, aber auch den »natürlichen Werken« im Verlauf des Lebens. Die Würmer, die die Leichname verzehren, kommen nicht aus der Erde, sondern aus dem Körperinneren‚ aus seinen natürlichen »Säften«:

Ars moriendi: Anfechtung durch weltliche Dinge,
Holzschnitt um 1460, Gutenberg Museum, Mainz.
Chascun conduit [du corps]
Puante matière produit
Hors du corps continuellement.


Ein jeder führt [leibhaftig‚ in Gestalt seines Körpers]
stinkend-faulige Materie mit sich,
wie sie fortwährend aus dem Körper heraus erzeugt wird.

Verfall und Auflösung sind das Zeichen des Scheiterns des Menschen, und eben darin liegt zweifellos der tiefere Sinn des Makabren, der es zu einem neuen und originären Phänomen macht. […]

Heute setzen wir unser vitales Scheitern und unsere menschliche Sterblichkeit nicht in Beziehung zueinander. Die Gewißheit des Todes und die Hinfälligkeit unseres Lebens sind unserem existentiellen Pessimismus gefühlsmäßig fremd.

Umgekehrt hatte der Mensch gegen Ende des Mittelalters ein sehr geschärftes Bewußtsein davon, daß er ein Toter auf Abruf war, daß der Aufschub kurz bemessen war und der im eigenen Inneren stets gegenwärtige Tod seine Bestrebungen zunichte machte und seine Freuden vergiftete. Und dieser selbe Mensch hatte eine leidenschaftliche Gier nach Leben, die wir heute zu verstehen Mühe haben, vielleicht deshalb, weil unser Leben länger geworden ist:

»Den Weinberg mußt du lassen, Hof und Garten«, sagte Ronsard im Hinblick auf den Tod. Wem von uns fiele es ein, den Verlust seiner Villa in Florida oder seiner Farm in Virginia zu beklagen. Der Mensch der frühkapitalistischen Epochen — d. h. der Epochen, in denen die kapitalistische und technizistische Denkweise erst im Begriff stand, sich zu entwickeln, und sich noch nicht verfestigt hatte (sie wird es nicht vor dem 18. Jahrhundert tun) — dieser Mensch hatte eine ganz und gar unvernünftige, viszerale Zuneigung zu den temporalia, und zu diesen temporalia zählten, gleichzeitig und in krauser Mischung, Dinge, Menschen, Pferde und Hunde. […]

"Le Transi de René de Chalon" von Ligier Richier,
Kalkstein, 16.Jahrhundert, Kirche Saint-Etienne, Bar-le-Duc.
Die Grabstätten

Das letzte Phänomen, das näher zu untersuchen bleibt, bestätigt diese allgemeine Tendenz. Es tritt mit den Gräbern oder, genauer, mit der Individualisierung der Grabstätten zutage.

Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß im alten Rom jeder — selbst jeder Sklave - eine Grabstelle hatte (loculus) und daß diese Grabstelle häufig mit einer Inschrift bezeichnet war. Die Grabinschriften sind zahllos. Sie sind noch immer zahlreich zu Beginn der christlichen Epoche. Sie geben den Wunsch zu erkennen, die Identität des Grabes und die Erinnerung an den Verschiedenen zu bewahren.

Ungefähr im 5. Jahrhundert werden sie seltener und verschwinden mehr oder weniger schnell, je nach den regionalen Standorten. In die Steinsarkophage waren häufig außer den Namen der Verstorbenen auch ihre Porträts eingemeißelt. Die Porträts verschwinden ihrerseits so weitgehend, daß die Gräber vollkommen anonym werden. Diese Entwicklung kann uns nach dem, was wir oben über die Bestattung ad sanctos angemerkt haben, nicht überraschen: Der Verstorbene wurde der Kirche überlassen, die ihn in ihre Obhut nahm bis zu dem Tage, da er auferstehen würde. Die Friedhöfe aus der ersten Hälfte des Mittelalters — und auch spätere, bei denen die alten Bräuche sich erhalten haben — bestehen aus Anhäufungen von zuweilen mit Skulpturen geschmückten Steinsarkophagen, die nahezu immer anonym bleiben, so anonym, daß sie mangels Grabbeigaben nur schwer zu datieren sind.

Aber vom 12. Jahrhundert an — und manchmal sogar etwas früher — treffen wir wieder auf Grabinsdiriften, die für acht bis neun Jahrhunderte nahezu vollständig verschwunden waren.

Grabstein Johannes Gemeiner,
Straubing, 1482
Sie kamen zunächst wieder auf den Gräbern erlauchter Personen zur Geltung — d. h. Heiliger oder den Heiligen Gleichgestellter. Diese zunächst sehr seltenen Gräber werden im 13. Jahrhundert häufiger. Die Grabplatte von Königin Mathilde, der ersten normannischen Königin Englands, ist mit einer kurzen Inschrift geschmückt.

Mit der Inschrift trat auch wieder das Bildnis in Erscheinung, ohne daß es sich dabei um ein wirkliches Porträt gehandelt hätte. Es verweist auf den Seliggesprochenen oder Erwählten, der in der Erwartung des Paradieses ruht. Diese Bildnisse werden zur Zeit des Heiligen Ludwig realistischer und bemühen sich, die Gesichtsbildung des Lebenden getreu wiederzugeben. Im 14. Jahrhundert treiben sie jedoch den Realismus mittels Totenmasken, die den Verstorbenen abgenommen wurden, bis zur direkten Reproduktion. Für eine bestimmte Kategorie hochgestellter Persönlichkeiten, Kleriker oder Laien — die einzigen, denen große, skulpturengeschmückte Gräber zustanden — ließ man also eine Entwicklung von der vollständigen Anonymität zur kurzen Inschrift und zum realistischen Porträt hin zu. Die Grabkunst macht bis zum 17. Jahrhundert Fortschritte in Richtung einer zunehmenden Personalisierung, und der Tote kann jetzt auf demselben Grab gleich zweifach dargestellt werden, liegend und betend.

Diese Monumentalgräber sind uns gut bekannt, weil sie ihren Platz in der Kunstgeschichte der Grabplastik haben. In Wirklichkeit sind sie nicht zahlreich genug, um einen bestimmten kulturellen Tatbestand zu charakterisieren. Aber wir verfügen über einige Indizien, die uns die Vermutung nahelegen, daß die allgemeine Entwicklung dieselbe Richtung eingeschlagen hat.

Germain Pilon: Grab der Valentina Balbiani,
1583, Marmor, Musée du Louvre, Paris.
Im 13. Jahrhundert sehen wir, neben diesen großen Monumentalgräbern, kleine Grabtafeln von 20 zu 40 cm Seitenlänge an Zahl anwachsen, die in das Mauerwerk der Kirche (innen oder außen) oder in die Pfeiler eingelassen wurden. Diese Tafeln sind wenig bekannt, weil sie von den Kunsthistorikern außeracht gelassen Wurden. Sie sind zum größten Teil verschwunden. Für den Historiker der kollektiven Mentalitäten sind sie von großem Interesse. Die einen bestehen aus schlichten lateinischen oder französischen Inschriften: cigît un tel (hier ruht ein gewisser), sein Sterbedatum, sein Amt. Die anderen, ein wenig größer, bieten außer der Inschrift eine szenische Darstellung, in der der Verstorbene sei es allein, sei es mit seinem Schutzheiligen, vor Christus oder neben einer religiösen Szene (Kreuzigung, die barmherzige Jungfrau, Auferstehung von Christus oder Lazarus, Jesus auf dem Ölberg usw.) steht. Diese Wandtafeln sind im 16., 17. und 18. Jahrhundert sehr verbreitet: Unsere Kirchen und ihr Mauerwerk waren damit vollständig verkleidet. Sie bringen den bestimmten Willen zum Ausdruck, den Ort des Grabes zu individualisieren und die Erinnerung an den Verstorbenen an dieser Stelle zu verewigen.

Im 18. Jahrhundert werden die Tafeln mit einfacher Inschrift zunehmend zahlreicher, wenigstens in den Städten, in denen die Handwerker, diese Mittelklasse der Epoche, ihrerseits darauf drängten, aus der Anonymität aufzusteigen und ihre Identität nach dem Tode zu behaupten.

Gleichwohl waren diese Grabtafeln nicht das einzige — und wohl auch nicht das verbreitetste — Mittel, um die Erinnerung fortbestehen zu lassen. Die Verstorbenen trafen in ihren Testamenten für ständige Gottesdienste zum Heil ihrer Seele Vorsorge. Vom 13. Jahrhundert an bis zum 17. ließen die Testatare (zu ihren Lebzeiten) oder ihre Erben auf einer Stein- (oder Kupfer-) Tafel die Termine der Stiftungen und die Verpflichtungen des Geistlichen der Pfarre eingravieren. Diese Stiftungstafeln waren wenigstens ebenso bedeutsam wie die »ci-gît«—Nachweise. Beide wurden zuweilen kombiniert; manchmal genügte auch die Stiftungstafel allein, und das »cigît« fiel weg. Worauf es ankam, war die mahnende Erinnerung an die Identität des Verstorbenen und nicht die genaue Kenntnis des Ortes, an dem der Körper aufbewahrt war.

Aus dem »Todtentanz« von Rudolf Meyer, Zürich, 1637
Das Studium der Gräber bestätigt mithin das, was bereits die Darstellungen des Jüngsten Gerichts, die artes moriendi und die makabren Themen deutlich gemacht haben: Vom 11. Jahrhundert an hat sich eine früher unbekannte Beziehung zwischen dem Tod jedes einzelnen und dem Bewußtsein, das er sich von seiner Individualität gebildet hat, entwickelt. Man räumt heute ein‚ daß zwischen dem Jahre 1000 und dem 13. Jahrhundert »eine sehr bedeutsame historische Veränderung sich vollzogen hat«‚ wie ein zeitgenössischer Mediävist, M. Pacault, schreibt: »Die Einstellung, mit der die Menschen ihr Denken dem zuwandten, was sie umgab und betraf, hat sich tiefgreifend verändert, während und weil sich die geistigen Mechanismen — die Weisen des Denkens, des Auffassens der konkreten oder abstrakten Realitäten und des Umgangs mit den Ideen — von Grund auf umgestalteten.«

Wir erfassen diese Veränderung hier im Spiegel des Todes, speculum mortis, wie man nach Art der Autoren der Zeit sagen könnte. Im Spiegel seines eigenen Todes entdeckte jeder Mensch das Geheimnis seiner Individualität. Und diese Beziehung, die die griechisch-römische Antike und namentlich der Epikuräismus vorausgesehen hatten, die jedoch später verlorengegangen war, hat nicht aufgehört, unsere abendländische Kultur in Atem zu halten. Der Mensch der traditionellen Gesellschaften, der der Mensch des Mittelalters, aber auch der aller Volkskulturen ohne Schriftsprache war, beschied sich ohne allzu große Mühe mit der Vorstellung, daß wir alle sterblich sind. Seit der Blütezeit des Mittelalters erkennt sich der wohlhabende, mächtige oder gebildete abendländische Mensch im Tod: er hat den eigenen Tod entdeckt.

Niclas Gerhaert van Leyden: Grabmal Kaiser Friedrichs III.,
1513, Domkirche St. Stephan zu Wien. [Link]

Quelle: Philippe Ariès: Studien zur Geschichte des Todes im Abendland. (Übersetzt von Hans-Horst Henschen). (Hanser Anthropologie, Hrsgr Wolf Lepenies u. Henning Ritter.) Hanser, München/Wien 1976. ISBN 3-466-12284-2. Seiten 31 bis 42 (gekürzt)


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Schumann: Symphonische Etüden op.13 – Bunte Blätter op. 99 – Fantasiestücke Nr. 5 & 7 (Sviatoslav Richter, 1971)

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Im September 1834 komponierte Schumann einige – wie er sie nannte – „pathetische“ Variationen über ein „Thema quasi marcia funebre“ in cis-moll. Dabei wollte er sich bemühen, „das Pathetische, wenn etwas davon [im Thema] drinnen ist, in verschiedene Farben zu bringen“. Ignaz Ferdinand Freiherr von Fricken aus Asch in Böhmen war der Schöpfer dieses zunächst für Flöte gedachten Themas, das er mitsamt einigen eigenen Variationen Schumann zur Beurteilung geschickt hatte. Er konnte freilich nicht ahnen, was Schumann schließlich daraus entwickelte. Der Freiherr war selbst ein Flötist und galt als großer Musikliebhaber und -kenner. Seine Adoptivtochter, Ernestine von Fricken, genoss gemeinsam mit Schumann den Klavierunterricht Friedrich Wiecks in Leipzig. Heimlich hatten sich die beiden jungen Leute im Spätsommer 1834 verlobt. Schon im folgenden Jahr löste Schumann das Verlöbnis wieder auf, nachdem er erfahren hatte, dass seine Braut kein leibliches Kind des Barons war. Dieser von Schumann angegebene Grund muss allerdings als Ausrede betrachtet werden, denn wesentlich stärker trug zu seinem Entschluss bei, dass er sich seiner wachsenden Liebe zu Clara Wieck, der hoch begabten Tochter des gemeinsamen Klavierlehrers, bewusst wurde.

Über das Thema seines „Beinahe-Schwiegervaters“ Fricken komponierte Schumann insgesamt 18 vollständige Variationen sowie eine unvollständige und mehrere Variationen-Incipits. „Mit meinen Variationen steh' ich noch am Finale“, erklärte er dem Freiherrn einige Wochen später. „Ich möchte gern den Trauermarsch nach und nach zu einem recht stolzen Siegeszug steigern u. überdies einiges dramatisches Interesse hineinbringen, komme aber nicht aus dem Moll, u. mit der 'Absicht' beim Schaffen trifft man oft fehl und wird zu materiell.“ Bereits hier wird nicht nur die besondere Stellung des letzten Stückes betont, sondern es deutet sich auch eine zyklische Intention an, der die einzelnen Stücke folgen sollten. Der Kompositionsprozess der Symphonischen Etüden vollzog sich in einer Phase des schumannschen Schaffens, in der er sich formal und strukturell um eine Großform in seinen Klavierwerken bemühte. Stärker als in allen vorherigen Variationenwerken versuchte er daher gerade hier, die Grenzen der Gattung aufzubrechen. Nicht zuletzt erklären sich dadurch auch die unterschiedlichen Bezeichnungen, die er im Laufe der Zeit seinen Stücken gab: „Variations“, „Etudes“, „Fantaisies“. Im selben Zusammenhang steht das mehrfach erfolgte Umordnen von deren Reihenfolge.

Schließlich wählte Schumann zwölf der Stücke aus und ließ sie 1837 drucken. Bereits im Mai des vorausgehenden Jahres hatte der Verleger Haslinger aus Wien die Sammlung 1836 als X Etuden im Orchestercharakter für das Pfte. von Florestan und Eusebius angekündigt. Wie so häufig in seinen frühen Klavierwerken, hatte Schumann selbst die imaginären Figuren Florestan und Eusebius als Urheber angegeben. Diese beiden Gestalten symbolisierten in seinem Denken die kontrastierenden Seiten seines eigenen Charakters. Florestan steht dabei für die trotzige, leidenschaftliche, stürmische und kämpferische Komponente, Eusebius für die lyrische, verträumte, kontemplative und sanftmütige. Vorbilder dieser Gestalten fand Schumann in den Brüdern Walt und Vult aus Jean Pauls 1805 erschienenem Roman Flegeljahre. Nicht nur vom Werk Jean Pauls im allgemeinen, sondern ganz besonders von dessen Hang zu Doppelnatur- bzw. Doppelgänger-Konstellationen war Schumann so fasziniert, dass er lange Zeit selbst damit experimentierte und zahlreiche Fantasienamen für Personen seines Umfelds erfand.

Swjatoslaw Teofilowitsch Richter (1915-1997).
Der Pianist, der aus der Kälte kam.
Die letztlich von ihm zum Druck frei gegebene, erweiterte Version seiner Variationen nannte Schumann XII Etudes Symphoniques pour le Piano-Forte und wies ihnen die Opuszahl 13 zu. Nicht zuletzt die Wahl dieser Benennung zeigt, dass Schumann stärker als in allen zuvor komponierten Klavier-Sammlungen hier seine Vorstellungen der großformalen Anlage sowie einer zyklischen Verbundenheit der Einzelstücke realisieren konnte. Sinfonie, Etüde und Variation werden zusammenfasst, da keines alleine den Ansprüchen der Komposition und des Komponisten gerecht geworden wäre. Zwar entspricht der Begriff der Variation dem zu Grunde liegenden kompositionstechnischen Verfahren, erfasst aber nicht den sinfonischen Charakter der durchführungsartigen Verarbeitung, die weit über das Aneinanderreihen einzelnen Variationen hinausgeht. Als letztes tritt der etüdenhafte Aspekt durch die spezifische Geschlossenheit eines jeden Stückes hinzu, indem jeweils eine andere spieltechnische Fertigkeit im Vordergrund steht.

Das schlichte, auf den Freiherrn von Fricken zurückgehende Thema in cis-moll schreitet ganz feierlich und würdevoll einher. Aber schon bald entwickeln sich starke dynamische Steigerungen, die durch hohe pianistische Virtuosität umgesetzt werden. Ab der siebten Etüde weichen die Variationen immer mehr von dem zweimal acht Takte umfassenden Grundriss des Themas ab. Die Klangwirkung des Klaviers nimmt durch die große Akkordfülle tatsächlich orchestralen Charakter an. Einem wirklich sinfonischen Anspruch wird schließlich das ebenso glanzvolle wie dramatische Finale gerecht, in dem sich nur noch entfernte Verwandtschaft zum Thema ausmachen lässt. Gerade diesem Stück hatte Schumann von Anfang an die meiste Aufmerksamkeit gewidmet, um es aus der gesamten Komposition herauszuheben: Bildet es doch keine eigentliche Schluss-Variation, sondern kann als veritabler Finalsatz gelten. Nicht zuletzt zeichnet sich das Finale auch dadurch aus, dass es mit einem völlig neuen Thema in Des-Dur beginnt, bei dem es sich um das Zitat der Romanze „Du stolzes England, freue dich“ aus Heinrich Marschners Oper Der Templer und die Jüdin handelt. Lange Zeit hielt man dies für einen Gruß an die Nationalität des Widmungsträgers von op. 13, William Sterndale Bennett. Dieser junge englische Pianist, Komponist und Dirigent traf im Oktober 1836 zu einem längeren Aufenthalt in Leipzig ein, wo er bald zum schumannschen Freundeskreis gehörte. Erst da entschloss sich Schumann zur Dedikation, komponierte den Finalsatz aber vermutlich früher.

Während die erste, 1837 bei Haslinger in Wien erschienene Ausgabe dem Thema zwölf Etüden folgen lässt, kürzte Schumann sein op. 13 um zwei Etüden für deren zweite, von ihm revidierte Fassung, die er 1852 bei Schuberth & Co. in Hamburg unter dem Titel Etudes en formes de variations veröffentlicht. Die ehemaligen Etüden III und IX fehlen jetzt, möglicherweise aufgrund ihrer enormen technischen Schwierigkeiten. Eine dritte Ausgabe erschien posthum 1861 bei Schuberth & Co mit dem Titel Etudes en forme de Variation (XII Etudes Symphoniques pour le Piano-Forte). Hierin sind die Etüden III und IX sowie die „Varianten der vorhergehenden Ausgaben und nicht herausgegebenen Korrekturen des Autors“ aufgenommen. Schließlich wurden weitere fünf, von Schumann selbst nicht publizierte, aber dennoch sehr reizvolle Variationen 1873 durch Johannes Brahms bei Simrock in Berlin veröffentlicht.

Schumann setzte mit den Symphonischen Etüden einen Meilenstein auf seinem Weg zu den späteren großen Instrumentalwerken in zyklischer Form. Darüber hinaus führte kurioserweise ausgerechnet diese, mit seiner ersten Braut Ernestine von Fricken verbundene Komposition, indirekt zur heimlichen Verlobung mit Clara Wieck. Sie bestritt bei einem öffentlichen Konzert am 13. August 1837 in der Leipziger Buchhändlerbörse die Erstaufführung der Symphonischen Etüden in ihrer ersten Fassung und vermittelte Schumann dadurch nach langer, schmerzlicher Trennung ein deutliches Zeichen ihrer Zuneigung. Anschließend ließ Clara ihm noch einen Brief zukommen, der wohl den entscheidenden Anschub zur Aussprechung der Verlobung zwischen den jungen Leuten gab.

Quelle: Irmgard Knechtges-Obrecht im Robert Schumann Portal


Track 18: Etudes Symphoniques Op. 13 - XII. Finale. Allegro brillante


TRACKLIST


SCHUMANN Piano Works

Sviatoslav Richter

Etudes Symphoniques, Op. 13
with the variations "Anhang zu Op. 13 aus dem Nachlasse"

01 Theme 1:32
02 No.1 poco piu vivo 1:05
03 Etude No.2 2:36
04 No.3 vivace 1:09
05 Etude No.4 1:00
06 Etude No.5 1:04
07 Variation I 1:37
08 Variation II 2:08
09 Variation III 1:30
10 Variation IV 2:42
11 Variation VI 2:39
12 No.6 agitato 0:53
13 No.7 allegro molto 1:11
14 No.8 andante 2:27
15 No.9 presto possibile 0:49
16 No.10 allegro 1:09
17 No.11 andante con espressione 2:21
18 No.12 Finale. Allegro brillante 6:06

Bunte Blätter, Op. 99

19 I Nicht zu schnell mit Feurigkeit 1:51
20 II Sehr rasch 0:49
21 III Frisch 0:56
22 IV Ziemlich langsam 2:11
23 V Schnell 0:36
24 VI Ziemlich langsam, sehr gesangvoll 2:11
25 VII Sehr langsam, sehr gesangvoll 2:04
26 VIII Langsam 1:26
27 IX Novelette (Lebhaft) 2:27
28 X Praeludium (Energisch) 1:10
29 XI Marsch (sehr getragen) 8:54
30 XII Abendmusik (Menuett-Tempo) 3:41
31 XIII Scherzo (Lebhaft) 4:11
32 XIV Geschwindmarsch (sehr markiert) 3:00

Fantasiestücke Op. 12 (live)

33 No.5 In der Nacht 4:06
34 No.7 Traumes-Wirren 2:38

Total time 76:35

Etudes and Bunte Blatter: Recorded Sept 1971
Fantasiestucke: Recorded 24 February 1979 at NKH Hall, Tokyo.
Producer Tomoo Nojima; Engineer: Takashi Watanabe
Re-mastered by Paul Arden-Taylor

Track 33: Fantasiestücke Op. 12 - Nr. 5 In der Nacht



Griechische Tafelmalerei

Malerin im Heiligtum. Pompejanisches Wandbild. (Neapel)
Ruhm und Wirkung

Wie in der abendländischen Kunst hat die Malerei auch in der Antike ihre Schwesterkünste Architektur und Bildhauerei an Popularität weit übertroffen. Das geht nicht nur aus der verhältnismäßig hohen Anzahl überlieferter Schriftzeugnisse hervor, sondern wird von manchen Autoren, etwa von Plutarch, auch explizit festgestellt. Als eine „stumme Poesie“, wie Simonides sie im Gegensatz zur „sprechenden Malerei“ der Dichtung nennt, vermochte die Malkunst in den Farben des Lebens Geschichten zu erzählen und die Phantasie des Betrachters auf besondere Weise anzuregen. Philostrat schwärmt von ihr, sie sei eine „Erfindung der Götter, sowohl wegen der Farbenpracht auf Erden wie wegen der Erscheinungen am Himmel“. Ganz im Gegensatz zur Bildhauerei vermöge sie Licht und Schatten wiederzugeben und „den Blick eines Menschen, der beim Rasenden anders ist als beim Leidenden und Frohen“. Ausdruck, Vielfalt der Erzählung und die Nachahmung der farbigen Wirklichkeit hatte die Malerei der Skulptur, selbst der Reliefkunst, voraus.

Es gab Tafelbilder der Antike, die so berühmt waren wie im Abendland Werke von Leonardo, Raffael oder Rembrandt, etwa das Aphroditebild‚ das Apelles für die Stadt Kos gemalt hatte, oder das große Gemälde des Protogenes, das Jalysos, den Gründungsheros von Rhodos, darstellte. Griechische Gemälde verblüfften zwar zuweilen auch durch thematische Einfälle der Maler, vor allem aber durch die Kunst der Darstellung, an der man die Lebensnähe rühmte. Allerdings wurden in der gesamten Antike nicht die illusionistischen Effekte erreicht, die die abendländische Malerei seit der Renaissance erzielte, und der mit solchen Effekten Vertraute würde wohl die zu ihrer Zeit so bewunderten griechischen Gemälde als vergleichsweise schlicht empfunden haben. Nicht der Grad der Illusion, deren Steigerung grundsätzlich denkbar wäre, entschied über die Wirkung, sondern die Tatsache, daß es optische Täuschungen in der Malerei bis dahin gar nicht gegeben hatte. Man hat sich zu vergegenwärtigen, daß in der archaischen Kunst, die der altorientalisch-ägyptischen Tradition verpflichtet war, noch eine „vorstellige“, an die Fläche gebundene Darstellungsweise bis zur Stilwende um 500 v. Chr. üblich war, mithin die danach rasch fortschreitende plastisch-räumliche Wirkung im Bild als etwas unerhört Neuartiges erlebt worden sein muß.

Opferzug. Tempera auf Holz. Korinthisch, um 540 v. Chr. (Athen)
Der Ruhm dieser verlorenen Kunst spiegelt sich in zahlreichen Phänomenen wider, die literarisch bezeugt sind, in Nachrichten über das Staunen der Zeitgenossen, über Kunstraub und Verschleppung von Bildern, über hohe Gemäldepreise, erste Theorien der Kunstbetrachtung. Auch zahlreiche Künstleranekdoten bezeugen die damalige Popularität der griechischen Tafelmalerei. Da uns keines der berühmten Gemälde mehr im Original vorliegt, sind wir auf solche Re?exe und die bewundernden Kommentare der römischen Kaiserzeit zunächst angewiesen, ohne die über die griechische Tafelmalerei heute kaum noch etwas bekannt wäre. […]

Von der Bewunderung griechischer Gemälde im Altertum geben die Maleranekdoten eine erste, wenn auch legendär gefärbte Vorstellung. Zahlreicher sind die literarischen Quellen, die historische Fakten überliefem und Hinweise zur Wertschätzung der Bilder, auf ihre Besitzer, die Preise und den späteren Verbleib der Gemälde geben. Die Texte beziehen sich in erster Linie auf die Tafelmalerei. Plinius stellt ausdrücklich fest, daß ein Maler nur zu Ruhm gelangen konnte, wenn er nicht auf Wände, sondern „auf Tafeln“ malte (35,118). Als transportable Gegenstände verbreiteten die tabulae (griech. pinakes) den Ruhm ihrer Schöpfer rascher als die an einen Ort fixierten Wandgemälde, die zudem in ihrer ausschmückenden Funktion oft weniger sorgfältig gemalt waren. […]

Je kostbarer ein Gemälde war, um so mehr war man darum bemüht, es zu schützen und zu erhalten. Haltbarkeit strebten bereits die Maler selbst an. Dabei ging es zunächst um die richtige Auswahl des Holzes für die Tafeln, um deren gute Zusammenfügung und feste Rahmung, dann beim Malen um die Wahl geeigneter Pigmente und Bindemittel. Protogenes soll das große Heroenbild des Jalysos‚ das wahrscheinlich im Freien an der Stadtmauer von Rhodos seinen Platz fand, durch einen vierfachen Farbauftrag haltbar gemacht haben (Plinius 35,102; 7,126). Auch in den Heiligtümern waren viele Gemälde unter freiem Himmel der Witterung ausgesetzt; von einem Heroenbild des Parrhasios, das Perseus, Herakles und Meleager darstellte, erzählte man, daß es dreimal vom Blitz getroffen worden sei, ohne jemals Schaden zu nehmen (Plinius 35,69). Die Malschicht der Tafelbilder schützte man gewöhnlich durch Vorhänge oder Klapptüren gegen Lichtstrahlen und Witterungseinflüsse. […]

Mumienbildnis eines Mannes.
Enkaustik auf Holz. 2. Jh. n. Chr. (Berlin)
Malerei auf Holz und die Enkaustik

Erst mit der Technik der Staffelei- bzw. Tafelmalerei befinden wir uns im zentralen Bereich der Malkunst. Wie […] betont, ist keines der von den antiken Autoren erwälmten Werke erhalten. Diese Zerstörung konnte auch nicht dadurch verhindert werden, daß die Tafeln aus besonders dauerhaftem Holz gefertigt waren. Man bevorzugte in der Antike das Holz des Buchsbaumes, ein dichtes, helles, sehr widerstandsfähiges Holz, das Plinius als Material der Tafelmalerei dort, wo er von ihrer Bedeutung spricht (35,77), ausdrücklich erwähnt. Ferner bot die Ulme ein festes, auch im Freien beständiges Holz, das an Stärke aber noch von dem des ägyptischen Maulbeerbaumes, der Sykomore, übertroffen wurde. Während man letzteres seiner Haltbarkeit wegen bevorzugt im Schiffsbau verwendete, wird in der Tafelmalerei wie auch bei der Herstellung von Schreibtafeln außer Buchs noch das Holz von Lärchen, Zypressen, Tannen und Linden erwähnt. Um ein späteres Reißen oder Verziehen der Tafeln zu vermeiden, ließ man das Holz vor der Verarbeitung gut austrocknen. Kleinere Bilder bestanden aus einem einzigen Brett, größere fügte man aus mehreren Teilen zusammen, indem man sie gut verdübelte, verleimte und vielleicht auch bereits, wie in der Neuzeit üblich, mit querlaufenden Einschubleisten versah.

Das Gemälde selbst schützte man durch einen Vorhang oder Teppich, und viele Bilder waren außerdem durch Klapptüren verschließbar. Die Klapptürbilder hatten in der Regel ein kleines Format, und ihre Türen dienten im Gegensatz zu jenen der großen christlichen Flügelaltäre nicht als zusätzliche Bildträger. Freilich gab es neben solchen, meist querformatigen pinakes tethyromenoi, wie man sie nannte, auch andere Bild- und Rahmenformen. Durchgehend findet sich beispielsweise die Naiskos- bzw. Ädikulaform mit oberem Giebelabschluß, und in späterer Zeit wurde bei annähernd quadratischen Bildern der Achtendrahmen beliebt, bei dem die Rahmenleisten an den Ecken überstehen und sich kreuzen.

Sehr große Tafelbilder, sanides genannt, dienten zur Verkleidung von Wänden, zumindest findet sich bei einem späten Autor diese Bezeichnung für die großen Wandgemälde des Polygnot in der Bunten Halle von Athen. Solche Bilder ließen sich bereits in der Werkstatt mit Sorgfalt malen, und gewiß war dies eine anspruchsvollere Art der Wanddekoration als die Frescomalerei. Auch die Attika der Fassade des „Prinzengrabes“ von Vergina war mit einem Gemälde auf Holz verkleidet, wie geringe Reste und Einlaßspuren noch erkennen ließen, ohne allerdings vom Gemälde selbst noch etwas zu zeigen. Auf entsprechende Spuren ist vielleicht bislang nicht ausreichend geachtet worden, jedenfalls ist mit dieser Art von Wandmalerei in größerem Umfang zu rechnen, als archäologische Indizien heute noch vermuten lassen.

Malgeräte. Beigaben eines römischen Malergrabes bei Fontenay-le-Comte.
Originalgemälde auf Holz, die sich zufällig konserviert haben, sind nur noch in ganz vereinzelten Fällen auf uns gekommen. Besonderes Aufsehen erregte seinerzeit der Fund von Pitsà in der nördlichen Peloponnes. Bei diesem nahe Sikyon gelegenen Dörfchen wurde 1934 in einer Höhle eine Kultstätte mit zahlreichen Weihgaben entdeckt, darunter kleine Votivfiguren, eine Öllampe und Münzen, vor allem aber die Reste von vier kleinen Pinakes aus Zypressenholz, die sich auf dem Grund der Höhle im Schlamm relativ gut konserviert hatten. Das am besten erhaltene Exemplar mit einer Opferszene trägt zusätzlich eine Weihinschrift an die Nymphen. Ein anderes, ebenfalls ganz erhaltenes Täfelchen weist leider nur noch geringe Spuren der Malschicht auf; von den restlichen Pinakes liegen zwar nur Fragmente vor, doch zeigt die noch sichbare Malerei gut konservierte Farben.

Dem Faltenstil der Gewänder ist zu entnehmen, daß das älteste Fragment der Serie, drei Frauen in einem Mantel zeigend, noch vor der Mitte des 6. Jahrhunderts entstanden ist, die Opferszene etwa um 540 v. Chr. und das andere Fragment mit bereits „räumlich“ gestaffeltem Faltensaum um 510 v. Chr. Die übrigen Weihgeschenke der Grotte entstammen wesentlich späterer Zeit; vielleicht hat man den Brauch, solche Pinakes zu weihen, später aufgegeben. Die Malerei ist in Temperatechnik auf eine gelblich-weiße Kreidegrundierung aufgebracht. Von ihr heben sich die Gestalten der Opferszene in ihren hellblauen Chitonen und roten Mänteln prägnant ab. Durchwegs sind die Farbflächen dunkel konturiert‚ lediglich für die Umrißlinien des helleren Fraueninkarnats ist ein rötlicher Ton gewählt. Im Gesamtkolorit dominiert der Blau-Rot-Kontrast, dies gilt auch für die beiden Fragmente. Sehr sparsam werden dagegen außer Schwarz ein blasses Gelb-Grün und ein dunkles Violett-Rot verwendet.

Mehr als zwei Jahrhunderte jünger ist das 18,4 cm hohe Fragment einer Holztafel mit einer thronenden Frau, das 1970-71 von britischen Forschern im ägyptischen Sakkara gefunden wurde. Auch auf dieser Tafel dient die grauweiße Grundierung zugleich als neutraler Bildhintergrund. Der elfenbeinfarbene Thron ist mit roten Palmetten und Rosetten verziert, und über dem Sitz liegt ein Tuch vom gleichen Rot. Der durchsichtige, blaßblaue Chiton der Frau ist mit Goldstickerei versehen, an dem weißen Mantel hat sich dagegen keine Binnenzeichnung erhalten. Die schwach getönten Hautpartien weisen Abschattierungen, aber auch noch schwarze Konturlinien auf. In flotter Manier ist das schwarze Haupthaar mit seinen üppigen Schulterlocken dargestellt. Die eher handwerkliche Qualität des Pinax entspricht der Malweise auf gleichzeitigen frühhellenistischen Grabstelen.

Familie des Kaisers Septimius Severus,
Tempera auf Holz, frühes 3. Jh. n. Chr. (Berlin)
Ebenfalls in Ägypten, nämlich in der Nekropole der Oase Fayum, haben sich schließlich in großer Zahl kaiserzeitliche, bemalte Holztafeln erhalten, die als Mumienbildnisse dienten. Obwohl in sehr viel späterer Zeit entstanden, können sie hier nicht übergangen werden, da sie maltechnisch die griechische Tradition fortsetzen und vom Aussehen der antiken Tafelmalerei eine farbige Vorstellung vermitteln. Die Bildnisse geben die individuellen Gesichtszüge des Verstorbenen oft in frappierender Lebendigkeit wieder. Das Gesicht des Leichnams bedeckend, waren sie in die Mumie eingebunden. Viele Exemplare sind in einfacher Temperatechnik gemalt, für die eine matte Oberfläche charakteristisch ist, wobei die Buntwerte ihre Intensität aber nicht verlieren. Auch heben sich die Farben meist von einer weißen Kreide- oder Gipsgrundierung ab, nur gelegentlich sind sie unmittelbar auf das Holz gesetzt.

An einem unvollendeten Beispiel in Berkeley haben sich die Vorzeichnungen erhalten, dazu inschriftliche Angaben zur noch nicht ausgeführten Farbgebung. Wenn an den betreffenden Stellen vermerkt wird, daß die Dargestellte „ein grünes Kettchen" trug, am Gewand ein Purpurstreifen verlaufen solle oder welche Augenfarbe zu beachten sei, so wird damit ein Einblick in die Entstehung solcher Tafeln gewährt. Offenbar ließ man die Bildnisse vorsorglich anfertigen und bewahrte sie bis zum Todesfall auf. Der Notizen hätte es wohl nicht bedurft, wenn der Maler nicht das Gemälde in der eigenen Werkstatt hätte fertigstellen wollen. Bei der Tafel in Berkeley kam es aber aus uns unbekannten Gründen nicht mehr dazu.

Spuren der Wiederverwendung eines Tafelbildes
 des Apelles. Rom, Augustusforum.
Brillanter als die Temperabildnisse wirken die enkaustisch gemalten Mumienporträts; sie zeichnet allgemein ein leuchtendes, sehr differenziertes Kolorit aus. Wie man am pointillistisch wirkenden Farbauftrag erkennt, wurden meist nur die Gesichtszüge in dieser feineren Technik ausgeführt, während an den Gewandpartien ein breiterer Pinselstrich die flüchtigere Malweise verrät. Die oft ungeglättete Oberfläche der Inkarnatpartien rührt von der Arbeit mit dem Cauterium her, einem schmalen Bronzelöffelchen, mit dem man die Farbe auftrug. Als Bindemittel diente eine Emulsion aus Bienenwachs, das mit dem Pigment vermischt vor dem Auftragen erhitzt wurde. Die Cauterium-Enkaustik forderte vom Maler Sorgfalt und Geduld, da jeweils nur sehr kleine Farbmengen verarbeitet werden konnten, die, nebeneinander gesetzt, sich erst allmählich zur gewünschten Gesamtwirkung zusammenfügten. Aber diese Technik verlieh dem Gemälde Glanz und besondere Tiefe. In der als „Wachstempera“ bezeichneten Mischtechnik konnte durch Anwendung eines besonders flüssigen Wachses die Masse mit dem Pinsel, also rascher als mit dem Cauterium verteilt werden. Solche Bilder erwiesen sich jedoch als weniger haltbar. Mithin hat man den Gesichtern der Mumienbildnisse durch die Cauteriumtechnik nicht nur eine intensivere Farbwirkung, sondern auch bessere Haltbarkeit verliehen.

Was diese wenigen Originale antiker Tafelmalerei auf Holz zu unserer Kenntnis beitragen, verlangt eine Ergänzung durch die Hinweise des Plinius, die sich unmittelbar auf die Technik der verlorenen Meisterwerke beziehen. In seinem Malerkatalog geht er in einem gesonderten Teil auf diejenigen Maler ein, die sich in der Enkaustik einen Namen gemacht haben (35,53 ff.). Zu ihnen gehörten Euphranor, Nikias, Pausias und Athenion (35,122). Die Mehrzahl der Maler arbeitete aber in der von Plinius nicht eigens beschriebenen, weil als üblich betrachteten Temperatechnik. Die Wachsmalerei galt als die vornehmere und effektvollere Kunst. Die Frage nach den Anfängen der Enkaustik vermag Plinius nicht zu beantworten, sicher scheint aber, daß die Technik, Bilder mit heißem Wachs „einzubrennen“, im 4. Jahrhundert einen hohen Stand erreicht hatte und damals erst mit der Temperamalerei zu konkurrieren begann. Angesprochen wird auch das Zeitraubende der Technik und das gewöhnlich daraus resultierende kleine Format enkaustischer Bilder.

Klapptürbilder auf einem Gesims. Wandgemälde in Pompeji, um 30 v. Chr.
Im übrigen sind verschiedene enkaustische Techniken bekannt gewesen: „In alter Zeit hat es zwei Arten, enkaustisch zu malen, gegeben, die mit Wachs und die auf Elfenbein mit dem Cestrum (Brenngriffel), bis angefangen wurde, die Kriegsschiffe zu bemalen. So kam die dritte Art hinzu, heißflüssige Wachsfarben mit dem Pinsel aufzutragen, eine Malerei, die an den Schiffen weder durch die Sonne noch durch das Salzwasser oder durch Winde verdorben wird“ (35,149 ff.). Gemeinsam ist diesen Techniken nach Plinius offenbar das Einsetzen von Wärme. Seine Unterteilung bezieht sich auf die jeweils verwendeten Malgeräte, wobei allerdings das cauterium (griech. rhabdion) nicht nochmals eigens genannt ist.

Die Schiffsmalerei spielte in Griechenland eine wichtige Rolle, auch sie hatte gewiß als einfacher Handwerkszweig eine alte Tradition, und Plinius erwähnt sie als letzte in seiner chronologischen Abfolge, weil sie wohl seit dem 4. Jahrhundert reichere Formen annahm (vgl. Plinius 35,101; 135). Selbstverständlich wurde hier angesichts der großen Flächen mit einem gröberen Werkzeug, dem Borstenpinsel, gearbeitet.

Plinius liefert auch einige Informationen zu den in der Antike verwendeten Bindemitteln. Wachs mußte zu einer Emulsion aufbereitet werden, um die Farbe verstreichbar zu machen. Man vermutet, daß es sich dabei vorwiegend um das häufig erwähnte punische Wachs handelte, dessen Herstellungsrezept Plinius an anderer Stelle beschreibt (21,84). Von Interesse sind ferner verstreute Angaben zu den in der Temperatechnik üblich gewesenen Bindemitteln. Danach ist die Eitempera ebenso bezeugt wie die Verwendung von Gummi und von Leim, den man aus Stierohren oder Stierhoden kochte.

Frauenprozession. Klapptürbild in hellenistischem Stil
Unter den Malgeräten der Temperatechnik ist außer dem Pinsel aus feinen Haaren, dem penicillum (gr. grapheion oder graphis) auch der Schwamm zu nennen. Man hatte ihn nicht nur zur Reinigung und zum Auswischen mißlungener Teile stets zur Hand, sondern konnte mit kleineren Stücken, die an einem Griffel befestigt waren, auch Farbe auftragen (Plinius 9‚148). Es muß offen bleiben, welche Form des Schwamms man sich vorzustellen hat, als Protogenes bzw. Nealkes damit den Effekt des Schaumes vor dem Maul des Tieres erzeugte. Möglicherweise ist in den Anekdoten das Malgerät selbst gemeint.

Zusätzliche Informationen lassen sich schließlich aus den Beigaben römischer Malergräber und bildlichen Darstellungen von Malerwerkstätten gewinnen. Das Grab von St. Médard-des-Prés bei Fontenay-le-Comte enthielt neben zahlreichen Farbnäpfchen und einem Mörser aus Alabaster ein Bronzekästchen mit Schiebedeckel, das in vier mit einem Silberrost oben abgedeckte Behälter unterteilt ist, ferner ein Etui mit zwei Bronzelöffelchen, zwei kleine Schaufeln aus Bergkristall und zwei 12 cm lange Pinselstiele aus Bein. Bei den Löffelchen handelt es sich offenbar um Cauteria; am einen Ende zeigen sie den sehr schmalen Löffel, am anderen eine Verdickung zum Verstreichen oder Festdrücken der Farbe. In dem Kästchen fanden sich auch Farbreste, und man vermutet, daß es zum wechselweisen Erhitzen der Cauteria diente. Bildliche Darstellungen römischer Zeit weisen dagegen Kästchen auf, in denen Farbnäpfe stecken; wahrscheinlich handelt es sich um die von Varro erwähnte arculae loculatae. Die Bilder zeigen außerdem, daß der Maler noch keine Palette der heutigen Form verwendete, sondern in der linken Hand die Farben in einer Schale oder Muschel bereit hielt. Die Holzgestelle, die als Staffelei dienten, ähneln dagegen verblüffend den heute noch verwendeten Formen. […]

Quelle: Ingebog Scheibler: Griechische Malerei der Antike. München, Beck, 1994, ISBN 3-406-38492-7. Zitiert wurde aus den Seiten 9-10, 14, 21-22, 94-100.

Götterpaar. Tafelbild aus dem Fayum, Tempera auf Holz, 3. Jh. n. Chr.



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