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Das Gänsebuch (Nürnberg, 1510)

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Im 14. und 15. Jahrhundert nahm die freie Reichsstadt Nürnberg in der Produktion von Metallwaren und im internationalen Handel mit Metallen, Textilien und Gewürzen eine führende Stellung unter den europäischen Handelsmetropolen ein. Den erwirtschafteten Reichtum stellte die Stadt Nürnberg offen zur Schau. Prachtvoll waren nicht nur die städtischen Gebäude und öffentlichen Rituale, sondern auch die beiden spätgotischen Pfarrkirchen St. Lorenz und St. Sebald und ihre Ausstattung. Jeweils ein vom Rat der Stadt eingesetzter Kirchenpfleger übernahm ihre wirtschaftliche Verwaltung. Die benötigten Geldmittel wurden zu einem großen Teil aus dem städtischen Haushalt bereitgestellt. Auch musikalisch repräsentierten die Pfarrkirchen das städtische Selbstbewußtsein durch ihre feierliche Liturgie. Zu diesem Zweck unterhielten beide Kirchen bekannte Schulen, deren Aufgabe es war, die Sänger für die liturgischen Gesänge auszubilden. Nürnberg war Teil der Diözese Bamberg und mußte sich an der Liturgie der Bischofskirche, des Bamberger Doms, orientieren. Die erhaltenen liturgischen Handschriften zeigen, dass sich trotz dieser Abhängigkeit an den reichen Nürnberger Kirchen eine charakteristische und in vielen Bereichen eigenständige Liturgie entwickeln konnte, in die unterschiedliche Elemente einflossen. Ein Grundbestand an Gesängen, dessen Wurzeln in der Bamberger Liturgie des 11. Jahrhunderts liegen, wurde kontinuierlich ergänzt durch die Gesänge neu eingeführter Feste.

Kurz nach dem Jahr 1500 wurde an der Pfarrei St. Lorenz ein zweibändiges Graduale in Auftrag gegeben, ein Buch, in dem die Gesänge der Messliturgie für den Chor zusammengefaßt sind. Im Jahr 1421 war zum letzten Mal ein Graduale für die Kirche vollendet worden. Seitdem waren mehrere bedeutende Feste eingeführt worden, die in den liturgischen Handschriften nicht vertreten waren. Mit der grundlegenden Überarbeitung der Liturgie und der Niederschrift der Texte und Gesänge wurde der Lorenzer Vikar Friedrich Rosendorn beauftragt. Der erste Band wurde laut Kolophon im Jahr 1507 fertig gestellt, die Arbeiten am zweiten Band wurden drei Jahre später beendet. Friedrich Rosendorn verstarb bereits im Jahr der Fertigstellung des ersten Bandes; wer die Kopierarbeiten zu Ende führte, ist nicht bekannt, ein sichtbarer stilistischer Bruch zwischen den Bänden läßt sich nicht feststellen.

Dem hohen Rang der Kirche entsprechend, wurde die großformatige Handschrift aufwendig ausgestaltet. Besonders die Hochfeste des Kirchenjahres sind mit detaillierten Illuminierungen hervorgehoben, die dem bekannten Nürnberger Buchmaler Jakob Elsner (gest. 1517) zugeschrieben werden. Illustrieren mit Blattgold umrandete szenische Schmuckinitialen zumeist die Begebenheiten der Herrenfeste, so zeigen die Illuminierungen in den Rändern bunte Akanthusranken und Knospen, die von Tieren, Singvögeln, Engeln, wilden Menschen und Drachen bevölkert sind. In einigen Fallen entwickeln sich die Darstellungen im unteren Rand zu aufwendigen erzählerischen Szenen, in denen Tiere als Menschen agieren, besonders häufig als Musiker. Zahlreiche Jagd- und Kampfszenen ziehen sich durch das ganze Buch. Diese Allegorien sind mitunter provozierend; allen gemeinsam ist ihre Deutungsvielfalt auf diversen Ebenen sowie ihre Übertragbarkeit auf unterschiedliche Kontexte. In Buchillustrationen versteckte Aussagen hatten sich als Bühne für Kritik etabliert. Sie ermöglichten politische und gesellschaftskritische Andeutungen, die ohne eine entsprechende Kodierung nicht möglich gewesen wären.

Die bas-de-page-Darstellung zum Fest der Himmelfahrt Christi gab der Handschrift ihren populären Namen: Zu sehen ist ein Gänsechor, der von einem Wolf im Gewand eines Kantors dirigiert wird. Vor den Gänsen liegt aufgeschlagen eine großformatige Gesangshandschrift auf einem Pult. Hinter den Gänsen schleicht sich ein Fuchs an, dessen Gestik erahnen läßt, dass er es offensichtlich auf einen der Sänger abgesehen hat.

Das Gänsebuch mit seinen insgesamt 1120 Seiten ist die einzige vollständig erhaltene Quelle für die vorreformatorische Meßliturgie in der Stadt Nürnberg und ein wichtiges Zeugnis für die Musik an einer der prominentesten Stadtpfarrkirchen des Reiches. Die Illuminierungen der Handschrift stellen einen Höhepunkt der Nürnberger Buchmalerei dar. Verwahrt wird die Handschrift heute unter der Signatur M. 905 in der Pierpont Morgan Library in New York.

Aufgrund des beeindruckenden Umfangs des Gänsebuchs konnte nur ein sehr kleiner Teil der Gesänge für diese CD aufgenommen werden. Ausgewählt wurden Feste mit einem besonderen Bezug zur Lorenzkirche und zur Stadt Nürnberg. In den meisten Fällen handelt es sich um Ersteinspielungen. Die Verwendung der Orgel in der Liturgie der Lorenzkirche ist durch viele Quellen nachgewiesen: Die berühmte Schwalbennestorgel an der Nordwand des Hauptschiffs wurde bereits 1444 errichtet und 1479 erweitert. Aufgrund dieser Praxis entschlossen wir uns dazu, die ausgewählten Messformulare mit Orgelsätzen süddeutscher und Nürnberger Komponisten des 16. Jahrhunderts einzuleiten.

Den Introitus Viri Galilei zum Fest der Himmelfahrt Christi sangen Chorschüler der Lorenzkirche, während sie auf die Seite mit der Gänsedarstellung sahen. Hierbei blickten die Chorschüler quasi auf sich selbst, auf eine nicht alltägliche Form ihres eigenen Spiegelbilds.

Die wohl wichtigste Feier in der Reichsstadt Nürnberg in den Jahren zwischen 1424 und 1524 war das Fest der Heiligen Lanze und der Nägel, besser bekannt als Heiltumsweisung. Am zweiten Freitag nach Ostern wurden auf dem Nürnberger Hauptmarkt die Reichsreliquien und Kleinodien dem Volk gewiesen. Die hauptsächlich von Kaiser Karl IV. zusammengestellte Sammlung war von Kaiser Sigismund der Reichsstadt Nürnberg zur ewigen Verwahrung übergeben worden. Zur Weisung wurde am Hauptmarkt ein dreistöckiges Gerüst errichtet, auf dem ein vom Rat genau festgelegtes Ritual vollzogen wurde. Am Beginn stand die in Prag im Auftrag Karls IV. verfaßte Messe Lancea Christi et armorum, die jedoch auch an den Nürnberger Kirchen und Klöstern Verwendung fand.

Deocarus (7. Juni), einer der beiden Hauptpatrone der Reichsstadt Nürnberg, wurde seit der Überführung seiner Reliquien aus Herrieden in die Nürnberger Lorenzkirche im Jahr 1316 in der Pfarrei besonders verehrt. In Nürnberg entwickelte sich der Deocarus-Kult offensichtlich aus verschiedenen Elementen und Personen: einem Abt dieses Namens aus dem Benediktinerkloster Herrieden aus dem achten Jahrhundert, und Carus, dem ersten Abt des Nürnberger Benediktinerklosters St. Egidien, das im 12. Jahrhundert gegründet wurde. Die Reliquien des Heiligen wurden in der Lorenzkirche in einem großen silbernen Reliquienschrein aufbewahrt. Andreas und Margarete Volckamer stifteten den 1437 vollendeten Deocartis—Altar. Nürnberger Chroniken ist deutlich abzulesen, dass Deocarus im Laufe des l5. Jahrhunderts in die Rolle des Patrons der Pfarrei St. Lorenz hineinwuchs und dass er dem Titularheiligen der Kirche, Laurentius, seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts den Rang ablief.

Der Rat gestattete seit dem Jahr 1492, dass am Deocarus-Tag der Schrein des Heiligen in einer feierlichen Prozession von Mitgliedern des Patriziats um die Lorenzkirche getragen wurde. Deocarus wurde jedoch nie offiziell durch päpstliche Proklamation kanonisiert, weshalb er kein eigenes Offizium erhalten konnte. Aus diesem Grund mussten die Nürnberger Kleriker auf ein Commune-Fomular zurückgreifen mit Gesängen, die für unterschiedliche Heilige verwendet wurden und somit sehr allgemein gehalten waren. Der Status des Heiligen wurde jedoch durch einen Kunstgriff aus der Masse anderer Heiliger hervorgehoben. An seinem Fest wurde eine gekürzte Sequenz gesungen. Die Kürzung wirkt zunächst äußerst schlecht gewählt, verstümmelt der Eingriff doch den parallelen Aufbau der Melodie-Versikel. Die Intention wird jedoch ersichtlich, denn das Anfangswort „dilectus“ ist ein Synonym zu „carus“. Durch die Kürzung ergibt sich der Textbeginn „dilectus deo“, was nichts anderes bedeutet als „deocarus“. Durch ein subtiles und einfallsreiches, aber nicht ausdrücklich verbotenes Wortspiel konnte ein Name in einen Commune-Gesang projiziert werden.

Vor der Zunahme der Deocarus-Verehrung am Ende des 15. Jahrhunderts war Sebaldus (19. August) der unangefochtene Lokalheilige der gesamten Reichsstadt. Offiziell war Sebaldus im Jahre 1425 als kanonisierter Heiliger in den Festkalender aufgenommen worden. Zwar erhielt Sebaldus nie ein vom Papst approbiertes Offizium, aber er mußte sich nicht mit einem reinen Commune-Formular zufrieden geben. Im gereimten Text des Alleluja wird Sebaldus mit Namen genannt. Vermutlich in Nürnberg wurde die Sequenz für den Heiligen verfasst, in der die wichtigsten Stationen seiner Vita angesprochen sind: seine Jahre als Eremit, die Wunder, die er wirkte, und seine letzte Reise. Der tote Körper des Sebaldus wurde auf einen Ochsenkarren gelegt, und die Tiere wurden sich selbst überlassen. Die Legende berichtet, dass die Ochsen Sebaldus nach Nürnberg brachten und an der Stelle stehen blieben, an der er begraben und später die Sebaldus-Kirche errichtet wurde.

Das Monika-Fest (4. Mai), für die Mutter des heiligen Augustinus, wurde um das Jahr 1500 in Nürnberg eingeführt. Mit nur einer Ausnahme findet sich in allen erhaltenen Nürnberger Missalien aus dieser Zeit ein eingefügter vierseitiger Druck, der zwei Messformulare für Monika enthält. Im Jahr 1504 stiftete der Lorenzer Probst Sixtus Tucher eine feierliche Vesper und Frühmesse am Monika-Tag. Am „Vierlehrer-Altar“ sollten sich alle Lorenzer Kleriker, Vikare, Chorschüler und der Schulmeister zu dieser Feier versammeln. Die Wahl des Altars erfolgte nicht zufällig, war doch Augustinus einer der vier Kirchenväter. Sixtus Tucher nimmt in der Stiftungsurkunde unmittelbar Bezug auf die erwähnten Drucke, denn er schreibt vor, dass die Messe in der besonderen Form gefeiert werden solle, wie sie „geordet und gedruckt in alle meßpucher eingemacht sein“. Eines dieser Formulare wurde in das Gänsebuchübertragen, ergänzt mit den entsprechenden Melodien.

Das Fest der heiligen Martha, der Schwester von Maria Magdalena und Lazarus, wurde in Nürnberg am 29. Juli gefeiert. Basierend auf dem Neuen Testament wird in der mittelalterlichen Hagiographie Martha häufig als das Gegenbild zu ihrer anfänglich sündhaften Schwester aufgebaut: Martha ist pflichtbewußt und bescheiden, das Ebenbild einer Hausfrau, die sich um das leibliche Wohl der Familie kümmert. Während Martha im Graduale, im Alleluja und in der Communio als Dienerin und „Wirtin“ des Herrn charakterisiert wird, nehmen der Introitus und besonders die Sequenz Bezug auf Begebenheiten aus ihrer Vita, die sich in Südfrankreich zutrugen. So soll sie das Ungeheuer Tarascus — halb Drache, halb Fisch — besänftigt haben, das in der Rhone in der Nähe der Stadt Avignon Furcht und Schrecken verbreitete. Sie übergoss es mit geweihtem Wasser, und es wurde zahm wie ein Lamm.

Die Sequenz widmet sich besonders den Umständen der Beerdigung der Heiligen. Die Erläuterung des ohne Kontext nur schwer verständlichen Textes findet sich in der im späten Mittelalter verbreiteten Legendensammlung des Jacobus de Voragine, der Legenda Aurea: Martha verstarb in der Nähe der Stadt Tarascon in der Provence. Am Tag nach ihrem Tod hielt der heilige Bischof Fronto im mehrere hundert Kilometer entfernten Périgueux die Sonntagsmesse. Nach der Lesung der Epistel schlief Fronto in seinem Stuhl ein. Im Traum erschien ihm Christus und forderte ihn auf, mit nach Tarascon zu kommen, um Martha zu bestatten. Beide befanden sich sofort in Tarascon, hielten dort das Totenamt und begruben Martha. Währenddessen war in Périgueux die Messe bis zur Lesung des Evangeliums fortgeschritten, und Fronto wurde vom Diakon geweckt. Er erwachte, erzählte den sonderbaren Vorfall, schickte einen Boten nach Tarascon, um seinen Ring und die Handschuhe zu holen, die er dort bei der Vorbereitung der Feier der Totenmesse abgelegt hatte. In der Tat kehrte der Bote mit den Objekten nach einiger Zeit nach Périgueux zurück.

Der Introitus zum Fest des Titularheiligen der Lorenzkirche, Laurentius (10. August), beschließt das Programm. Das Gänsebuch ist in vielerlei Hinsicht ein Drehbuch für den Ablauf des Kirchenjahres, das die spätgotische Lorenzkirche, die mit der Fertigstellung des Hallenchores im Jahre 1477 ihre Vollendung gefunden hatte, ausfüllt. Am Fest des Namenspatrons wurde dieser Bezug besonders deutlich, denn der Text des Introitus ließ sich auf diese Funktion hin umdeuten: Sanctitas et magnificentia in sanctificatione ejus - „Heiligkeit und Erhabenheit sind in seinem Heiligtum.“

Quelle: Volker Schier und Corine Schleif, im Booklet

Beschreibung des Manuskripts - und Quelle der Bilder: The Morgan Library and Museum



TRACKLIST


Das Gänsebuch (Geese Book):

The Late Medieval Liturgy of St Lorenz, Nuremberg


01 Kaspar OTHMAYR (1515-1553) / 3:12
Lucas OSIANDER (1534-1604)
Bicinium and Chorale:
Komm, Heiliger Geist, Herre Gott (+)

02 Mass for Ascension 2:41
Introitus: Viri Galilei

03 Hans KOTTER (ca.1485-1541) 1:21
Fantasia in C (+)

04 Mass for the Holy Lance und the Nails * 12:37
Introitus: Foderunt manus meas
Alleluia: Michael descendit
Alleluia: Surrexit pastor bonus
Sequentia: Hodiernae festum lucis
Offertorium: Videbunt in quem transfixerunt
Communio: Apprehende arma et scutum

05 Conrad BRUMANN (d. 1526) 1:19
Carmen in G (+)

06 Mass for Saint Deocarus * 4:55
Alleluia: Justus germinabit
Sequentia: Dilectus deo et hominibus

07 Ludwig SENFL (ca.1492-ca.1555) 2:37
Lied: Ewiger Gott (Nuremberg 1534) (+)

08 Mass for Saint Sebaldus * 12:56
Introitus: Os justi meditabitur
Graduale: Os justi meditabitur
Alleluia: O Sebalde
Sequentia: Concinamus pariter
Offertorium: Posuisti Domine
Communio: Posuisti Domine

09 Heinrich ISAAC (ca.1450-1517) 2:28
Ricercare in D minor (+)

10 Mass for Saint Monica * 1:10
Offertorium: Jesu transfixi vulnera

11 Conrad PAUMANN (ca.1415-1473) 2:25
Kyrie Angelicum (+)

12 Mass for Saint Martha * 16:50
Introitus: Marthae piae memoriam agamus
Graduale: Domine, non est tibi cure
Alleluia: Ora pro nobis
Sequentia: Marthae ingens sanctitas
Offertorium: Stetit Jesus iuxta aram templi Marthe
Communio: Martha satagebat circa frequens

13 Arnolt SCHLICK (ca.1455-ca.1525) 2:18
Maria zart, von edler Art (+)

14 Mass for Saint Lawrence 1:48
Introitus: Confessio et pulchritudo
in conspectu eius

15 Heinrich FINCK (1445-1527) 1:22
Ich wird erlost (+)

16 Bells ofthe Church of St Lorenz 0:53

Playing Time: 70:53

Schola Hungarica
László Dobszay and Janka Szendrei, Directors
(+) Matthias Ank, Organ
* World première recordings

Recorded in the Lutheran Church in Wendelstein, 9th to 12th September, 2002
and in the Church of St Lorenz, Nuremberg, on 25th February 2003.
Producers: Susette Clausing, Volker Schier, Corine Schleif.
Engineers: Thilo Grahmann, Klaus Brand.
(P)+(C) 2005


Hiob


Navid Kermanis ungläubiges Staunenüber Dürers Hiob

Links: Albrecht Dürer: Hiob auf dem Misthaufen. Um 1503/05. Lindenholz auf Balsaholzparkett, beschnitten,
96 x 51,5 cm. Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt am Main.
Rechts: Albrecht Dürer: Pfeifer und Trommler. Um 1503/05. Lindcnholz, oben beschnitten,
94 x 51,2 cm. Wallraf-Richartz-Museurn‚ Köln.
Hiob wird nicht verhöhnt. Ich kannte das Bild nur aus der «größten Kunstsammlung, die man kaufen kann!», einer CD-Rom mit vierzigtausend Gemälden, die ich für 9,99 Euro aus der Konkursmasse eines Buchladens in der Kölner Ehrenstraße gehoben hatte, suchte als erstes nach Hiob und fand den Misthaufen mehrfach, auf dem er zu allem Überlluß auch noch von seiner Frau mit Jauche übergossen wird. Weil mir unter allen Versionen das Gemälde Dürers am klügsten komponiert schien, im Hintergrund die herrliche Schöpfung und die menschliche Not, machte ich mich auf den Weg nach Frankfurt, wo es zur Ständigen Sammlung des Städel gehört. Daß mein Besuch mit der großen Dürer-Ausstellung zusammenfiel, mit Menschenschlangen wie vor der Paradiespforte und Höllengedränge in den verdunkelten Sälen, nahm ich in Kauf, wollte je schneller desto besser auch Hiob zum Zeugen des eigenen Christentums nehmen.

Doch wie verblüfft war ich, als ich mich endlich zu dem Bild durchgeschlängelt hatte: Es ist überhaupt keine Jauche, die die Frau über Hiob ausschüttet, sondern klares und dann wohl doch erfrischendes oder angenehm warmes Wasser. Und sie blickt ihn keineswegs hämisch an, wie es sich mir im Kleinformat des Laptops dargestellt hatte, wie es aber doch auch die CD-Rom ausdrücklich erklärt. Selbst der Katalog der Ausstellung, den aufzuschlagen ich mir links und rechts mit den Ellbogen Platz schaffen mußte, selbst der Katalog spricht von «dem von seiner Frau verspotteten Hiob». Doch ist da kein Spott, nein: Eher aufmerksam ist ihr Blick, sehr ernst, geradezu achtsam, nicht unbedingt liebevoll, das wird nicht recht klar, aber gewiß ohne Arg. Ist sie überhaupt seine Frau, so jung, wie Dürer sie gemalt hat, ihr Gesicht faltenlos, Hiob dagegen schon ein alter Mann, fast ein Greis.

Ja, sie muß seine Frau sein, eine andere taucht im Buch Hiob nicht auf. Jedenfalls steht sie ihm bei, ohne zu ächzen, kühlt, wärmt oder wäscht ihren Mann, dessen Haut nicht blutig vom Kratzen ist, nicht von offenen Geschwüren überzogen, der also nicht äußerlich zu leiden scheint — keineswegs hanget sein Gebein ihm an Haut und Fleisch, wie es in der Bibel heißt. Vor allem aber klagt Hiob nicht, beklagt sich weder über die Unbarmherzigkeit seiner Mitmenschen noch klagt er Gott ob seiner Ungerechtigkeit an, hat die Augen geschlossen und die Wange in die Hand gestützt, resigniert offenbar, depressiv würde man heute sagen, weil er auf die Zuwendung seiner Frau mit keiner Geste reagiert. Nicht einmal angedeutet ist das Gespräch, aus dem die Begegnung der beiden Eheleute in der Bibel besteht: Die Frau fordert Hiob auf, sich von Gott loszusagen und zu sterben; Hiob, der hier noch, am Anfang des Buches, ein Duldender ist, Hiob schilt sie eine Närrin und hält ihr vor, daß von Gott das Böse genauso wie das Gute anzunehmen sei. Später beschwert er sich, daß sein Atem sie anwidere. Dürer verwandelt den todernsten Streit der Eheleute in ein stilles Einvernehmen, in Gleichmut oder mindestens Gleichgültigkeit Hiobs und Fürsorge oder mindestens Dienstbarkeit seiner Frau.

Ein Blick in die von Navid Kermani besuchte Ausstellung
Dürer muß tatsächlich an Pflege gedacht haben, an Linderung, wo es Heilung nicht gibt, als er die Jauche durch Wasser ersetzte: Aus dem Katalog, in den ich mich streberhaft inmitten des Pulks von Betrachtern vertiefte, erfuhr ich, daß er das Bild für die Kapelle eines Thermalbads gemalt hat, des «Hiobsbads», wo man Aussatz und Hautkrankheiten mit Güssen des Heilwassers behandelte. Was für ein Name für eine Heilanstalt, geradezu zynisch: Hiobsbad! Der Katalog erwähnt nichts vom Aufbegehren Hiobs, nur daß er duldet, so sehr ihn Gott schlägt — gut, in dieser exegetischen Tradition kann man auch ein Heilbad nach Hiob benennen, damit sich die Kranken ebenso geduldig in ihr Leid fügen. Der Holzeimer ist nicht schäbig verdreckt wie einer, mit dem man Jauche entsorgt, sondern bis hin zum Griffloch genau so, wie er noch heute in Dampfbädern verwendet wird.

Allein, Hiob ist nicht geduldig, er bejaht seinen Schmerz schon in der Bibel nur anfangs, im ersten und zweiten Kapitel; als seine Freunde ihn trösten wollen, fährt sein Heulen aus ihm heraus wie Wasser: Lieber sterben als leben will er und pflichtet damit seiner Frau nachträglich bei. Bei Dürer ist er still, jedoch kaum in Geduld, der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt, eher schon teilnahmslos oder wie gesagt depressiv, weil er auf die Schläge Gottes mit keinem Wort reagiert. Derweil schaut ihn seine Frau wie eine Krankenschwester an, so sachlich wie sorgsam, ohne erkennbare Emotion, konzentriert auf die Behandlung, die sie ihm zuteil werden läßt. Hiob mag nicht reagieren, aber ihr Erbarmen wird er auf der Haut spüren.

Seltsam, daß ihr Kleid noch rosarot strahlt und ihr Gesicht keine Spur des Schreckens aufweist, obwohl doch auch ihr Haus verbrannt ist oder eben in diesem Augenblick noch brennt. Ebensowenig hat Hiob Rauchflecken auf der Haut, Brandwunden schon gar nicht, und das Feuer ist außerdem größer als bei einem einzelnen Hausbrand; die Flammen lodern bis zu den Wolken wie aus einem Vulkan. Es muß eine Siedlung oder Stadt sein, eine Katastrophe, die nicht allein Hiob trifft. Jemand anders flieht im Hintergrund vor dem Inferno, die Hände entsetzt zum Himmel gestreckt.

Wie gut, daß mein Besuch mit der großen Dürer-Ausstellung zusammenfiel: Das Bild, das neben dem Hiob hängt, kannte ich aus Köln, wo es zur Sammlung des Wallraf-Richartz gehört. Ich hatte es nie beachtet, mich nie ernsthaft für die Musikanten vor lieblicher Landschaft interessiert, der Trommler mit dem Gesicht und den blonden Locken Dürers. Erst als ich die Musiker neben Hiob und seiner Frau sah, ging mir auf, daß die beiden Bilder zusammengehören, ja, daß sie ein Bild sind, wie man an den Konturen des Misthaufens, des rosa Kleidzipfels und der Berge erkennt: zwei Flügel desselben Altars, klärte mich der Katalog auf, der mir zwischendurch aus der Hand gestoßen worden war.

Cod. 2823, fol. 54v: Historienbibel:
Hiob auf dem Misthaufen. Österreichische Nationalbibliothek
Ihrer Gauklerkleidung nach Profis, spielen die Musiker für Hiob auf, ungeachtet der Tatsache, daß er kein Geld bei sich hat und bestimmt nicht die Absicht, sie zu entlohnen. Sieht man beide Bilder als eines, dann stehen die Musiker quer hinter der Frau, sind vielleicht von ihr engagiert, ihr trotz des Gestanks auf den Misthaufen gefolgt, damit nicht nur der Leib, sondern gleichzeitig die Seele Hiobs erfrischt, erwärmt und gereinigt wird. Auch sie verspotten Hiob nicht, noch wenden sie sich angeekelt ab, wie es in der Bibel von allen Mitmenschen heißt.

Mit dem Brand, der gerade erst ausgebrochen sein kann, sonst würde der Mann im Hintergrund nicht panisch fliehen, haben erkennbar weder die Eheleute noch die Musiker etwas zu tun. Hiob scheint schon lange auf seinem Platz zu sitzen, und die Frau nur um ihn bekümmert zu sein. Und die Gaukler trommeln und pfeifen morgen vor einer anderen Stadt. Es müssen Häuser sein, wie sie jeden Tag brennen. Jetzt erkenne ich auch die kleinen Gestalten, die ich im Wallraf-Richartz nicht einmal wahrgenommen hatte: Menschen und Lasttiere, die von bewaffneten Reitern überfallen werden. Wären es die Knechte und Tiere Hiobs, würde er doch hinsehen. Es müssen Knechte und Tiere sein, wie sie jeden Tag überfallen werden. Es ist die Welt, wie Gott sie eingerichtet hat, auf beiden Flügeln des Altars eine so herrliche Schöpfung und so große Not.

Und doch tröstet das Bild, das Dürer für die Kapelle des Thermalbades gemalt hat, tröstet es die Kranken, wenngleich anders als in der Bibel und ihrer exegetischen Tradition; denn Hiob leidet zwar, ja, aber wird nicht auch von seinen Mitmenschen verhöhnt, jedenfalls nicht von seiner Frau. Wollte sie ihn sterben sehen, wie es im Buch so erbarmungslos heißt, würde sie ihn nicht an Leib und Seele pflegen. Mag Gott uns verlassen haben — verloren ist der Mensch nicht, wo er einen anderen Menschen noch hat.

Quelle: Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. C.H.Beck, München 2015, edition C.H.Beck Paperback, ISBN 978 3 406 71469 6. Seite 106 bis 111.

Cod. 2823, fol. 57v: Historienbibel:
Hiob auf dem Misthaufen. Österreichische Nationalbibliothek


Und hier noch mehr Musik, aus alten Handschriften gezogen:

Das Loachamer Liederbuch (Nürnberg, 1450) | Die Entstehung von Picassos "Frau mit dem Haarnetz" (Modell: François Gilot).

Sumer is icumen in (England, 13. und 14. Jahrhundert) | Otto Pächt über die Bildauffassung der deutschen Spätgotik.

Das Glogauer Liederbuch (Niederschlesien, 1480) | Mit Bildern von Quentin Massys und einer Rezension und einem Auszug aus E. R. Curtius'"Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter".

Carmina Burana (Benediktbeuren, 1300) | Nikolaus Harnoncourt (+ 2016) über die Interpretation historischer Musik.

Das Klosterneuburger Lautenbuch (Klosterneuburg, 18. Jahrhunder) | Mit Bildern vom "Verduner Altar".Mehr über diesen Altar HIER.



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Der Dirigent Bruno Walter als Liedkomponist

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Als Bruno Walter (1876-1962) in seinen Lebenserinnerungen „Thema und Variationen“ (1947) festhielt, er sei kein Komponist, sondern bloß ein „Nachschaffender“, der „nur die Musik anderer zum Erklingen gebracht“ habe, tat er dies im Rückblick auf die lange Karriere eines der bedeutendsten Dirigenten, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Wenn er aber zugleich von seinen Versuchen „als schaffender Musiker zu der Zeit, als ich mich noch dafür hielt“, berichtete, heißt das nicht nur, dass auch dem Achtundsechzigjährigen diese Erfahrungen noch als wesentlich für seine künstlerische Entwicklung erschienen, sondern dass er wenigstens in einer frühen Periode — zumindest auch — Komponist war.

Die heute weitgehend verschwundene und nur noch von Ausnahmeerscheinungen wie Pierre Boulez und wenigen anderen verkörperte unzertrennliche Verbindung zwischen dem musikalischen „Schaffen“ und „Nachschaffen“, wie Walter es nannte, war in der Zeit um 1900 noch etwas, das durchaus als selbstverständlich angesehen wurde. Im Umfeld des jungen Musikers wären etwa Hans Pfitzner‚ Richard Strauss sowie vor allem sein Vorbild und Mentor Gustav Mahler zu nennen, die zwischen Dirigieren und Komponieren eine höchstens durch Zeitnot‚ nicht aber durch künstlerische Unvereinbarkeiten gefährdete Einheit bildeten.

Der bereits im Alter von dreizehn Jahren gefasste Entschluss, Dirigent zu werden und die pianistische Karriere zugunsten dessen zu vernachlässigen, sollte denn zunächst auch für Bruno Walter keineswegs einen Verzicht auf das Komponieren bedeuten. Im Gegenteil: Eine Zeitlang verfolgte er beide Wege zugleich mit großer Energie. Jene Briefe, die er von seinen Auslandsengagements in Breslau, Bratislava oder Riga vor allem an die Eltern schrieb, bezeugen die Ernsthaftigkeit, mit der er nicht nur seine Laufbahn als Korrepetitor und Kapellmeister, sondern auch seine eigene schöpferische Tätigkeit betrieb. Obwohl sich Walters kompositorische Anstrengungen im Wesentlichen auf die zwei Jahrzehnte etwa seit seinem fünfzehnten Lebensjahr beschränkten, entstanden so unter anderem zwei ambitionierte Symphonien und andere Orchesterwerke, eine Fragment gebliebene Oper („Agnes Bernauer“) sowie Chor- und Kammermusik.

Bruno Walter
Außerdem schrieb er nicht weniger als 26 Klavierlieder, von denen 18 in drei jeweils sechsteiligen Sammlungen in Druck erschienen. Einschließlich jener acht unveröffentlichten Lieder, die sich im Bruno-Walter-Nachlass der Universitätsbibliothek an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien befinden, bietet die vorliegende Gesamteinspielung erstmals einen vollständigen Uberblick uber Walters Beitrag zu einer zentralen Gattung an der Schwelle zwischen Haus- und Konzertmusik, die schon immer mit ihren kleinen Formen tiefe Einblicke in die menschliche Seele bieten wollte.

Es ist wohl nicht verfehlt, Bruno Walter in seinen Liedern als einen Erben der musikalischen Romantik anzusehen, die er allerdings aus der Perspektive seiner Zeit, der Moderne, anklingen lässt. Dabei besinnt er sich auch einer ihrer wichtigsten Wurzeln, indem er sich, wie die Romantiker, für volksliedhafte Gedichte entscheidet. Neben zwei Volkslied-Neuvertonungen greift nur ein einziges Lied, „Sehnsucht“, op. 12/3, mit seiner durch ausdrucksvolle Harmonik eingefärbten Einfachheit auf die Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ zurück. Am häufigsten aber hat Walter Gedichte von Heinrich Heine sowie vor allem von Joseph von Eichendorff vertont. Die drei mit „Im Volkston“ überschriebenen Eichendorff-Lieder zeigen dabei am deutlichsten, wie Walter diesen „Volkston“ im melancholischen Rückblick, aber zugleich aus einer deutlich spürbaren Distanz heraufbeschwört. „Erwartung“ mit seinen Dur-Moll-Wechseln ist etwa von Modulationen durchdrungen, und in „Der Bräutigam“ hat Walter einen regelrechten Kommentar gegen den Text komponiert: An der Stelle, wo es heißt: „Wir reiten so geschwinde“, macht die Musik das genaue Gegenteil, wird immer langsamer und verhaltener.

Bruno Walter
Anders als die noch wenig gesangliche Linienführung in der Ballade „Der Reiter und der Bodensee“, einem Werk des 23-Jährigen, sind die meisten von Walters Liedern mit leichter Hand und vorwiegend ausgesprochen sangbar geschrieben. So verwundert es nicht, dass sich auch schon Dietrich Fischer-Dieskau für diese Kompositionen einsetzte — Kompositionen, die trotz der tiefen Eindrücke, die Gustav Mahler bekanntlich auf Walter machte und die zweifellos Spuren in dessen gesamter künstlerischer Physiognomie und damit selbstverständlich auch in seinem Komponieren hinterlassen haben, zuletzt doch ziemlich eigenständige Lösungen finden. Daher griffe es viel zu kurz, Walters Musik, wie manchmal geschehen, nur mit jener von Mahler in Verbindung zu bringen. Auch wenn er selbst äußerst trübe Stimmungen malen konnte wie in „Verwelkte Blume Menschenkind“, ist doch eine spielerische Zartheit das vielleicht typischste Charakteristikum in seinem kompositorischen Schreibstil. Solche Leichtigkeit — auch eines der Lieblingsworte Walters in seinen Schriften — ist etwa in den elfenhaften Arpeggio-Figuren von „Waltrauts Lied I“, op. 11/3 zu finden.

Häufig scheint Bruno Walter in seinen Liedern auch in eine Art Dialog mit anderen Komponisten zu treten: So erinnert zum Beispiel die ekstatisch gesteigerte Leidenschaft der „Liebeslust“, op. 11/6, an Robert Schumann und Johannes Brahms oder der Wechsel zwischen Schlichtheit und expressiver Chromatik in „Meine Mutter hat’s gewollt“, op. 11/1, an Hugo Wolf. Aber auch Walters Auseinandersetzung mit Claude Debussy, dessen Oper „Pelléas et Mélisande“ er 1911 zur Erstaufführung an der Wiener Hofoper brachte, hat Spuren in seiner eigenen Musik hinterlassen, am deutlichsten vielleicht in der mixturartigen Harmonik der „Tragödie III“ („Auf ihrem Grab“), op. 12/6.

Aber alle diese Anklänge an prominente Meister täuschen doch nicht darüber hinweg, dass es Walter vielerorts gelang, seinen individuellen Tonfall zu finden. Wie weit er kompositorisch in die Moderne gehen wollte, war indessen für ihn, der unverwunden eingestand, etwa bereits mit Musik Arnold Schönbergs seine Probleme zu haben, von vornherein klar. Für seinen Musikbegriff hielt er sich stets an enge Vorstellungen von musikalischer Einheit: „Für mich steht es fest, dass Melodie und Harmonie eine vollkommene Einheit in dem Sinne sind, dass in der Melodie vom Moment der Erfindung an ihr gesamter harmonischer Gehalt latent ist, der dann nur aus ihr entwickelt werden braucht.“ (Brief an Mahler, wahrscheinlich Juni 1910). Wenn Walter auch nicht in musikalisches Neuland vorstieß, eines macht der Überblick über seine Lieder jedenfalls deutlich: Obwohl er, wie jeder Komponist, mit seinen Stücken vielfach auf andere Musik reagierte, sind sie weit mehr als nur Nebenprodukte eines nachschöpferischen Künstlers. Es ist doch auch seine eigene Musik, die Bruno Walter hier entstehen ließ.

Quelle: Daniel Ender‚ im Booklet

Die Linde

Es steht in Deutschland eine Lind’
auf einem Friedhof mitten;
Auf dieser alten Linde sind
zwei Herzen eingeschnitten.

Sie liebten sich, weiß stand der Klee,
ihr Glück war kaum zu fassen,
doch als die Schwalbe sang ade,
da mussten sie sich lassen.

Ade, ade, ade, ade -
Das eine lebt noch auf der Welt,
tut lachen, singen und wandern
und beten, dass es bald zugesellt dem andern.


TRACKLIST

Bruno Walter 1876-1962

Lieder

Complete Recording | Gesamtaufnahme

Im Volkston (Eichendorff)
01 Erwartung 1’22
02 Der traurige Jäger 1’54
03 Der Bräutigam 1’43

Sechs Lieder Op.11 für eine Singstimme mit Klavierbegleitung
04 Meine Mutter hat’s gewollt (Theodor Storm) 2'16
05 Vorbei (Gustav Renner) 3'26
06 Waldtrauts Lied I (Julius Wolff) 1'51
07 Waldtrauts Lied II (Julius Wolff) 2'09
08 Weißt du, wie lieb ich dich hab? (Hermann Sudermann) 3'49
09 Liebeslust (Fliegende Blätter) 3'26

10 Der Reiter und der Bodensee 5'51

Sechs Lieder Op.l2 für eine Singstimme mit Klavierbegleitung
11 Solvejg’s Lied (Henrik Ibsen) 2'57
12 Die Linde (Volkslied) 2'41
13 Sehnsucht (Aus "Des Knaben Wunderhorn") 0'59
14 Entflieh mit mir (Heinrich Heine) 1'10
15 Es fiel ein Reif (Heinrich Heine) 2'59
16 Auf ihrem Grab (Heinrich Heine) 2'38

Sechs Lieder (Eichendorff) für eine Singstimme mit Klavier
17 Musikantengruß 2'11
18 Der junge Ehemann 3’l2
19 Der Soldat 1‘43
20 Die Lerche 3’l7
21 Des Kindes Schlaf 1‘36
22 Die Elfe 1'51

23 Wassernoth (Volkslied) 2’44
24 Die Wälder so still (Maidy Koch) 3'33
25 Verwelkte Blume Menschenkind (Rückert) 2’00
26 Geburtstagslied 1'46

Total time: 65'20
Susanne Winter - soprano
Christian Hilz - baritone
Katia Bouscarrut - piano

Recorded 21-26.1.2009, Reitstadel in Neumarkt/Oberpfalz
Producer: Jürgen Rummel Recording engineer: Klaus Brand
Technical engineer: Bernd Stoll


FRIEDRICH TORBERG

Angewandte Lyrik von Klopstock bis Blubo

Friedrich Torberg
Eine Literaturgeschichte in Beispielen
(1932)

Diese Literaturgeschichte erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Der Herausgeber hat sich bei der Auswahl der Autoren nicht von deren Rang und Wichtigkeit leiten lassen, sondern von seiner eigenen, streng subjektiven Meinung. Es kann somit aus dem Fehlen eines Autors mit großer Wahrscheinlichkeit geschlossen werden, daß der Herausgeber nichts gegen ihn einzuwenden hat. (1) Ebenso wahrscheinlich ist es jedoch, daß der betreffende, nicht namentlich genannte Autor zu einer der pauschal behandelten Gruppen gehört.(2).

Für die Mitteilung, daß die letzte Zeile der »Klopstock«-Ode eine Hebung zu wenig aufweist, bin ich Herrn A. o. Prof. Priv.-Doz. Dr. Albin Meyer-Tuttlingen zu Danke verpflichtet.

Der Herausgeber

(1) Dies gilt besonders für Zeitgenossen.
(2) Dies gilt besonders für Zeitgenossen.


Klopstock

Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht.
Aber wenn sich des Sees, streng in horazischem Takt,
Ein Professor ermächtigt,
Dann vergeht dir die Lust zum Baden.


Schiller

Was wälzt sich dort mit Sprachgewalt
Von Pathos Tempel zur Tirade?
Ein Ungeheuer von Gestalt,
Das bald sich bäumet, bald sich ballt -
Hier wird Getümmel zur Ballade.
Wie schade.


Rückert

Ghaséle webt Kayam dem Rahmen ein,
Said flicht Parabeln und Makâmen ein.
Doch leider fällt der Weisheit des Brahmanen
Heil, Bier und Sieg zu oft als Amen ein.


Uhland

An stillen Sommertagen, wann lau die Lüfte wehn,
Da tut es gut, im alten Balladenwald zu gehn.
So Hirtenknab wie König sind von vertrauter Art,
Darüber rauschen Bäume, dahinter rauscht ein Bart.

Ludwig Uhland
Heine

Das war eine große Verwirrung,
Das war des Neuen zu viel:
Satire, Chansons, Polemik,
Und heimliche Tränen und Stil ...

Heut weiß man, daß du der Dichter
Des »Buchs der Lieder« bist.
Im Zweifelsfalle entscheiden
Die Deutschen sich stets für den Mist.


Platen

Am Busento bei Cosenza, Harmosan und Sassaniden,
Tote Goten‚ falsche Turken, Sarazenen, Moslemiden,
Schwall und Schwerter, Ruhm und Rhythmus, Kind im Manne, Mann im Kinde,
Und melodisch klingt selbst August Graf von Platen-Hallermünde.


Preußische Barden

Von Becker und von Schenkendorf will ich euch Kunde geben,
Von Strachwitz, Redwitz, de la Motte-Fouqué und Fallersleben,
Von Arndt und all dem heldischen, hohlklirrenden Gelichter -
Der Gott, der Preußen wachsen ließ, der wollte keine Dichter.


Tu, Felix Austria

Den guten Kaiser Joseph, den edlen Prinz Eugen,
Im Grün bei einem Seidel kann man sie sitzen sehn.
Es sprießt der Halm im Bauernfeld, ein Vogel singt im Stillen ...
Die Parzen weben anderswo. Du, Österreich, hast Grillen.


Volksschul-Lesebuch

Burg Niedeck ist im Elsaß
Zu Breslau in der Stadt
Zu Limburg auf der Feste
Auf steilem Fe|sengrat.
Vasall und Schenk und Truchsess
Und Treue bis ans Grab —
Hie Kerner, Sim- und Gerok!
Hie Müller, Greif und Schwab!

Stefan George
Scheffel

Erstchargierter, Landesvater,
Salamander, Mütze, Schmiß.
Hidigeigei selbst, der Kater,
Krümmt sich vor dem Bierverschiß.


Liliencron

Ein Edelmann, ein Biedermann.
Ein wackrer deutscher Liedermann
find’t nimmer Ruh.
Gleicht's auch wie's Ei dem andern Ei,
Er singt sich eins, er singt sich zwei,
Wer weiß, wozu.


Die Moderne

Wir haben den Dehmel, wir haben den Falk',
Es plätschert der Reim, es rieselt der Kalk
Ohn’ End’.
Und wenn dich die Frucht vom Bierbaum traf,
Dann fällst du sogar auf Holz in den Schlaf.
Sapperment.
Denn damit wir bestehn vor dem Zahn der Zelt,
Fehlt uns ja nur eine Kleinigkeit:
Talent.


Wedekind

Ich hab meine Tante geschlachtet,
Meinen Onkel geschändet, und dann
Bei einer Hure, ja Hur übernachtet,
Und behielt doch immer den Stehkragen an.


Stefan George

der meister eh er noch die feder tauchte
denkt schon an bütten schon an offizin
den grauen augen staut sich der erlauchte
satz-bau von georg bondi in berlin


Rilke

Strophen gibt es, die singen
sich von selber zu Bett.
Und du träumst von verblichnen Dingen,
von Bändern, und wie sie sich schlingen,
durch einer Madonna Korsett.


Hofmannsthal

Und Dichter wachsen auf und lesen vieles,
und sind wie Lamm und Pfau, und sehr umragt
von der Bemühtheit ihres eignen Stiles.

Und dennoch sagt der viel, der »Trakl« sagt.

Hugo von Hofmannsthal
Ekstatik

Kosmisches Urlicht sternt auf. Rot grellen orangene Sonnen.
Vom Geharf in ihren ultravioletten Strahlen sind mein unendlich schwarzen Finger erhitzt.
Vanillene Katarakte steilen aus purpurnen Bronnen,
Da sich auf weißem Papier ein Tintenklecks blau verspritzt.


Expressionismus

Alles zu viel und zu wenig, was wir bisher stammelnd erfaßten.
Gott ist in dir, o Mensch. Die Welt ist klein. Du aber, und möglicherweise auch ich, wir beide sind groß.
O Hand in Hand an den beinernen Knöpfen entlang sich zu tasten!
Siehe: verdurstend wie alle Kreatur auch das Gerippe der Schreibmaschine liegt bloß.


Soziale Note

Steh auf, Prolet! Die Ketten sind zerrissen!
Ich sing dir was von Schächten und von Schlotenl
Ich geig dir was von Streik! Ich muß es wissen,
denn meine Noten sind soziale Noten.
Ich mach das Lied, du reiß die Welt in Fetzen!
Steh auf, Prolet! Und laß mich setzen.


Großstadtlyrik

Fabriken stehen Schlot an Schlot,
vorm Hurenhaus das Licht ist rot.

Ein blinder Bettler starrt zur Höh,
ein kleines Kind hat Gonorrhoe.

Eitrig der Mond vom Himmd trotzt
Ein Dichter schreibt. Ein Leser kotzt.


Karl Kraus

Der‚ welcher rechnet, ob, wenn er sich's richtet,
er Sprache sprachlos macht, und dennoch dichtet -
der hat, sei ihm das Resultat erbötig,
zur Arithmetik auch die Ethik nötig.


Junge Generation

Ich bin ein verlorener Sohn
aus der jungen Generation.
Ich bin deklassiert und entwurzelt
in die Literatur gepurzelt.
Ich leide, du leidest, wir leiden.
Das macht uns so unbescheiden.

Bertolt Brecht
Prager Schule

Früh, wie ich aufsteh, geb ich mich ins Dichten.
Die Köchin singt ihr »Šla Naninka« leise mit.
Ich brauch den Blick nur auf den alten Friedhof richten.
Ich hab von Haus aus Kolorit.


Wiener Schule

Es ist sehr halb. Aus halb verhangnen Stuben,
die halb Kaffeehaus sind und halb Barock,
aus Katholiken und aus Judenbuben
formt sich halb müd, halb geil ein ganzer Schmock.


Berliner Schule

Wir dichten mit der kalten Lameng,
wir machen Changsongs mit Gebrauchsrefreng,
mal schnieke‚ mal dufte, mal kesse.
Und sagt wer, das sei keine Literatur,
dann haut ihm die Voss, die Beh-Zett, das Zwölfuhr
beng-bang mittenmang
dann haun wa ihm eins in die Fresse.


Bert Brecht

Brüder, seit ich begabt aus dem Dickicht der Städte hervorbrach
wurdet ihr längst zu Genossen. Es müssen aber
aus den Genossen auch Leser werden. So
will es das ZK der KPD, das EKKI-Plenum. RH. Agltprop und WC. Folglich
dichte ich so, daß es jeder verstehn kann. Ihr
werdet es verstehn, Genossen. Ihr
könnt es eventuell auch selber schreiben.


Blubo

Vom Brachfeld ochst sich furch der Nebel in die Traufe.
Braun schwalgt der Herdrauch gelb, der sich dem Stank vereint.
Es kuht die Nacht vom Koben brunz zur Schlaufe,
Wann schon der Vorknecht mit der Hintermagd im Stalle schweint.


Quelle: Friedrich Torberg: PPP. Pamphlete - Parodien - Post Scripta. München/Wien, Langen Müller 1964, S. 213 ff. Zitiert nach: Klaus Peter Dencker (Hrsgr): Poetische Sprachspiele. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart, Philipp Reclam jun. 2002, (Reclams Universal-Bibliothek 18238). Seite 166 ff.


Lust auf weitere Lieder und noch mehr Essays? ... Bitte schön:

Charles Ives: Klavierlieder | Lucien Febvre: Zwischen dem Ungefähr und dem strengen Wissen liegt das Hören-Sagen.

Hugo Wolf: Spanisches Liederbuch (Schwarzkopf, Fischer-Dieskau, Moore, 1967) | Philipp Blom: Der Büchernarr.

Ernest Chausson: Poème de l’amour et de la mer - Chanson perpétuelle - Mélodies | Ambrose Bierce: Aus dem Wörterbuch des Teufels.

Henri Duparc: Lieder | Heinrich Heine: Eine (andere) Winterreise.


Johannes Brahms: Lieder (Dietrich Fischer-Dieskau) (Box mit 6 CDs) | Die frühgotischen Wandmalereien in Gurk.



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Béla Bartók: Violinsonaten

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„Es gibt, glaube ich, keinen anderen Komponisten in unserem Jahrhundert, der es wie Bartók vermag, eine Reihe von Tönen auszuspinnen, so daß sie schweben und uns in einen zeitlosen Raum tragen - Melodie im wirklichen Sinne des Wortes.“ Auf welches Stück lassen sich Yehudi Menuhins schwärmerische Worte konkreter beziehen als auf den dritten Satz in Bartóks Violinsonate? In seiner eloquenten gesanglichen Vollkommenheit mutet dieser ebenso präzis wie schlicht mit Melodiaüberschriebene Satz gleichsam wie die Inkarnation des Begriffes Melodie an. Man ist gar geneigt, ihn als die schönste Musik Bartóks zu bezeichnen; manche Autoren der Vergangenheit ließen sich sogar zu der Behauptung hinreißen sie sei die schönste Melodie der abendländischen Musikgeschichte.

Ungeachtet solcher sachlich unbrauchbaren Subjektivismen klingt in dieser Einschätzung aber doch die Erkenntnis über die unvergleichliche Konzentriertheit des in der Form eines vierzeiligen Liedes angelegten dritten Satzes an. Hier findet sich die für Bartók typische chromatische Melodieführung, in der raffiniert-subtile Intervallfolgen neben einfachen diatonischen zu einem spannungsreichen, an die Einleitung zum dritten Aufzug von Tristan erinnernden Gesamteindruck verschmelzen. Die Faktur der ersten fünf Töne des Anfangtaktes verweist in ihrer Intervallstruktur darüber hinaus auf die Melodie im zweiten Satz des Doppelkonzerts von Brahms zurück - ebenso wie das aus drei Klängen bestehende Ostinato dieses Satzes. Jenes von Menuhin benannte „Schweben der Töne“ erzielt Bartók schließlich durch eine überaus kunstvolle Ornamentik mit Tremoli, Trillern, Flageoletten und perpetuum-mobile-gleichen 1/32-Tonleitern. Es entsteht ein fragiles melodisches Idyll, das - teilweise con sordino - mit Dämpfer — gespielt, in notturno-artiges Licht getaucht ist.

Der Werkgenese zur Violinsonate von Béla Bartók, seinem letzten vollendeten Werk, steht nicht zufällig ein Zitat Yehudi Menuhins voran. Denn er war es, der Bartók 1944 den Auftrag zur Komposition erteilte. Der von Leukämie bereits stark gezeichnete Komponist war soeben aus Saranac Lake, wo er sein Konzert für Orchester beendet hatte, nach New York zurückgekehrt, um der Aufführung seines Violinkonzerts mit dem Geiger Spivakovsky beizuwohnen. Auch Menuhin, der mehr und mehr Interesse an den Kompositionen Bartóks fand, besuchte dieses Konzert, da er das Werk unbedingt in sein Repertoire aufnehmen wollte. Die 1. Sonate für Violine und Klavier hatte er schon im November 1943 in einer beispielhaften Interpretation in New York aufgeführt, von der auch der anwesende Bartók zutiefst beeindruckt war. So schrieb er an Wilhelmine Creel: „Er ist wirklich ein großer Künstler, er spielte an demselben Konzert die Sonate C-Dur von Bach in großem, klassischen Stil. Meine Sonate hat er auch hervorragend wiedergegeben. Wenn jemand ein großer Künstler ist, dann sind Ratschläge und Hilfe des Komponisten überflüssig, er findet selbst den Weg ganz gut. Überhaupt ist es eine erfreuliche Sache, wenn einen jungen Künstler die Musik seiner Zeit interessiert, die doch kein Publikum anzieht, und sie ihm gefällt und er sie auch comme il faut vortragt.“

Béla Bartók
Die Violinsonate entsteht im rund tausend Kilometer südlich von New York gelegenen Asheville (North Carolina), wo sich Bartók auf Anraten der Ärzte weiterhin gesundheitlich stabilisieren soll. Im Februar beginnt er mit der Arbeit. Nur einen knappen Monat später, am l4, März 1944, ist die Violinsonate beendet. Aus einem kurzen Brief an seinen Verleger geht hervor, wie wichtig ihm spieltechnische Fragen sind: „Die Herausgabe hat keine Eile. Zuerst möchte ich die Meinung Menuhins oder eines anderen guten Geigers über die Spielbarkeit gewisser Stellen erfahren und eventuell dementsprechend einige Änderungen vornehmen.“ Natürlich steht die Meinung des Auftraggebers im Vordergrund. Ihm schreibt er am 21. April: „Ich mache mir wegen der Spielbarkeit einiger Doppelgriffe usw. große Sorgen. Auf der letzten Seite notierte ich gewisse Alternativlösungen, zu denen ich mir Ihren Rat holen möchte. […] Vielleicht möchten Sie mir auch die unausführbaren Schwierigkeiten anmerken? Ich würde dann versuchen, die nötigen Modifizierungen vorzunehmen. Die Vierteltöne im letzten Satz sind nur als Farbeffekte gedacht, daher ohne organische Bedeutung und können weggelassen werden, wie das in der Alternativlösung auf der letzten Seite geschehen ist. Es steht ihnen frei, davon Gebrauch zu machen, falls sie keine Lust haben, die Vierteltöne zu spielen. Das Beste wöre natürlich, ich könnte mir beide Varianten anhören und dann entscheiden, ob es sich lohnt, die Vierteltöne beizubehalten […].“

Am 20. November 1944 gelangte die Violinsonate in New York unter großem Publikumsbeifall zur Uraufführung. Die Kritik äußerte sich mit verhaltener Skepsis, wenngleich die Musik Bartóks insgesamt auch in Fachkreisen zunehmend auf interessierte Offenheit stieß. Bartók selbst zeigte sich mit der aufgeführten Fassung allerdings nicht vollkommen zufrieden. Aber es sollte ihm nicht mehr vergönnt sein, alle Änderungen selbst vorzunehmen. Zwar traf er sich noch zweieinhalb Monate vor seinem Tod mit Menuhin, um mit ihm die endgültige Form der Sonate zu besprechen, die Ausführung jedoch mußte der Geiger selbst vornehmen. Deutlich ist in der Sonate der Geist Bachscher Solosonaten zu spüren, insbesondere im ersten Satz - Tempo di ciacona - dessen Charakter an die d-Moll-Chaconne erinnert. Dem Aufbau einer Sonatenform folgend, entwickelt sich das thematische Material zwischen extremen Hoch- und Tieflagen. Während das erste Thema aus einer diatonischen Melodie in dorisch g aufgebaut ist, gehorcht das zweite chromatischen Gesichtspunkten, die Bartók bis an die Grenze zur Atonalität führt. So werden in den ersten beiden Takten dieses Themas neun verschiedene Töne ohne Wiederholungen verwendet, allerdings nicht konsequent gleichberechtigt behandelt.

Dieser erste Satz der Violinsonate nimmt in seiner archaischen Formstrenge neben wenigen anderen Kompositionen in Bartóks Gesamtschaffen eine Sonderstellung ein, ohne daß hier auf „typische“ Wendungen verzichtet worden wäre: Die in Gegenbewegung miteinander korrespondierenden Stimmen mit ihren knappen, hart konturierten rhythmischen Motiven finden sich hier ebenso wie die markanten Tonrepetitionen, die bereits aus den beiden ein Vierteljahrhundert früher entstandenen Sonaten für Violine und Klavier bekannt sind oder die beinahe „unverzichtbaren“ Parallelführungen von Quarten und Quinten.

Wenngleich der zweite Satz noch deutlicher von Bach inspiriert zu sein scheint, so schlägt Bartók in dieser vierstimmigen Fuge dennoch seinen ganz und gar unverwechselbaren Ton an: Ausgehend von einem für ihn so charakteristischen Klein-Terz-Motiv, in diesem Fall ist es c-es, konzipiert er ein von Pausen zerrissenes, rhythmisch kompliziertes Thema, das er in der ihm eigenen „chromatischen Rotation“ über alle Stufen der Zwölftonskala führt. Jedoch bleibt - wie schon im ersten Satz - ein Bezugston erkennbar — hier ist es das c. Neben der Fuge aus der Musik für Saiteninstrumente bildet die Exposition dieser Fuge, in der nach dem Baß die Tenor-‚ Alt- und Sopranstimme im Quint-, Oktav- und Terzdezimenabstand einsetzen, das herausragendste Beispiel für Bartóks chromatische Polyphonie. Beendet wird dieser zweite Satz mit einem aufwärts führenden, fulminanten Quint-Parallen-Glissando, das dynamisch sozusagen den umgekehrten Weg nimmt, nämlich vom f zum ppp. Den prononcierten Schlußakzent setzt schließlich nach einer kurzen Pause das Hauptmotiv vom Anfang im fff.

Nach der Adagio-Sinnlichkeit des dritten Satzes sorgt das temperamentvolle, volksmusikalisch orientierte, sehr virtuose Rondo-Thema für einen tänzerischen Finalsatz.

Béla Bartók und Zoltán Kodály, 1908
Auch die beiden 192l und 1922 entstandenen Geschwisterwerke. die 1. und 2. Sonate für Violine und Klavier, entstanden in unmittelbarer Beziehung zur künstlerischen Praxis. Diese beiden Werke widmete Bartók der Geigerin Jelly Arányi - eine Nachfahrin aus der Familie des berühmten Geigers Joseph Joachim - die Bartók noch aus seiner Studienzeit in Budapest kannte. Den konkreten Anlaß zur Komposition gab eine gemeinsame private Aufführung einer Brahms-Sonate. Die Beschäftigung mit einem Werk für Violine und Klavier reicht jedoch neuesten Forschungen zufolge noch vor die Begegnung mit der Interpretin zurück. Im sog. „Schwarzen Taschenbuch“ Bartóks finden sich Hinweise darauf, daß erste Pläne zu einem solchen Werk, in dem beide Instrumente konsequent voneinander unabhängige Themen haben sollten, bereits spätestens im August 1921 bestanden haben müssen.

Merkwürdigerweis sind die Erstaufführungen beider Werke entgegen früheren Angaben aber nicht mit der bedeutenden Interpretin und Widmungsträgerin verbunden. Die Uraufführung der 1. Sonate, die am 8. Februar 1922 in Wien stattfand, spielte Mary Dickenson-Auner. Ihr Klavierpartner war Eduard Steuermann; Imre Waldbauer war der Violonist der 2. Sonate, die genau ein Jahr später, am 7. Februar 1923 in Berlin mit Bela Bartók am Klavier zur Uraufführung gelangte. Beide Violinsonaten haben durch ihre gleichwohl unkonventionelle wie innovative Unabhängigkeit beider Instrumente maßgeblich zum internationalen Ruhm Bartóks beigetragen. Was in der Gattungstradition bisher beinahe unvorstellbar gewesen wäre - gemäß dem grundverschiedenen Charakter beider Instrumente auch den beiden Stimmen jeweils vollkommen eigenständiges thematisches Material zuzuordnen — Bartók führt es uns mit souveräner Handschrift vor Augen und Ohren. Gewiß handelt es sich bei der nur zweisätzigen 2. Sonate um das satztechnisch ausgereiftere‚ souveränere Werk. Doch schon in den drei Sätzen des ersten, formal noch sehr traditionellen Werkes, ist der Weg vorgezeichnet, den Bartók im nachfolgenden einschlagen wird.

Dem Allegro appassionato der 1. Sonate für Violine und Klavier liegt ein sonatenförmiger Kompositionsplan zugrunde. Während die Melodik der Violinstimme die führende Rolle im Hauptthema übernimmt, ist im zweiten Thema dem Klavier dominante Funktion zugeordnet. In großen Intervallsprüngen‚ die an Webern denken lassen, wölbt sich die Violinstimme wie ein melodischer Überbau über die zwei zerlegten‚ zueinander in Tritonusbeziehung stehenden Vierklänge des Klavierparts. Bis ins kleinste harmonische Detail bewegen sich Violine und Klavier in einem dauerhaften, von Dissonanz gekennzeichneten Spannungsverhältnis.

Béla Bartók und Zoltán Kodály
 und Kodály's Frau, 1912.
Der zweite Satz - ein Adagio mit Sostenuto-Mittelteil - beginnt mit einem langen Violinsolo, in dem die chromatische Skala gegenüber dem ersten Satz weitaus umfassender ausgenutzt wird. Bartók baut sie sogar bis zu Elftonreihen aus, ohne jedoch je den — sicherlich schon sehr frei ausgedeuteten - tonalen Rahmen zu verlassen. Dieser lange Violinmonolog erinnert an den zweiten Satz der frühen Violinsonate aus dem Jahr 1903. Später wird seine Thematik im zweiten Satz des Violinkonzerts und im Ritornell-Thema des VI. Streichquartetts in leicht abgewandelter Form noch einmal Verwendung finden. Auch hier stehen Violine und Klavier in einem ausgesprochen kontraststarken Verhältnis, ohne daß der weiche, pastorale Grundcharakter des Satzes aufgehoben würde. Nur das Sostenuto mit seinen kurzatmigen, erregten rhythmischen Impulsen wühlt die Stimmung im Zentrum des Satzes für kurze Zeit auf, bevor der variierte Violinmonolog und das ebenso ornamentierte aus Dreiklangsmixturen bestehende Klavierthema vom Anfang diesen Satz beenden.

Auffallend hebt sich der folkloristisch ambitionierte Schlußsatz von den beiden vorangegangenen ab. Hier dominieren wirkungsvolle rhythmische, in modale Motivik getauchte Ostinati, die Bartók rumänischen Volksmelodien entlehnte. Es handelt sich nicht um Zitate, sondern um die Übernahme charakteristischer Strukturen: so beispielsweise das sich im Rahmen eines Hexachords bewegende Rondothema, das sich durch die Verwendung der verminderten Quint auszeichnet. Auf dieses Kompositionsraster greift Bartók übrigens auch in Schlußsatz der 2. Sonate für Violine und Klavier zurück, mit dem geringen Unterschied, daß das Rondothema nun von der übermäßigen Quint charakterisiert wird. Bartók vermeidet also auch dort die reine Quint, die weder in der rumänischen noch in der slowakischen oder arabischen Volksmusik etabliert ist. In scherzandoartiger Laune stürmt das Allegro der 1. Sonate für Violine und Klavier in den für Bartók so bezeichnenden Skalen dahin.

József Ujfalussy hat das Neue der beiden Schwester-Sonaten - das Aufeinanderprallen nämlich abstrakter, expressiver und folkloristisch inspirierter tänzerischer Sätze — treffend beschrieben: „Die Schlußsätze der beiden Violinsonaten konfrontieren - und vereinen – […] den Tanzstoff der osteuropäischen Volksmusik mit den Qualen des selbstzerfleischenden Kummers.“ Daß Bartók seine selbst gestellte Aufgabe, die tradiierte Gattungsform zu überwinden, offenbar mit der 1. Sonate für Violine und Klavier als noch nicht endgültig gelöst betrachtete, mag den Ansporn zur Komposition des nachfolgenden Werks gleicher Gattung gegeben haben. Dort wird er zwar die Dreisätzigkeit aufgeben - im motivisch-thematischen Detail wird jedoch so manches an das Vorläuferwerk erinnern.

Quelle: Ursula Adamski-Störmer, im Booklet


TRACKLIST

Béla Bartók

Violinsonaten

Sonate für Violine Solo (1944) 27:30

01. I. Tempo di Ciaconna 10:05
02. II. Fuga, Risoluto, non troppo vivo 5:16
03. III. Melodia, Adagio 6:46
04. IV. Presto 5:23

Sonate für Violine und Klavier Nr. 1 (1921) 32:50

05. I. Allegro appassionata 12:13
06. II. Adagio 10:35
07. III. Allegro 9:57

Total: 60:33

Eva Wengoborski-Sohni, Violine
Theodore Ganger, Klavier

Aufnahmen: Bamberg 1994, Ambitus (01-04) bzw.
Frankfurt 1993, Toningenieur Dieter Blosfeld (05-07)
Cover: Ernst Wilhelm Nay: Rotklang (1962), Städelsches Kunstinstitut Frankfurt

(C) 1995


Jaroslav Hašek

Schwejk als Offiziersdiener bei Oberleutnant Lukasch


Schwejks Glück sollte nicht lange währen. Das unerbittliche Schicksal zerriß das freundschaftliche Verhältnis zwischen ihm und dem Feldkuraten. War der Feldkurat bis zu dieser Begebenheit eine sympathische Gestalt, so ist das, was er jetzt tat, geeignet, ihm die sympathische Maske vom Gesicht zu reißen.

Der Feldkurat verkaufte Schwejk an Oberleutnant Lukasch oder, besser gesagt, er verspielte ihn beim Kartenspiel. So hat man früher in Rußland die Leibeigenen verkauft. Es kam so unverhofft. ln einer netten Gesellschaft bei Oberleutnant Lukasch spielte man „Einundzwanzig".

Der Feldkurat verspielte alles, und zu guter Letzt sagte er: „Wieviel borgen Sie mir auf meinen Burschen? Ein kolossaler Trottel und eine interessante Figur, etwas non plus ultra. So einen Burschen hat noch niemand gehabt."

„lch borg dir hundert Kronen", machte sich Oberleutnant Lukasch erbötig, „wenn ich sie bis übermorgen nicht bekomme, schickst du mir diese Rarität. Mein Putzfleck ist ein ekelhafter Mensch. Fortwährend seufzt er, schreibt nach Hause Briefe, und dabei stiehlt er, was ihm unter die Hand kommt. lch hab ihn schon geschlagen, aber es nützt nichts. lch ohrfeige ihn, sooft ich ihn sehe, aber es hilft nichts. Ich hab ihm ein paar Vorderzähne herausgehaut, aber der Kerl bessert sich nicht."

„Also es gilt", sagte der Feldkurat leichtsinnig, „entweder übermorgen hundert Kronen oder den Schwejk."

Er verlor auch die hundert Kronen und ging traurig nach Hause. Er wußte bestimmt und zweifelte in keiner Weise daran, daß er bis übermorgen die hundert Kronen nicht auftreiben werde und Schwejk eigentlich elend und miserabel verkauft hatte.

„lch hätt mir um zweihundert Kronen sagen solln", sagte er sich ärgerlich, aber als er in den „Einser" der elektrischen Straßenbahn stieg, die ihn binnen kurzem nach Hause bringen sollte, wurde er von Sentimentalität und Vorwürfen befallen.

„Es ist nicht hübsch von mir", dachte er, als er an der Tür seiner Wohnung klingelte, „wie werde ich in seine dummen, gutmütigen Augen blicken können."

„Lieber Schwejk", sagte er, als er zu Hause war, „heute hat sich etwas Ungewöhnliches ereignet. lch hab ein schreckliches Pech im Kartenspiel gehabt. lch hab alles hopgenommen und das As in der Hand gehabt, dann ist ein Zehner gekommen, und der Bankhalter hat den Buben in der Hand gehabt und hats auch auf einundzwanzig gebracht. lch hab paarmal aufs As oder den Zehner gezogen, und immer hab ich das gleiche Blatt wie der Bankhalter gehabt. Ich hab alles Geld verspielt."

Er verstummte.

„Und zum Schluß hab ich Sie verspielt. lch hab mir auf Sie hundert Kronen ausgeborgt, und wenn ich sie bis übermorgen nicht zurückgebe, werden Sie nicht mehr mir, sondern Oberleutnant Lukasch gehören. Mir tut es wirklich leid . . ."

„Hundert Kronen hab ich noch", sagte Schwejk, „ich kann sie Ihnen borgen."

„Geben Sie her", sagte der Feldkurat neu belebt, „ich trag sie gleich zu Lukasch. lch möcht mich wirklich ungern von Ihnen trennen."

Lukasch war sehr überrascht, als er den Feldku raten abermals erblickte.

„lch komm dir die Schuld bezahlen", sagte der Feldkurat, siegesbewußt umherblickend, „laßt mich mitspielen."

„Hop", ließ sich der Feldkurat vernehmen, als die Reihe an ihn kam. „Um ein Aug", rief er aus, „ich hab zuviel gezogen."

„Also hop“, sagte er bei der zweiten Runde, „hop — blind."

„Zwanzig nimmt", verkündete der Bankier.

„lch hab ganze neunzehn", sagte der Feldkurat leise, während er die letzten 40 Kronen von dem Hunderter in die Bank legte, den Schwejk ihm geborgt hatte, um sich von der neuen Leibeigenschaft loszukaufen.

Auf dem Heimwege gelangte der Feldkurat zu der Überzeugung, daß Schluß sei, daß nichts mehr Schwejk retten könne und daß es Schwejks Verhängnis sei, bei Oberleutnant Lukasch dienen zu müssen.

Und als Schwejk öffnete, sagte er ihm: „Alles vergeblich, Schwejk. Dem Schicksal kann niemand entrinnen. lch hab Sie samt Ihren hundert Kronen verspielt. lch hab alles getan, was in meiner Macht stand, aber das Schicksal ist stärker als ich. Es hat Sie Oberleutnant Lukasch in die Klauen geworfen, und wir müssen Abschied nehmen."

„Und war viel in der Bank?" fragte Schwejk ruhig, „oder ham Sie selbst Vorhand gehabt? Wenn die Karte schlecht fällt, is es sehr schlecht, aber manchmal is es ein Malör, wenns gar zu gut geht. Am Zderaz hat ein gewisser Klempner Wejwoda gelebt, und der hat immer Mariage in einem Wirtshaus hinter dem ,Hundertjährigen Kaffeehaus’ gespielt. Einmal, der Teufel hats ihm eingeblasen, sagt er auch: ‚Wie wärs, wenn wir Einundzwanzig um ein Fünferl schmeißen möchten.’ Sie ham also Einundzwanzig um ein Fünferl gespielt, und er hat die Bank gehalten. Alle sind trop geworden, und so is es bis auf einen Zehner angewachsen. Der alte Wejwoda wollt auch den andern was gönnen und hat immerfort gesagt: ‚Die Kleine zieht.’ Sie können sich aber nicht vorstelln, was für ein Pech er gehabt hat. Die Kleine is nicht und nicht gekommen, die Bank is gewachsen, und es war schon ein Hunderter drin. Von den Spielern hat niemand so viel gehabt, daß ers hätt hopnehmen können, und der Wejwoda war schon ganz verschwitzt. Man hat nichts anderes gehört als: ‚Die Kleine zieht’, sie ham zu fünft gesetzt und sind alle hineingefallen. […] ls das nicht Pech? Der alte Wejwoda war ganz blaß und unglücklich, ringsherum hat man schon geschimpft und geflüstert, daß er schwindelt‚ daß er schon einmal wegen Falschspielen Dresch bekommen hat, obzwar er der ehrlichste Spieler war, und alle ham eine Krone nach der andern geblecht. Es waren schon fünfhundert Kronen drin. Der Wirt hats nicht ausgehalten. Er hat grad Geld fürs Bräuhaus vorbereitet gehabt, so hat ers genommen, hat sich zu ihnen gesetzt, hat zuerst zu zwei Hunderten hineingesteckt, dann hat er die Augen zugemacht, den Sessel umgedreht, damits ihm Glück bringt, und hat gesagt, daß er das alles, was in der Bank is, hopnimmt. ‚Wir spieln mit offenen Karten‘, hat er gesagt. Der alte Wejwoda hätt, ich weiß nicht was, dafür gegeben, daß er jetzt verliert.

Alle ham sich gewundert, wie er aufgedeckt hat und sich ein Siebner gezeigt hat und er sich ihn gelassen hat. Der Wirt hat sich in den Bart gelacht, weil er einundzwanzig gehabt hat. Der alte Wejwoda hat einen zweiten Siebner gekriegt und hat sich ihn auch gelassen. ‚Jetzt kommt ein As oder ein Zehner’, hat der Wirt giftig gesagt, ‚ich wett meinen Hals, Herr Wejwoda, daß Sie trop sein wern.‘ Es war unglaublich still. Wejwoda deckt auf, und der dritte Siebner zeigt sich. Der Wirt is bleich wie Kreide worden, es war sein letztes Geld, is in die Küche gegangen, und in einer Weile kommt der Junge gelaufen, was bei ihm gelernt hat, wir solln den Herrn Wirt abschneiden kommen, daß er herich an der Klinke am Fenster hängt. Wir ham ihn also abgeschnitten, zu sich gebracht, und man hat weitergespielt. Niemand hat mehr Geld gehabt, alles war in der Bank vorm Wejwoda, der nur gesagt hat: ‚Die Kleine zieht‘ und um alles in der Welt nur trop sein wollt, aber weil er seine Karten umdrehn und aufn Tisch hat legen müssen, hat er keinen Betrug machen und nicht absichtlich zuviel ziehn können. Alle waren schon ganz blöd von seinem Glück und ham beschlossen, daß sie, weil sie schon kein Geld mehr gehabt ham, Schuldverschreibungen geben wern. Es dauerte mehrere Stunden, und vor Wejwoda wuchsen Tausende und Tausende. Der Schornsteinfegermeister war der Bank schon über anderthalb Millionen schuldig, der Kohlenmann vom Zderaz ungefähr eine Million, der Hausmeister aus dem ‚Hundertjährigen Kaffeehaus‘ 800 000 Kronen, ein Mediziner über zwei Millionen. In der Geldschüssel allein waren über 300 000 auf lauter Papierschnitzeln. […] Sie können sich nicht die Verzweiflung vom alten Wejwoda vorstelln. Schließlich is er auf einen Einfall gekommen. ‚lch geh aufn Abort‘, sagt er zum Schornsteinfeger, ‚nehmen Sie für mich, Herr Meister.' Und nur so, ohne Hut, is er auf die Gasse gelaufen, direkt in die Myslikgasse um die Polizei. Er hat eine Patrouille gefunden und hat ihr angezeigt, daß man in dem und dem Gasthaus Hasard spielt. Die Polizisten ham ihn aufgefordert, er soll vorausgehn, daß sie ihm gleich nachkommen. Er is also zurückgekommen, und man hat ihm gemeldet, daß der Mediziner indessen über zwei Millionen verspielt hat und der Hausmeister über drei. Und daß sie in die Bank eine Gutschrift auf 500 000 Kronen gegeben ham. ln einer Weile sind die Polizisten hineingestürzt, der Pflasterer hat aufgeschrien: ‚Rette sich, wer kann!', aber es hat nichts genützt. Sie ham die Bank beschlagnahmt und alle auf die Polizei geführt. Der Kohlenmann von Zderaz hat sich widersetzt, so hat man ihn in der Gemeindetruhe hingeschafft. In der Bank war in Schuldverschreibungen über eine halbe Milliarde und an barem Geld fünfzehnhundert.

‚So was hab ich noch nie gefressen‘, hat der Polizeiinspektor gesagt, wie er diese schwindelhaften Summen gesehen hat, ‚das da is ärger als in Monte Carlo.’

Alle, bis auf den alten Wejwoda, sind bis früh dort geblieben. Den Weiwoda als Angeber ham sie freigelassen und ham ihm versprochen, daß er ein gesetzliches Drittel als Belohnung für die beschlagnahmte Bank kriegen wird, ungefähr über hundertsechzig Millionen, er is aber bis früh davon verrückt geworn, is in Prag herumgegangen und hat feuerfeste Kassen aufs Dutzend bestellt. Das nennt man Glück in den Karten."

Dann kochte Schwejk Grog, und die Szene endete damit. daß der Feldkurat, als es Schwejk in der Nacht gelang, ihn mit Anstrengung ins Bett zu schaffen, Tränen vergaß und weinte.

„Ich hab dich verkauft, Kamerad, schändlich verkauft, verfluch mich, prügel mich, ich halte still. Ich hab dich den Bestien vorgeworfen. lch kann dir nicht in die Augen schauen. Kratz mich, beiß mich, bring mi um. Ich verdien nichts Besseres. Weißt du, was ich bin?"

Und der FeIdkurat‚ das verweinte Gesicht in die Kissen pressend, sagte leise, mit zarter, weicher Stimme: „lch bin ein charakterloser Schutt", und schlief ein, als hätte man ihn ins Wasser geworfen.

Am nächsten Tag ging der Feldkurat, Schwejks Blicken ausweichend, zeitig früh fort und kehrte erst in der Nacht mit einem dicken Infanteristen zurück.

„Zeigen Sie ihm, Schwejk", sagte er, wiederum Schwejks Blicken ausweichend‚ „wo was liegt, damit er orientiert ist, und bringen Sie ihm bei, wie man Grog kocht. Früh melden Sie sich bei Oberleutnant Lukasch."

Schwejk und der neue Mann verbrachten die Nacht angenehm mit dem Kochen von Grog. Gegen früh konnte sich der dicke lnfanterist kaum auf den Füßen halten und summte nur ein merkwürdiges Durcheinander von verschiedenen Nationalliedern vor sich hin. die er miteinander vermengte: „An Chodow vorbei fließt ein Wässerlein, meine Liebste schenkt dort rotes Bier, Berg, Berg, wie bist du hoch, Jungfern gingen übern Steg, am Weißen Berge ackert der Bauer."

„Um dich hab ich keine Angst", sagte Schwejk. „mit so einer Begabung wirst du dich beim Feldkuraten halten."

So geschah es. daß an diesem Vormittag Oberleutnant Lukasch zum erstenmal das ehrliche und aufrichtige Gesicht des braven Soldaten Schwejk erblickte, der ihm meldete: „Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, ich bin der Schwejk, den, was der Herr Feldkurat in den Karten verspielt hat."

---*---

Oberleutnant Lukasch war der Typus eines aktiven Offiziers der morschen österreichischen Monarchie. Die Kadettenschule hatte ihn zu einer Amphibie erzogen. Er sprach in Gesellschaft deutsch, schrieb deutsch, las tschechische Bücher, und wenn er in der Einjährigfreiwilligenschule vor lauter Tschechen unterrichtete, sagte er ihnen vertraulich:

„Seien wir Tschechen. aber es muß niemand davon wissen. Ich bin auch Tscheche."

Er betrachtete das Tschechentum als eine Art Geheimorganisation, der man besser von weitem ausweicht.

Sonst war er ein braver Mensch, fürchtete sich nicht vor seinen Vorgesetzten und kümmerte sich bei den Manövern um seinen Zug wie sichs gebührt und gehört. Er wußte ihn stets bequem in Scheunen unterzubringen und ließ häufig von seiner bescheidenen Gage seinen Soldaten ein Faß Bier anzapfen.

Er hörte es gern, wenn die Soldaten während des Marsches Lieder sangen. Sie mußten auch singen, wenn sie von der Übung und zu der Übung gingen. Und neben seinem Zug gehend, sang er mit ihm:


„Und als die Mitternacht kam heran,
aus dem Sack der Hafer sprang.
Bumatrija bum!"


[…] Er konnte schreien, das ist wahr, aber niemals schimpfte er. Er gebrauchte gewählte Worte und Sätze: „Sehen Sie", sagte er, „ich strafe Sie wirklich ungern, Junge, aber ich kann mir nicht helfen, denn von der Disziplin hängt die Fähigkeit, die Tapferkeit des Militärs ab, und ohne Disziplin ist die Armee ein im Wind schwankendes Schilfrohr. Wenn Sie Ihre Montur nicht in Ordnung haben und die Knöpfe nicht gut angenäht sind und fehlen, sieht man, daß Sie die Pflichten vergessen, die Sie gegen die Armee haben. Es kann sein, daß es Ihnen unbegreiflich scheint, daß Sie eingesperrt werden sollen, weil Ihnen gestern bei der Ausrückung ein Knopf an der Bluse gefehlt hat, eine kleine, geringfügige Sache, die man in Zivil vollständig übersieht. Aber Sie sehen, daß so eine Vernachlässigung Ihres Äußeren beim Militär eine Strafe zur Folge haben muß. Und warum? Hier handelt es sich nicht darum, daß Ihnen ein Knopf fehlt, sondern darum, daß Sie sich an Ordnung gewöhnen müssen. Heute nähen Sie nicht den Knopf an und fangen an, sich zu vernachlässigen. Morgen wird es Ihnen schon beschwerlich scheinen, das Gewehr auseinanderzunehmen und zu putzen, übermorgen werden Sie irgendwo im Wirtshaus das Bajonett vergessen und zu guter Letzt werden Sie auf dem Posten einschlafen, weil Sie mit diesem unglückseligen Knopf das Leben eines Schlampen begonnen haben. So ist es, Junge, und deshalb bestrafe ich Sie, um Sie vor einer noch ärgeren Strafe für Dinge zu bewahren, die Sie anstellen könnten, wenn Sie langsam, aber sicher an Ihre Pflichten vergessen würden. Ich sperre Sie auf fünf Tage ein und möchte, daß Sie bei Brot und Wasser darüber nachdenken, daß eine Strafe keine Rache ist, sondern nur ein Erziehungsmittel, das eine Änderung und Besserung des bestraften Soldaten bezweckt." […]

Etwas in seinem Charakter erinnerte an einen Bauern aus Südböhmen, wo er in einem Dorf zwischen schwarzen Wäldern und Teichen geboren worden war.

Wenn er aber auch den Soldaten gegenüber gerecht war und sie nicht quälte, so wies sein Charakter dennoch einen besonderen Zug auf. Er haßte seine Putzer, weil er immer das Glück hatte, den unausstehlichsten und niederträchtigsten Putzfleck zu bekommen.

Er schlug sie über den Mund, ohrfeigte sie und bemühte sich, sie durch Verweise und Taten zu erziehen, ohne sie für Soldaten zu halten. Er kämpfte mit ihnen hoffnungslos durch eine Reihe von Jahren, hatte unaufhörlich neue und seufzte zum Schluß: „Wieder hab ich so ein gemeines Rindvieh bekommen!" Seine Diener betrachtete er als eine niedrigere Sorte von Lebewesen.

Außerordentlich groß war seine Liebe zu Tieren. Er besaß einen Harzer Kanarienvogel, eine Angorakatze und einen Stallpinscher. Diese Tiere wurden von den Dienern, die Oberleutnant Lukasch bereits gehabt hatte, nicht schlechter behandelt, als er sie selbst behandelte, wenn sie eine Gemeinheit anstellten.

Den Kanarienvogel quälten sie, indem sie ihn hungern ließen, ein Diener schlug der Angorakatze ein Auge aus, der Stallpinscher wurde von ihnen auf Schritt und Tritt geprügelt, und zum Schluß führte einer der Vorgänger Schwejks den Armen nach Pankrác zum Schinder, wo er ihn umbringen ließ, ohne sichs verdrießen zu lassen, aus eigener Tasche zehn Kronen zu zahlen. Dann meldete er einfach dem Oberleutnant, der Hund sei ihm auf dem Spaziergang weggelaufen, und am folgenden Tag marschierte der Lügner bereits mit dem Schwarm auf dem Exerzierplatz.

Als Schwejk kam, um Lukasch seinen Dienstantritt zu melden, führte ihn dieser ins Zimmer und sagte ihm: „Der Herr Feldkurat Katz hat mir Sie empfohlen, und ich wünsche, daß Sie seiner Empfehlung keine Schande machen. Ich habe bereits ein Dutzend Putzer gehabt, und keiner davon ist bei mir warm geworden. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich streng bin und jede Gemeinheit und Lüge schrecklich strafe. Ich wünsche, daß Sie immer die Wahrheit sprechen und ohne Widerrede alle meine Befehle ausführen. Wenn ich sage: Springen Sie ins Feuer, so müssen Sie ins Feuer springen, auch wenn Sie keine Lust dazu haben. Wohin schaun Sie?"

Schwejk blickte mit Interesse zur Seite auf die Wand, wo der Käfig mit dem Kanarienvogel hing, und antwortete, seine gutmütigen Augen nunmehr auf den Oberleutnant heftend, in freundlichem, gutmütigem Ton: „Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, dort is ein Harzer Kanarienvogel."

Und den Strom der Rede des Oberleutnants auf diese Weise unterbrechend, stand Schwejk militärisch da und blickte ihm ohne zu zwinkern geradewegs in die Augen.

Der Oberleutnant wollte etwas Scharfes erwidern, allein als er den unschuldigen Ausdruck in Schwejks Gesicht bemerkte, sagte er: „Der Herr Feldkurat hat Sie als ungeheuren Blödian empfohlen. ich glaube, er hat sich nicht geirrt."

„Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, der Herr Feldkurat hat sich wirklich nicht geirrt. Wie ich aktiv gedient hab, bin ich wegen Blödheit superarbitriert worn und noch dazu wegen notorischer. Sie ham unser deswegen zwei vom Regiment entlassen, mich und einen Herrn Hauptmann von Kaunitz. Wenn der, mit Erlaubnis, Herr Oberlajtnant, auf der Gasse gegangen is, hat er sich gleichzeitig fort mit einem Finger der linken Hand im linken Nasenloch gebohrt und mit der andern im rechten Loch, und wenn er mit uns zur Übung gegangen is, so hat er uns immer antreten lassen wie bei der Defilierung und hat gesagt: ‚Soldaten, eh, merkts euch, eh, daß heut Mittwoch is, weil morgen Donnerstag sein wird, eh."'

Oberleutnant Lukasch zuckte die Achseln wie ein Mensch, der keine Worte hat, um einen bestimmten Gedanken auszudrücken und vergeblich nach ihnen sucht.

Er ging an Schwejk vorbei von der Tür bis zum gegenüberliegenden Fenster und wieder zurück, wobei Schwejk, je nachdem, wo sich der Oberleutnant gerade befand, mit einem so intensiv unschuldigen Gesicht „rechtsschaut" und „linksschaut" machte, daß der Oberleutnant die Augen senkte, auf den Teppich blickte und etwas sagte, was keinerlei Zusammenhang mit Schwejks Bemerkung über den blöden Hauptmann hatte: „Ja, bei mir muß Ordnung und Sauberkeit sein, und man darf mich nicht belügen. Ich liebe Ehrlichkeit. Ich hasse die Lüge und strafe sie unbarmherzig, verstehn Sie mich gut?"

„Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, ich versteh. Nix is ärger, wie wenn jemand lügt. Wie er sich zu verwickeln anfängt, is er verloren. In einem Dorf hinter Pilgram war ein gewisser Lehrer Marek, und der is der Tochter vom Heger Schpera nachgestiegen, und der hat ihm sagen lassen, daß er ihm, bis er ihn trifft, ausm Gewehr Borsten mit Salz in Hintern schießen wird. Der Lehrer hat ihm sagen lassen, daß es nicht wahr is, aber einmal, wie er sich mit dem Mädel hat treffen solln, hat ihn der Heger abgefangen und hat schon an ihm diese Operation machen wolln, aber er hat sich ausgeredet, daß er herich Blumen pflücken wollt, daß er Käfer fangen gegangen is‚ und hat sich je weiter desto mehr verwickelt, bis er zum Schluß beschworen hat, daß er Schlingen auf Hasen legen gegangen is. So hat ihn also der liebe Heger zusammengepackt und auf die Gendarmeriestation geführt, von dort is es zum Gericht gegangen und es hat nicht viel gefehlt, so wär der Lehrer eingesperrt worn. Wenn er die Wahrheit gesagt hätt, so hätt er nur die Borsten mit Salz gekriegt. Ich bin der Meinung, daß esimmer am besten is‚ zu gestehn, aufrichtig zu sein, und wenn ich schon was anstell, zu kommen und zu sagen: ‚Melde gehorsamst, ich hab das und das angestellt.’ Und was die Ehrlichkeit betrifft, ist es immer eine sehr hübsche Sache, weil man mit ihr immer am weitesten kommt. […]"

Während dieser Rede saß Oberleutnant Lukasch schon lange auf einem Stuhl, blickte Schwejk auf die Stiefel und dachte: „Mein Gott ich rede ja auch manchmal solche Blödheiten, und der Unterschied liegt nur in der Form, in der ich sie vorbringe."

Nichtsdestoweniger sagte er, da er seine Autorität nicht verlieren wollte, als Schwejk geendet hatte:

„Bei mir müssen Sie Stiefel putzen, Ihre Uniform in Ordnung halten, die Knöpfe ordentllch angenäht haben und müssen den Eindruck eines Soldaten und nicht irgendeines Zivilisten machen. Es ist merkwurdig, daß sich keiner von euch militärisch benehmen kann. Nur einer von allen meinen Dienern hat ein kriegerisches Äußeres gehabt und zum Schluß hat er mir meine Paradeuniform gestohlen und in der Judenstadt verkauft."

Er brach ab und fuhr fort, Schwejk alle seine Pflichten zu erklären, wobei er nicht vergaß, nachdrücklich zu betonen, daß Schwejk treu sein müsse und nirgends erzählen dürfe, was zu Hause geschehe.

„Zu mir kommen Damen zu Besuch"‚ bemerkte er, „manchmal bleibt eine über Nacht hier, wenn ich am Morgen keinen Dienst habe. In so einem Fall bringen Sie uns den Kaffee zum Bett, wenn ich läute, verstehn Sie?"

„Melde gehorsamst, daß ich versteh, Herr Oberlajtnant, wenn ich unverhofft zum Bett kommen möcht, könnt es vielleicht mancher Dame unangenehm sein. Ich hab mir mal ein Fräulein nach Haus genommen, und meine Bedienerin hat uns, grad wie wir uns sehr gut unterhalten ham, den Kaffee ans Bett gebracht. Sie is erschrocken und hat mir den ganzen Rücken begossen und hat noch gesagt: ‚Guten Morgen winsch ich.‘ Ich weiß, was sich schickt und gehört, wenn irgendwo eine Dame schläft."

„Gut, Schwejk‚ Damen gegenüber müssen wir immer einen ungewöhnlichen Takt bewahren", sagte der Oberleutnant, dessen Laune sich besserte‚ weil das Gespräch auf einen Gegenstand gekommen war, der seine freie Zeit zwischen Kaserne, Exerzierplatz und Karten ausfüllte. Die Frauen waren die Seele seiner Wohnung. Sie schufen ihm ein Heim. Es waren ihrer ein paar Dutzend, und viele von ihnen bemühten sich während ihres Aufenthaltes, seine Wohnung mit verschiedenen Kleinigkeiten auszuschmücken.

Eine, die Frau eines Kaffeehausbesitzers, die volle vierzehn Tage bei ihm gelebt hatte, bis der Herr Gemahl sie abholte, hatte ihm einen reizenden Überwurf auf den Tisch gestickt, hatte seine ganze Wäsche mit Monogrammen versehen und hätte vielleicht noch einen Wandteppich zu Ende gestickt, wenn der Gatte die Idylle nicht zerstört hätte. […]

In allen Winkeln des Schlafzimmers und Speisezimmers war eine Frauenhand merkbar. Sogar in der Küche, wo die mannigfachsten Küchengeräte und Gefäße vorhanden waren, das großartige Geschenk einer verliebten Fabrikantenfrau, die außer ihrer Leidenschaft ein Instrument zum Zerschneiden von sämtlichem Gemüse und Kraut, ein Instrument zum Semmelreiben, eine Hackmaschine für Fleisch, Kasserollen, Pfannen, Schüsseln, Kochlöffel und weiß Gott was noch mitgebracht hatte.

Sie verließ Lukasch jedoch nach einer Woche, weil sie sich nicht mit dem Gedanken abfinden konnte, daß er neben ihr noch beiläufig zwanzig andere Geliebte hatte, was gewisse Spuren an der Leistungsfähigkeit des edlen Männchens in Uniform hinterließ. […]

„lch habe heute Dienst", sagte er, „ich komme erst in der Nacht, passen Sie auf alles auf und bringen Sie die Wohnung in Ordnung. Der letzte Putzfleck ist wegen seiner Niedertracht heute mit dem Marschbataillon an die Front abgegangen."

Nachdem er noch Anordnungen betreffs des Kanarienvogels und der Angorakatze getroffen hatte, ging er fort, nicht ohne noch in der Türe einige Worte über Ehrlichkeit und Ordnung zu sagen.

Nachdem er gegangen war, brachte Schwejk alles in der Wohnung in beste Ordnung, so daß er Oberleutnant Lukasch, als dieser in der Nacht nach Hause kam, melden konnte:

„Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, alles is in Ordnung, nur die Katze hat Unfug getrieben und den Kanari aufgefressen."

„Wieso?" donnerte der Oberleutnant.

„Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, so. lch hab gewußt, daß Katzen Kanaris nicht gern ham und ihnen gern was zuleid tun. So hab ich sie zusamm bekannt machen wolln, und im Fall, daß die Bestie was unternommen hätt, wollt ich ihr den Pelz verbleuen, damit sie ihr Leben lang nicht dran vergißt, wie sie sich zum Kanari benehmen soll, weil ich Tiere sehr gern hab. Bei uns im Haus is ein Hutmacher‚ und der hat eine Katze so dressiert, daß sie ihm zuerst drei Kanaris aufgefressen hat und jetzt nicht einen, und der Kanari kann sich meinetwegen auf sie setzen.

Ich wollts also auch versuchen und hab den Kanari ausn Käfig genommen und ihr ihn zu beschnuppern gegeben, und sie, der Aff, hat ihm, eh ich mich versehn hab, den Kopf abgebissen. lch hab wirklich so eine Gemeinheit nicht von ihr erwartet. Wenns ein Spatz wär, Herr Oberlajtnant, möcht ich noch nichts sagen, aber so ein hübscher Harzer Kanari. Und wie gierig sie ihn samt den Federn aufgefressen hat, und dabei hat sie vor lauter Freude geknurrt. Katzen sind herich nicht musikalisch gebildet und können nicht ausstehn, wenn ein Kanari singt, weils die Bestien nicht verstehn. lch hab die Katze ausgeschimpft, aber Gott behüte, ich hab ihr nichts gemacht und auf Sie gewartet, was Sie entscheiden wern, was ihr dafür geschehn soll, dem Biest, dem räudigen."

Bei dieser Erzählung schaute Schwejk dem Oberleutnant so aufrichtig in die Augen, daß dieser, der sich Schwejk anfangs in roher Absicht genähert hatte, von seinem Vorhaben abließ, sich auf einen Stuhl setzte und fragte:

„Hören Sie, Schwejk, sind Sie wirklich so ein Rindvieh Gottes?"

„Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant", erwiderte Schwejk feierlich, „ja! — Von klein auf hab ich so ein Pech, immer will ich was besser machen, gut machen, und nie kommt was heraus als eine Unannehmlichkeit für mich und die Umgebung. lch hab die zwei wirklich bekannt machen wolln, damit sie sich verstehn, und kann nicht dafür, daß sie ihn aufgefressen hat und es aus war mit der Bekanntschaft. In einem Haus beim Stupart hat vor Jahren eine Katze sogar einen Papagei aufgefressen, weil er sie ausgelacht und ihr nachmiaut hat. Katzen ham aber ein zähes Leben. Wenn Sie befehln, Herr Oberlajtnant, daß ich sie umbring, wer ich sie zwischen der Tür zerquetschen müssen, anders geht sie nicht drauf."

Und Schwejk erklärte dem Oberleutnant mit der unschuldvollsten Miene und seinem lieben gutmütigen Lächeln, wie man Katzen tötet, und brachte Einzelheiten vor, die einen Tierschutzverein sicherlich ins Irrenhaus hätten bringen müssen. […]

Quelle: Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk während des Weltkrieges. (Übersetzt von Grete Reiner). Die Buchgemeinde. Berlin (DDR), Dietz, 1953. Zitierte Seiten 157-162 und 166-173 (leicht gekürzt)

Mit Illustrationen der tschechischen Originalausgabe von Josef Lada


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Zoltán Kodály: Cellosonaten mit und ohne Klavier

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Noch heute ist es nahezu unmöglich, über Zoltán Kodály zu sprechen, ohne seinen Landsmann Béla Bartók zu erwähnen. Beiden Musikern gelang in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert die Erneuerung der ungarischen Musik. Sowohl durch ihre schöpferische Arbeit, als auch durch ihre wissenschaftliche Tätigkeit haben sie die Kontinuität der ungarischen Musik wiederhergestellt und in den europäischen Kontext eingefügt. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten Kodály und Bartók über die Grenzen ihrer Heimat Ungarn hinaus Anerkennung gefunden, doch erst die Lösung Ungarns von der Doppelmonarchie im Jahre 1918 setzte endgültig die künstlerischen Kräfte frei, die die eigenständige Entwicklung eines musikalischen Nationalstils begründeten.

Als unerschöptliche Quelle für die Entdeckung der nationalen Identität und die Herausbildung eines eigenständigen Stils diente die ungarische Volksmusik, die sie in schriftlichen und phonographischen Aufzeichnungen bei der Landbevölkerung sammelten. In nur wenigen Jahren trug Kodály drei- bis viertausend dieser Melodien zusammen, systematisierte sie und veröffentlichte sie zum Teil gemeinsam mit Béla Bartók. Diese Melodien unterschieden sich deutlich von den im 19. Jahrhundert so beliebten ”Zigeunermelodien”, die in Wirklichkeit im städtischen Milieu entstandene Kunstmusik sind. In den Volksliedern und der Tanzmusik, die Kodály und Bartók in den verschiedenen Regionen Ungarns entdeckten, waren die Irregularitäten nicht zurechtgestutzt und dem Dur-Moll-System und dem Symmetrie-Ideal der klassischen Melodiebildung angepaßt. Und in ihrer Ablehnung der spätromantischen Ausdrucksmittel waren es gerade diese Irregularitäten der Volksmusik, die sie erforschten und für die Moderne konstruktiv nutzten.

Allerdings nahmen Kodály und Bartók auf dem Gebiet der musikalischen Erneuerung entgegengesetzte Positionen ein: Bartók benutzte die ungarische Volksmusik als Ausgangspunkt für seine eigenen musikalischen Neuerungen. Indem er die Strenge der folkloristischen Melodien noch verstärkte, die Komplexität der rhythmischen Strukturen erweiterte und den Primitivismus intensivierte, folgte er den avantgardistischen Strömungen seiner Zeit und gelangte über die Volksmusik hinaus zu einer objektiven, Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebenden Musiksprache.

Zoltán Kodály
Kodály dagegen scheint in seinen musikalischen Ambitionen bescheidener. Er versucht die ungarischen Elemente in seine Musik zu integrieren und griff Zeit seines Lebens auf authentische Volksliedmelodien für sein musikalisches Schaffen zurück. Er verwendete genuine Melodien der Städte Maroszzék und Galánta für Orchestertänze, und schuf eine ganze Oper aus authentischen Volksliedern und Tänzen, die 1932 in Budapest aufgeführte Spinnstube. Das Thema seiner Variationen Der Pfau ist einem ungarischen Volkslied entnommen und seine bekannteste Oper Háry János zitiert einerseits direkt Volksliedmelodien, andererseits sind die Melodien so eng nach heimischen Mustern geformt, daß sie wie echtes Volksmusikmaterial erscheinen.

Zoltan Kodály wurde am 16. Dezember 1882 in der kleinen ungarischen Stadt Kecskemét geboren. Als Junge sang er im Kirchenchor und lernte - praktisch als Autodidakt — Klavier, Geige, Bratsche und Cello. Er schrieb bereits erste Chorstücke, und eine 1897 komponierte Orchesterouvertüre wurde vom Schulorchester aufgeführt. 1900 ging er an die Musikakademie nach Budapest, um bei Hans Koessler Komposition zu studieren, belegte aber auch, seinen literarischen Interessen folgend, an der Universität ungarische und deutsche Sprachwissenschaft und Literatur. In diese Jahre fallen seine ersten Kammermusikkompositionen, die sich noch stark an dem Vorbild Brahms’ orientieren. Nach vier Jahren erhielt er sein Diplom als Komponist und 1906 schloß er seine Universitätsstudien mit dem Doktor ab. Seine umfangreichen Studien auf dem Cebiet der ungarischen Volksmusik begannen 1905 in Zusammenarbeit mit Béla Bartók. Er unternahm zahlreiche Reisen durch ganz Ungarn und zeichnete die Volksmelodien und -tänze der verschiedenen Regionen auf. Der Einfluß seiner Forschungen wird in seinen Kompositionen deutlich, die sich zunehmend vom Brahmsschen Stil abwenden und einen eigenen ungarischen Charakter entwickeln.

Internationale Anerkennung erlangte Kodály mit dem Psalmus Hungaricus (1923) und der Oper Háry János (1925), und in den folgenden Jahren avancierte Kodály zur bedeutendsten musikalischen Persönlichkeit Ungarns, die nicht nur als Komponist, sondern auch als Pädagoge, Musikkritiker und Musikwissenschaftler das Musikleben seiner Heimat entscheidend veränderte. Seine Bedeutung für das ungarische Kulturleben nahm nach dem zweiten Weltkrieg sogar noch zu, als er 1946 zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften gewählt wurde. Als einer der weitsichtigsten ungarischen Kulturpolitiker wurde er mit zahlreichen Ehrungen ausgezeichnet, darunter allein dreimal mit dem neugegründeten Kossuth-Preis, und anläßlich seines 65. Geburtstags erhielt er das große Kreuz des Ordens der Volksrepublik. Kodály setzte sich für die Neugestaltung des Musikunterrichts in Ungarn durch die Gründung von Singschulen für Kinder und Entwicklung neuer Lehrmethoden ein. Auf den zahlreichen Auslandsreisen, bei denen er in erster Linie eigene Werke dirigierte, machte er die ungarische Musik und besonders das Werk seines früh verstorbenen Freundes Béla Bartók in der internationalen Musikwelt bekannt. Kodály starb am 6. März 1967 in Budapest.

Zoltán Kodály
Auch wenn sich in dem relativ spärlichen Repertoire für Solocello Vergleiche mit Bachs Solosuiten förmlich aufdrängen, weist Kodálys Sonate op. 8 kaum Ähnlichkeiten mit den barocken Vorbildern auf. Kodály übernimmt in seiner Sonate die Stimmung des 17. und 18. Jahrhunderts, in der die zwei unteren Saiten von c-g auf h-fis umgestimmt werden. Die drei Sätze der 1915 komponierten und Jenö Kerpely gewidmeten Sonate sind durch die aus gemeinsamen Wurzeln stammenden Themen aufs Engste miteinander verbunden. Dennoch unterscheiden sich die Sätze in ihrem Charakter wesentlich von einander: Der erste nimmt durch seine dramatische Stimmung für sich ein, im zweiten fesselt die strömende Melodik und der dritte packt durch seine schwindelerregende Virtuosität.

Die Sonate für Violoncello und Klavier op. 4 wurde 1909/10 komponiert und am 17. März 1910 von Jenö Kerpely und Béla Bartók in Budapest uraufgeführt. Das ursprünglich drei Sätze umfassende Werk zeigt schon deutliche Einflüsse seiner Volksmusikstudien. Bereits die Fantasia, mit der die jetzt zweisätzige Sonate beginnt, führt mit ihrer pentatonischen Motivik in die „altungarische“ Welt. Der improvisatorische Charakter dieses Satzes wird durch den rezitativischen Rubato-Stil und häufige Taktwechsel unterstützt. Obwohl der sehr lebhafte zweite Satz eine regelmäßige Sonatenform aufweist, treten die folkloristischen Bezüge hier noch klarer hervor. Neben der charakteristischen, auf Quarten basierenden Melodik ist es vor allem die Wiederkehr der Fantasia am Ende des zweiten Satzes, die die formale Geschlossenheit des Werkes betont.

Die drei Choralpräludien für Violoncello und Klavier (1924) sind Transkriptionen der Choräle für Orgel von Johann Sebastian Bach: Ach, was ist doch unser Leben BWV 743, Vater unser im Himmelreich BWV 762 und Christus, der uns selig macht BWV 747.

Quelle: Peter Noelke, im Booklet


TRACKLIST


Zoltán Kodály
(1882 - 1967)


Music for Cello


Three Chorale Preludes for Cello and Piano (1924)

[1] Ach was ist doch unser Leben (4:46)
[2] Vater unser im Himmelreich (4:00)
[3] Christus der uns selig macht (5:00)

Sonata for Solo Cello, Op. 8 (1915)

[4] Allegro maestoso ma appassionato (8:26)
[5] Adagio (con grand‘ espressiono) (11:31)
[6] Allegro molto vivace (11:03)

Sonata for Cello and Piano. Op. 4 (1909/10)

[7] Fantasia: Adagio di molto (9:27)
[8] Allegro con spirito - Molto adagio (10:17)

Playing Time: (64:28)
Maria Kliegel, Cello
Jenö Jandó, Pano


Recorded in the Clara Wieck Auditorium, Heidelberg.
in July, 1994 and in May. 1995.
Producer: Günter Appenheimer
Cover Painting; Michael Freeman: "Storm Object"
(P) + (C) 1996



Schillers köstliche Reste


Friedrich Schiller. Büste von Johann Heinrich Dannecker (1758-1841)
Bereits am zweiten Tag nach seinem Ableben wurde Friedrich Schiller in der Nacht vom 11. auf den 12. Mai 1805 gegen ein Uhr in der Gruft des sogenannten Kassengewölbes in Weimar beigesetzt. Es war ein seinerzeit übliches Begräbnis — und dennoch skandalös. Schiller wurde ins Grab gesenkt, ohne geistlichen Zuspruch und ohne Anwesenheit leidtragender Angehöriger. Die bestellten und bezahlten Handwerker, die Schiller zu Grabe tragen sollten, hat Carl Leberecht Schwabe, der Sohn des Bürgermeisters von Weimar, wieder abbestellt. Er war der einzige, der empfand, »was die ganze gebildete Welt an ihm verloren hat, ihm die letzte irdische Ehre erweisen und ihn zu Grabe tragen zu dürfen ... es würde eine Schande für Weimar, für ganz Deutschland sein, wenn die Leiche des edelsten und geliebtesten Dichters von bezahlten, teilnahmslosen Menschen zu Grabe getragen würde, die keine Idee davon hätten, was Schiller für die deutsche Nationngewesen sei.«

Schwabe inszenierte ein würdiges Ereignis. Zwanzig schwarzgekleidete Männer fanden sich bei ihm ein. »Still und ernst begab sich nach Mitternacht der kleine Zug von Schwabes Wohnung nach Schillers Haus in der Esplanade. Es war eine mondhelle Mainacht, nur einzelne Wolken verhüllten bisweilen, unter ihm dahinziehend, den Mond. Still war das Totenhaus, nur Weinen und Schluchzen tönten dumpf aus dem Sarg, in welchem Schillers Leiche lag, naheliegenden Zimmer ... tiefe, lautlose Stille herrschte in der Stadt ...« Dann kam der Leichenzug zum Friedhof: »Hell durchbrach in diesem Augenblick der Mond die ihn verhüllenden Wolken und übergoß mit seinem ruhig freundlichen Lichte den Sarg des Dichters, ihm einen kurzen Abschiedsgruß sendend; gleich darauf verbarg sich die Lichtscheibe wieder hinter den rasch am Himmel dahinziehenden Wolken ... Kein Trauergesang, kein dem Andenken des eben Begrabenen geweihtes Wort aus priesterlichem Munde unterbrach das Schweigen der Mitternacht.« Es fehlte nur der Käuzchenschrei. So wurde Schiller sang- und klanglos beerdigt: als zweiundfünfzigste Leiche in einem Massengrab von zuletzt vierundsechzig Toten.

Kassengewölbe auf dem Jacobsfriedhof in Weimar
Das Weimarer Kassengewölbe war 1713 als private Gruft auf dem Jakobskirchhof errichtet worden. Seit 1742 wurde es von dem Finanzressort der Landesstände verwaltet und für die Bestattung von Personen freigegeben, die sich »durch Rang, Geburt oder Verdienst ausgezeichnet hatten«, jedoch über kein eigenes Familiengrab verfügten. Doch die Schar der Schiller-Verehrer war groß und wurde immer größer, als die letzten Unruhen der napoleonischen Ära sich beruhigten. Der Ruf nach einem Schiller-Denkmal, unter dem der Dichter ruhen sollte, wurde lauter. Auf Druck des Bürgermeisters von Weimar, Carl Leberecht Schwabe (derselbe, der einundzwanzig Jahre zuvor Schiller zu Grabe getragen hatte), entschied sich Schillers Witwe Charlotte erst im Mai 1823 für ein Familiengrab auf dem neuen städtischen Friedhof. In einem Brief an den Sohn Ernst erwähnt sie, daß in der Nähe der Großherzog »einen Platz für sich und seine Gemahlin hat«. Da waren gerade die Fundamente für die Fürstengruft gelegt worden.

Ende des Jahres 1825 meldete die Verwaltung, das Kassengewölbe müsse dringend »zusammengeräumt« werden, weil »fast gar kein Sarg mehr hineingestellt werden könne«. Das heißt: Das Kassengewölbe sollte geräumt, die Überreste der gestapelten Särge und Leichen auf einen Haufen getragen und am Rande des Friedhofs verscharrt werden. Das war ein reiner Verwaltungsakt. Doch Bürgermeister Schwabe wollte die Gelegenheit nutzen, um den Sarg Schillers zu bergen und für das geplante Grab- und Denkmal bereitzustellten. Am 13. März 1826 stiegen Bürgermeister Schwabe, Oberbaudirektor Coudray, Leibmedicus Dr. Schwabe und der Stadtschreiber und Hofadvokat Aulhorn in die Gruft. Dort herrschte »ein Chaos von Moder und Fäulnis und einzelner Stücke Bretter«, berichtet Schwabe später. Für eine Bergung kamen sechs Särge in Betracht. Als jedoch die Untersuchung der Namensschilder ins Leere führte, schien es unmöglich, »Gewißheit und Wahrheit darüber zu erlangen, welches hier die irdischen Überreste Schillers seien«. Das Unternehmen wurde abgebrochen. Der Totengräber erhielt die Order, alles so zu belassen, wie es ist.

Ohne die Behörden zu informieren, unternahm Schwabe die nächsten Schritte auf eigene Faust. Er bestellte den Totengräber Bielke und drei Tagelöhner für nachts zwölf Uhr auf den Friedhof und verpflichtete sie zu absolutem Stillschweigen. Dann brachen sie ins Kassengewölbe ein. Erst unten angekommen, wagten sie es, mehrere Laternen anzuzünden. Die Arbeiter begannen, die Reste der Särge auf der einen und die Knochen auf der anderen Seite aufzuschichten. Der Herr Bürgermeister saß derweil auf einer Leiter, beobachtete die Arbeit und qualmte durch »eifriges Tabakrauchen« gegen den Modergeruch und die unheimliche Stimmung an. So ging es drei Nächte lang, jeweils von Mitternacht bis zwei oder drei Uhr in der Früh. Am Ende hatte Schwabe dreiundzwanzig Schädel beisammen. Er ließ sie in einen Sack stecken und zu sich nach Hause bringen.

Grabstein Friedrich Schillers im Kassengewölbe
Schwabe, der Schiller noch persönlich gekannt hat, zog nun auch den noch lebenden Sargtischler und Schillers Diener Rudolf hinzu, um den richtigen Schädel zu bestimmen. Einen nach dem andern verglich er durch Messungen mit Schillers Todesmaske. Er wählte schließlich den größten Schädel: Der war der einzige, der sich »durch seine Größe und durch edle, regelmäßige Gestaltung« von den anderen abhob. Schiller war von großer und stattlicher Statur und hatte auffallend gesunde Zähne — bis auf einen Zahn, den er ein Jahr vor dem Tod hatte ziehen lassen. Sein Zahnschmelz wies eine eigenartige Gerilltheit auf. Schwabe hatte aus der Gruft nur Schädel ohne Unterkiefer entnommen. Er wußte offensichtlich, daß später die Skelette samt Unterkiefer anhand der Bißform mit den zugehörigen Schädeln zusammengeführt werden konnten. Zwei Ärzte, sein Bruder und der Leibarzt der fürstlichen Familie, Dr. Huschke, bestätigten sein Ergebnis. Später erkannte Ernst Schiller im Namen der Familie die Reliquie als echt an.

Als in Weimar das eigenmächtige Vorgehen des Bürgermeisters bekannt wurde, schlugen die Wellen der Empörung hoch. Vor allem Familien, deren Angehörige im Kassengewölbe begraben waren, beschwerten sich. Doch der Großherzog und Goethe zeigten sich beglückt und zollten ihrem Bürgermeister »dankenste Anerkennung«. Doch wohin mit Schiller? Schwabe hatte vorgeschlagen: »Welche Zierde für den von mir so sehr gepflegten Gottesacker, wenn in einem einfachen Sarkophag, mit einer nur einfachen Säule hier Schillers Schädel der Erde übergeben würde, und zwar auf dem höchsten Punkt des Gottesackers, daß jeder Fremde […] schon aus der Ferne das Grab des geliebten Dichters erblicken und frei und ungehindert auf einen jedem zugänglichen Platz sich der Grabstätte nähern könnte!« Diesen Platz jedoch hatte sich der Großherzog ausgerechnet für die Fürstengruft auserkoren!

»Nur seine ohngefähre Ansicht als Privatperson« wolle er daher kundtun, meinte Karl August von Weimar, als er den Vorschlag machte, »ob es nicht am würdigsten wäre, wenn Schillers Schädel statt in die verhüllende und zerstörende Erde versenkt zu werden, lieber für immer auf der Bibliothek in einem besonderen, anständig eingerichteten Behältnis aufbewahrt würde.« Immerhin verfügte man auf diese Weise auch über den Schädel des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz.

Erinnerungstafel am Grab Carl Lebrecht Schwabes
Nur unter Berufung auf den Reliquienkult der alten Kirche konnte die fromme Caroline von Wolzogen, die Schwester der 1826 in Köln verstorbenen Charlotte von Schiller, dazu gewonnen werden, den Dichterschädel für die Aufbewahrung in der Bibliothek freizugeben. Und so stimmten auch die anderen Mitglieder der Familie zu.

Der Großherzog erwarb derweil aus dem Schillerschen Familienbesitz die lebensgroße Marmorbüste, die der Bildhauer Dannecker unmittelbar nach dem Tod des Dichters gefertigt hatte, und stiftete sie der Familie. Dann, am 17. September 1826 um elf Uhr, wurde Schillers Schädel in einer Feierstunde in der Fürstlichen Bibliothek im Sockel der Marmorbüste deponiert. Bei dem Festakt waren weder der Großherzog noch Goethe anwesend. Karl August ließ sich durch den Kanzler von Müller vertreten. Goethe entschuldigte sich mit einer gesundheitlichen Schwäche, entsandte seinen Sohn August und entschwand mit seiner Schwiegertochter Ottilie aufs Land. Bei dem Festakt stellte August von Goethe ein Grabmal für die Gebeine Schillers, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht geborgen waren, in Aussicht. Der Schlüssel für das Postament aber »soll stets in den Händen der Großherzoglichen Oberaufsicht über die unmittelbaren Anstalten für Wissenschaft und Kunst bleiben«.

Der Schlüssel zu Schillers Schädel befand sich also in den Händen von Goethe persönlich. Geöffnet werde, so verkündete Goethe-Sohn August, das Reliquienkästchen des klassischen Weimar nur für Personen, bei denen man sicher sei, daß sie nicht aus Neugier oder Sensationslust kämen - Leute also, die einen Begriff davon hätten, »was jener große Mann für Deutschland, für Europa, ja für die ganze Welt geleistet hat«.

Schillers Schädel war gerettet. Doch was war mit seinen anderen Gebeinen? Wie sollte man in dem Knochenhaufen des Kassengewölbes ausgerechnet jene herausfinden, die dem Dichter gehörten? Da Schiller in Weimar als der längste, das heißt größte Bürger galt, brauchte man doch auch nur die längsten Knochen herausklauben. Gesagt, getan. Schon wenige Tage später, am 23. September 1826, stiegen der Chirurg und Aufseher des Anatomischen Kabinetts, Christian Schröter, und der frühere Bedienstete Christoph Färber nochmals hinunter ins Kassengewölbe. Nach einigen Tagen kamen sie mit allerhand Gebeinen wieder ans Tageslicht: Vierundsiebzig Knochen, darunter das zwischen dreiundzwanzig Skeletten entdeckte erste Glied der linken großen Zehe Schillers. Einhundertacht Teile des Gerippes wurden als Verlust registriert, darunter das Schwanzbein und siebenundzwanzig Zehenglieder. Die neunundzwanzig Knochenteile des bereits geborgenen Schädels dazugezählt, heißt das nichts anderes: hier war nicht mal mehr der halbe Schiller vorhanden.

Ohne jede Feierlichkeit wurde am 27. September 1826 der restliche Schiller, getrennt von seinem Schädel, in einer Kiste in einem der unteren Räume der Bibliothek beigesetzt.

Bereits in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1826 beherbergte Goethe den Schädel des Dichter-Freundes im Gartenhaus seines Anwesens am Frauenplan. Es war die Nacht, in der er sein berühmtes Gedicht Auf Schillers Schädel schrieb. Der Ort des Geschehens ist die Anonymität des »Beinhauses«: Viele Schädel und Knochen liegen ungeordnet nebeneinander. Niemand weiß, von wem und mit welcher Geschichte. Der Blick des Besuchers ist glücklicherweise kraniologisch geschult. Unter all den bedeutungslosen Knochenteilen erkennt er daher ohne Umschweife den Schädel des Dichtergenies: »Mir Adepten war die Schrift geschrieben, / Die heilgen Sinn nicht jedem offenbarte«.

Noch Ende des Jahres beherbergte Goethe die teure Reliquie, gebettet auf blauem Samt unter einem Glassturz in seinem Hause. Am 29. Dezember 1826 berichtete Wilhelm von Humboldt seiner Frau: »Heute nachmittag habe ich bei Goethe Schillers Schädel gesehen. Goethe und ich — Riemer war noch dabei — haben lange davor gesessen, und der Anblick bewegt einen gar wunderlich. Was man lebend so groß, so teilnehmend, so in Gedanken und Empfindungen bewegt vor sich gesehen hat, das liegt nun so starr und tot wie ein steinernes Bild da. Goethe hat den Kopf in seiner Verwahrung, er zeigt ihn niemand. Ich bin der einzige, der ihn bisher gesehen, und er hat mich gebeten, es nicht zu erzählen.«

Zu Goethes achtundsiebzigstem Geburtstag meldete sich überraschend der König von Bayern zu Besuch. Der dichtende König machte dem König der Dichter seine Aufwartung! Am 29. August 1827 teilte Karl August dem Freund kurz mit, daß er gegen zehn Uhr am Frauenplan vorfahre. »Hernach möchte der König die Bibliothèque und daselbst Schillers Schädel sehn! Letzteres kannst Du nur möglich machen, deswegen ersuche ich Dich, die nötigen Anstalten dazu treffen zu lassen.« Der bayerische König zeigte sich tief beeindruckt, war aber durch die getrennte Aufbewahrung von Kopf und dem restlichen Gebein etwas irritiert.

Karl August Herzog von Sachsen-Weimar und Eisenach.
Gemälde von Georg Melchior Kraus, um 1796.
 Goethe Nationalmuseum Weimar.
Dem sollte nun endgültig Abhilfe geschaffen werden durch die Überführung in die Fürstengruft. Im Januar 1827 bestimmte der Großherzog den Ort am höchsten Punkt des Terrains, südwestlich hinter der Fürstengruft. Baumeister Coudray hatte bereits fertige Baupläne: Über der Doppelgruft sollte sich eine Stele erheben. An den vier Seiten sollten Reliefs schwebender Musen angebracht werden: Poesie, Geschichte, Philosophie und Naturforschung. Eine umlaufende Inschrift, angebracht an dem von vier Eckpilastern getragenen Gebälk, sollte lauten: »Schiller und Goethe / Freunde im Leben / Auch hier vereint / Durch Carl August«. Und Goethe träumte von einem Landschaftsgarten mit Gräbern ähnlich dem Père-Lachaise in Paris. Der vorgesehene Platz lag aber ausgerechnet bereits außerhalb des Friedhofs, und zwar auf dem Gelände einer Baumschule. In dem dortigen Gartenhaus wurden angehende Landschullehrer ausgebildet. Gegen die Kündigung des Pachtvertrages erhob die Landesdirektion bei der Stadt Weimar Einspruch: Ein Grabmonument für den Geheimen Rat von Goethe sei wohl noch nicht dringend notwendig. Für das Land dagegen sei die weitere Existenz der Schule wichtig. Als der Widerstand größer wurde, verschwanden die Pläne in der Schublade.

Dann teilte im September 1827 der Großherzog seinem Minister Goethe mit: »Es wird so verschiedentlich über die Aufbewahrung der Schillerschen Reliquien auf hiesiger Bibliothèque hin und her geurteilt und meistens wohl mißbilligt, daß ich es für rathsam halten möchte, selbige in dem Kasten, in welchem sie liegen, inclusive des Hauptes, von welchem vorher ein Abguß zu nehmen wäre, in die Familiengruft einstweilen setzen und aufheben zu lassen, welche ich für mein Geschlecht auf dem hiesigen neuen Friedhof habe bauen lassen, bis daß Schillers Familie einmal ein anders darüber disponiert. So Du hiermit einstimmst, so werde ich dem Hofmarschallamte die Anweisung geben, Schillers Überbleibsel unter seinen Beschluß bei meinen Ahnen zu nehmen.«

Fürstengruft in Weimar
Das Gerücht, der Großherzog habe erklärt, mit seinen »beiden großen Freunden in demselben Gewölbe ruhen zu wollen«, entwickelt sich zur Legende. Am 16. Dezember 1827 wurden die Gebeine Schillers in einem massiven, von Goethe und Coudray entworfenen Eichensarg in der Fürstengruft feierlich beigesetzt. Als Standort ist die südöstliche, gegenüber dem Eingang liegende Ecke gewählt worden. Dort wurde der Sarg in gebührendem Abstand zu den fürstlichen Sarkophagen »mit Gesicht gegen Sonnenaufgang« aufgestellt. Nach zweiundzwanzig Jahren hatte Schiller endlich ein würdiges Grab. Doch welche Ironie! Ausgerechnet er, der »Weltbürger, der keinem Fürsten dient«‚ lag nun in einer Fürstengruft! Fünf Jahre später lag Goethe neben ihm.

Zweifel an der Echtheit des Schillerschen Schädels kamen ein halbes Jahrhundert später erneut auf. Der Anthropologe Hermann Welcker, Direktor des Anatomischen Instituts in Halle, hatte ein neues Verfahren der Schädelmessung entwickelt. Danach war es möglich, einer Person nach Bildern und Büsten den richtigen Schädel zuzuordnen. Auf diese Weise wurden die Schädel Schillers, Kants und Raffaels untersucht. Welcker kam zu dem Ergebnis, die Schillersche Totenmaske aus Gips passe nicht mit der Schädelmaske überein. (Schillers Schädel und Totenmaske nebst Mitteilungen über Schädel und Totenmaske Kants. 1883. Neudruck 1933)

Die Diskussion unter den Anatomen begann. Bis 1911 der Tübinger Anatom August von Froriep seinem Kollegen Welcker zustimmte: Toten- und Schädelmaske ließen sich in den Profilen nicht miteinander konturieren. Auch die Gipsmaske käme nicht in Frage, da sie wesentlich größer sei als das Original. Froriep entschied sich für die Terrakotta-Maske, die der Bildhauer Keller angefertigt hatte. Froriep ließ die Gruft des 1854 abgerissenen Kassengewölbes wieder aufgraben und holte einen Schädel aus der Tiefe, der in allen Hauptabmessungen der Totenmaske aus Terrakotta entsprach. Er barg dreiundsechzig Schädel. Schädel Nummer vierunddreißig, behauptete Froriep‚ sei der echte. Eine Gutachterkommission bestätigte ihm die Echtheit.

Froriep barg bei der Gelegenheit gleich auch noch ein Skelett, das er Schiller zuordnete. So gab es plötzlich zwei Skelette des Dichters. Aus Pietät sind die Knochenreste in einen schwarzen Holzsarg verpackt worden, den man am 9. März 1914 auch noch in die Fürstengruft stellte, allerdings durch einen Vorhang verdeckt. Der Sarg des »Unbekannten« trägt die Nummer III und stand jahrzehntelang hinter dem südwestlichen Pfeiler.

Nun gab es — eine einmalige Kuriosität — zwei Schiller-Schädel und zwei Schiller-Skelette. Allerdings wurde dem 1826 gefundenen der Vorzug gegeben, denn noch im Jahre 1913 behauptete ein anderer Anatom namens Neuhauß, der von Froriep entdeckte Schädel könne wegen offensichtlicher weiblicher Merkmale nicht Schiller zugeschrieben werden.

Die Gräber in der Fürstengruft Weimar
Im Jahre 1959 schließlich hat der bekannte sowjetische Pathologe Michail Michailowitsch Gerassimow sich der Sache angenommen. Fäulnisschäden hatten die Öffnung des Sarges erzwungen. Gerassimow hatte schon 1927 Zusammenhänge zwischen den Weichteilen eines Gesichts und seiner Knochenbasis entdeckt. Gerassimow ging davon aus, daß Terrakotta beim Brennen um etwa ein Siebtel einschrumpft. Wenn die Abmessungen des Schädels mit denen der Terrakottamaske übereinstimmten, konnte Welckers Schädel nicht von Schiller stammen. Welckers Arbeiten aber galten für Gerassimow als unfehlbar. Also konnte keiner der beiden Schädel der gesuchte sein. Gerassimow öffnete nun beide Schiller-Sarkophage und untersuchte die beiden Skelette. Bei dem 1911 von Froriep ausgegrabenen Skelett paßte nur wenig zusammen. Dem kleinen, unverkennbar weiblichen Schädel mit schwach vertretender Nase und unregelmäßig vorstehenden Zähnen einer etwa zwanzigjährigen Frau war ein sehr großer Unterkiefer mit dem abgenützten Gebiß einer etwa fünfundsechzigjährigen Person zugeordnet. In dem Sarkophag mit dem 1826 geborgenen Skelett dagegen stimmte alles: Die Knochen ließen auf einen hochgewachsenen Menschen schließen und trugen Spuren einer Tuberkulose. Auch der Schädel entsprach völlig dem Äußeren des Dichters. Also mußte Welcker sich geirrt haben.

In seinem Buch Ich suchte Gesichter (Gütersloh 1968) beschreibt Gerassimow im Detail, wie er den ursprünglich von Schwabe geborgenen und von Welcker geprüften Schädel Schillers erneut untersuchte. Anhand der im Museum für Urgeschichte in Weimar hergestellten Kunststoffgüsse »beider« Schillerschädel, deren Aussehen er nach einer von ihm selbst entwickelten Methode rekonstruierte, wies er »zweifelsfrei« die Identität mit Schiller nach. Der »Froriep-Schädel« schied aus: Er gehörte zu einer jungen Frau. Allerdings gab es auch hier Probleme, etwa mit den morphologischen Eigentümlichkeiten der Nasenlippenfalte. Schließlich gelang es Gerassimow, festzustellen, warum Welcker sich geirrt hatte. Der Bildhauer hatte Schillers Haar mit einem Tuch umwickelt und zum Beseitigen der Gewebespuren den Gips abgeschabt. So kam es zur verformten Kopfwölbung der Totenmaske. Weiterhin erbrachten die Untersuchungen der aufgefundenen Skelettknochen‚ daß das 1826 geborgene Skelett tatsächlich das von Schiller war.

Erneute Zweifel wurden im Jahre 2005 laut, dem zweihundertsten Todestag Schillers. Gerassimow habe in seinem Bericht verschwiegen, so Peter Braun, daß dem aus der Holzsäule der Bibliothek entnommenen und in die Fürstengruft überführten Schädel, den er für echt erklärte, ursprünglich acht Zähne fehlten, die aber ersetzt worden waren. Schwabe aber spricht bei dem von ihm gefundenen Schiller-Schädel von nur einem fehlenden Zahn. Nun aber ist Schwabe vorgeworfen worden, er habe sieben der acht fehlenden Zähne dem größten der aufgefundenen Schädel eingesetzt, um ihn als Schädel Schillers auszuweisen. Denn er habe gewußt, daß Schillers wirklicher Schädel nicht mehr zu bestimmen gewesen sei.

Braun stellte fest, daß in der Fürstengruft zwei Sarkophage standen, die Schiller zugeordnet waren. »Der im Plan der Fürstengruft mit I bezeichnete, bekannte, mit dem Namen Schillers versehene Sarkophag, und ein mit III bezeichneter, namenloser Sarkophag mit der Angabe ›Unbekannt (1911 von der Forschung für den Schädel Friedrich Schillers gehalten).‹ Sarkophag III steht nicht mehr an der bezeichneten Stelle.« Auf eine entsprechende Frage an die Stiftung Weimarer Klassik, wo sich der Sarkophag III denn jetzt befände, erhielt Braun keine Antwort.

Fazit: Zwei Schädel, zwei Skelette, zwei Särge. Hinzu kommen verschiedene Totenmasken, auch elf als »Schillerhaar« bezeichnete Haarbüschel unterschiedlicher Farbe und verschiedener Wellung und Kräuselung, die sich an fünf verschiedenen Orten befinden — drei von ihnen sind übereinstimmend. Einer Gen-Analyse aller Schiller zugeordneten Knochen, Schädel und Haare aber wurde von der Stiftung Weimarer Klassik nicht zugestimmt. Der Verbleib von Sarkophag III ist ungeklärt.

Literatur: Julius Schwabe: Schillers Beerdigung und die Auffindung und Beisetzung seiner Gebeine. 1805, 1826, 1827. Leipzig 1852. Neudrucke: 1932, 1934 und 1936 ; Max Hacker: Schillers Tod und Bestattung. Leipzig 1935 ; H. Ulrich: Neue wissenschaftliche Untersuchungen über die Echtheit des Schillerschädels. Jena 1962 ; H.-J. Scharf: Der Anatomenstreit um Schillers Schädel. Nova Acta Leopoldina. Neue Folge 171, Band 29, 1964, Seiten 179 bis 194 ; Die Zeit vom 27. September 1985 ; Johannes Lehmann: Die Schädelstatten unserer Klassiker, Stuttgarter Zeitung vom 27 März 1999 ; Albrecht Schöne: Schillers Schädel. München 2002 ; Peter Braun: Schiller, Tod und Teufel. Düsseldorf 2005

Quelle: Lemma "Schillers köstliche Reste" in: Rainer Schmitz: Was geschah mit Schillers Schädel? Alles, was Sie über Literatur nicht wissen. Eichborn Berlin, Frankfurt am Main, 2006. ISBN 3-8218-5775-7. Seiten 1242-1250


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T.S. Eliot: The Waste Land and Other Poems / Das Öde Land und andere Gedichte

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Die frühesten Skizzen zum Jahrhundertpoem The Waste Land datieren von Ende 1919, als der Plan zu einem Langgedicht in ihm reifte, damals noch unter dem seltsamen Arbeitstitel He Do The Police In Different Voices. Nachkriegseuropa, Streiks und Wirtschaftsnöte, und ein Amerikaner, Oxford-Absolvent, versucht sein Glück in England, ist längst der bessere Brite, in Manieren und Aussprache mustergültig assimiliert. Als Mensch aber ist er nervlich am Ende, er steckt in seiner schwersten Lebenskrise, die alle Aspekte des bürgerlichen Daseins umfasst, Stellung und Einkommen, Ehe und Geschlechtsleben, Freizeit und Freundschaften. Sinnentleert seine Funktion, er fühlt sich als einer von Millionen Nobodys, Mieter einer Reihenhauswohnung, mit der Aussicht auf ein Wochenende mit Landpartie, als Gefangener einer verkehrsreichen europäischen Metropole, wie ferngesteuert absolviert er den ereignisarmen Alltag eines kleinen Bankangestellten. Fotos aus dieser Zeit zeigen T.S. Eliot mit Stock und Melone, ein Mann von hoher, leicht gekrümmter Statur, ein Fragezeichen im Fließtext der Straßen Londons, unauffällig, doch hinter der gebügelten Karosserie darbt ein hochidiosynkratisches Künstler-Ich.

Im Januar 1922 kehrt Eliot von einem längeren Kuraufenthalt in der Schweiz nach London zurück. In Lausanne am Genfer See war er zum Schreiben gekommen, ein Anfall plötzlicher Produktivität, er übergibt Ezra Pound, seinem Dichterfreund und Förderer in allen Lebenslagen, ein Konvolut von 54 Seiten. Pound wird zum Geburtshelfer (wie es in den Chroniken seither salbungsvoll heißt), indem er etwa zwei Drittel des ursprünglichen Texts wegstreicht. Eine Kaiserschnittoperation, aber sie zog ans Licht, was wir heute als das bedeutendste Langgedicht der modernen und nicht nur englischsprachigen Dichtung kennen – die Mona Lisa der neueren Poesie. Pound ist es zu verdanken, dass uns die berühmten Auftaktzeilen nun für immer ins Ohr gehen, an den Beginn von Chaucers Canterbury Tales erinnernd: "April is the cruellest month…" Wäre es nach dem Verfasser gegangen, hätte das Ganze mit der weitschweifigen Schilderung einer Kneipentour begonnen, und kein Mensch hätte sich je dafür interessiert.

T. S. Eliot
"Eliot kam aus Lausanne von seinem Arzt zurück, sah OK aus; und mit einem verdammt guten Gedicht in seinem Koffer", schrieb der euphorische Kompagnon selbstlos. "Könnte dazu führen, daß der Rest von uns seinen Laden dichtmachen kann." Tief verneigt er sich vor dem Landsmann: "Complimenti, du Hurensohn. Ich bin von allen sieben Eifersüchten geplagt." Eliot dankt es ihm später mit der vorangestellten Widmung "il miglior fabbro"– dem besten Schmied, einer Dante-Anspielung unter Kennern. Nicht nur für sie, auch für den Dritten im Bunde der Pioniere englischer Literatur, James Joyce, wird die Göttliche Komödie zur Magna Charta ihrer Innovationen. Man kommuniziert in Anspielungen, ist Mitglied eines regen Zitierkartells.

Es gibt andere Stellen, die dem Rotstift zum Opfer fielen. Darunter sind Passagen, die weitere Perspektiven eröffnen, ganze Schauplätze und Figuren fallen weg. Auch Eliot, als Meister der Rollendichtung, in verschiedene Personae schlüpfend, beherrscht den inneren Monolog, die neue Technik des Bewusstseinsstroms, wie sie Virginia Woolf in Mrs Dalloway’s Party leichthin improvisiert und Joyce im Ulysses perfektioniert. Schade um manches, was davon geopfert wurde, so ein ganzes Kapitel mit dem Titel Der Tod der Herzogin. Auch ein Klagelied, eine kleine Elegie müssen ausscheiden, von Teil vier bleibt lediglich ein Zehnzeiler zurück, die Kritik aber ist sich einig, dass erst Pounds Kahlschlag dem Gedicht die ultimative Fassung gegeben habe. Was uns vorliegt, ist ein kompakter Torso.

Unter den wuchtigen Schlägen des Lektors war ein Gebilde wie aus einem Guss zum Vorschein gekommen. Ein Sprachkunstwerk, aber seine innere Dynamik passte zu den Manifesten der Vortizisten, einer Künstlergruppe mit Pound als Wortführer im Zentrum, die sich die Bildhauerei zum Vorbild nahmen – "vortex" war ihr Losungswort, und es meinte so viel wie Wirbel, Strudel, eine futuristische Zauberformel. Auf einmal konnte Lyrik, ein Stück geformter, gehärteter, konzentrierter Sprache, skulpturale Qualitäten entwickeln, plastisch hervorgetreten, das Gedicht ein Steinblock, gewaschen, wie Celan einmal forderte: "im Wasser wirklicher Worte". Waste Land ist eine schroffe Montage aus Verskadenzen. Die Bindungskraft seiner Strophen und Abschnitte verleiht dem Textganzen die Kompaktheit und das Verschachtelte kubistischer Gemälde. Seine innere Spannung erwächst aus der Abfolge wechselnder Tonlagen, Zitate und Fetzen wörtlicher Rede, an deren Bruchkanten das Schweigen und das Rauschen der realen Großstadt hörbar werden. Eine Atmosphäre namenloser Intimität trägt zur Verunsicherung bei, manches wirkt wie aus Selbstgesprächen abgelauscht, wie Gemurmel im eigenen Kopf. Die Zeilen öffnen sich, Außenwelt schlägt durch die Buchseite, Vergangenes wird gegenwärtig, und wie ein Psalmen-Refrain springt den Leser aus allem ein tua res agitur an. So jedenfalls haben Zeitgenossen es damals empfunden. Man erschrak vor dem Echo aus der inneren Hohlheit und ahnte die Krankheitsdiagnose darin: metaphysische Leere. Seither ist in der Lyrik nichts mehr, wie es war.

The first page of The Waste Land manuscript, when the
poem was titled "He Do the Police in Different Voices."
Was im Oktober 1922 in einer kleinen Zeitschrift erschien, war ein Konzentrat in 5 Teilen und 434 Zeilen. Auf den ersten Blick sah das Ganze wie eine Folge von kurzen Dramenszenen ohne Regieanweisung aus. Man hört verschiedene Sprecher, allmählich weitet die Partitur sich zu einer Stimmen-Collage, die stellenweise sich steigert zur Polyfonie. Was ihn so hypnotisch macht von Anfang an, sind die drängenden Metren, auch sie variabel, scheinbar kühl gesteuert von einer überlegenen rhythmischen Intelligenz. Eliot gehört zu der Handvoll von Dichtern im 20. Jahrhundert, die von Prosodie und metrischer Vielfalt so gut wie alles gewusst haben – sein Gedächtnis für Versmelodien aus allen Zeitaltern englischer Dichtung muss phänomenal gewesen sein. Er hatte das komparative Gehör des Sprachmusikers, dem die klassische Kadenz ebenso leicht zuflog wie die Jazz-Nummer mit exakten Synkopen, ein schlichtes Liedchen, das Geklimper freier Verse oder der Alexandriner aus dem französischen Barock.

Es war im Grunde dies, ein Talent für die spezifischen Versmelodien im Wandel der Zeiten, was ihn auf seine Theorie vom historischen Sinn in der Literatur brachte. Die eigenartige Qualität seiner Zeilen ist ihre fast augenblickliche Memorierbarkeit. Sie ist das Betriebsgeheimnis der Eliotschen Dichtung. Auf seine lyrischen Produkte gibt es, wenn nicht alles täuscht, eine Garantie von etlichen Jahrhunderten. Es wimmelt bei ihm von geflügelten Worten. Kein zweiter Moderner ist dem Englischen so schnell ins Blut gegangen wie er. Er hat das Kunststück fertiggebracht, viel zitiert und doch schwer verständlich zu sein, ein populärer Hermetiker. Es wird berichtet, Studenten in Oxford hätten Waste Land als Erste laut intoniert, es nachts aus ihren Collegefenstern mit Megafon über die mittelalterlichen Dächer geschrien. Bald schon hatte das sperrige Stück Kultstatus, war Partygespräch und wurde zur heimlichen Liturgie der Intellektuellen.

Richtig gealtert, aus der Mode gekommen, scheint es bis heute nicht zu sein. Seine Spur zieht sich, mal deutlicher, mal verborgener, durch die Dichtung des 20. Jahrhunderts, über Länder- und Kulturgrenzen hinweg, durch verschiedene Sprachen und literarische Schulen. Es ist eins dieser Werke, die zum Grundriss wurden für vieles, was seine Derivation von dorther nicht einmal ahnt. Eine seltsame Leseerfahrung, die sich mit den Jahren nur verstärkt hat, kann ich hier mitteilen. Je öfter man sich diesen Text vornimmt im Lauf der Jahre, umso mehr zerfällt er in seine Partikel, die als freie Radikale sich an immer neue, aktuelle Ereignisse und Tagesinhalte binden. Ich kenne kein anderes Langgedicht, das in seinen Teilen so polyvalent schillert, mit der Zeit so viele Nebenbedeutungen offenbart. Die prophetischen Elemente sind unübersehbar.

Eliots Waste Land ist zum modernen Klassiker geworden, grundstürzend und schulemachend zugleich. Es gehört, in seinem vielfachen Ausdruckssinn, seinem Einflussreichtum, in dieselbe Klasse von Schlüsselwerken der Moderne wie Picassos Mädchen von Avignon oder Strawinskis Ballettmusik Le sacre du printemps. Charakteristisch für sie alle war ihre Auftaktwirkung, das Überraschungsmoment, der Skandal. Dazu eine Stimme aus den fünfziger Jahren. Der Berliner Theater- und Literaturkritiker Julius Bab, in New York lebender jüdischer Emigrant, bemerkt zum Problem Eliot: "Dabei sei nicht geleugnet, dass einzelne Zeilen des langen Gedichts auch für den Uneingeweihten einen dichterischen Ton haben – es ist immer der Ton der Chaotik, der sinnlos gewordenen Welt, der Auflösung. Aber das Ganze, wechselnd zwischen rüdestem Realismus und literarisch hochgestelltem Pathos, macht uns nur seekrank. Ein Schlag auf den Hinterkopf würde annähernd dieselbe Wirkung tun – aber er wäre keine dichterische Leistung!"

Das ist, bei aller Unbedarftheit, ein freimütiges Urteil, eines, wie man es heute, da Eliots Werk kanonisiert ist, nicht mehr zu hören bekäme. Bemerkenswert daran ist der Unwille, den Anspielungsreichtum und die Tendenz zur Formauflösung im Kritiker erzeugen, ein Unwille, wie er vielfach auch gegenüber der neuen Musik geäußert wurde. Der Vorwurf lautet: schwer verständliche Gelehrtenpoesie, esoterisches Gehabe, literarischer Wissenskult anstelle des persönlich Erlebten. Gerade Letzteres aber wird man Eliot aber kaum absprechen können. Wie wir aus den Biografien wissen, war The Waste Land das Resultat einer tiefen inneren Krise. Eliot ist in dem Maße zum Dichter geworden, wie er die Erschütterungen der westlichen Kultur nach dem Ende des Ersten Weltkriegs persönlich als Nervenzusammenbruch durchlitt. Die dröhnende Leere des endgültig nachmetaphysischen Menschen: zum ersten Mal war sie in heutigen Worten, in der neuen Umgangssprache hörbar geworden, Eliot hatte ihr einen Hallraum verschafft. Sein Gedicht ist im Grunde ein einziger Stoßseufzer über die Belanglosigkeit des modernen Daseins.

The Waste Land in The Dial, November 1922
Der Titel spricht es offen aus: Hier wird eine Dürrezone betreten, es geht um die Austrocknung der westlichen Kultur, um Impotenz, Existenzangst, Geschlechterentfremdung, innere Verödung. Das Ich, das diesen so vielschichtigen Text komponiert hat, ist dabei ein ganz unpersönliches geworden, von einer namenlosen Leere bedroht. Wie nach Luft ringt es in seiner Verlorenheit nach einem Rest an Spiritualität. Zeichen der alten übernatürlichen Welt geistern zwischen den Zeilen umher – als Traumbilder, Szenen der Gralslegende, Wahrsagerei, Gebetsformeln, Bruchstücke von Konfessionen, Allegorien, aber sie entziehen sich unaufhaltsam. Einmal wird Richard Wagner zitiert, aus Tristan und Isolde die Stelle "Öd und leer das Meer", aber was anklingt, ist eher Nietzsche mit seiner Warnung: "Die Wüste wächst, weh dem, der Wüste in sich trägt".

Worüber die Soziologen allmählich zu forschen begannen, was Freud in diesen Jahren als Unbehagen in der Kultur beschrieb, was einen Krieg später der philosophische Existenzialismus zum Befund erhob: hier hatte ein Dichter es früh vorausgesehen. Er war der Erste, der zögernd Schritte setzte in diese noch unbeschriebene Landschaft, die dann von vielen erkannt wurde, kaum war sie einmal kartografiert. Es gab ihn also, den Dichterseher, den vates in bester Vergilischer Tradition, auch noch im Zeitalter von Stechuhr, Penicillin und Maschinengewehr. Hier sprach einer, der beides gesehen hatte, die Reiche der Aufklärung und die Reiche der Finsternis, des unausrottbaren Atavismus. Und wie vorausschauend war dieser Blick ins Chaos, so einladend ausdeutbar wie manches bei Nostradamus. Aus gewissen Zeilen mochte man den Endkampf uniformierter Massen herauslesen, den Offensiven von Faschismus und Bolschewismus in den östlichen Weiten: "Wer sind diese vermummten Horden, die schwärmen / Über die endlose Steppe, in rissiger Erde steckenbleibend". Andere scheinen erst in unserer Gegenwart zu sich zu kommen, so wenn es heißt: "Fallende Türme / Jerusalem Athen Alexandria / Wien London / Unwirklich". Es mag in der englischsprachigen Welt nicht wenige Leser gegeben haben, die nach dem 11. September zusammenzuckten in Erinnerung an Eliots Waste Land und die prophetischen Worte daraus, die sie seit der Schulzeit kannten.

Wie viel Intuition im Spiel war, bezeugen des Dichters Abwehrversuche. Das Gewese um sein Poem ist ihm selbst bald unheimlich geworden. Am Ruhm seines Jahrhundertwurfs, seiner erstaunlichen Popularität über alle Dichterzirkel hinaus, hat er nichts mehr ändern können. Die Sache war zum Selbstläufer geworden, so gern Eliot sie in späteren Jahren herunterspielte: "Für mich war es nur das Ventil für einen ganz belanglosen Grant gegen das Leben; es ist lediglich ein Stück rhythmischer Quengelei." Und dennoch dürfte Zbigniew Herbert, der polnische Dichter, groß in seiner Bescheidenheit, recht behalten mit seinem melancholischen Fazit: "Nicht viel wird bleiben Richard wirklich nicht viel / von der dichtung dieses wahnsinnsjahrhunderts sicherlich Rilke und Eliot".

Wovon handelt nun aber Das wüste Land? Eine Kurzfassung könnte etwa so lauten: Es hebt an in Aprilstimmung mit einer Urlaubserinnerung, Kurgäste am Starnberger See, dem folgt die Vision einer Staubwüste. Eine Wahrsagerin wird aufgesucht, sie legt dem Erzähler die Tarockkarten, dann ein Gang durch London, auf dem in dem wimmelnden Ameisenhaufen zwei alte Bekannte einander begrüßen. Teil zwei schildert als gespenstische Unterwasserfantasie ein Schachspiel, zwei Eheleute im Endstadium ihrer Beziehung, dann kommt eine Kneipenszene, bei der zwei Busenfreundinnen sich über die abwesenden Männer, Kriegsheimkehrer, verständigen und eine die andere über ihre ehelichen Pflichten belehrt, eine Kleinbürgerhölle in wörtlicher Rede. Im dritten Teil kommt die Themse ins Bild, Londons Wasserader in Vor- und Rückblenden, zu Königin Elisabeths Zeiten wie in der Gegenwart der zwanziger Jahre. Folgt die minutiöse Schilderung eines tristen Schäferstündchens zwischen einer Tippse und einem kleinen Angestellten, im Film würde man heute von einer Sexszene sprechen. Der vierte Teil ist der Nachruf auf einen ertrunkenen Seemann, ein klassisches Epigramm wie aus der Anthologia Graeca. Teil fünf schließlich kombiniert in wenigen Zeitrafferszenen die Passion Christi mit Bildern von kontinentaler Verwüstung und Einsiedlerstätten, streift den Untergang antiker Metropolen und endet, mit einem Schwenk nach Indien und an den Ganges, in brahmanischen Gebetsformeln. Ein dreifaches Shantih bildet den Schlussakkord dieser kompakten Vers-Sinfonie.

So viel ich weiß, war es das erste Mal, dass in einem Gedicht reale Vogelstimmen Verwendung fanden, in der Lautschrift der Ornithologen. Auch das "Twit twit twit" und "Jug jug jug jug jug jug" sind Teil dieser komplexen Wort-Partitur. Sie lässt sich auf vielerlei Weise lesen und neu zusammenfügen: als kaputte Ballade, Textpuzzle und Bilderrätsel, lyrisches Evangelium oder objektives Korrelat der Seele eines modernen Allerweltsmenschen. Man kann sie wie der Autor als Anwendung seiner mythischen Methode verstehen (ein Mittel, die zeitgenössische Welt semantisch unter Kontrolle zu bringen). Man kann in ihr aber auch das Gegen-Manifest sehen zu jener Dada-Revolution totaler Skepsis und Anarchie, die damals als konsequenteste Kunstaussage geblieben war. Alles klar?

Hierzulande war das Poem, in stetiger Nachauflage, bislang in zwei Übersetzungsvarianten erhältlich. Eine erste Fassung, schwungvoll und philologisch fundiert, erstellte 1927 bereits der Romanist Ernst Robert Curtius. Er war es, der im deutschen Sprachraum als Erster auf Eliot aufmerksam machte. Curtius, ein erklärter Europäer, im Elsass geboren, sah in Eliots Dichtung den französischen und italienischen Hintergrund, die Versspur Dantes, Baudelaires, Verlaines und die Motivwelt eines gewissen Laforgue, der bis heute nur ein Name unter Eingeweihten ist – für den jungen Eliot das entscheidende Bildungserlebnis. Curtius’ Übertragung Das Wüste Land hat als Pioniertat ihre Gültigkeit, als Orientierungshilfe war sie lange Zeit unverzichtbar.

Handwerklich sauber, frei von Manierismen, entstanden aus früher Begeisterung, das Liebhaberstück eines Literaturwissenschaftlers, dem das Goethe-Deutsch noch vertraut war, der aber auch die mot juste-Poetik eines Flaubert kannte und bei Joyce das Wort als Suggestionsmittel in seiner Klangmagie kennengelernt hatte. Eliots historisierender Wortgebrauch sprach ihm, der mit Goethe sich über 3000 Jahre Literaturtradition Rechenschaft geben wollte, aus dem Herzen. Die mythologische Gelehrsamkeit kam ihm entgegen, der Alexandrinismus des mit allen Wassern gewaschenen Modernisten. Er hatte sein Vergnügen an den lässig hingeworfenen Allegorien, an der nervösen Metaphernsucht, den Spaziergängen durch das kollektive Unbewusste der Epoche. "Die Abfälle werden von dieser Poesie nicht eliminiert, sondern galvanisiert. Sie symbolisieren die schalen Rückstände verbrauchter Zeit", schrieb er mit der klammheimlichen Freude des mitwissenden Provokateurs.

Die zweite Übersetzung stammt aus der Feder von Eva Hesse, die den meisten besser bekannt sein dürfte als Ständige Vertretung Ezra Pounds in Deutschland. Wahrscheinlich waren es die Hebammendienste ihres Meisters, die das Interesse geweckt hatten. Von einem Sinn für "die Rhythmen und den Wechsel der Rhythmen", wie er Curtius beflügelte, ist bei ihr wenig zu spüren. Auffällig sind die verwegenen Archaisierungen, mit denen sie Eliots Ausflügen ins Altenglische beizukommen versuchte. Wer ihre Cantos-Übersetzungen kennt, wird den hausbackenen Gebrauch des Verfremdungseffekts wiedererkennen. Streckenweise liest sich das Das Öde Land wie der Versuch einer Amateurarchäologin, den Scherbenhaufen einer unbekannten Kultur in eine halbwegs museale Ordnung zu bringen.

So sprach vieles dafür, das Waste Land dreißig Jahre später, mit der Unbefangenheit einer neuen Generation, ein weiteres Mal anzupacken. Norbert Hummelt, gelernter Anglist, aber, was hier mehr ins Gewicht fällt, selbst Dichter mit langer Erfahrung, machte als Dritter sich an die Arbeit. Sein Wahlspruch, im Nachwort furchtlos verkündet, lautet: "Übersetzen ist die intensivste Form des Lesens." Wir leben im Zeitalter der Remakes und Retrospektiven, warum also sollte einer sich nicht an das berühmteste Langgedicht des 20. Jahrhunderts wagen – to make it new, wie Ezra Pound, der futuristischste unter den Traditionalisten, es vom modernen Dichter verlangte? Natürlich weiß Hummelt um das Grundproblem jeder literarischen Übersetzung. Traduttore-traditore, wie das abgegriffene italienische Wortspiel lautet: Übersetzer–Verräter.

Vermutlich kennt er auch Robert Frosts hartes, sehr puritanisches Diktum: Das erste Opfer beim Übersetzen von Poesie sei meistens die Poesie selbst. Ist Übersetzen also nicht streng genommen unmöglich, wie Ortega y Gasset behauptete? Fest steht, es gibt keine absolute Übereinstimmung im Denken, Sprechen und Fantasieren zwischen der einen und der anderen Sprache, erst recht nicht, wo es sich um ihre höchstentwickelte Ausdrucksform, die Dichtung, handelt. Hierzu hat, radikal wie immer, Vladimir Nabokov sich in aller Deutlichkeit geäußert. In seinem Gedicht Vom Übersetzen des Eugen Onegin, Bekenntnis seiner Sünde, Puschkins Meisterwerk ausgerechnet in ein Fantasie-Kalifornisch transponiert zu haben, heißt es in übertriebener Reue: "What is translation? On a platter / A poet’s pale and glaring head, / A parrot’s screech, a monkey’s chatter, / And profanation of the dead." (Zu Deutsch etwa: "Und Übersetzung? Was ist’s andres / Als auf dem blassen, blanken Dichterhaupt / Ein Papageienkreischen, äffisches Geplapper, / Das noch dem Toten seine Würde raubt.")

All diese Einwände waren Hummelt bekannt, lange bevor er sich ans Werk machte. Man kann sagen, zum Glück für uns und für die Muttersprache, dieses wandlungslustige, launische Wesen. Noch einmal nötigt er uns, ein fremdes Meisterwerk, das längst abgehakt war, en detail zu betrachten, mit dem plötzlichen Kennerblick des Leserbriefschreibers. Er lockt den Beckmesser aus seiner Deckung, bringt den Haarspalter in Wallung. Einer von diesen Burschen hat noch in jedem Kritiker gesteckt.

Nehmen wir nur die Sexszene zwischen dem Schreibmaschinenfräulein und dem kleinen Agenturmitarbeiter, das Kernstück des Poems, wie Eliot einmal unvorsichtigerweise zugab. Der Seher Teiresias begegnet uns da, jene Mythenfigur, die für die erotische Erfahrung beider Geschlechter steht, weil sie, im griechischen Metamorphosenreigen einzigartig, nacheinander Mann und Frau gewesen ist. Aus ihrer Perspektive wird der trostlose Vorgang berichtet, der Vers bekommt eine erzählerische Note, von fern klingt ein Balladenton an. Hummelt aktualisiert hier am stärksten. Die blaue Stunde wird bei ihm zum schnellen Geschlechtsakt einer Londoner "Tippse" mit ihrem billigen "Akne-Prinzen". Heißt es von ihr in den Augenblicken vorher: "Gewagt, wie auf dem Fensterbrett / Im letzten Sonnenlicht sie ihre Bodys trocknet", so wird nach kurzem Gerangel ("Sein Grapschen stößt auf keine Gegenwehr") die Sache im Original von ihr damit besiegelt, dass sie ihr Grammofon anwirft.

Auch Hummelt betont das Mechanische, holt aber die Frau post coitum in eine Fastgegenwart, wenn er nachdichtet: "Und legt noch einmal die Cassette ein". Und siehe da, der Jambus ist bis in die Achtziger vorangetrottet, im Disco-Zeitalter angekommen. Dann aber folgt eine Kühnheit, die eine ganze Dimension zum Verschwinden bringt. Eliots Dichtung beruht auf einer Echolotung quer durch die europäische Poesie, sie ist ein Anspielungssystem, in dem die Geschichte des englischen Verses gleichsam mitvibriert, wie in Hegels Phänomenologie die des abendländischen Geistes. Eines der wiederkehrenden Motive des Waste Land ist das der verlorenen Unschuld. Blanker Sarkasmus blitzt auf, wenn Eliot den Fall der Typistin mit einer Liedzeile von Oliver Goldsmith aus dem Vikar von Wakefield beschließt, einem der europäischen Erfolgsromane des 18. Jahrhunderts: "When lovely woman stoops to folly…". Der junge Goethe mochte das Liedchen im Ohr gehabt haben, als er, geschwind zu Pferde, unterwegs war zu seinen verliebten Treffen mit der Pfarrerstochter Friederike Brion. Es ist ein trauriges, ein moralisches Lied, im Kern enthält es schon den halben Werther und das ganze Gretchen. Hummelt verpasst ihm eine Drehung in Richtung Hollywood: "Wenn Pretty Woman sich getäuscht hat". Aus dem Jahrhunderte währenden Drama der Frau ist romantische Komödie geworden, ein Registerwechsel, der nicht ohne Verluste abgeht.

Tom Eliot at 10, in 1898. "Very dignified,"
 his mother wrote, but "a most friendly boy."
Es gibt noch mehr Brüche und Übersprünge, und da sie gewollt sind, mag man in ihnen die Handschrift des Übersetzers erkennen, Einfallsreichtum und Frische eines lebendigen Menschen. Vom Fragmentcharakter des großen Opus hat Literaturtheorie viel Aufhebens gemacht, von seiner Faktur aus zerbrochenen Bildern, zerrissenen Klängen. Hier wird Hummelt oft spielerisch. So paraphrasiert er die Schlagerzeile aus dem zweiten Teil ("O o o o that Shakespeherian Rag"), sehr gedehnt vorzutragen als Chorus, mit einem popmusikalischen Tagesausdruck: "No No No No Shakespeare hat den Groove". Der Anklang an Hamlet entfällt. Seine letzte Äußerung im Stück ist bekanntlich: "The rest is silence". In der ersten Ausgabe nach Shakespeares Tod folgt dem aber noch ein vierfaches O, in späteren Editionen als Scherz eines Setzers getilgt. Eliot weiß, warum er den Schmerzenslaut des sterbenden Hamlet hier einfügt. Und Hummelt weiß um den Doppelsinn der Zeile, nämlich Zitatfetzen und Ohrwurm im Stil des Ragtime zu sein, und zieht ihm die Aktualisierung vor. Aus Eliots Bekenntnis zur Collage nimmt Hummelt sich die Freiheit zur Neukombination. Eines der letzten Worte lautet denn auch herausfordernd: "Warum auch nicht, paßt schon".

Hummelt hat manches gewagt, insgesamt aber sich wohltuend zurückgenommen. Seine Neufassung ist ein Musterstück mimetischer Übersetzungskunst, sein Vers hält sich strenger an den Duktus des Originals und folgt ihm dabei doch unauffälliger als der seiner Vorgänger. Hummelt agiert übersetzerisch wie der ideale Beschatter, ein geschmeidiger Scotland-Yard-Agent, der dem Poem auf den Fersen bleibt auf seinem Gang durch das London der Zwischenkriegszeit. "Glitt hügelan und abwärts zur King William Street", heißt es einmal, und genauso geschmeidig gleitet auch sein Vers dahin, ein Fußgänger, der hier und da innehält und meditierend in den Abgrund der Zeiten starrt.

"From such chaotic misch-masch potpourri
What are we to expect but poetry?
When restless nights distract her brain from sleep
She may as well write poetry, as count sheep."

Aus solchem Chaos, Mischmasch-Potpourri,
Was sonst erwartet uns als Poesie?
Wird nachts ihr Hirn mit Schlafentzug gequält,
Bleibt ihr nur Verseschreiben oder Schafezählen.

Quelle: Durs Grünbein: Aus „Die Zeit“, Nr. 42/2008 vom 9. Oktober 2008

Die Schlacht am Bergisel, Anno Neun, 1969

TRACKLIST

T. S. Eliot: Poems


CD 1:

The Waste Land und Other Poems [60:13]

Gelesen von T.S. Eliot

01. La Figlia Che Piange [01:40]
02. The Love Song of J. Alfred Prufrock [07:57]
03. Gerontion [04:22]
04. Sweeney Among the Nightingales [01:52]
05. The Waste Land [25:20]
06. The Hollow Men [03:57]
07. The Journey of the Magi [02:35]
08. Ash-Wednesday [12:28]

Aufnahmen:

06 Aufnahme: Sanders Theatre, Harvard University, Produktion: Woodberry
Poetry Room, Harvard University
01-05, 07-08 National Gallery of Art, Washington D.C., 23. Mai 1947


CD 2

Das Öde Land und weitere Gedichte [62:30]

01. La Figlia Che Piange [02:15]
Aus dem Englischen von Alexander Schmitz
gelesen von Gert Heidenreich
02. J. Alfred Prufrocks Liebesgesang [07:47]
Aus dem Englischen von Klaus Günther Just
gelesen von Hanns Zischler
03. Gerontion [05:53]
Aus dem Englischen von Eva Hesse,
gelesen von Hans Magnus Enzensberger
04. Sweeney unter den Nachtigallen [01:53]
Aus dem Englischen von Hans Hennecke,
gelesen von Stefan Hunstein
05. Das öde Land [24:19]
Aus dem Englischen von Norbert Hummelt
gelesen von Hanns Zischler
06. Die hohlen Männer [04:20]
Aus dem Englischen von Hans Magnus Enzensberger
gelesen vom Ubersetzer
07. Die Reise aus dem Morgenland [03:02]
Aus dem Englischen von Eva Hesse,
gelesen von Gert Heidenreich
08. Aschermittwoch [12:58]
Aus dem Englischen von Rudolf Alexander Schröder
gelesen von Stefan Hunstein

(C)+(P) 2013


Die unerträgliche Leichtigkeit des Zeichnens


Die Kunst Paul Floras

Ein österreichischer Polizeispitzel belauscht die Unterhaltung einiger
Carbonari auf der Piazza, 1984
Zeichnen ist leicht, sagen die Zeichnungen von Paul Flora. Zeichnen ist die leichteste Sache der Welt.

Aber sagen sie die Wahrheit? Ist es wirklich so mit dem Zeichnen bestellt?

Ja, die Zeichnungen haben schon recht. Aber ein paar Dinge müssen zusammenstimmen, damit Zeichnen so leicht wird.

Da ist einmal der Ort, an dem der Zeichner arbeitet. Er muß ein wenig abgelegen sein, ohne gleich entrückt zu wirken. Er muß Distanz verschaffen zur Hektik der Stadt und darf doch nicht weltfern sein. Er muß Überblick gewähren ohne jeden Anflug von Erhabenheit. Da ist auch die richtige Höhenlage wichtig, wie sie etwa die Hungerburg bei Innsbruck besitzt, eine Umsteigestelle zwischen den beiden Seilbahnsystemen, die das ebene Land mit den bedrohlichen Felsmassiven und zerklüfteten Schluchten der Bergregion verbinden, eine Zwischenstation zwischen den Niederungen des Inntales und der Gewalt der Hochalpen, von der man die Welt immer ein bißchen von oben herab betrachten kann, ohne daß einem die Übermacht des Gebirges ringsum den Horizont verstellt.

Natürlich ist auch der Arbeitsplatz selbst von Bedeutung. Am besten geeignet erscheint die ausgebaute, nach frisch geschnittenem Holz duftende Dachkammer einer alten, etwas abgewohnten Villa, deren Fenster über dem Arbeitstisch so hoch angebracht ist, daß man nicht hinausschauen kann, wenigstens nicht solange man sitzt und arbeitet.

Wagner nächtlich in Venedig, 1980
Wen es zum Zeichnen drängt, der hat immer schon genug gesehen. Und der Blick des Künstlers muß bekanntlich nach innen gerichtet sein, zumindest in jener entscheidenden Zwischenphase zwischen ausgedehnter Weltbeobachtung und angestrengter Fixierung des Zeichenblattes, auf dem man die Welt — oder einen besonderen Ausschnitt derselben — später wiederfinden möchte. Da darf es keine Ablenkung und keine Unterbrechung geben, weder durch einen Fensterausblick noch durch das Klingeln des Telefons, von dem man an keiner Stelle des Hauses so wenig vernimmt wie in besagter Dachkammer. Die Welt bleibt auch so nah genug. Dann kommt es auf das richtige Handwerkszeug an — die bestimmte Papierqualität, die man immer aus der gleichen Quelle bezieht, desgleichen die Qualität der Stahlfeder, der Tusche, der Bleistifte, die stets fein gespitzt zur Hand sein müssen.

Ist das alles in ausreichender Quantität vorbereitet, bedarf es keiner weiteren Stimulantien — Tee, Kaffee sind zwar unbedenklich, aber nicht unbedingt nötig, von Alkohol, wie dem in Tirol bis in die letzten Alpentäler verbreiteten Obstler, und Drogen, wie dem in Tirol dagegen weniger bekannten Kokain, ist eher abzuraten. Aber man sollte gut ausgeruht sein, wenn man ans Zeichnen geht, und Zeit haben, unerschöpflich viel Zeit. Es darf nicht eilen. Und doch sollte man jene leichte Unruhe verspüren, die einen zur Arbeit drängt, und die alles an einem erfaßt außer der Hand — die darf so wenig zittern wie die des Chirurgen, der das Skalpell führt.

Die Raben von San Marco, 1989
Dann kann es losgehen, man kann anfangen. Will man gerade ein Nachtstück aus den Alpen zeichnen, den Weg eines Schmugglers über den verschneiten Bergpaß im verräterischen Licht des Vollmonds, oder ein venezianisches Notturno zur Zeit des großen Carnevale, dann ist der Vormittag die richtige Zeit und gewiß der nächtlichen Stunde vorzuziehen. Es ist der hellichte Morgen, nach einem ersten leichten erfrischenden Frühstück, der den Strich und die Sinne des Zeichners am nachhaltigsten schärft und ihn so das Dunkel der Nacht und das Dunkel der Geschichte, in das zu tauchen stets ein verführerisches Kribbeln und Prickeln hervorruft, am wirkungsvollsten beschwören läßt.

Und dann hängt natürlich alles von der Wahl der Sujets ab. Ohne das richtige Sujet ist der Zeichner verloren. Er braucht das eigene, zu ihm, seinem Temperament, seinen Träumen, seinen Erfahrungen, seinen Stimmungen passende Sujet. Sujets, Motive, Gegenstände sind eine grundsätzliche Sache für den Zeichner, wenn er sich nicht zu dem Entschluß durchgerungen hat, vollkommen gegenstandslos zu arbeiten (wozu wohl die Hungerburg bei Innsbruck nicht unbedingt der richtige Ort wäre).

Dieser Wahl des Sujets muß die Entscheidung vorangehen, was alles man nicht zeichnen will. Da man nicht alles zeichnen kann, zumindest nicht alles zugleich, ist es die Beschränkung, die den Meister macht. Zwar wird der Zeichner immer bestrebt sein, sein Repertoire zu erweitern, aber er wird dieses Streben in Maßen halten und nicht ins Grenzenlose ausschweifen lassen. Dabei wird der Zeichner nicht nur an sein Talent, sondern auch an sein Publikum denken. Die Beschränkung auf eine bestimmte Skala von Themen, die Wahl fast immer der gleichen oder doch hinlänglich ähnlicher oder „verwandter" Motive schärft den Blick des Betrachters für ihre Feinheiten und ihre Verwandlungen, ihre Metamorphosen und Nuancen, und läßt ihn so etwas wie Abwechslung, Vielfalt und Reichtum im Werk des Zeichners überhaupt erst wahrnehmen. Erst wenn der Betrachter Eigenart und Stil des Künstlers, seine Obsessionen und die Weise ihrer Instrumentierung erkannt hat, wird er die Breite seines Spektrums honorieren. Das gilt übrigens für alle Künstler, nicht nur für Zeichner, für Marini genauso wie für Matisse, für Morandi ebenso wie für Steinberg oder Picasso.

Literarische Landschaft mit ernster Muse, 1984
Hier, als erste Anleitung, eine kurze Aufstellung von Sujets und Gegenständen, die sich besonders dazu eignen, mit zeichnerischen Mitteln dargestellt zu werden:

— die füllige Tiroler Blasmusik und die verwurzelten Tiroler der Freiheitskriege mit ihren knorrigen, verwitterten und ausgefransten Konturen

— Masken und Vogelscheuchen, Hüte und Federbüsche, Musik- und andere Marterinstrumente

— Raben und Katzen, Ratten und Mäuse, Vampire und Fledermäuse, mit und ohne Ruinen

— Baumalleen im Winter, mit und ohne davoneilenden Mörder

— alte und einsame Häuser, Brücken bei Nacht und in Nebel und Regen

— Architekturen am Canal Grande und Arkaden an der Piazza San Marco

— Wagner, nächtlich in Venedig wandelnd, Napoleon auf dem Balkon des Dogenpalastes oder von Tirolern umringt

— Dracula im Schnee, nach warmem Blut dürstend

— Schatten und Gespenster, die Gespinste aus Schatten sind

— das Gitter der Vogelkäfige, die Speichen der Hochräder und die Streu auf einem Bauernwagen, weil sie die Gelegenheit bieten, jeden einzelnen Strich, mit dem sie aufs Zeichenblatt gebannt sind, gesondert zur Geltung zu bringen

Bonaparte, 1987
— Uniformen nur dann, wenn sie ihrem Namen widersprechen und keinesfalls einförmig wirken und mit Orden und Schärpen ausgestattet werden können, wie die Husaren-, Dragoner- und Kürassieruniformen im alten Osterreich, in dem der Sinn fürs Dekorative überhaupt auffällig entwickelt war.

Hat man einmal die Liste der wiederkehrenden Motive fixiert — also jener, die man nie müde wird — und damit die Grenzen des eigenen Territoriums abgesteckt, so bleibt nur noch die Frage des „Wie” zu klären.

Aber auch das kann, so sagen die Zeichnungen, mit denen wir uns hier beschäftigen, kein Problem bedeuten. Das „Wie“ ergibt sich, hat man sich einmal entschlossen, sein Leben ganz der Zeichnung zu widmen, wie von selbst, wenn freilich auch nur Schritt für Schritt, wobei „probieren” über „studieren” geht und man ohne weiteres Autodidakt bleiben darf, wie beispielsweise die Biographie des Paul Flora aus Innsbruck beweist. Weiß man einmal, was man zeichnen will, so ahnt man auch, wie es aussehen soll und mit welchen Mitteln man sich diesem geahnten Aussehen nähern muß, um es unversehrt zu Papier zu bringen. Man kann beginnen, Strich neben Strich zu setzen, zart, geduldig, gleichmäßig, die Striche sollen parallel laufen und einander gleichen wie die Holzscheite in einem Holzstoß oder die Bäume im Wald oder die Menschen im Menschengewimmel auf dem Markt ...

Edgar Allan Poe, 1994
Also beginne man ohne zu zögern und doch vorsichtig die zartesten Striche, die man denken kann, mit der härtesten Feder, die sich finden läßt, aufs Zeichenblatt zu setzen, und mag auch der erste Strich noch ein wenig Anstrengung bedeuten, schon der dritte ist der reinste Genuß. Und dann lege man, sparsam und stellenweise, damit die Effekte sich nicht abnutzen, über diese erste Schicht von Schraffuren, quer oder nur ein wenig schräg gestellt, eine zweite, ebenso dichte, und unter der Hand entsteht ein filigranes Gewebe, die sogenannte Kreuzschraffur, die Welt verfangt sich darin wie in den Fäden eines Spinnwebnetzes oder erscheint wie durch einen Witwenschleier gesehen. Schon hat man Licht und Schatten, und je nach dem, ob man einen Hauch fester aufgedrückt hat oder man die Striche ein wenig enger aneinanderstellt oder um einen Gedanken weiter auseinander rückt, helleres Licht und tiefere Finsternis, oder erlöschendes Licht und milde Dämmerung, und Licht und Finsternis sind, wie wir wissen, die Voraussetzung von allem, sie stehen am Anfang, jetzt können sich schön der Reihe nach die Dinge zeigen, zuerst Wasser und Land (bevorzugt die venezianischen Kanäle und die Konturen der Alpen), Vegetation kann sprießen, Tiere können auftreten, und schließlich darf der Mensch erscheinen, bald auch in seiner bisher höchsten Entwicklungsstufe, als homo sapiens tyrolensis.

Verhält es sich so? Ist es so einfach mit der Darstellung der Welt? Ist es so leicht zu zeichnen?

Fahles Pferd und fahler Reiter, 1985
Gewiß doch, ja, natürlich. Aber ein ganz klein wenig haben wir gemogelt und einen Schritt ausgelassen, eine Unterscheidung noch nicht getroffen. Es gibt nämlich zwei Arten von Strichen — obwohl sie stets gemeinsam und ineinander verschlungen auftreten und voneinander auch unter der Lupe nicht zu unterscheiden sind. Die einen sind unrein, die anderen rein. Die einen beschreiben, die anderen sind dieser Pflicht enthoben. Die einen suggerieren Wirklichkeit, die anderen sind Selbstzweck. Die einen dienen dem Orientierungsbedürfnis des Betrachters, die anderen dem Kunstcharakter der Zeichnung. Von den einen, den beschreibenden, aus gesehen, sind die anderen bloß reine Dekoration. Aus der Perspektive der anderen Art von Strichen aber, von den „reinen” also, ist alles das, was die beschreibenden hervorbringen, sind alle Gegenstände, alle Motive nichts anderes als Unregelmäßigkeiten in einem filigranen Gewebe, Risse in der Ordnung des Spinnennetzes, Webfehler der Natur.

So streiten die Striche miteinander, setzen Behauptung gegen Behauptung, und aus diesem Widerstreit erwächst die Zeichnung. Der Zeichner achte darauf, daß der Streit nie zu einem Ende kommt, daß er niemals entschieden wird. Für jedes einzelne Blatt gilt es, die richtige Balance zu finden. Die beiden Gruppen von Strichen müssen — obwohl niemals in gleicher Zahl vertreten — einander die Waage und gemeinsam ihren Gegenstand, das Sujet, in Schwebe halten. Durch die Frage, was denn nun zuerst komme, der Gegenstand oder der Strich, der ihm zuleibe rückt, das Sujet oder der Stil, lasse sich der Zeichner nicht irritieren. Im Grunde ist sie belanglos. Mit ihr verhält es sich so wie mit der Geschichte von der Henne und von dem Ei, die keinen Anfang und kein Ende hat, je mehr man darüber grübelt, desto mehr verwirrt sich die Sache.

Ein Jäger und neun Raben, 1996
Vielleicht paßt sie wirklich am besten in der Reihenfolge, wie wir es hier geschildert haben. Erst findet der Zeichner das ihm eigene Sujet, dann beginnt er, seinen Stil zu entwickeln, der verfeinert die Sicht auf das Sujet, das treibt wieder den Stil voran, und so geht es im Wechselschritt weiter, bis wir uns das einmal gewählte Sujet gar nicht mehr anders vorzustellen vermögen als in der spezifischen Sicht des Zeichners. Erst kommt das Motiv, dann erscheint der Strich. So wie der Herrscher als letzter den Thronsaal betritt, wenn alle anderen Würdenträger und alle Diener versammelt sind. Auf ihn hin, durch seine Präsenz, ordnen sich alle Anwesenden. Er weist sie auf ihre Plätze. Er faßt sie zusammen. Erst sein Erscheinen macht aus der Versammlung ein Ganzes.

Vielleicht klingt das alles jetzt doch schon wieder etwas zu schwierig. Es empfiehlt sich, unnötige Komplikationen zu meiden. Vereinfachen ist das oberste Gebot beim Zeichnen. Erst wenn man es beherzigen gelernt hat kann man sich allmählich Ab- und Ausschweifungen erlauben.

Der Zeichner muß ökonomisch vorgehen. Die Sparsamkeit der Mittel kommt allemal dem Gegenstand zugute, und die Konzentration auf eine begrenzte Zahl von Motiven unterstützt die Ausbildung des Stils.

Silser See, Winter, 1995
Was allgemein für die Kunst der Zeichnung gilt, hat analog auch Gültigkeit für das einzelne Blatt. Der Beschränkung auf wenige Sujets im Ganzen des Œuvres entspricht die Wiederholung der Gegenstände — und Figuren — in der konkreten Arbeit. Drei Tiroler zusammen sind schöner als einer allein, vorausgesetzt, sie sehen alle annähernd gleich aus, zwei — oder vier — Hochradfahrer nebeneinander übertreffen die Erscheinung eines einzelnen, und so verhält es sich mit allem, von den Raben auf den Wiesen bei Glurns über die Eulen, die man aus den Alpen nach Athen zu tragen hat, bis hin zum Nebeneinander der Säulen und der Abfolge der Arkaden, die nur gemeinschaftlich die Architektur hevorbringen. Erst die Versammlung des Gleichartigen macht es wirklich schön, erst die Wiederholung verleiht ihm Dauer.

Für Friedrich Nietzsche bedeutete die ewige Wiederkehr des Gleichen höchste Lust, für Paul Flora ist die Wiederholung eines Vorwurfs nicht nur Lust, sondern auch ein beispielhaft demonstriertes Stilmittel, aus dem sich lernen läßt. Gleichartige Elemente erzeugen ein Muster oder einen Rapport — sind sie kleinteilig, kann man auch von Struktur sprechen. Hat sich das Auge einmal an diese Struktur gewöhnt, dann ist jede Unterbrechung, jedes Ausbleiben der Wiederholung, jede Ausnahme von der Regel auch rein graphisch eine Pointe. Eine Zeichnung darf freilich — auch hier gilt das Gebot von der Sparsamkeit — nicht zu viele Pointen haben, sonst wird sie vom Betrachter nicht mehr als Kunst wahrgenommen.

November, 1975
Zeichnen ist leicht, sagen die Zeichnungen von Paul Flora. Freilich, es muß alles zusammenstimmen: Sujet, Stil, Weltsicht. Ohne Sujet kann man nicht anfangen, ohne Stil kommt man nicht zu Rande. Und es ist schließlich die Weltsicht, die alles ins Lot bringt. Eine Weltsicht, der die Erinnerung an Vergangenes geradesoviel — wenn nicht mehr — bedeutet als die Anschauung der Gegenwart, die jede Einzelheit liebevoll umfaßt, aber an ihrer Summe zweifelt, und die alles Pompöse, Großspurige, Anspruchsvolle nicht allzu ernst nimmt. Je bescheidener die Dinge erscheinen, desto mehr rühren sie uns an. Je gewichtiger sie auftreten, desto fragwürdiger werden sie, desto mehr zwingen sie uns, über sie zu lächeln.

Zeichnen ist leicht, sagen die Zeichnungen von Paul Flora. Aber erst wenn man die eigenen Sujets, den eigenen Strich, die eigene Weltsicht gefunden hat, kann es wirklich gelingen. Ist man jedoch einmal so weit gerüstet, dann springen einem — wenn man denn gerade zur Abwechslung wieder wilde Tiroler zeichnen will — diese „bewehrten” Krieger samt Keulen und Spießen wie von selbst aufs Zeichenblatt, und man braucht — wie in der frommen Legende der byzantinische lkonenmaler das Bild des Heiligen — kaum etwas dazu zu tun, um ihren Abdruck fest- zuhalten.

Zeichnen ist wahrhaft eine leichte Sache. Aber dabei hilft es natürlich ungemein, wenn man Paul Flora heißt und in der Florastraße in Glurns im Südtiroler Vinschgau geboren wurde.

So ist es. Doch wer heißt schon Flora und stammt aus Glurns?

Winterlandschaft mit Vogelschwarm, 1996

Quelle: Wieland Schmied: Die unerträgliche Leichtigkeit des Zeichnens. In: Floras Fauna. Eine Retrospektive. Bayerische Akademie der Schönen Künste. Ohne Jahr (zirka 2000)


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Walter Braunfels: Streichquartette 1 & 2

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Der aus Frankfurt a.M. stammende Walter Braunfels (1882-1954) reüssierte als Pianist und Komponist. Der künstlerische Durchbruch als Komponist gelang ihm 1920 mit der Uraufführung zweier seiner Werke: den Variationen für großes Orchester, den Phantastische Erscheinungen eines Themas von Hector Berlioz (op. 25), und der Oper Die Vögel (op. 30). Die spritzige Geistigkeit, der starke Formwille und die virtuose Orchestrierung der Berlioz-Variationen und die »lyrisch—phantastische« Vision der Oper eröffneten ihm eine Karriere als eines der meistgespielten Komponisten der Münchener Schule. Bruno Walter nannte Die Vögel nach der Dichtung des Aristophanes die „interessanteste Novität [seiner] Münchener Arbeitsperiode.“ Der spätromantische Kompositionsstil dieser mittleren Schaffensperiode war geprägt von der ethisch-ästhetischen Orientierung und Klanggebung Beethovens, Liszts und Berlioz’. Gleichermaßen umjubelt wurde später die — fast an Bruckner gemahnende - ekstatisch-barocke Expressivität und Klangpracht der geistlichen Chorwerke Te Deum (op. 32) und Große Messe (op. 37), die 1922 bzw. 1927 unter Hermann Abendroth in Köln zur Uraufführung gelangten.

Dor tragische Abbruch dieser Künstler-Karriere ereignete sich nach der Machtergreifung Hitlers: Als Halbjude wurde Braunfels 1933 aller seiner Ämter enthoben; 1938 folgte der Entzug des »Rechts zur öffentlichen musikalischen Betätigung«, was einem absoluten Aufführungsverbot gleichkam. Während dieser Jahre der unfreiwilligen »inneren Emigration« wandelten sich Ausdrucksstil und Mitteilungsqualität seines kompositorischen Schaffens. Es scheint, als habe die gesellschaftliche Isolation auch die Absage an einen publikumswirksamen Kompositions- und Besetzungsstil erzwungen. In der Zeit von 1933-1945 entstehen seine reifsten Werke; man spürt eine ungeheure Verdichtung und Verinnerlichung der musikalischen Sprache.

Besonders zu erwähnen sind der Kantatenzyklus für das Kirchenjahr (op. 45, 52, 54 und 56), eine Kammermusikfolge von drei Streichquartetten und einem Streichquintett (op. 60, 61, 67 und 63) und vor allern die drei Bühnenwerke: erstens die Verkündigung nach dem geistlichen Spiel von Paul Claudel (op. 50), zweitens Der Traum ein Leben nach der Dichtung Grillparzers (op. 51) und drittens Die heilige Johanna (op. 57). Dabei wird die 1935 vollendete Heiligenoper Verkündigung, die aufgrund des Aufführungsverbotes erst 1948 zur Uraufführung gelangen konnte, zum Gleichnis für sein späteres Schaffen: War er den Nationalsozialisten »nicht artrein« genug, so war er »den Juden zu katholisch, den Emigranten zu national, den Katholiken ein manchmal unbequemer Feuergeist. Dieser Passion des Menschen entsprach die Passion des Künstlers« (Gilbert Schuchter).

Walter Braunfels, 1946
Dieses Urteil eines seiner Schüler vermag auch erklären zu helfen, warum nach 1945 keine echte Rehabilitierung des Künstlers Braunfels möglich war, — dies trotz der Wiedereinsetzung in das Amt des Direktors der neu aufzubauenden Kölner Musikhochschule. Letztlich war es die traditionsverbundene musikalische Sprache der neudeutschen Romantik, welche eine adäquate Rezeption nach 1945 blockierte. Das Verdikt der Unzeitgemäßheit traf schließlich auch das Werk eines Kaminski, Pfitzner, Waltershausen, Weismann und anderer. Erst heute, 50 Jahre danach, scheint die Zeit reif für eine künstlerische Rehabilitierung des Komponisten Walter Braunfels, der vielleicht kein epochemachendes Genie, aber ein hochbegabter, redlicher und instinktsicherer Musiker des 20. Jahrhunderts gewesen ist.

Während der Ära der Isolation im abgeschiedenen Überlingen am Bodensee entdeckt Braunfels das Genre der Kammermusik. Es entstehen die Variationen über ein altfranzösisches Kinderlied für zwei Klaviere (op. 46), die drei Streichquartette und das Streichquintett; sie wirken wie eine Befreiung des schöpferischen Menschen zu sich selbst. Fern dem alltäglichen Streß des Hochschullebens, dem Druck repräsentativer Verpflichtungen, erlebt der Künstler einen unerwarteten Aufschwung, findet zu seinem eigentlichen persönlichen Stil. Als 60jähriger schreibt Braunfels seine ersten beiden Quartette (1944); in kurzem Zeitabstand folgen das Streichquintett in fis-Moll (1944/45) und das letzte Quartett in e-moll (1946/47).

Die Streichquartette Nr. 1 & 2 (op. 60 und 61)

Die späte Liebe zur Streichmusik spiegelt einen kompositorischen Willen zu überschaubarer Form und klarer Faktur; die lebenslange Auseinandersetzung mit Beethoven hat auch hier Spuren hinterlassen. Die »dichte Polyphonie mit einer tonal ausgeweiteten Harmonik« (Frithjof Haas), die Transparenz der Stimmführung und die komplementärrhythmische Gestaltung offenbaren eine gewisse Verwandtschaft zu den Streichquartetten Béla Bartóks; diese beruht meines Wissens jedoch weniger auf persönlicher Kenntnis des Bartókschen Schaffens, als vielmehr auf der grundsätzlichen Adäquanz oben genannter Schaffensprinzipien.

Walter Braunfels
1. Streichquartett in a-Moll (Uraufführung Köln 1946)

Wie bereits erwähnt, entstehen diese beiden Streichquartette im vorletzten Kriegsjahr, also 1944. Während der Arbeit an dem ersten Quartett bekennt Braunfels, daß »nichts herrlicher zu arbeiten [sei als] an einem Quartett […] Ich bin oft ganz aus dem Häuschen vor all diesen Möglichkeiten. Und das in dieser Zeit! Ich bete zwischendurch voll Dankbarkeit über dieses Geschenk und fühle mich so äußerst unwürdig!« (Brief an Hellmut Schnackenburg).

Diese demütige Grundhaltung macht verständlich, warum Braunfels gerade in dem ersten Quartett einen großen Teil seines thematischen Materials der Oper Verkündigung entnommen bzw. weitergebildet hat. Denn hier, in diesem musikalischen Mysterienspiel, das Braunfels als »sein Testament« bezeichnete, spiegelt sich die Lebensanschauung des durch Abgeschiedenheit und Isolation geprüften, des durch Alter und Erfahrung gereiften, gewandelten und verinnerlichten, sich seit 1918 zum katholischen Glauben bekennenden Komponisten. Es half ihm, »Trost zu finden in jener Welt der Ordnung, in der auch das tiefste Leid seinen Sinn dadurch erhält, daß es als Opfer dargebracht wird.« (Braunfels 1947/48).

Die Druckfassung des 1. Quartetts trägt somit zu Recht den Untertitel »Verkündigung«: Während das Hauptthema des 1. Satzes mit dem — die Oper eröffnenden — Trompetenmotiv anhebt, weist der 2. Satz auf das Zwischenspiel des III. Aktes‚ übernehmen der 3. Satz das erste Thema des IV. Aktes und der 4. Satz das erste Thema des I. Aktes. Im 1. Satz in a-Moll, einem Allegro moderato in Sonatenhauptsatzform, dominiert das Prinzip der barocken komplementären Rhythmik, welches die Spieler, meist paarweise, in ein fließendes, abwechslungsreiches Stimmgewebe einbindet. Der langsame 2. Satz ist ein Meisterwerk modern—romantischen Stils. Er erfüllt die dreiteilige geschlossene Liedform‚ deren Mittelteil aufgrund wechseldominantischer »Aufhellung« und bewegterer Stimmführung zum dunkel-schwermütigen A-Teil kontrastiert, aber diesem dennoch motivisch-thematisch verpflichtet ist. Typisch für diesen Stil ist die Verschleierung auf harmonischer Ebene: Die Grundtonart g-Moll wird erst in der zweiten, zur Dominante führenden Periodenhälfte klanglich, und zwar in der liegenden Stimme der 2. Violine evident, - Signum für die harmonische Raffinesse des ganzen Satzes, in welchem funktionsharmonische Prozesse gleichsam »verhüllt«, nur latent beibehalten werden. Dem bewegten 3. Satz in H-Dur, einem Scherzo mit Trio, folgt das Schluß-Allegro traditionsgemöß in der Ausgangstonart.

Premiere der Oper "Die Vögel" von Walter Braunfels
beim Badischen Staatstheater, 23.09.1971
2. Streichquartett in F-Dur (Uraufführung Köln 1946)

Der Komponist selber gibt uns eine kurze Beschreibung: »Im Gegensatz zu dem etwas schwerblütigen Verkündigungsquartett hat es leichteren Charakter. Seine beiden ersten Sätze (Allegro und Allegro molto) sind knapp gefaßt. In dem zweiten (Scherzo) ist der Wechsel der Taktarten bestimmend. Der langsame Satz spinnt sehr einfach gehaltenes thematisches Material etwas breiter weiter. Der technisch schwierige Schlußsatz ist sehr übermütig gehalten«. Dieses 2, Quartett ist tatsächlich »wesentlich durchsichtiger und spielerischer« als das — von der Musikkritik als »sehr grüblerische, streckenweise fast spröde« beurteilte — 1. Quartett; es ist im Ganzen »ein lebensvolles, romantisch-blühendes Werk.«

Der 1. Satz steht traditionsgemäß in der Sonatenhauptsatzform; doch dominiert das erste Thema an charakterlicher Präsenz gegenüber dem zweiten Thema. Eigenwillig sind die choralähnlichen Einschübe nach den periodischen Teilen des Hauptthemas, welche, funktional harmonische Übergänge herstellend, dessen aggressiv-drängenden Gestus gleichsam »neutralisieren«. Die leicht banale Thematik des Scherzos (2. Satz) wird mittels gewagter Akkordkombinationen und extremen Wechsels der Taktarten raffiniert aufbereitet. Wie im 1. Satz werden auch hier rhythmische Spannungen in fließender Triolenbildung aufgefangen. Im getragenen Trio verunsichern Orgelpunkte des Cellos die »konventionelle« Funktionsharmonik der drei Oberstimmen, dienen aber auch der Vereinheitlichung, wenn man diese Haltetöne als Grund- bzw. Zielton jeder Kadenzfolge versteht. Das Adagio (der 3. Satz) kann man im weitesten Sinne als ein in sich rückläufiges Variationenwerk beschreiben:

A-B(=A’):||C(=A”)-B(=A’)-A.

Die musikalische Substanz speist sich aus der des ersten Sonatenhauptsatzthemas‚ so daß, mit Ausnahme des 4. Satzes, eine Art thematischer Verbundenheit der ersten drei Quartettsätze hergestellt ist. Das abschließende tänzerische Vivace in Rondoform bildet mit seiner an osteuropäischer Folklore orientierten Thematik einen kontrastreichen Gegenpol und fulminanten Abschluß des Quartetts.

Quelle: Ute Jung-Kaiser, im Booklet


TRACKLIST 


Walter Braunfels
(1882-1954)

Streichquartette Nr. 1 & 2

String Quartet No 1 op. 60 in A minor "Verkündigung" 27:48

[1] Allegro moderato 7:29
[2] Langsam 6:11
[3] Bewegt 8:53
[4] Allegro 5:15

String Quartet No 2 op. 61 in F major 31:23

[5] Allegro 10:21
[6] Scherzo, Allegro agitato 6:00
[7] Adagio 10:09
[8] Vivace 4:53

T.T. 59:14
Auryn Quartett:

Matthias Lingenfelder, Violin
Jens Oppermann, Violin
Steuart Eaton, Viola
Andreas Arndt, Violoncello

Recording: 27 - 29 November 1996, Immanuelskirche, Wuppertal
Recording Supervisor: Wolfgang Müller
Recording Engineer: Georg Litzinger
Executive Producers: Burkhard Schmilgun / Bernhard Wallerius

Cover Painting: Max Klinger: "Sommerlandschaft" (1984/85),
Hamburger Kunsthalle
(P) 1998


Kurt Flasch:

Ein neuer Status der Rationalität

Wilhelm von Ockham

Septem artes liberales aus dem "Hortus deliciarum" von Herrad von Landsberg (circa 1180)
Die mittelalterliche Philosophie lernt man verstehen, wenn man die Entwicklung vor Augen hat, die sich zwischen 1080 und 1350 vollzogen hat, also zwischen Anselm von Canterbury und Wilhelm von Ockham (+ um 1349). Man braucht nur wenige Seiten der beiden Autoren vergleichend zu lesen, um zu sehen, wie viel komplizierter die Welt geworden ist. Die Sprache Ockhams ist technisch zugespitzt; Anselm kam mit einem Minimum an Terminologie aus. Anselm war allerdings nicht der naive Beter, als der er heute manchmal dargestellt wird; er beanspruchte, streng rationale Argumente zu geben, die auch einen Ungläubigen überzeugen können sollten; er unterschied klar zwischen Glauben und Wissen, aber er kannte nicht die Konkurrenz der beiden Disziplinen »Philosophie« und »Theologie«. Diese war ein Ergebnis der Entwicklung des 13. Jahrhunderts; Ockham arbeitete an ihr, und zwar indem er mit philosophischen Argumenten die Ansprüche der Philosophie einzugrenzen versuchte. […]

Vergleicht man Ockhams Sentenzenkommentar mit dem Bonaventuras, so fallt schon an Ockhams ausgedehntem Prolog auf, wie sich in diesen 70 Jahren das Schwergewicht verlagert hat. Die Frage, wie wir Gott erkennen können (die Anselm und Bonaventura nicht völlig fremd war) und was menschliche Erkenntnis überhaupt sei, rückt nach 1300 in den Vordergrund. Das »objektive« Zeitalter war zu Ende; die Epoche der Erkenntniskritik und der Wissensanalyse hatte begonnen. Bei Ockham verschlang die Erkenntniskritik noch nicht die Theologie und die Metaphysik. Aber auch diese Möglichkeit war eröffnet, und sie wurde noch vor der Jahrhundermitte realisiert (Nicolaus von Autrecourt).

Die innermittelalterliche Entwicklung von 1080 bis 1320 war nicht nur eine der Theorie. Der Westen hatte seinen ökonomischen Boom; die Stadt- und Geldwirtschaft hatte sich entwickelt; das Problem der Armut hatte die Christenheit erschüttert‚ die mächtigste Ketzerbewegung ausgelöst und die Entstehung der Bettelorden provoziert. Ockham war wie Bonaventura Franziskaner, aber er endete nicht wie Bonaventura als Kardinal, sondern als Gegner des Papstes und als Verteidiger der radikalen Armut.

Der englische Franziskanermönch William of Ockham
auf einem Kirchenfenster in Surrey.
War Anselm noch ohne innere Zerrissenheit der Primas von England, der aus Papsttreue ins Exil ging, hatte Bonaventura die Spannung des Minderbruders und des Kirchenfürsten in sich ausgehalten, so stand Ockham nicht nur außerhalb der kirchlichen Hierarchie; er stand gegen sie. Die staatliche Macht fing jetzt an, ihre eigenen Theoretiker zu haben; der weltliche Staat begann, eine Kultur zu entwickeln, wie sie bisher einzig der Kirche vorbehalten war. Ockham, der bis 1324 ruhig in Oxford und London Philosophie doziert hatte, wurde dann nach Avignon zur Kurie zitiert, sollte auf seinen Prozess warten, floh aber 1328 zusammen mit den Führern des Franziskanerordens aus Avignon und begab sich in den Schutz des Kaisers Ludwig des Bayern. Er arbeitete von 1330 bis zu seinem Tode als politischer Schriftsteller in München. Sein Leben als Denker und Autor zerfiel so in zwei ungleiche Hälften, von denen keine einen Vorzug vor der anderen verdient. Beide sind historisch wichtig und philosophisch relevant. […]

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie, seit etwa 1270 in die Krise geraten, spitzte sich in der Generation nach Duns Scotus zu. Man konnte darauf wie Lull und Eckhart reagieren, also durch eine Reform der Philosophie die Hauptinhalte des Christentums zu den Hauptinhalten der Philosophie erklären. Man konnte aber auch wie Ockham dem Glauben einen rational nicht anfechtbaren Sonderplatz sichern. Auch diese Taktik hatte ihre große Tradition; es hatte schon immer in der Kirche neben der harmonisierenden Vereinnahmung der Philosophie ihre Kritik gegeben. Es wäre also ungeschichtlich gedacht, in Ockham eine unmittelalterliche Denkweise zu sehen: Nicht nur die erweiternde Transformation der Philosophie (wie bei Lull und Eckhart), sondern auch ihre einschränkende Kritik konnte im Dienst der Theologie stehen und philosophisch fruchtbar sein. Ockhams Kritik thematisierte die Eigenart menschlicher Erkenntnis, ohne dass er allein diese Wende vollbracht hätte. Dennoch bedeutet er einen Meilenstein in der Entwicklung der Philosophie von der spekulativen Gotteslehre und Kosmologie zur Analysis und zur Erkenntniskritik, ebenso aber auch zum Bewusstwerden der ethisch-politischen Praxis.

Es ist nicht möglich und nicht nötig, das komplizierte Denken Ockhams auf eine Formel zu bringen. Schlagwörter wie »Nominalismus« oder »Skeptizismus« haben mehr verdeckt als erhellt. Man muss sehen, woran er arbeitete. Ockham forrnulierte einen Rationalitätsstandard […], wie er einer entscheidenden Tendenz der gesamtgeschichtlichen Entwicklung um 1320 entsprach. Im Handwerk wie in der Stadtorganisation, in der Staatsverwaltung wie in der Uni- versität hatte sich eine Rationalität entwickelt, die auf den Begriff zu bringen war. Wenn man auf das Christentum als Lebensdeutung nicht verzichten konnte, musste es zu Komplikationen kommen. Ockham arbeitete daran, diese Komplikationen wenigstens klar auszusprechen.

Sketch labelled 'frater Occham iste', from a manuscipt of Ockham's
Summa Logicae, MS Gonville and Caius College, Cambridge,
464/571, fol. 69r}, 1341
»Die Theologie ist keine Wissenschaft« — ein Theologe, der gegen 1317 seinen Kommentar mit dieser Erklärung einleitete, hatte nicht nur Courage; er hatte seinen eigenen, strengen Begriff von »Wissenschaft«. Ockham formulierte seine These sorgfältig dahin, Theologie sei nicht »im strikten Sinne« eine Wissenschaft. Trotz dieser Sorgfalt: Der Affront blieb. Ockham, der später polemisch schreiben wird, Gott sei nicht nur ein Gott für Kleriker, sondern auch für Laien, hob sorglich hervor, dass damit der Vorrang der Theologen vor dem einfachen Gläubigen neu durchdacht werden müsse. Der Affront blieb, denn der strenge Begriff von »Wissenschaft«‚ den Ockham gebrauchte, war seit der Aristoteles-Rezeption allgemein angenommen. Danach besteht die »Wissenschaft« nicht im Aufzählen von Fakten, sondern in der Erkenntnis des Allgemeinen und Notwendigen. Diese Erkenntnis ist nur erreichbar durch Zurückführung auf Prinzipien. Diesen nicht-positivistischen Wissenschaftsbegriff teilten seit etwa 1250 alle Philosophen des Westens. Aber sie machten sich nicht klar, was es für die Theologie bedeutete. Thomas von Aquino, für den die Theologie nicht nur eine Wissenschaft, sondern die höchste Form menschlichen Wissens war, hatte sich mit der Erklärung geholfen, Gott und die Seligen hätten die Erkenntnis der Prinzipien, wir dagegen hätten die Erkenntnis der Folgerungen aus diesen Prinzipien.

Es hätte nicht des Scharfsinns Ockhams bedurft, um diesen Rettungsversuch als nichtig zu entlarven: nihil est dicere, es sei nichtssagend, es sei kindisch (puerile) zu sagen: Ich weiß die Schlussfolgerungen, weil Gott die Prinzipien weiß und ich ihm glaube. Zum aristotelischen Wissenschaftsbegriff gehört, dass es derselbe Wissende ist, der Beweisgründe und Schlussfolgerungen weiß. Thomas hat ihn inkonsequent rezipiert; er begnügte sich damit, die Würde und den Vorrang der Theologie mit aristotelischen Vokabeln zierend zu beschreiben, während Ockham auf den Begriff der Wissenschaft drängte. »Glauben« heißt nach Ockham »zustimmen, ohne Evidenz zu haben, aufgrund des Befehls des Willens«; die Aufgabe der Theologie ist es, einen solchen willensbegründeten Glauben »zu verteidigen und zu stärken«. Man sieht, wie sich die voluntaristische Komponente des ockhamistischen Glaubensbegriffs aus einer philosophischen Konzeption ergibt; sie folgte aus der strikten Fassung des Wissensbegriffs und aus dem Verzicht auf halbherzige Vermittlungen. Weil er auf Konsequenz achtete, kam Ockham die thomistische Ehrenrettung der Theologie als Wissenschaft »nichtssagend« und »kindisch« vor.

Sean Connery als Franziskanermönch William von Baskerville
 in dem Kinofilm "Der Name der Rose" (1986). In seiner
"Nachschrift zum Namen der Rose" verrät Umberto Eco,
dass sein Detektiv ursprünglich Ockham heißen sollte.
Dieser Einzelfall belegt, wie wenig die Philosophie des 14. Jahrhunderts ein »Verfall« war. Der Argumentationsstandard war insgesamt gestiegen seit der Mitte des 13. Jahrhunderts. Der intensivierte Logikunterricht trug Früchte: Man präzisierte die Bedeutung der Termini, man kontrollierte die Stringenz der Schlussfolgerungen. Ferner hatte Duns Scotus gerade den Franziskanern gezeigt, dass mit den apokalyptischen Beschwörungen, die der späte Bonaventura der Aristoteles-Rezeption entgegensetzte, in dem neuen Jahrhundert nicht wohl auszukommen war: Man musste Aristoteles genauer studieren; man musste die innere Konsequenz seiner Theoreme, z.B. seines Wissensbegriffs, respektieren. Ein denkender Christ, ein philosophischer Anhänger der Armutsbewegung konnte Aristoteles zwar verwerfen, er sollte ihn aber nicht entstellen. Die Harmonisierungen des Thomas waren unter deren eigenen Voraussetzungen zu kritisieren, nicht von außen. Dies hatten Bonaventura, Olivi und Duns vorgeführt; Ockham fand diesen Geist der wissenschaftlichen Genauigkeit, der nicht auf die Ausbildung einer »franziskanischen Philosophie«, sondern auf Präzision und Stringenz ausging, in seinem Orden vor. Er intensivierte ihn aber, und zwar durch die konsequente Anwendung dreier Regeln, die er nicht erfunden hatte, denen er aber ein neues Gewicht verlieh:

Die erste Regel verbot, die Erklärungsgründe unnötig zu vermehren. Man spricht in diesem Zusammenhang von »Ockhams Rasiermesser«: Alle überflüssigen, alle unnötig komplizierten Erklärungen sind wegzuschneiden. Man spricht — in allzu sorgloser Annäherung von »Denken« und »Ökonomie« — bei Ockham von »Denkökonomie«; die Theorie sollte lernen, sparsam zu sein. Ockhams erste Regel war alt, aber die Intensität, mit der er sie anwendete, lässt sich als Reflex und als stabilisierende Stütze frühbürgerlicher Wirtschaftserfahrungen deuten. Intensität der Anwendung, das bedeutet: Ockham nahm die alte Regel als strenge Verfahrensvorschrift. Er bestand darauf, man dürfe niemals gegen das Ökonomieprinzip verstoßen, wenn nicht eine zwingende Erfahrung, ein zwingender Vernunftbeweis oder eine zwingende Autorität dies fordere. Ockham war strenger als seine Vorgänger bei der Prüfung dessen, was als »zwingender« Anlass für eine Theorienkomplikation gelten konnte. Dabei mussten die an Vokabeln orientierte Ontologie und Erkenntnislehre Federn lassen. Ockham schärfte ein, nicht überall, wo eine Vielzahl von Vokabeln vorhanden sei, existiere auch eine Vielzahl von Realgründen. Metaphysikkritik aus sprachanalytischer Intention, Reduktion der ontologischen und gnoseologischen Instanzen — diese Methodologie der Vereinfachung charakterisiert mehr als alle Einzelthesen das Philosophieren Ockhams.

Eine zweite Regel Ockhams könnte man so formulieren: Beim Disput über eine Sache oder einen Begriff frage deinen Mitunterredner: Woher weißt du das? Untersuche den Ursprung deiner Vorstellungen. Ockham hat diese Regel nicht ausdrücklich formuliert, aber an zahlreichen Stellen beweist er, dass er sie klar vor Augen hatte, und zwar in folgender, sehr spezifischer Form: Bei jeder Vorstellung, die evident zu sein scheint, untersuche, ob sie durch sich selbst evident ist, also durch reine Begriffsanalyse zu erhalten ist, oder ob sie abgeleitet ist. Ist sie abgeleitet, dann entweder aus etwas anderem, das durch sich selbst bekannt ist, oder aus Erfahrung. Die Erfahrung muss zuletzt auf direkter Gegenstandserfassung (notitia intuitiva) beruhen. Ockhams Grundsatz, nur durch direkte Gegenstandserfassung (cognitio intuitiva, die insofern auch die cognitio abstractiva— gegen Scotus’ Meinung — einschließt) sei Erkenntnis möglich, ging auf die aristotelische Lehre zurück, nach der alle Erkenntnis mit den Sinnen beginnt.

Aber Ockham fasste sie als offensive Analyse theoretischer Ansprüche, z.B. der traditionellen Lehre von den Ideen. Ockham benutzte den aristotelischen Gedanken als Messer der Kritik. Auch wenn er selbst daraus nicht das Ende aller Metaphysik folgerte‚ so begünstigte seine Alternative (entweder aus reinen Begriffen oder aus Erfahrung) doch eine Tendenz in diese Richtung: stammte eine Erkenntnis aus Erfahrung, war sie zwar gesichert, aber als bloße Faktenaussage. Wie sollte sie »notwendig«‚ folglich im strengen Sinne »wissbar« sein? Wie sollte sie über die Erfahrung hinausführen, folglich metaphysisch sein? War sie durch sich selbst evident, dann ergab sie sich aus dem Begriff. Aber sie hatte keinen Realitätsgehalt außer durch Bezug auf direkte Gegenstandserfassung, die allemal kontingent ist, nach Ockham. Er glaubte noch, den Graben überbrücken zu können; er kritisierte die traditionellen Gottesbeweise im einzelnen, er bestritt die Beweisbarkeit der Einzigkeit Gottes, aber er hielt fest an der prinzipiellen Möglichkeit einer philosophischen Theologie.

In einer Zivilisation, die charakterisiert war durch eine abstraktionsfreundliche Schulkultur, thematisierte er den prekären Charakter der Abstraktion. Allgemeine, gar wissenschaftliche Sätze haben, auch wenn sie kategorisch formuliert sind, einen hypothetischen Charakter. Sie sagen, was sein kann. Daher auch Ockhams Kritik an den »Ideen« der platonischen Tradition: Sie sagen nur dann etwas Bestimmtes, wenn wir über den unter sie fallenden Gegenstand aus anderer Quelle schon etwas wissen. Die metaphysischen Erklärungsgründe der Tradition fallen dieser Kritik entweder völlig zum Opfer (so der »tätige Verstand« und das reale Allgemeine), oder sie erhalten einen abhängigen Charakter. Die Unsterblichkeit der Seele hielt Ockham nicht mehr für beweisbar; sie könne weder durch reine Begriffe noch aus Erfahrung erschlossen werden. Wir können an sie glauben; aber wenn jemand allein der Vernunft folgen würde, müsste er sie leugnen.

Kurt Flasch (* 1930), Philosophiehistoriker der Spätantike und des Mittelalters
Eine dritte Regel, die Ockhams Vorgehen bestimmt, schreibt folgende Untersuchung vor: Wird die Verknüpfung zweier Dinge oder Eigenschaften behauptet, so untersuche, ob ihre Trennung einen Widerspruch einschlösse. Ockham sprach in diesem Zusammenhang gern von der Allmacht Gottes, die alles trennen könne, dessen Trennung keinen Widerspruch einschlösse. In der neueren Literatur spricht man deswegen vom »Omnipotenzprinzip« in der Philosophie Ockhams. Entscheidend ist, wie er das aus der religiösen Sphäre stammende Motiv de facto verwendet hat. Und dabei zeigt sich, dass Ockham sich auf die Vorstellung des allmächtigen Gottes nur berief, um zur Untersuchung der Widersprüchlichkeit bzw. Nicht-Widersprüchlichkeit der Trennungen aufzufordern. Fast immer zeigt er die Nicht-Widersprüchlichkeit. Das heißt: Fast alles, was faktisch zusammen vorkommt, muss nicht immer und nicht mit Notwendigkeit zusammen vorkommen.

Ockham verwarf deshalb nicht völlig die Begriffe »Ursache« und »Wirkung«, aber er problematisierte sie. Die Existenz keines A impliziert von sich aus die Existenz eines B. Wir können ein Ding »Ursache« nennen, wenn wir finden, dass ihm regelmäßig ein anderes folgt. Die Regelmäßigkeit dieser Abfolge sah Ockham gesichert durch die Konstanz des Naturverlaufs, die er, von besonderen Eingriffen der Gottheit abgesehen, für gegeben ansah. Die Natur selbst hielt er für durchgängig, mit Notwendigkeit, bestimmt. In ihr selbst gibt es kein Unbestimmtes‚ Zufälliges. Die Regelmäßigkeit der Abfolge in der Natur bedeutet aber nicht, dass man die Erkenntnis der Wirkung aus der Kenntnis der Ursache ableiten könnte. Der Kausalzusammenhang lässt sich aus Begriffen nicht beweisen. Daher war das kritische Potential gerade seiner dritten Regel erheblich: Ockham unterstellte unser Wissen von Naturverknüpfungen zuletzt wieder der Erfahrung; er lehrte die Alltagserfahrung mit der Besorgnis zu betrachten, sie habe einen doppelten Boden. Unser tatsächliches Leben erschien als eine Summe kontingenter Fakten. […]

Die Konstanz des Naturablaufs kann, wie gesagt, nach Ockham durch göttliche Wunder unterbrochen werden. Er war ein viel zu scharfer Analytiker, um nicht die Folgen zu sehen, die ein solcher Allmachtserweis für das menschliche Wissen hat: Es ist nur »normalerweise« berechtigt, von Wirkungen auf Ursachen zu schließen. Es kann zwar glauben, dass der christliche Gott nicht in grundloser, wilder Folge solche Eingriffe vornehmen wird, aber es weiß nicht, ob in einem gegebenen Fall Gott eine Ausnahme gemacht hat. Nachdem Ockham das menschliche Wissen auf die direkte Gegenstandserfassung gegründet hatte, war es überaus einschneidend‚ wenn dieser faktische Boden unseres Wissens schwankte. Ockham sagte, dies sei in der natürlichen Ordnung der Dinge nicht der Fall, aber Gott könne jederzeit jede Wirkung selbst auslösen, die natürlicherweise ein Geschöpf auslöst. Er kann machen, dass wir Sonnenschein sehen, ohne dass die Sonne tatsächlich da ist. Er kann die direkte Gegenstandserfassung nicht existierender Gegenstände in uns auslösen; ein Widerspruch liegt darin nach Ockham nicht. […]

Die eher beschwichtigenden Ockham-Ausleger betonen gerne, dass Ockham an der natürlichen Gegenstandsgebundenheit der direkten Gegenstandserfassung festhalte, dass er für den Normalfall die Wahrheit unserer Welterkenntnis nicht bestreite. Aber so richtig dies ist, bereits das Rechnen mit der Möglichkeit der Erkenntnis nicht-existierender Dinge war eine erkenntnistheoretische Katastrophe. Der Skeptizismus war dann schwer abzuweisen: Man konnte nie wissen, ob man etwas sah, das existierte; man konnte nur wissen, dass man es »natürlicherweise« tat. Dass Gott alle Wirkungen der Geschöpfe jederzeit ersetzen bzw. selbst hervorbringen konnte, war nicht eine zweifelsüchtige Gedankenkonstruktion Ockhams; es war seit etwa 1100 die allgemeine Ansicht der westlichen Denker.

Seit der Verurteilung Berengars lehrten fast alle, Gott erhalte die Erscheinungsformen des Brotes im Dasein, ersetze aber bei der Eucharistie die Substanz des Brotes durch die Substanz des Leibes Christi. Jeder Mensch sah also etwas, nämlich Brot, obwohl gar kein Brot da war. Ockham beugte sich dieser Lehre, obwohl er klar aussprach, dass sie der Vernunft widerstrebt und von der Bibel nicht erzwungen werde. Aber er akzeptierte sie nicht nur; er zeigte die Konsequenzen dessen, was allgemein akzeptiert wurde. Man konnte seine Analyse gegen die Vernunft wie gegen die scholastische Abendmahlslehre kehren. Man hat beides in Ockhams Folge getan.

Quelle: Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. Reclams Universal-Bibliothek Nr. 19479, Philipp Reclam jun., Stuttgart, 3.Auflage 2013. ISBN 978-3-15-019479-9. Zitiert wurden Teile des Kapitels 44 Wilhelm von Ockham, Seiten 512-524.


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Frithjof Haas “Zeitlos unzeitgemäß”: Über das kompositorische Werk von Walter Braunfels

Wilhelm von Ockham und Ludwig der Bayer


Kammermusikkammer - Wo Liebhaber von Streichquartetten auf ihre Rechnung kommen.

Streichquartette von Alberto Ginastera. | Laokoon als Schmerzensmann. Winckelmann und die Folgen.

Streichquartette von Bernhard Molique. | Vom Mangel zum Überfluß. Das Romantische Naturbild.

Streichquartette von Robert Schumann (und seine andere Kammermusik). | Brocken aus dem »Buch ohne Titel« (Raymond M. Smullyan).

Streichquartett von Heinz Holliger. | Mit Lyrik von Friedrich Hölderlin und Bildern aus der Galerie von Erzherzog Leopold Wilhelm.

Streichquartett von Viktor Ullmann. | »Spengler nach dem Untergang«, ein Vortrag von Theodor W. Adorno (1938).

Streichquartette von Wolfgang Amadeus Mozart (in historischen Aufnahmen). | Max Klingers Monumentalgemälde »Christus im Olymp«.


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Joseph Marx (1882-1964): Lieder

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Man hat den Liedkomponisten Joseph Marx sehr oft mit Hugo Wolf verglichen. Der eine ein Österreicher, der aus dem heutigen Slowenien stammt, der andere 22 Jahre später in der benachbarten Steiermark geboren. Freilich, wo Wolf ein kühner, stürmischer, kompromissloser Neuerer war, war Marx ein dionysisch erweiternder Bewahrer, gerade im Liedschaffen mehr einer in prachtvoll neuem Kleid auftretenden Verschmelzung von gegenwärtigen Strömungen mit der Vergangenheit zugewandt als einer unwägbaren Zukunft. Charakterlich waren die beiden so verschieden, so gegensätzlich, wie es sich nur denken lässt. Wolf ein Meister der kurzen, psychologisch überspitzten, aufgewühlten Charakterzeichnung, in der Verspanntheit, Zerrissenheit, dem immerwährend unerfüllten Sehnen und der lebensimmanenten Tragödie ein Romantiker reinsten Wassers. Marx hingegen trat von vornherein mit dem Gestus des um Ausgleich der Polaritäten bemühten Altmeisters auf, ein Freund der Idylle und Nostalgie. Der eine unentwegt im Aufbruch zu neuen Ufern begriffen, der andere ein Zusammenfasser, Erkunder und Fusionierer bestehender Richtungen. Wolf hinterlässt den Zuhörer in erregter Unruhe, Marx in genießender Beschaulichkeit.

Andreas Liess schreibt 1943 in seiner zeittypisch völkisch eingefärbten Standard-Monographie Joseph Marx. Leben und Werk:

„Marx verlangt vom Liedkomponisten: Erfassung der Stimmung als erstes, des weiteren Erfassung des Rhythmus des Liedes und schließlich die seines inneren Tempos; - denn jeder Text trägt sein Andante, Allegro, Largo in sich. ‚Jedes Gefühl hat sein eigenes Zeitmaß’, schrieb er in einem Aufsatz über Frederick Delius. Stimmungs- und Gefühlsspiegelung ist der Wesensgrund des Liedschaffens von Marx. Dieses Hingegebensein an den sinnlichen wie gefühlsmäßigen Eindruck führt ihn auch ganz organisch in die Gefilde des Impressionismus hinein. […] Wenn Marx von Wolf ausgeht und diese Bindungen offen zutage liegen, so ist es dieses psychologische Moment, das auf der ganzen technischen Linie die einschneidenden Veränderungen und Weiterentwicklungen hervorbringt.

Joseph Marx, 1957
Immer zieht ,Stimmungsdarstellung’ eine bevorzugte Betonung des klanglichen Elementes nach sich. So entfernt sich Marx von Wolf harmonisch, indem er nicht nur übersteigernde Konsequenzen aus dem Chroma der Leittontechnik zieht, sondern auch in der klanglichen Eigenformung eine ganz spezielle sinnliche Farbigkeit für seine Ausdruckswelt schafft, die wollüstig und verträumt, naturnahe und raffiniert zugleich ist und deutsche wie französische und russische Formungsarten in origineller Synthese vereinigt. In dieser lyrischen Stimmungsklanglichkeit schreitet er, dem Zug der Zeit folgend, über die Wolfsche wie die Regersche Harmonik hinaus, wenngleich beide wichtigste Grundlagen abgeben.

Aus der psychischen Haltung des Künstlers Marx ergibt sich auch der charakteristische Ausbau des Klavierpartes nach der klanglichen wie nach der symphonischen Seite hin. Und in der polyphon verfestigten großsymphonischen ,Entwicklung' der Liedbegleitungen - neben der eigenen Harmonik —‚ also im formalen Ausdrucksbereich, sieht Marx selbst die charakteristische Besonderheit seiner Liedkunst Wolf gegenüber, der in kleinmotivischem Zusammenhang und in Sequenzformungen die Großformung ausbaut, ‚Ich habe eben dort ausgeführt, wo Wolf nur andeutete‘”

Joseph Marx, zwischen Nachromantik und Impressionismus vagierend, immer damit befasst, die ganze Fülle des Stimmungsgehalts auszukosten und zugleich in klarer Form zu artikulieren, wurde berühmt mit seinen Liedern zu einer Zeit, als ‚die Welt noch in Ordnung war’, und er wurde weitgehend vergessen, indem für neue Lieder und konservativen Geist kein breites Interesse mehr da war.

Joseph Marx am Klavier

Marx’ Werdegang

Joseph Rupert Rudolf Marx wurde am 11. Mai 1882 in Graz geboren. Er erhielt ersten Klavierunterricht von seiner Mutter, dann an der Klavierschule Johann Buwas, und erreichte beträchtliche Meisterschaft am Instrument. Daneben erlernte er im Selbststudium auch das Geigen-, Bratschen- und Cellospiel. Auf der Volksschule war es Joseph Gauby, ein Schüler Robert Fuchs’ und Herausgeber steirischer Volkslieder, der als Musiklehrer das musikantische Feuer in Joseph Marx schürte. Seine ersten Kompositionen - zunächst überwiegend Arrangements bekannter Stücke aus der Klavierliteratur und Oper für kleine Kammerbesetzungen zum täglichen Gebrauch — schrieb Marx als Gymnasiast. Seine musikalische Begabung war zwar offenkundig, doch studierte er zunächst auf Wunsch des Vaters Jura, um dann zu Philosophie und Kunstgeschichte überzuwechseln, was zum Zerwürfnis mit dem Elternhaus führte. 1908 erwarb er den Doktortitel in Philosophie, und damit war er frei vom Joch der herkömmlichen Erwartungen. Noch im selben Jahr, 26-jährig‚ fing er wieder zu komponieren an und schrieb innerhalb von vier Jahren (1908-12) vier Fünftel seines insgesamt 150 Kompositionen umfassenden Liedœuvres. Mit den Liedern kam der unverhoffte Erfolg, und schon bald erlangte Marx als Liedkomponist internationale Reputation. Das Liedschaffen ist bei ihm in unmittelbarem Zusammenhang mit der Liedbegleitungspraxis erwachsen, was gewiss entscheidend zur Natürlichkeit und Dankbarkeit der Werke beitrug.

Joseph Marx, Stadtmuseum Graz (Gemälde unbekannter Herkunft,
 prangt über dem Webportal der Joseph-Marx-Gesellschaft
Als Komponist war Joseph Marx erstaunlicherweise Autodidakt, der sich vor seinen ersten Liederfolgen vor allem in intensivem Orgelstudium kontrapunktisch, harmonisch und formal vervollkommnete, und brachte es damit früh zu technisch souveräner Meisterschaft. Andreas Liess schreibt in seiner bereits zitierten Marx-Biographie von 1942, er habe „bereits mit achtzehn Jahren seinen originellen persönlichen Stil gefunden, der zwar noch vertieft, verfeinert werden konnte, aber grundsätzlich in seiner charakteristischen Zeichnung feststand. Man hat die geringe Entwicklung in seinem Gesamtschaffen, die erst in den letzten Jahren stilistisch eine stärkere Abschattierung erfuhr, Marx gelegentlich vorgeworfen. Für Marx ist das Beharren in dem einmal errungenen Stilkreis das Zeichen eines sich ständig neu gestaltenden Urerlebnisses der Musik in einer Form und Geistigkeit, die fest in jener Zeit der Jahrhundertwende und in ihrer Kunst verankert ist."

Die Bestätigung, die er als Liedkomponist erfuhr, ließ Marx nun auch in andere, anspruchsvollere Gefilde tonsetzerischer Betätigung vordringen. 1911 war sein erstes der Kammermusik gewidmetes Jahr, in welchem er seine drei Werke für Klavierquartett schrieb. Hier steht Marx der Exzessivität Max Regers, der ihn als heftigst umstrittener Neuerer seiner Jugendjahre stark beeindruckte, nahe, kontrapunktiert vom harmonisch mäßigenden, motivisch und polyphon disziplinierenden Einfluss Johannes Brahms’. Es fließen Strömungen der schwelgerisch ausufernden Nachromantik, des emporzüngelnden, zu Verdichtung neigenden und zugleich jugendstilhaft ornamentisch verzückten Expressionismus und des unablässig scheinbar absichtslos changierenden lmpressionismus ineinander.

Gedenkstein für Joseph Marx im Stadtpark Graz
Mittlerweile betätigte sich Marx auch als Musiktheoretiker und legte zwei substanzielle Arbeiten über Klangpsychologie und über das Wesen der Tonalität vor (von denen letztere mit dem ,Wartinger'-Preis der Grazer Universität ausgezeichnet wurde und von manchen Kennern als eine der gehaltvollsten Abhandlungen über diese für die musikideologischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts so zentrale Thematik angesehen wird). 1914 bestellte man ihn daraufhin zum Theorieprofessor an der Musikakademie an der Wiener Universität, wo er 1922 Direktor wurde. Er war dann maßgeblich an der Gründung der Wiener Musikhochschule beteiligt und wirkte 1924-27 als deren erster Rektor. Marx etablierte sich schnell als eine der führenden Musikerpersönlichkeiten Wiens, zunächst Seite an Seite mit dem etwas älteren Generationsgenossen und bewunderten Symphoniker Franz Schmidt, wo er allerdings zusehends in eine konservative Rolle geriet, als Bewahrer der Werte der nachromantischen Tradition und Hüter des Tempels des klassischen Kompositionshandwerks.

1932 begann er im Auftrag von Mustafa Kemal (Atatürk) mit dem Aufbau eines nach westlichem Vorbild ausgerichteten Musiklebens und Musikschulsystems in der türkischen Hauptstadt Ankara (eine Aufgabe, mit der betraut ihm nach einem Jahr der progressive Paul Hindemith nachfolgen sollte). Marx betätigte sich auch als Kulturredakteur und scharfzüngiger, gleichwohl maßvoller Kritiker, und als Kompositionslehrer hat er in 43-jähriger Tätigkeit ca. 1300 Schüler gehabt. Nach dem Zweiten Weltkrieg komponierte Marx nur noch wenig, nahm viele Ehrungen entgegen, bekleidete gewichtige administrative und repräsentative Ämter, und musste zusehen, wie seine Musik - ausgenommen die Lieder im häuslichen Gebrauch - schnell aus der Mode kam. Er starb am 3. September 1964 in Graz, hochgehalten als Hohepriester der Altvorderen, und längst ausgeblendet von den jüngeren Generationen.

Joseph Marx, 1940, inspiriert von der
Mythologie der Antike wie von Mutter Natur
Marx’ Werk

Joseph Marx’ kompositorisches Vermächtnis ist recht leicht zu überblicken, da er verhältnismäßig wenige Gattungen konzentriert in intensiv fruchtbaren Phasen ausschöpfte und sich vom Theater und der konfessionell geistlichen Musik fernhielt. Neben den vielen Liedern steht ein recht überschaubares Kammermusik-OEuvre, einige Klavier- und Orgelmusik, 6 Chorwerke mit Orchester - das Gewaltigste hat er fürs große Orchester geschrieben, und so ist er besonders bemerkenswert in den ganz kleinen und in den großen Formen. An die Klavierquartettsaison 1911 schloss sich 1913-14 eine zweite Periode intensiven Kammermusikschaffens an, die eine große Trio-Phantasie für Klaviertrio, die erste von 2 Sonaten für Violine und Klavier in A-Dur sowie eine Suite in F-Dur und eine Pastorale für Cello und Klavier hervorbrachte. Zwischen 1936 und 1941 entstanden dann seine drei Streichquartette (Quartetto chromatico [1948 revidierte Fassung des 1. Quartetts in A-Dur], Quartetto in modo antico, Quartetto in modo classico), die einen abgeklärten Ton einleiten‚ der bereits wie ein ,Altersstil' anmutet. Marx’ erste Werke mit Orchester verwendeten dieses allesamt als instrumentale Erweiterung des liedbegleitenden Klaviers: zunächst der Morgengesang für Männerchor und Orchester von 1910 und die Berghymne für gemischten Chor und Orchester (ca. 1910); diesen folgten Herbstchor an Pan (1911), Abendweise (1912), Gesang des Lebens und Ein Neujahrshymnus (beide 1914).

Fünf Jahre vergingen, bis er sich dem Orchester als zentralem Medium zuwandte, und auch dann noch zuerst als konzertantem Partner: 1919-20 komponierte Marx sein monumental virtuoses Romantisches Klavierkonzert. 1921 vollendete er sein magnum opus: Eine Herbstsymphonie, ein kathartisch ausufernd viersätziges, orgiastisch übersteigertes Tongemälde auf das Naturdrama des Herbsts, das in der Literatur der orchestralen Kolosse eine einmalige Position einnimmt und aufgrund des großen Aufwands nur sehr selten aufgeführt wird), 1922-25 schrieb er als heiter versöhnliches Gegenstück dazu die impressionistisch schillernde Naturtrilogie, bestehend aus Eine symphonische Nachtmusik, Idylle-Concertino über die pastorale Quart und Eine Frühlingsmusik (alle drei Stücke sind auch gleichberechtigt zur Einzelaufführung vorgesehen).

Joseph Marx mit Dmitri Schostakowitsch und Franz Salmhofer, Juni 1953, Wien
Nach einer Gelegenheitskomposition, der Festlichen Fanfarenmusik für Blechbläser, Pauken und kleine Trommel von 1928, beschlossen die dunkle Nordland-Rhapsodie von 1929 und das lichte zweite Klavierkonzert Castelli Romani (1929-30) den Reigen von Marx’ monumental nachromantisch-impressionistischen Orchestergemälden. 1941 folgten noch die nostalgischen Alt-Wiener Serenaden, 1944-45 die Streichorchesterfassungen des 3. und 2. Streichquartetts (Sinfonie in modo classico und Sinfonia in modo antico), und 1946 schließlich die separate Einrichtung Feste im Herbst (ursprünglich Ein Herbstpoem) des Finales der Herbstsymphonie (die von 1927 bis 2005 unaufgeführt bleiben sollte),

Eine Liedauswahl

Angelika Kirchschlager und Anthony Spiri stellen eine repräsentative Auswahl aus Joseph Marx’ reichem Liedschaffen vor, die ohne weiteres noch durch weitere Sammlungen gleichwertig ergänzt werden könnte. Neben elf der siebzehn Gesänge aus dem Italienischen Liederbuch von Paul Heyse (1830-1914) von 1912 werden der komplette reife Zyklus Verklärtes Jahr (1930-32) und acht Lieder aus den drei frühen Liedfolgen (1907-12) dargeboten.

Aus Heyses italienischem Liederbuch wählte Marx jene Gedichte aus, die Hugo Wolf nicht vertont hat. Mit Ausnahme des ersten, Liebe, das bereits 1907 entstanden ist und dem Ton Wolfs noch am nächsten steht, hat er alle sechzehn weiteren Lieder 1912 binnen acht Tagen in einem Schaffensrausch komponiert. Sie bilden ein Wechselbad unterschiedlichster Stimmungen, dramatisch, lieblich, düster, humoristisch, und schnell erfährt der Hörer, welch gewandte Vielseitigkeit die Grundlage der schnellen Popularität Marx’ in jenen Jahren bildete, wie er in jeder Stimmungslage zu vollendeter, eigentümlicher Formung des Ganzen fand.

Im Verklärten Jahr tritt uns ein Tonsetzer von abgeklärter Größe entgegen. Andreas Liess, der Marx‘ Werk eingehend wie kein anderer kannte, gibt treffende Charakterisierungen der fünf Gesänge, die von unterschiedlichen Dichtern stammen. Ein Abschied nach Konstantin M. Fofanow (1862-1911) bezieht sich thematisch und im steigernden Schwung auf den Kopfsatz der Herbstsymphonie, als „Symbol des Rückblicks”.

Südost-Tagespost, 24.11.1963: Präsident Erich Marckhl mit den ersten
Ehrenmitgliedern der Akademie für Musik und darstellende Kunst Graz:
Mitte links: Joseph Marx
Dezember nach dem steirischen Dichter Ottokar Kernstock (1848-1928), das Marx dem Andenken seiner Eltern widmete, „ist das eindrucksvollste Stück mit dem ergreifenden Schluss: ‚Die Toten kehren nicht wieder’, aber auch in der Gesamterfassung der Stimmung ‚Weihnacht eines Einsamen'."Lieder nach Christian Morgenstern (1871-1914) bezieht sich als Frühlingsanfang des Zyklus thematisch auf das impressionistische Orchesterwerk Eine Frühlingsmusik. Innig zurückgewandt gibt sich Meiner Träume Heimat nach Carl Hauptmann (1858-1921): „Das Schöne in der Erinnerung ist der Ausgangspunkt." Die Schlussverklärung ist thematisch verbunden mit dem elften Lied aus der Ersten Folge der Marx’schen Lieder von 1908, Hat Dich die Liebe berührt, das zugleich den Abschluss vorliegender CD bildet.

Zum großen Schlussgesang Auf der Campagna schrieb Marx den Text selbst. Liess kommentiert: „Es ist ein Hymnus auf die antike Landschaft, der er innerlich so verbunden ist und die ihm, dem Klassizisten und Klangfanatiker, musikalisch und stimmungsmäßig so unendlich viel geschenkt hat. Gleißender goldener Nachmittag ist es inmitten der antiken Zeugen, und diese Stimmung hat sich in Wort und Ton niedergeschlagen. Ein ausgesponnener symphonischer Satz mit Haupt- und Gesangsthema breitet sich aus, wie der Text uns etwas von der Weltanschauung des Dichters verrät: ein Bekenntnis zur ewigen Wiederkehr von Frühling, Jugend und Menschenglück.”

Quelle: Christoph Schlüren, Juni 2010, im Booklet [gekürzt].


TRACKLIST


Joseph Marx (1882-1964)

Ausgewählte Lieder

Lieder aus dem »Italienischen Liederbuch«

01 Liebe (Paul Heise) 3:36
02 Wofür (Paul Heise) 0:45
03 Am Fenster (Paul Heise) 1:32
04 Die Begegnung (Paul Heise) 1:02
05 Die Liebste spricht (Paul Heise) 1:07
06 Am Brunnen (Paul Heise) 0:59
07 Wie reizend bist du (Paul Heise) 1:01
08 Sendung (Paul Heise) 1:05
09 Die Verlassene (Paul Heise) 2:01
10 Es zürnt das Meer (Paul Heise) 1:10
11 Die tote Braut (Paul Heisel 3:16

Verklärtes Jahr (Liederzyklus, 1930-32)

12 Ein Abschied 3:33
(nach Konstantin Mikhailovich Fofanov)
13 Dezember (Ottokar Kernstock) 2:34
14 Lieder (Christian Morgenstern) 2:15
15 In meiner Träume Heimat (Carl Hauptmann) 2:09
16 Auf der Campagna (Joseph Marx) 6:19

17 Ein junger Dichter denkt an seine Geliebte 2:09
(Hans Bethge nach Sao Han)

18 Selige Nacht (Otto Erich Hartleben) 1:47

19 Schlafend trägt man mich in mein Heimatland 1:54
(Alfred Mombert)

20 Der Rauch (Rudolf Hans Bartsch) 2:07

21 Lob des Frühlings (Johann Ludwig Uhland) 0;59

22 Regen (nach Paul Verlaine) 3:24

23 Vergessen (Arno Holz) 2:00

24 Hat dich die Liebe berührt (Paul Heyse) 2:08

T.T.: 64:39

Angelika Kirchschlager, Mezzo-soprano
Anthony Spiri, Piano

Recording: ORF RadioKulturhaus Wien, May 2009
Recording Producer + Digital Editing: Florian Rosensteiner
Recording Engineer: Andreas Karlberger
Executive Producers: Burkhard Schmilgun, Gustav Danzinger
(P) 2010



Ludwig Wittgenstein:

Über Gewißheit

Seit 50 Jahren ist der Mond für ›Gewißheit‹ kein gutes Beispiel mehr

Ludwig Wittgenstein (1889-1951), Philosoph
106. Ein Erwachsener hätte einem Kind erzählt, er wäre auf dem Mond gewesen. Das Kind erzählt mir das, und ich sage, es sei nur ein Scherz gewesen, Soundso sei nicht auf dem Mond gewesen; niemand sei auf dem Mond gewesen; der Mond sei weit, weit von uns entfernt, und man könnte nicht hinaufsteigen oder hinfliegen. — Wenn nun das Kind darauf beharrte: es gebe vielleicht doch eine Art, wie man hinkommen könne, und sie sei mir nur nicht bekannt, etc. — was könnte ich erwidern? Was könnte ich Erwachsenen eines Volksstamms erwidern, die glauben, Leute kämen manchmal auf den Mond (vielleicht deuten sie ihre Träume so), und die allerdings zugeben, man könnte nicht mit gewöhnlichen Mitteln hinaufsteigen oder hinfliegen? — Ein Kind wird aber für gewöhnlich nicht an so einem Glauben festhalten und bald von dem überzeugt werden, was wir ihm im Ernst sagen.

107. Ist dies nicht ganz so, wie man einem Kind den Glauben an einen Gott, oder daß es keinen Gott gibt, beibringen kann, und es je nachdem für das eine oder andere triftig scheinende Gründe wird vorbringen können?

108. »Aber gibt es denn da keine objektive Wahrheit? Ist es nicht wahr, oder aber falsch, daß jemand auf dem Mond war?« Wenn wir in unserm System denken, so ist es gewiß, daß kein Mensch je auf dem Mond war. Nicht nur ist uns so etwas nie im Ernst von vernünftigen Leuten berichtet worden, sondern unser ganzes System der Physik verbietet uns, es zu glauben. Denn dies verlangt Antworten auf die Fragen: »Wie hat er die Schwerkraft überwunden?«‚ »Wie konnte er ohne Atmosphäre leben?« und tausend andere, die nicht zu beantworten wären. Wie aber, wenn uns statt allen diesen Antworten entgegnet würde: »Wir wissen nicht, wie man auf den Mond kommt, aber die dorthin kommen, erkennen sofort, daß sie dort sind; und auch du kannst ja nicht alles erklären.« Von Einem, der dies sagte, würden wir uns geistig sehr entfernt fühlen.

Ludwig Wittgenstein. Foto: Moritz Nähr, 1930
 (Österreichische Nationalbibliothek).
111. »Ich weiß, daß ich nie auf dem Mond war.« — Das klingt ganz anders unter den tatsächlichen Umständen, als es klänge, wenn manche Menschen auf dem Mond gewesen wären und vielleicht mancher, ohne es selbst zu wissen. In diesem Falle könnte man Gründe für dies Wissen angeben. Ist hier nicht ein ähnliches Verhältnis, wie zwischen der allgemeinen Regel des Multiplizierens und gewissen ausgeführten Multiplikationen?

Ich will sagen: Daß ich nicht auf dem Mond gewesen bin, steht für mich ebenso fest, wie irgendeine Begründung dafür feststehen kann.

114. Wer keiner Tatsache gewiß ist, der kann auch des Sinnes seiner Worte nicht gewiß sein.

115. Wer an allem zweifeln wollte, der würde auch nicht bis zum Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die Gewißheit voraus.

118. Wäre es nun richtig zu sagen: Niemand hat bisher meinen Schädel geöffnet, um zu sehen, ob ein Gehirn drin ist; aber alles spricht dafür und nichts dagegen, daß man eins drin finden würde?

119. Kann man aber auch sagen: Nichts spricht dagegen und alles dafür, daß der Tisch dort auch dann vorhanden ist, wenn niemand ihn sieht? Was spricht denn dafür?

120. Wenn aber nun Einer es bezweifelte, wie würde sich sein Zweifel praktisch zeigen? Und könnten wir ihn nicht ruhig zweifeln lassen, da es ja gar keinen Unterschied macht?

121. Kann man sagen; »Wo kein Zweifel, da auch kein Wissen«?

122. Braucht man zum Zweifel nicht Gründe?

Dieses kanonische Porträt Wittgensteins wurde auch in
der Würdigung durch die Österreichische Post zitiert.
123. Wohin ich schaue, ich finde keinen Grund, daran zu zweifeln, daß . . .

124. Ich will sagen: Wir verwenden Urteile als Prinzip(ien) des Urteilens.

125. Wenn mich ein Blinder fragte »Hast du zwei Hände?«, so würde ich mich nicht durch Hinschauen davon vergewissern. Ja, ich weiß nicht, warum ich meinen Augen trauen sollte, wenn ich überhaupt dran zweifelte. Ja, warum soll ich nicht meine Augen damit prüfen, daß ich schaue, ob ich beide Hände sehe? Was ist wodurch zu prüfen?! (Wer entscheidet darüber, was feststeht?)

Und was bedeutet die Aussage, das und das stehe fest?

126. Ich bin der Bedeutung meiner Worte nicht gewisser als bestimmter Urteile. Kann ich zweifeln, daß diese Farbe »blau« heißt?

(Meine) Zweifel bilden ein System.

127. Denn wie weiß ich, daß Einer zweifelt? Wie weiß ich, daß er die Worte »Ich zweifle daran« so gebraucht wie ich?

128. Ich habe von Kind auf so urteilen gelernt. Das ist Urteilen.

129. So habe ich urteilen gelernt; das als Urteil kennengelernt.

130. Aber ist es nicht die Erfahrung, die uns lehrt, so zu urteilen, d.h.‚ daß es richtig ist, so zu urteilen? Aber wie lehrt`s uns die Erfahrung? Wir mögen es aus ihr entnehmen, aber die Erfahrung rät uns nicht, etwas aus ihr zu entnehmen. Ist sie der Grund, daß wir so urteilen (und nicht bloß die Ursache), so haben wir nicht wieder einen Grund dafür, dies als Grund anzusehen.

Ludwig Wittgenstein auf dem Schaukelpferd,
 Foto: Carl Pietzner, um 1892
 (Österreichische Nationalbibliothek)
131. Nein, die Erfahrung ist nicht der Grund für unser Urteilsspiel. Und auch nicht sein ausgezeichneter Erfolg.

132. Menschen haben geurteilt, ein König könne Regen machen; wir sagen, dies widerspreche aller Erfahrung. Heute urteilt man, Aeroplan, Radio etc. seien Mittel zur Annäherung der Völker und Ausbreitung von Kultur.

134. Wenn ich ein Buch in eine Lade lege, so nehme ich nun an, es sei darin, es sei denn ... »Die Erfahrung gibt mir immer recht. Es ist noch kein gut beglaubigter Fall vorgekommen, daß ein Buch (einfach) verschwunden wäre.« Es ist oft vorgekommen, daß sich ein Buch nie mehr gefunden hat, obwohl wir sicher zu wissen glaubten, wo es war. — Aber die Erfahrung lehrt doch wirklich, daß ein Buch, z.B.‚ nicht verschwindet. (Z.B. nicht nach und nach verdunstet.) — Aber ist es diese Erfahrung mit Büchern etc., die uns annehmen läßt, das Buch sei nicht verschwunden? Nun, angenommen, wir fänden, daß unter bestimmten neuen Umständen Bücher verschwänden — würden wir nicht unsre Annahme ändern? Kann man die Wirkung der Erfahrung auf unser System von Annahmen leugnen?

135. Aber folgen wir nicht einfach dem Prinzip, daß, was immer geschehen ist, auch wieder geschehen wird (oder etwas ähnlichem)? — Was heißt es, diesem Prinzip folgen? Bringen wir es wirklich in unser Raisonnement? Oder ist es nur das Naturgesetz, dem scheinbar unser Schließen folgt? Das letztere mag es sein. Ein Glied in unsrer Überlegung ist es nicht.

138. […] Es gibt z.B. historische Untersuchungen und Untersuchungen über die Gestalt und auch (über) das Alter der Erde, aber nicht darüber, ob die Erde in den letzten 100 Jahren existiert habe. Freilich, viele von uns hören Berichte über diesen Zeitraum von ihren Eltern und Großeltern; aber können sich die nicht irren? — »Unsinn« wird man sagen, »Wie sollen sich denn alle diese Menschen irren!« Aber ist das ein Argument? Ist es nicht einfach die Zurückweisung einer Idee? Und etwa eine Begriffsbestimmung? Denn rede ich hier von einem möglichen Irrtum, so ändert das die Rolle, die »Irrtum« und »Wahrheit« in unserm Leben spielen.

Ludwig und Paul Wittgenstein Noten studierend,
Foto: Carl Pietzner, 1909 (Österreichische Nationalbibliothek)
139. Um eine Praxis festzulegen, genügen nicht Regeln, sondern man braucht auch Beispiele. Unsre Regeln lassen Hintertüren offen, und die Praxis muß für sich selbst sprechen.

140. Wir lernen die Praxis des empirischen Urteilens nicht, indem wir Regeln lernen; es werden uns Urteile beigebracht und ihr Zusammenhang mit andern Urteilen. Ein Ganzes von Urteilen wird uns plausibel gemacht.

141. Wenn wir anfangen, etwas zu glauben, so nicht einen einzelnen Satz, sondern ein ganzes System von Satzen. (Das Licht geht nach und nach über das Ganze auf.)

142. Nicht einzelne Axiome leuchten mir ein, sondern ein System, worin sich Folgen und Prämissen gegenseitig stützen.

143. Es wird mir z. B. erzählt, jemand sei vor vielen Jahren auf diesen Berg gestiegen. Untersuche ich nun immer die Glaubwürdigkeit des Erzählers und ob dieser Berg vor Jahren existiert habe? Ein Kind lernt viel später, daß es glaubwürdige und unglaubwürdige Erzähler gibt, als es Fakten lernt, die ihm erzählt werden. Es lernt, daß jener Berg schon lange existiert habe, gar nicht; d. h. die Frage, ob es so sei, kommt gar nicht auf. Es schluckt, sozusagen, diese Folgerung mit dem hinunter, was es lernt.

Portrait above on being awarded a scholarship
 from Trinity College, 1929.    [Quelle]
144. Das Kind lernt eine Menge Dinge glauben. D.h. es lernt z. B. nach diesem Glauben handeln. Es bildet sich nach und nach ein System von Geglaubtem heraus, und darin steht manches unverrückbar fest, manches ist mehr oder weniger beweglich. Was feststeht, tut dies nicht, weil es an sich offenbar oder einleuchtend ist, sondern es wird von dem, was darum herumliegt, festgehalten.

145. Man will sagen »Alle meine Erfahrungen zeigen, daß es so ist«. Aber wie tun sie das? Denn jener Satz, auf den sie zeigen, gehört auch zu ihrer besonderen Interpretation.

»Daß ich diesen Satz als sicher wahr betrachte, kennzeichnet auch meine Interpretation der Erfahrung.«

146. Wir machen uns von der Erde das Bild einer Kugel, die frei im Raume schwebt und sich in 100 Jahren nicht wesentlich ändert. Ich sagte »Wir machen uns das Bild etc.«‚ und dies Bild hilft uns nun zum Beurteilen verschiedener Sachverhalte.

Ich kann die Dimensionen einer Brücke allerdings berechnen, manchmal auch berechnen, daß hier eine Brücke günstiger ist als eine Fähre etc. etc. — aber irgendwas muß ich mit einer Annahme oder Entscheidung anfangen.

147. Das Bild der Erde als Kugel ist ein gutes Bild, es bewährt sich überall, es ist auch ein einfaches Bild — kurz, wir arbeiten damit, ohne es anzuzweifeln.

148. Warum überzeuge ich mich nicht davon, daß ich noch zwei Füße habe, wenn ich mich von dem Sessel erheben will? Es gibt kein warum. Ich tue es einfach nicht. So handle ich.

149. Meine Urteile selbst charakterisieren die Art und Weise, wie ich urteile, das Wesen des Urteilens.

150. Wie beurteilt Einer, welches seine rechte und welches seine linke Hand ist? Wie weiß ich, daß mein Urteil mit dem der Andern übereinstimmen wird? Wie weiß ich, daß diese Farbe Blau ist? Wenn ich hier mir nicht traue, warum soll ich dem Urteil der Andern trauen? Gibt es ein Warum? Muß ich nicht irgendwo anfangen zu trauen? D.h. ich muß irgendwo mit dem Nichtzweifeln anfangen; und das ist nicht, sozusagen, vorschnell aber verzeihlich, sondern es gehört zum Urteilen.

151. Ich möchte sagen: Moore weiß nicht, was er zu wissen behauptet, aber es steht für ihn fest, so wie auch für mich; es als feststehend zu betrachten, gehört zur Methode unseres Zweifelns und Untersuchens.

152. Die Sätze, die für mich feststehen, lerne ich nicht ausdrücklich. Ich kann sie nachträglich finden wie die Rotationsachse eines sich drehenden Körpers. Diese Achse steht nicht fest in dem Sinne, daß sie festgehalten wird, aber die Bewegung um sie herum bestimmt sie als unbewegt.

153. Niemand hat mich gelehrt, daß meine Hände nicht verschwinden, wenn ich auf sie nicht aufpasse. Noch kann man sagen, ich setze die Wahrheit dieses Satzes bei meinen Behauptungen etc. voraus (als ruhten sie auf ihm), während er erst durch unser anderweitiges Behaupten Sinn erhält.

158. Kann ich mich z. B. darin irren, daß die einfachen Worte, die diesen Satz bilden, deutsche Wörter sind, deren Bedeutung ich kenne?

159. Wir lernen als Kinder Fakten, z.B. daß jeder Mensch ein Gehirn hat, und wir nehmen sie gläubig hin. Ich glaube, daß es eine Insel, Australien, gibt von der und der Gestalt usw. usw., ich glaube, daß ich Urgroßeltern gehabt habe, daß die Menschen, die sich für meine Eltern ausgaben, wirklich meine Eltern waren, etc. Dieser Glaube mag nie ausgesprochen, ja, der Gedanke, daß es so ist, nie gedacht werden.

Erinnerungstafel an Ludwig Wittgenstein in der (nun nach ihm benannten)
Volkschule in Trattenbach, wo er 1920 bis 1922 als Lehrer beschäftigt war.
160. Das Kind lernt, indem es dem Erwachsenen glaubt. Der Zweifel kommt nach dem Glauben.

161. Ich habe eine Unmenge gelernt und es auf die Autorität von Menschen angenommen, und dann manches durch eigene Erfahrung bestätigt oder entkräftet gefunden.

163. Prüft jemand je, ob dieser Tisch hier stehenbleibt, wenn niemand auf ihn achtgibt?

Wir prüfen die Geschichte Napoleons, aber nicht, ob alle Berichte über ihn auf Sinnestrug, Schwindel u. dergl. beruhen. Ja, wenn wir überhaupt prüfen, setzen wir damit schon etwas voraus, was nicht geprüft wird. Soll ich nun sagen, das Experiment, das ich etwa zur Prüfung eines Satzes mache, setze die Wahrheit des Satzes voraus, daß hier wirklich der Apparat steht, welchen ich zu sehen glaube (u. dergl.)?

164. Hat das Prüfen nicht ein Ende?

165. Ein Kind könnte zu einem andern sagen »Ich weiß, daß die Erde schon viele hundert Jahre alt ist«, und das hieße: Ich habe es gelernt.

166. Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen.

167. Daß unsre Erfahrungsaussagen nicht alle gleichen Status haben, ist klar, da man so einen Satz festlegen und ihn vom Erfahrungssatz zu einer Norm der Beschreibung machen kann.

Denk an chemische Untersuchungen. Lavoisier macht Experimente mit Stoffen in seinem Laboratorium und schließt nun, daß bei der Verbrennung dies und jenes geschehe. Er sagt nicht, daß es ja ein andermal anders zugehen könne. Er ergreift ein bestimmtes Weltbild, ja, er hat es natürlich nicht erfunden, sondern als Kind gelernt. Ich sage Weltbild und nicht Hypothese, weil es die selbstverständliche Grundlage seiner Forschung ist und als solche auch nicht ausgesprochen wird.

170. Ich glaube, was mir Menschen in einer gewissen Weise übermitteln. So glaube ich geographische, chemische, geschichtliche Tatsachen etc. So lerne ich die Wissenschaften. Ja, lernen beruht natürlich auf glauben.

Wer gelernt hat, der Mont Blanc sei 4000 m hoch, wer es auf der Karte nachgesehen hat, sagt nun, er wisse es.

Und kann man nun sagen: Wir messen unser Vertrauen so zu, weil es sich so bewährt hat?

172. Vielleicht sagt man »Es muß doch ein Prinzip diesem Vertrauen zugrunde liegen«, aber was kann so ein Prinzip leisten? Ist es mehr als ein Naturgesetz des ›Fürwahrhaltens‹?

173. Liegt es denn in meiner Macht, was ich glaube? oder was ich unerschütterlich glaube?

Ich glaube, daß dort ein Sessel steht. Kann ich mich nicht irren? Aber kann ich glauben, daß ich mich irre? Ja, kann ich es überhaupt in Betracht ziehen? — Und könnte ich nicht auch an meinem Glauben festhalten, was immer ich später erfahre?! Aber ist nun mein Glaube begründet?

Quelle: Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit (Werkausgabe Band 8), Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1984 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 508). ISBN 3-518-28108-9. Zitiert wurde ein Ausschnitt aus dem Text ›Über Gewißheit‹ (1950/51), Seiten 141-155.


Link-Tipps

Webportal der Joseph-Marx-Gesellschaft

Berkant Haydins umfangreiche private Website über Leben und Werk von Joseph Marx

Ludwig Wittgensteins kurze Notiz Standardsituationen findet ihre Würdigung im "Lexikon der imaginären philosophischen Werke"(hier in der Kammermusikkammer)

Tractatus Architectonicus. Wie baut man das perfekte Haus? Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat Wien ein geniales Haus hinterlassen.


Klavierlieder - eine Kern-Kompetenz der Kammermusik-Kammer! Hören Sie selbst:

Klavierlieder von Bruno Walter (1876-1962) | Vorsicht, Satire - Angewandte Lyrik von Klopstock bis Blubo (Friedrich Torberg)

Klavierlieder von Clara Schumann (1819-1896) | Ein Suchbild mit Drache - Laubwald mit dem Heiligen Georg (Albrecht Altdorfer)

Klavierlieder von Felix Mendelssohn (1809-1847) | "Je suis belle, ô mortels! comme un rêve de pierre" - Schön sind die Geschöpfe von Baudelaire und de Lempicka

Letzte Klavierlieder von Franz Schubert (1797-1828) | "En una noche escura" - Ein ernster Ton von ernsten Männern (Lyrik aus Spaniens Goldener Zeit)

Und Schuberts "Schöne Müllerin" (Historische Aufnahme 1974) | Das geöffnete Kleid - Piero della Francesca nimmt Maß an den Dingen


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Turina | Zilcher | Dvořák: Klaviertrios

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Die vorliegende CD stellt Trios von Antonín Dvořák, Hermann Zilcher und Joaquín Turina zusammen. Diese drei Komponisten sind fest in der klassischen europäischen Kunstmusik verwurzelt, haben aber Elemente der Volksmusik ihres Kulturkreises in ihr Schaffen einbezogen. Die hier vorgestellten Kompositionen weichen von tradierten Formvorgaben wie der klassischen Viersätzigkeit ab, wobei die Elemente der volkstümlichen Lieder und Tänze zum Entstehen der neuen Formen beitragen. Der persönlich-emotionale Ausdruck steht im Vordergrund, während die Werke der klassischen Zeit, die Dvořák, Zilcher und auch Turina noch als Vorbilder dienten, eher eine allgemein ästhetische Aussage zu erreichen suchten. Die drei Komponisten liefern überzeugende Beispiele dafür, dass die Musik im Konzertsaal durch volkstümliche Traditionen um eine kraftvolle Farbe bereichert wurde.

Die musikalische Entwicklung von Joaquín Turina (Sevilla 1882 - Madrid 1949) wurde von seinem Vater, einem Maler italienischer Abstammung, früh gefördert. Nach einer Ausbildung als Pianist in Madrid ging er mit ersten Kompositionen im Gepäck 1905 nach Paris, wo er bei Vincent d’Indy studierte. Dort war der Einfluss von dessen Vorgänger César Franck noch sehr präsent, und Turina konnte sich auch den neuen Klängen eines Claude Debussy nicht verschließen. Durch die Freundschaft mit Manuel de Falla und Isaac Albéniz wurde sein Interesse an der spanischen Volksmusik bestärkt. 1914 war sein Erfolg in Paris und in Spanien gefestigt und Turina kehrte als geachteter Komponist nach Spanien zurück. 1930 wurde er als Professor ans Konservatorium nach Madrid berufen; später wurde er dessen Direktor. 1941 ernannte man ihn zum Leiter der Musikabteilung im spanischen Erziehungsministerium.

Zeit seines Lebens ließ sich Turina von literarischen und visuellen Ideen zu seinen Werken inspirieren. Die spanische Musik mit ihren charakteristischen Tänzen und Rhythmen (z.B. die Abwechslung vom 6/8 mit dem 3/4 Takt), die der Gitarre abgelauschten Elemente wie schnelle Repetitionen und markant gebrochene Akkorde oder auch die typisch andalusische Bassfortschreitung A G F E — dies sind nur ein paar Merkmale, die die Atmosphäre in Turinas Musik bestimmen. In den Satzstrukturen orientiert sich Turina jedoch bewusst an den mitteleuropäischen Traditionen der klassischen Musik - weit mehr als de Falla und Albéniz.

Joaquín Turina (1882-1949)
Die Verwendung volkstümlichen Materials in der spanischen Kunstmusik steht bereits in einer längeren Tradition. Domenico Scarlatti, seit 1729 in Spanien, übernahm die Lieder der Eselstreiber und Träger sowie die Rhythmen der Tänze der einfachen Leute in seine Werke. Doch die spanische Musik führte lange, auch aus politischen Gründen, ein Rand—Dasein in Europa. Erst durch die Verbindung des Volkstümlichen, typisch Spanischen mit den Formen der europäischen Kunstmusik, z.B. durch Felipe Pedrell (1841 - 1922) in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wurde die spanische Musik von führenden Kritikern in Europa überhaupt wahr- und ernstgenommen. Pedrell schuf eine Sammlung klassischer spanischer Musik mehrerer Jahrhunderte, die zeigte, dass die spanische Kunstmusik seit jeher auf dem Boden der Volksmusik stand. Insofern fand nur eine Neubewertung des spanischen Beitrags zur europäischen Musik statt, anders als in Deutschland und in den osteuropäischen Ländern, in denen man die Volksmusik für die Kunstmusik erst im großen Stil „entdeckte”.
Turina gewann mit seinem ersten Klaviertrio 1926 den nationalen spanischen Musikpreis. Das hier eingespielte dritte Klaviertrio „Círculo” entstand 1942. Die Musik dieses letzten Trios ist viel weniger durch vorgegebene formale Überlegungen geprägt als die des ersten, das sich explizit auf traditionelle Formen wie Prelude, Fuge, Variation oder Sonate bezieht. Die Form ergibt sich aus der Idee des „Círculo”, des Tageskreislaufs mit Sonnenaufgang, Mittag und Abenddämmerung. Zwei ruhige Sätze umrahmen einen lebhaft-tänzerischen Teil. Turina soll ein freundlicher Mensch gewesen sein, der Einfachheit und Schönheit liebte. Die Wirren der Zeit, Tragik oder depressive Leidenschaft spiegeln sich in seinem Werk nicht. „Círculo” - von Turina mit dem Untertitel „Fantasia“ bezeichnet - sind drei impressionistisch gefärbte Szenen voll spanischer Eleganz und glutvoller Schönheit.

Hermann Zilcher (1881-1948) stammt aus Frankfurt und zeigte als Kind eine ausgeprägte Doppelbegabung für Malerei und Musik. Mit seiner Ausbildung verlagerte sich der Akzent schließlich doch ganz auf die Musik und er wurde als Konzertpianist und später als Komponist in ganz Deutschland bekannt. Dies führte zu seiner Berufung als Professor zunächst an die Musikhochschule in München und von 1920 an als Direktor an das Musikkonservatorium in Würzburg wo er 1948 starb. Zilchers Musik steht ganz in der Nachfolge von Johannes Brahms, Richard Strauß und Max Reger. Sein großes Vorbild war Mozart. Er entwickelt auf dieser Basis eine Tonsprache, die Elemente des Volkstümlichen mit stark kontrapunktisch geprägter Themenbehandlung verbindet.

Hermann Zilcher (1881-1948)
Insbesondere der zweite Satz des Klaviertrios op. 56, die „Variationen über ein walisisches Volkslied”, zeigt deutlich die Verwurzelung von Zilchers musikalischem Ausdruck im Liedhaft-Volkstümlichen. Harmonisch gesehen entwickelt er einen individuellen Klang, der zwar impressionistisch anmutende Neuerungen einfließen lässt, im Grunde aber den Boden der Spätromantik nicht verlässt. Das ist wohl der Grund, dass Zilchers Werke in einer Zeit, da Schönberg, Hindemith, Schreker oder Busoni die musikalische Avantgarde bildeten, in Vergessenheit geraten sind. Zilcher setzte als Pädagoge wichtige Akzente für die Musikausbildung an den deutschen Hochschulen und war Gründer des heute noch bestehenden Mozart-Festes in Würzburg.

Das Klaviertrio in e-moll, op. 56, das aus der Zeit um 1927 stammt, ist für Zilchers eigene Konzertpraxis entstanden. Das Zilcher-Trio mit Adolf Schiering, Violine, Ernst Chanbley, Violoncello, und Zilcher selbst am Klavier gab zahlreiche Konzerte in den Jahren vor dem 2. Weltkrieg. Zilcher war in dieser Zeit stark durch die Leitung des Würzburger Konservatoriums in Anspruch genommen, später kamen dann Schwierigkeiten und Behinderungen seiner Tätigkeit durch die Nationalsozialisten dazu. 1942 stellte er den Antrag, ihn seines Postens als Direktor zu entheben. Dazu kam es nicht, weil man auf einen so versierten und kundigen Mann nicht verzichten wollte. Nach dem Krieg wurde er von seiner Stelle als Leiter des Konservatoriums suspendiert. Verbittert über die Missachtung seiner jahrzehntelangen musikalischen Arbeit verbrachte er die letzten Jahre, in denen nur noch die Kantate „Du aber, Herr, bist unser Vater” und seine 5. Symphonie in c-moll entstanden, die in das Sterbelied „Mein Gott, ich bin bereit” mündet. Seine Musik ist heute mit einigen Liedern, dem Klarinettentrio op. 90, dem Klavierquintett op. 42 und dem Klaviertrio op. 56 in den Konzertsälen vertreten.

Das Dumky-Trio op. 90 von Antonín Dvořák (Böhmen 1841 - Prag 1904) ist das älteste Werk auf dieser CD. Es entstand 1890/91, zu einer Zeit, als Dvořák bereits von seiner bevorstehenden Berufung als Professor nach New York wusste. Gemeinsam mit dem Geiger Ferdinand Lachner und dem Cellisten Hanuš Wihan unternahm er 1892 eine „Abschiedstournee" durch seine Heimat, bei der das Dumky-Trio in ca. 40 Konzerten aufgeführt wurde.

Antonín Dvorák (1841-1904)
PHOTOGRAPH, signed and inscribed by the composer
 to Toscanini on the image ("Il Maestro Arturo Toscanini
 in amichevole ricordo, Antonín Dvorák 1903.25.2"),
bearing below the image an autograph quotation from
 the fugal statement of the theme in bb.13-16 of the Finale
 from his Symphonic Variations, Op.78,, 25 February 1903
„Dumka” (Plural „Dumky”) bezeichnet in den slawischen Sprachen als Verkleinerungsform von „Duma” (der Rat, der bedeutende Gedanke) einen Gedanken, dem man nachhängt - nichts Weltbewegendes, eher etwas Verträumtes. Manche Quellen bezeichnen mit „Dumka” einen Tanz ukrainischer Herkunft, manche ein slawisches Lied — jedenfalls hat sie meist eine melancholische Note. Bei Dvořák hat die Dumka eine zweiteilige Form mit einem langsam-melancholischen Teil und einem tänzerisch-schnellen Teil, der häufig in Dur steht. Bereits in früheren Werken wie dem Streichsextett op. 48, dem Streichquartett op. 51 oder dem Klavierquintett op. 81 verwendet er dieses formale Modell der Dumka. Weitere Elemente, die seinen Werken eine volkstümliche Färbung geben, sind typische Rhythmen (Polka, Furiant) und Melodiebildungen, die teilweise echten Liedern und Tänzen entnommen, meistens aber nachempfunden sind.

Das Dumky-Trio ist insofern bemerkenswert, da die Dumka das einzige, äußerst einfache formbildende Prinzip aller sechs Sätze des Werkes ist. Dvořák hatte in der Zeit um 1890 längst seine individuelle Klangsprache gefunden, so dass diese formale Einfachheit ihm genügend Raum für seinen melodiösen Einfallsreichtum ließ. Noch heute gehört das Dumky-Trio zu den beliebtesten Werken für Klaviertrio. Mit seinem bewussten Bekenntnis zur musikalischen Tradition seiner Heimat war Dvořák sicher eines der wichtigen Vorbilder, die in ganz Europa den verschiedenen Strömungen der Volksmusik und der nationalen Folklore zum Einzug in die Musik der Konzertsäle verhalfen.

Quelle: Ulrike Eickenbusch, im Booklet


TRACKLIST


TURINA - ZILCHER - DVORAK

Klaviertrios


JOAQUÍN TURINA (1882-1949)

Círculo Op. 91 Fantasía para piano, violín y violoncello (1942)

(1) Amanecer 4:03
(2) Mediodía 2:22
(3) Crepúsculo 4:29


HERMANN ZILCHER (1881-1948)

Trio in E minor, Op. 56 for piano, violin and violoncello (1927)

(4) Ruhig fließend beginnen 11:51
(5) Variationen über ein walisisches Vollslied 12:12
Ruhig schreitend, einfach


ANTONÍN DVORÁK (1841-1904)

Trio in E minor, Op. 90 for piano, violin and violoncello "Dumky Trio"

(6) Lento maestoso - Allegro quasi doppio movimento 4:39
(7) Poco adagio - vivace non troppo 7:08
(8) Andante - vivace non troppo 6:16
(9) Andante moderato (quasi tempo di marcia) 5:26
(10) Allegro 4:26
(11) Lento maestoso - vivace, quasi doppio movimento 4:58


Total Time: 67:54
Turina-Trio:
Ursula Monter, piano
Bertram Schade, violin
Ulrike Eickenbusch, violoncello

Recorded July 1999, International Bach Academy, Stuttgart
(P)+(C) 2001


Ein Paradies fürs Auge

Gartendarstellungen auf Tapisserien der Renaissance

Abb. 1 Gartentapisserie aus Wetzlar, Südliche Niederlande, letztes Viertel 16. Jhdt.,
Wolle und Seide, 318 x 404,5 cm, Lemmers-Danforth-Sammlung, Wetzlar.
Gartenkunst und Tapisseriekunst: zwei künstlerische Ausdrucksformen, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam zu haben scheinen. Mehrere Jahrhunderte lang aber standen beide Kunstgattungen in einer engen und intensiven Wechselbeziehung und waren im Genre der Gartentapisserie sogar miteinander „verwoben". Die Anfänge dieser Beziehung reichen zurück bis in die Renaissance, als sowohl Garten- als auch Tapisseriekunst eine bis dahin nicht gekannte Blüte erlebten und erstmals auch architektonische Gärten auf Tapisserien gezeigt wurden.

Die Darstellung einzelner Pflanzen hingegen ist mit der Geschichte der Textilkunst untrennbar verbunden. Schon vor Jahrtausenden entstanden im Orient Teppiche mit stilisierten Pflanzen, floralen Motiven und symbolischen Paradiesdarstellungen, die während der Kreuzzüge auch im Westen bekannt und beliebt wurden. Im Mittelalter entwickelte sich in Frankreich ein eigener Typus von Wandteppichen, die sogenannten „Tausendblumen- oder Millefleurs-Teppiche". Diesen Namen verdanken sie ihrem mit reichem Blumenschmuck überzogenen Grund, auf dem die dargestellten Figuren ohne jegliche Andeutung landschaftlicher oder architektonischer Umgebung von kleinen Blumen und Blüten eingeschlossen werden. In den folgenden Jahrhunderten bis hin zum Barock setzten sich Künstler immer wieder intensiv mit Naturdarstellungen auf Tapisserien auseinander.

In der Renaissance, einer Zeit des Umbruchs philosophischer und künstlerischer Traditionen, wurde der architektonische Garten zum Abbild eines völlig neuen Naturverständnisses. In künstlerischen Darstellungen wurde die vergängliche Schönheit des Gartens festgehalten, symbolisch überhöht, und als Sinnbild ewigen Frühlings in den Innenraum transferiert. Tapisserien waren dazu besonders geeignet. Zum einen bot ihre monumentale, wandfüllende Größe ein geeignete Darstellungsfläche, zum anderen waren sie als Luxusgegenstand ähnlich exklusiv wie Gärten. Die Gartentapisserien der Renaissance spiegeln also in besonderem Maß das Verhältnis zwischen Mensch und Natur am Beginn der Neuzeit wider (Abb. 1).

Im Folgenden wird eine allgemeine Interpretation des Genres der Gartentapisserien auf der Basis des neuen Naturverständnisses der Renaissance versucht. Im zweiten Abschnitt werden die Übereinstimmungen zwischen Gartenkunst und Tapisseriekunst anhand von Repräsentationswert‚ künstlerischem Entstehungsprozeß und Rezeption der Zeitgenossen aufgezeigt. Den Abschluß bildet eine thematische Gliederung der erhaltenen Gartentapisserien anhand repräsentativer Beispiele unter Berücksichtigung literarischer Vorbilder.

Abb. 2 Villa Lante in Bagnaia.
Ars et natura

Für den humanistisch gebildeten Menschen des 16. Jahrhunderts ist es ein Ideal, Kunst und Natur zu verschmelzen. Er will die Natur nachahmen (imitatio naturae), indem er das, was die Natur geschaffen hat, auf künstlerischem Weg wiederholt. In diesem Umfeld entstehen erstmals architektonische Gärten, die ausschließlich als Lustgärten konzipiert sind (vgl. Abb. 2). In ihnen gehen Kunst und Natur eine Symbiose ein: aus Pflanzen werden Räume erschaffen, die zum Wandeln oder Sitzen einladen. Buchs und andere Gewächse werden zu geometrischen Kunstwerken geformt (ars topiaria), Wasser wird in Form von Kaskaden und trickreichen Wasserspielen „gezähmt”, es entstehen Grotten, Eremitagen und Labyrinthe. Teiche werden zu Meeren, Hügel zu Gebirgen; schließlich wird der gesamte Garten mittels der skulpturalen Ausstattung zum Tummelplatz von Göttern und allegorischen Figuren. Mit Hilfe des Intellekts und der künstlerischen Ausdruckskraft wird der Garten damit zur „dritten Natur“. Diese gilt als Fortsetzung der ersten Natur — die ursprüngliche Landschaft — und der zweiten Natur — die vom Menschen zu agrarischen Zwecken kultivierte Natur. […]

Garten und Wildnis

Die Sicht auf die Natur war aber nicht nur verklärend. Ungezähmte Natur war genauso wunderbar wie beängstigend. Dementsprechend drückte der göttliche Kosmos sich auch in wilden, unbekannten Tieren oder unüberschaubaren Höhlen und Schluchten aus.

Außerhalb des geordneten Gartens befand sich meist der Boskett-Bereich, ein kleines und doch überschaubares Wäldchen, das schließlich zur unberührten Natur — dem Wald — hinführte. Diese Unterscheidung zwischen der geordneten, kunstreichen Natur und der unbezwungenen, wilden Natur konnte am besten in Jagddarstellungen thematisiert werden (vgl. Abb. 3). lm Zentrum vieler Jagdtapisserien befindet sich ein regelmäßig angelegter, architektonischer Renaissancegarten mit dazugehörigem Schloß. Die Symmetrie und Ordnung im Garten steht in klarem Gegensatz zu seiner Umgebung, der wilden Natur. Sie ist durch unebenes und wegloses Terrain mit unzähligen Pflanzen und darin verborgenem Kleintier charakterisiert. Hinter der Gartenanlage erhebt sich eine bewaldete Bergkette, die in einem Felsmassiv mit schneebedeckten Gipfeln endet. Eine Jagdszene im Vordergrund zeigt den Kampf des Menschen gegen die wilden Kräfte der Natur. Der abgeschlossene und geschützte Garten inmitten dieser urwüchsigen Landschaft erhält dadurch etwas Beruhigendes, er vermittelt Harmonie und Ordnung. Der spanische Dichter Pedro Calderón (1600-1681) formulierte es folgendermaßen: „Ein schöner Garten, rings von wildem Forst umgürtet, ist um so schöner, je stärker er den Gegensatz berühret.“

Abb. 3 Jagdtapisserle (Die Bärenjagd), 1575-1580, Wolle und Seide, 360,7 x 299,7 cm,
The Fine Arts Museum of San Francisco, Schenkung von Mr. & Mrs. Mortimer Fleishhacker.
Die Darstellungen auf Jagdtapisserien ermöglichen dem Betrachter, sich mit den verschiedenen Gesichtern der Natur, ihren Gottheiten und ihren Lebewesen auseinanderzusetzen. Sie stellen eine Verknüpfung der drei in Hierarchie des Universums neu geordneten und miteinander verankerten Kräfte dar: Gott, Mensch und Natur.

Innen und Außen

Die Tapisserie als monumentales und exklusives künstlerisches Ausdrucksmittel war besonders geeignet, zur Darstellung von Gärten herangezogen zu werden. Die Größe und die verwendeten Materialien wie Gold- und Silberfäden sind es, die Gartentapisserien zu einem paradisus oculorum werden lassen. Mit ihrer Hilfe konnte der Garten mit seinem gesamten Symbolgehalt sozusagen nach innen transferiert werden, in die Prunkräume des Schlosses seines Besitzers. Der Anblick der Tapisserie bot dort gleichsam einen Aus- oder Einblick in den eigenen Garten. Architektonische Elemente wie Säulen, Karyatidhermen oder Balustraden verstärken den Eindruck, als blicke man in eine Gartenlaube oder über eine Balustrade hinein in den Garten. Damit lädt die Tapisserie scheinbar zum Eintreten ein. Zusätzlich weisen allegorisch-szenische Handlungen verstärkt auf den metaphysischen Gehalt des Gartens hin. Diese Weltabbildlichkeit, die sich aus der philosophischen, religiösen und naturwissenschaftlichen Dimension ergibt, wird vor allem durch ein umfassendes allegorisches Programm, aber auch durch zeitgenössische Staffage unterstrichen. Durch diese Gleichsetzung erfährt der Besitzer der Tapisserie eine Aufwertung seines eigenen Schloßgartens.

Im Gegensatz zum englischen Landschaftsgarten des frühen 19. Jahrhunderts, in dem der Betrachter eingeladen war, Bestandteil des „Naturgemäldes“ zu sein, und in dem das aktive Naturerlebnis überraschende Wendungen erfuhr, ist der klar umgrenzte, überschaubare Renaissancegarten am besten von oben zu betrachten. Diese statische Landschaftsbetrachtung drückt sich auch in den Darstellungen auf Tapisserien aus.

Der Schloßgarten ist meist umgeben von Laubengängen und führt niemals in eine unbegrenzte Weite — auch wenn das Gefühl der Ferne erzeugt werden soll, so doch nicht durch den Garten selbst, sondern durch die wilde Natur (Wald, Berge) im Hintergrund. Tapisserien wie die der „Vertumnus und Pomona—Serie" (Abb. 5 bis 7) verdeutlichen die Sehnsucht nach klarer Ordnung und Abgrenzung. Der Blick in den Garten wird nur durch schmale Öffnungen in der Gartenlaube ermöglicht und ist rundum durch Statuen, Balustraden oder Laubdächer begrenzt. […]

Abb. 4 E. Dupérac, Villa d'Este in Tivoli, 1573, Kupferstich,
Biblioteca Hertziana, Rom.
Rolle der Auftraggeber

Die Auftraggeber sowohl von Gartenanlagen als auch von Tapisserieserien kamen aus dem klerikalen und weltlichen Feudaladel. Beide Künste verlangten außergewöhnlich große Geldmittel und dienten aus diesem Grund immer auch zur Demonstration des eigenen Reichtums.

So werden etwa in gartentheoretischen Schriften der Spätrenaissance Gärten nach Gesellschaftsklassen unterschieden. Joseph Furttenbach d. Ä. (1591-1667) schreibt, daß vor allem auf die Größe zu achten sei, damit „hierdurch der Seckel nit zu wehklagen habe“. Nur ein Freiherr, Graf oder Fürst könne sich neben einem Küchen-‚ Baum- und Pomeranzengarten noch einen Tiergarten leisten. Schon die Auswahl der Pflanzen im Garten zeugte vom Reichtum des Besitzers: je seltener und exotischer, desto teurer und repräsentativer.

Auch bei Tapisserien hatte der Materialwert sehr große Bedeutung. Die Verwendung von Edelmetallen wie Gold- oder Silberfäden erfüllte oft auch eine sozial differenzierende Signalfunktion. Dazu kamen die Kosten für die Weber. Gerade das Figurenweben zählte zu den schwierigeren, kunstreicheren Arbeiten, für die in vielen Fällen eigene Spezialisten entsprechend entlohnt werden mußten.

Angesichts der hohen Kosten waren viele Käufer von Tapisserien an zeitlosen, allgemein etablierten Themen interessiert. Diese konnten nämlich aus einem Sortiment von bereits vorhandenen Entwürfen ausgewählt und bestellt werden. Gerade bei Gartentapisserien war es üblich, die Vorlagen (Kartons) für mehrere Auftraggeber zu verwenden. Je nach Wunsch und finanziellen Möglichkeiten des Kunden wurden sie mit Wappen oder mythologischen Figuren angereichert. Durch ein entsprechendes ikonographisches Programm konnte der Bezug zum Auftraggeber hergestellt werden, es diente zur Verherrlichung seiner Person oder seiner Taten. […]

Auch die meisten Gartenanlagen basierten auf einem ikonographischen Konzept — beispielsweise war der Mythos des Goldenen Zeitalters für die Propaganda der Medici von besonderer Bedeutung und bestimmte sowohl die Anlage der Villa Lorenzo des Prächtigen in Poggio a Caiano als auch der Villa für Herzog Cosimo I in Castello. In beiden Kunstgattungen wiesen heraldische Motive gezielt auf die Herkunft und die gesellschaftliche Stellung der Besitzer hin.

Abb. 5 Detail aus Abb. 6.
Künstlerische Praxis

[…] Eine berühmte Renaissancevilla der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts — die Villa d'Este in Tivoli” (Abb. 4) — geht in ihrer künstlerischen Konzeption maßgeblich auf Pirro Ligorio zurück. Dieser Künstler — der Architekt und Entwerfer des außergewöhnlichen Gartens für Kardinal lppolito II. d'Este — ist auch für eine Serie von Entwürfen für Wandteppiche verantwortlich, die mit großer Wahrscheinlichkeit zur Ausstattung der Villa d'Este entstanden. In 16 Zeichnungen illustriert er das Leben des griechischen Helden Hippolitus. Ligorio fügte den Zeichnungen zahlreiche schriftliche Kommentare bei und stellte eine Verbindung zum Leben des Kardinals her. Die Tapisserieentwürfe bildeten in ihren Anspielungen auf den heldenhaften Namenspatron eine Allusion auf den Kardinal. Hier läßt sich gut erkennen, daß der Künstler gleichsam Regie führte. Die handelnden Personen der Geschichte — Hipploytus, Herkules, Äskulap, Diana —, sie alle spielen eine große Rolle im ikonographischen Programm der Villa d'Este, in ihrem Tapisserieschmuck und in ihrem Garten.

Ebenso zeigt sich Giulio Romano, der Architekt und Ausstatter des Palazzo del Te in Mantua, für zahlreiche Tapisserieentwürfe verantwortlich, darunter die sogenannten Kinder- oder Puttenspiele, die aufgrund ihrer großen Beliebtheit in mehreren Variationen als Tapisserien ausgeführt nurden.

Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen, denn auch später noch, im 17. Jahrhundert, entwarfen namhafte Künstler wir Peter Paul Rubens und Jacob Jordaens Tapisserievorlagen. An dieser Stelle sei auch auf einen Franzosen hingewiesen, der 1686 an den kaiserlichen Hof in Wien kam: Jean Trehet. Er beherrschte zwei Kunstzweige — die Tapisseriekunst und die Gartenkunst. Als Inspektor der ‚kaiserlichen Tapezerey’ übernahm er Ausbesserungsarbeiten und Neuanfertigungen. Auch an die Errichtung einer niederländischen Teppichmanufaktur für den Wiener Hof war gedacht. Als kaiserlicher Garteningenieur sollte er vorerst die „Alte Favorita" (das heutige Theresianum) verschönern und anschließend die Planung der Gartenanlage von Schönbrunn übernehmen. […]

Am augenfälligsten ist die sprachliche und optische Verwandtschaft von Gärten und Textilien ab der Barockzeit, denn nun erhalten die kunstvoll geschwungenen Ornamentbeete den Namen „parterre de broderie" (frz.: Stickerei). Im 19. Jahrhundert taucht der Begriff des Teppichbeetes (auch carpet bed, tappeto di fiori) auf, der auch Termini aus beiden Kunstgattungen vermischt. Es handelt sich dabei um Beete, die Muster aus verschieden farbigen Pflanzen aufweisen, „die mit einem gestickten Teppich Ähnlichkeit haben“.

Abb. 6 Vertumnus und Pomona-Serie‚ Vertumnus als Winzer, Brüssel, vor 1545,
Wolle, Seide, Gold- und Silberfäden‚ 297 x 421 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien.
Die Themen

Der Garten als Lust- und Liebesgarten

Das Motiv des Liebesgartens hat eine bis ins Mittelalter zurückreichende Tradition. In der Literatur zählen der „Rosenroman" von Guillaume de Lorris (1230) und vor allem die „Hypnerotomachia Polophili" (Der Traum des Poliphil) von Francesco Colonna (1467 datiert und 1499 erstmals in Venedig erschienen) zu bemerkenswerten Dokumenten der Gartenkunstgeschichte. In beiden Romanen betritt ein Jüngling im Traum einen Liebesgarten. Im letzeren wird der lch-Erzähler Poliphil im Traum auf der Suche nach seiner Geliebten Polia auf die Insel Kythera, Insel der Venus, geführt. Kythera wird in größter Ausführlichkeit als kunstvoll gestalteter Garten geschildert, der formal viele Charakteristika eines Renaissancegartens aufweist. Die kreisrunde Insel wurde in konzentrischen Ringen mit radial verlaufenden Wegen angelegt und gehorcht einem klaren geometrischen Grundprinzip. Der Liebesgarten in der Hypnerotomachia wird als locus amoenus geschildert, als ein Ort idealer Schönheit und immerwährenden Frühlings. Es werden das klare Wasser, die fruchtreichen Bäume und die blühenden Blumen beschrieben. Der Garten ist von Vögeln und zahmen Tieren reich bevölkert. Auch die Menschen leben in friedlicher Eintracht und Zuneigung auf Kythera — der ideale Ort für Poliphil, die Liebe zu finden. „Auf den Wiesen sah ich unzählige Jünglinge und schöne Jungfrauen, die mit Hingabe musizierten, sangen, tanzten, sich fröhlich unterhielten und sich in völliger Unschuld und Reinheit umarmten." Zahlreiche Holzschnitt-Illustrationen ergänzen den Roman, der auch aufgrund seiner Verarbeitung vielfältiger literarischer Texte aus der Antike als interessante Quelle für das Gedankengut der Renaissance angesehen werden kann.

Im 16. Jahrhundert findet der architektonische Garten Eingang in den Themenkreis der Tapisserien. Zahlenmäßig am stärksten vertreten ist jene Gruppe, in der der Garten als Ort der Geselligkeit, des Spiels und der Liebe charakterisiert wird. In vielen Gartentapisserien des späten 16. Jahrhunderts wird der Garten als Lustgarten mit musizierenden, tanzenden und flanierenden Pärchen in zeitgenössischer Kleidung charakterisiert. In Abbildung 1 befindet sich auf der linken Seite unter einem überdimensional hohen Laubengang, der von männlichen und weiblichen Karyatidhermen getragen wird, ein Paar, das von einem Kind mit Hund begleitet wird; rechts spielt ein vornehmer Herr in Anwesenheit einer Gesellschaftsdame seiner Liebsten auf der Laute vor.

Abb. 7 Detail aus Abb. 8.
Durch den Laubengang, der gleichsam als Rahmung des Bildfeldes dient, blickt man auf einen Garten mit geometrischen Beeten umgeben von hohen Laubengängen. Rechts enden diese in einem Rundpavillon mit üppig bewachsenem Kuppeldach. Darin sitzen vier Personen an einem runden Tisch. Der „locus amoenus" sollte jener liebliche Ort sein, an dem sorglose Vergnügungen wie gutes Essen, Musik, Tanz und Spiel stattfinden konnten. „Man bemühet sich die Banckete an lustigen Orten / unter grünen Hütten / in Gärten und Fruchtbaumen anzustellen / die Gäste so vielmehr zu belustigen: Was aber sind die bunten Blumen / die Traubenreichen Reben / die Lisplenden Brünnlein / und die Kleebaren Wasen anderst / als Sinnbilder Göttlicher Allmacht.”

Auch in dieser Charakterisierung wird das Zusammenspiel von Gott, Natur und Mensch erkennbar. Der humanistische Mensch der Renaissance war sich der positiven Auswirkungen des Gartens bewußt. Alle Sinne sollten durch den Duft, die Farben und die Geräusche des Gartens angesprochen werden.

Der Garten als göttlicher Ort

„Pomona", die als Göttin des Obstes verehrte Baumnymphe, ist eine jener Figuren, die häufig auf Gartentapisserien dargestellt ist (Abb. 5 bis 7). Die literarische Grundlage bildet die Erzählung aus dem vierzehnten Buch der Metamorphosen Ovids. Vertumnus, der überaus einfallsreiche Gott der Verwandlung, wirbt um Pomona. Ihre Liebe gilt jedoch ausschließlich dem Garten. Daraufhin versucht Vertumnus sich ihr in vielerlei Gestalt zu nähern. Nachdem jedoch jeder dieser Versuche — etwa als Bauer, als Krieger oder als Obstpflücker — scheitert, verwandelt er sich in eine alte Frau und schildert ihr die wahre Liebe des Vertumnus. Er erzählt ihr auch die Geschichte von Iphis, einem Mann aus niederer Herkunft, der sich aufgrund seiner unerwiderten Liebe zu der edlen Anaxarete vor deren Augen tötete, worauf diese zum Steinbild erstarrte. Nach dieser Erzählung verwandelt sich Vertumnus wieder in den schönen Jüngling. Pomona ist daraufhin „von des Gottes Gestalt gefangen und liebte ihn wieder".

Die Entwürfe für diese großartige Tapisserieserie, die in mehreren Versionen existiert, werden Jan Cornelisz Vermeyen unter Mitarbeit von Joost van Noevele und Cornelis Bos zugeschrieben. Je eine beinahe vollständige Serie mit Gold- und Silberfäden befindet sich im Kunsthistorischen Museum in Wien und in Spanischem Staatsbesitz in Madrid. Die „editio princeps" entstand wahrscheinlich vor 1545 für Kaiser Karl V. und besteht aus neun großformatigen Wandbehängen jeweils etwa in der Größe von 4 x 6 Metern. Die in Brüssel gewebten Stücke weisen ein nicht eindeutig identifiziertes Weberzeichen auf, vermutlich handelt es sich aber um das Zeichen des Tapissiers und Händlers Georg Wezeleer.

Abb. 8 Vertumnus und Pomona-Serie, Vereinigung von Vertumnus und Pomona, Brüssel, vor 1545,
 Wolle, Seide, Gold- und Silberfäden, 425 x 445 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien.
Auf schmalen Bühnenstreifen unter kunstvoll gestalteten Laubenarkaden befinden sich die Göttin Pomona und der in unterschiedlicher Gestalt dargestellte Gott Vertumnus. Durch den Laubengang blickt man auf verschieden gestaltete Gartenanlagen — in sich abgeschlossene giardini segreti Pomonas, der Hüterin des Obstgartens. Eine Kartusche am oberen Bordürenrand mit einer lateinischen Inschrift klärt über den Inhalt der Szene auf. SVMPTA FIT FALCE PVTATOR steht über der Darstellung von „Vertumnus als Winzer" (Abb. 6). Hier hält der Gott der Verwandlung eine Hippe in seiner Rechten, jenes Werkzeug, mit dem auch Pomona charakterisiert wird. Der im Hintergrund situierte Garten zeigt fruchttragende Obstbäume auf einer Wiese und reife, von der Laube hängende Trauben. Dieser Laubengang umschließt den Gartenbereich und entspricht so der Handlung der Geschichte: „Fürchtend jedoch die Gewalt der Bauern, schließt sie von innen / Ab ihren Garten und wehrt dem Zutritt von Männern und flieht sie.” Pomona versperrte ihren Garten, um in Ruhe ihrer Aufgabe nachgehen zu können. […]

Auf der letzen Tapisserie dieser Serie (Abb. 7) wird das glückliche Ende der schwierigen Beziehung zwischen Vertumnus und Pomona geschildert. ln einem halbkreisförmigen Rundpavillon sitzend entfernt Vertumnus die letzten Relikte seiner Verkleidung als alte Frau, woraufhin seine Liebe von Pomona erwidert wird. Auch die Vereinigung von Polia und Poliphil findet in einem Rundtempel im Zentrum von Kythera statt. Denn sowohl in der italienischen als auch in der französischen Ausgabe der Hypnerotomachia findet man einen perspektivischen Querschnitt dieses Tempels. Dieses Werk hatte besonders auf französische und niederländische Künstler großen Einfluß. Und so finden sich auch in dieser Tapisserieserie Zitate der Illustrationen des Romans.

Gartenveduten

Zu dieser Gruppierung gehören all jene Gartentapisserien, die ohne menschliche Staffage auskommen. Aber auch hier spiegelt sich das neue Naturverständnis der Renaissance in den detailgetreuen Pflanzen- und Tierdarstellungen wider. Mit dem Beginn der Neuzeit erwachte das Interesse an Kunst- und Wunderkammern und zunehmend auch an botanischen und zoologischen Enzyklopädien. Auch der Garten sollte einen Katalog der Natur darstellen. Herrscher wir Kaiser Maximilia II. und Rudolf II. waren begeisterte Sammler und zählten zu den großen Förderern der Naturwissenschaften.

In Deutschland, Frankreich und Italien entstanden zoologische und botanische Schriften wie zum Beispiel vom Gründer des Botanischen Gartens in Padua, Ulisses Aldrovandi (1522-1605). Diese Bücher vermerken neben der wissenschaftlichen Beschreibung mit Zeichnung der Pflanzen und Tiere auch deren Gewohnheiten, Temperamente und Charaktere. Wie eng im damaligen Verständnis Mystik und Natur beieinander lagen, zeigt sich darin, daß auch Fabelwesen wie Drache und Einhorn aufgenommen wurden.

Abb. 9 aus Serlios Architekturtraktat.
Das wissenschaftliche Interesse vermischte sich aber auch mit ästhetischen Fragen. Der Botaniker Carolus Clusius (1526-1607) beispielsweise, obwohl Forscher und nicht Künstler, befürwortete die Schönheit als wesentliches Kriterium für die Auswahl und die Reihenfolge seiner darzustellenden Pflanzen.

Gerade in den Tapisserien konnten Pflanzen als dekoratives Mittel der Kunst in die Darstellung einbezogen werden. Bemerkenswert ist jene Serie, die 1564 für Kardinal Granvella (1517-1586), den humanistisch gebildeten und kunstsinnigen Staatsminister unter Kaiser Karl V. und König Philipp ll., angefertigt wurde (Abb. 8 bis 10). Diese aus sechs Tapisserien bestehende sogenannte „Granvella-Serie”, in deren oberen Bordürenrand das Wappen des Kardinals eingewebt ist, gehört heute zum Sammlungsbestand des Kunsthistorischen Museum in Wien. Dabei handelt es sich um einen hoch- und fünf querformatige Bildteppiche, die ausschließlich architektonische Gärten mit Tierstaffagen zeigen. Durch die Perspektive des Laubenganges und des dahinter liegenden Gartens wird der Betrachter scheinbar eingeladen, den Garten zu betreten. Ähnlich wie in der Vertumnus und Pomona-Serie blickt man durch eine Pergola in den Garten. In den meisten Fällen wird das laubbewachsene Dach von steinernen oder marmornen Rundsäulen oder Pfeilern getragen, die den klassischen Säulenordnungen der Renaissance entsprechen. […]

Diesem Gartenschloß soll hier Aufmerksamkeit geschenkt werden: Das dargestellte Gebäude ist nahezu identisch mit einem Entwurf aus dem Architekturtraktat Sebastiano Serlios über die fünf Säulenordnungen“ (Abb. 9). Schon Vitruv und auf ihn zurückgreifend auch Leon Battista Alberti beschäftigten sich mit den klassischen Säulenordnungen. Erst durch die beigefügten Bildtafeln erlangte das ab 1537 in Venedig erschienene Architekturtraktat Serlios vor allem in Nordeuropa größte Beliebtheit. Den verschiedenen Ordnungen wurden bestimmte Eigenschaften und Charaktere zugeschrieben. Die einfachste Ordnung stellt die Toscana dar, gefolgt von der Donca, die von Serlio als männlich und stark interpretiert wurde. Die Ionica und die Corinthia beziehen sich auf das weibliche Geschlecht. Als letzte steht die Composita zur Verfügung, die bereits bei einigen Theoretikern des 16. Jahrhunderts als Zeichen für übertriebene ornamentale Freiheiten und Geschmacklosigkeiten galt.

Abb. 10 Granvella Nr. 3, Brüssel, 1564, Wolle und Seide, 363 x 520 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien.
Der Entwerfer der Granvella-Serie, Josse van Noevele, der Schwager des Webers Willem de Pannemaker, hatte demnach genaue Kenntnis des Traktates von Serlio. Mit großer Wahrscheinchkeit wurden die Pergolen der „Granvella-Gärten" auf die Genera der fünf Säulenordnungen abgestimmt, denn jeder Teppich (mit Ausnahme des hochformatigen Exponats) läßt sich einer bestimmten Ordnung zuweisen. Darüber hinaus unterstreichen die dargestellten Pflanzen und Tiere die zugeschriebenen Charaktere. ln der als dorisch identifizierten Tapisserie wachsen üppige Kürbisgewächse mit mächtigen Früchten‚ oft in phallischer Form. Zwischen den Pfeilern sind majestätische Hirsch- und Reharten dargestellt. Dies alles weist auf den Charakter und das Geschlecht dieser als männlich, tapfer und stark interpretierten Säulenordnung hin.

Eine andere Tapisserie dieser Serie zeigt rote Marmorsäulen mit ionischen Kapitellen, die ein von Kletterrosen bewachsenes Laubendach tragen. Die Rose galt schon im Mittelalter als Königin der Blumen und Symbol der Jungfrau Maria. So wurden sowohl die Rose als auch die Ionica als tugendhaft und weiblich wahrgenommen.

Weiters gibt es eine Tapisserie mit einem korinthischen Kreuzgang, unter dem sich exotische und kostbare Vögel wie Truthahn, Perlhuhn und Pfau befinden. Das Laubendach ist von einem üppig blühenden und fruchttragenden Granatapfelbaum bedeckt. So kann man diese Tapisserie, die Corinthia, als kostbar und reich interpretieren.

In der Composita (Abb. 10) kulminieren alle bisherigen Säulenordnungen. Sie vermischt die einzelnen Merkmale bzw. erzeugt etwas völlig Neues. Die einzige Pergola, die nicht von Säulen oder Pfeilern, sondern von männlichen und weiblichen Karyatidhermen getragen wird, stellt den Höhepunkt dieser Tapisserieserie dar. Die Charakterisierung als besonders prächtig und kräftig wird durch den angeketteten Panther und die seltene, radiale Anordnung der Beete in der Mittelachse der Tapisserie unterstrichen. Auch die Verwendung des mehrfarbigen Marmors und die Drohgebärde des Marders in der rechten Bildhälfte unterstützen diese Interpretation.

Die beiden hier vorgestellten Wiener Gartenserien „Vertumnus und Pomona" und die „Granvella-Gärten" stellen einen Höhepunkt im Genre der Gartentapisserien dar — nicht zuletzt aufgrund ihrer Vollständigkeit und ihrer qualitätvollen Ausführung. Gleichzeitig wird hier das Wechselspiel von Kunst und Natur besonders augenscheinlich vorgeführt. Es zeigt sich, daß Gartentapisserien unter dem Blickpunkt des neuen Naturverständnisses der Renaissance erklärt werden können. Der Garten, die ‚dritte Natur‘, ist Teil des göttlichen Kosmos, in dem die Ordnung der Natur zum Ausdruck gebracht wird. Ein realer Garten verändert im Wechsel der Jahreszeiten sein Aussehen. Durch das Festhalten in der Gartentapisserie scheint diese Vergänglichkeit jedoch aufgehoben. Auch die Identifikation bzw. Gleichstellung mit Göttern oder Helden fällt durch die meist lebensgroße Darstellung leicht. Die monumentale Darstellung von Gärten auf Tapisserien bietet dem Betrachter gleichsam einen Ausblick in einen idealen Garten, ein Paradies für das Auge.

Quelle: Dagmar Sachsenhofer: Ein Paradies fürs Auge. Gartendarstellungen auf Tapisserien der Renaissance. In: Belvedere. Zeitschrift für bildende Kunst. 11. Jahrgang, Heft 1/2005. ISNN 1025-2223. Seite 4 bis 21 (gekürzt).


Klaviertrios gibt es auch einige in der Kammermusik-Kammer! Hören Sie selbst:

Paul Juon: Die Werke für Klaviertrio (Altenburg Trio Wien) | Otto Pächt: Die Erfassung des Raumes. Am Beispiel der Admonter Riesenbibel.
 

Antonin Dvorák: Die Kammermusik (8 CDs, auch ohne die Streichquartette) | Gustav Meyrink: Tschitrakarna, das vornehme Kamel.(»Bitt’ Sie, was ist das eigentlich: Bushido?«)

Robert Schumann: Die Kammermusik (7 CDs, diesmal komplett mit den Streichquartetten) | Raymond M. Smullyan: Aus dem »Buch ohne Titel«.

Fanny Mendelssohn | Clara Schumann: Klaviertrios | Erich Auerbach: Fortunata. Aus »Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der Abendländischen Literatur«.



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La Frottola - eine fast vergessene Kunstgattung des 15. und 16. Jh.

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Unter der Frottola versteht man eine vierstimmige, schlichte Liedform, die als lyrisch-musikalische Gattung etwa um 1450 bis 1530 an den Höfen von Mantua und Ferrara entwickelt wurde und sich später nach Venedig, Padua und in andere Städte ausbreitete. Die mantuanische Markgräfin Isabella d'Este war eine große Liebhaberin und prominente Förderin dieser Kunst. Musikhistorisch ist die Frottola wohl insbesondere deshalb bedeutsam, weil sie die allererste musikalische Gattung genuin italienischer Prägung gebildet haben dürfte.

Der Begriff Frottola ist wohl vom lateinischen „Frocta“ abgeleitet und bezeichnet ein Konglomerat willkürlicher Gedanken oder auch eine Flunkerei. Es handelt sich um volksliedähnliche Vokalkompositionen für 1 bis 2 Sänger mit oder ohne (kleine) Instrumentalbegleitung zu amourösen Texten, die teils der damaligen Trivialdichtung entstammten, teils aber auch die schönste Liebeslyrik von Petrarca, Ariosto, Dante, Tasso, Boccaccio und anderen vertonte. Gelegentlich wurden die Frottole bei höfischen Konzerten auch mit szenischen Darstellungen verbunden. Durch den Aufschwung des neu entstandenen Notendrucks fanden die u.a. in Venedig von Ottaviano Petrucci herausgegebenen Frottole-Sammlungen erhebliche Verbreitung in ganz Oberitalien, bevor sich bereits Mitte des 16. Jh. der Zeitgeschmack anderen Formen zuwandte.

Die berühmten Komponisten der Hochrenaissane nutzten die Form der Frottola kaum. Viele Frottole stammen von heute wenig bekannten Sänger-Lautenisten wie Serafino dell'Aquila, Marchetto Cara und Bartolomeo Tromboncino, doch wurde der Stil später von vielen anderen Komponisten, unter anderem von Clément Janequin und Orlando di Lasso in ihren Chansons und Villanellen, nachgeahmt. Die Weiterentwicklung der Frottola ist schließlich das im 16. Jh. entstandene Madrigal.

Als 1504 in Venedig das erste von elf Libri di Frottole des Musikverlegers Ottaviano Petrucci im Druck erschien, begann der Boom einer Musik, die mit ihrer Poesie, ihrem Witz und ihrer Leichtigkeit die italienische Gesellschaft begeisterte. Auf der Grundlage literarischer Traditionen, die ins 14. Jahrhundert zurückreichten, bot die Frottola, oftmals als mehrstimmiger Gesang zur Laute, eine raffinierte Unterhaltung, die am Mantuaner Hof der Isabella d’Este Gonzaga und an konkurrierenden Höfen in Norditalien ebenso beliebt werden sollte wie in römischen Kardinalspalästen und Kurtisanenhäusern. Die musikalische Sprache der Frottola bildete zu der Zeit florierende Diskurse wie den Petrarkismus und Diskussionen über die Liebe ab – oft in ironischer Brechung. Als erste eigenständige musikalische Gattung im Italienischen, dem Volgare, lieferte die Frottola zudem einen wichtigen Beitrag zur questione della lingua, den Bemühungen um die Aufwertung der italienischen Sprache.

Später galt die Frottola aufgrund ihrer Einfachheit und der Nähe zur volkstümlichen Musik, dem ewig gleichen Sujet "Amore" und der nicht immer qualitätvollen Dichtung als minderwertigere und antiquierte Kunstform im vergleich zum franco-flämischen Chanson oder dem Madrigal. Beide genannten Gattungen dürften jedoch auf der Frottola basieren bzw. stark von dieser beeinflusst sein. Dass die Frottola in Vergessenheit geriet, ist sehr zu bedauern. Dem heutigen Hörer wird die schlichte, liedhafte Melodik und das Archaische in dieser Musik vielleicht wieder gefallen, insbesondere dann, wenn Texte der großen italienischen Dichterfürsten vertont sind.

Quelle: Général Lavine im Capriccio Kultur-Forum, ergänzt durch eine Buchbesprechung

Link-Tipp:
Prof. Dr. Sabine Meine forscht über die Frottola innerhalb der Musica cortigiana. 

TRACKLIST


FROTTOLE

Popular Songs of Renaissance Italy

Anonymous:
(01) La vida de Culin (1-6, 8-9. 11) 2:25
Text: Anonymous - Source: Ms Montecassino 871

Jacopo da Fogliano (Giacomo Fogliano) (1468-1548):
(02) L’amor, dona ch’io te porto (1-9) 3:10
Text‘ Anonymous - Source: O. Petrucci, Frottole Libro VII, Venezia 1507

Adrian Willaert (1490-1562):
(03) Vecchie letrose (1-10, 12) 2:15
Text: Anonymous - Source: A. Gardano, Canzone villanesche alla napolitana, Venezia 1545

Michele Pesenti (c. 1600-´c. 1648) (attr):
(04) Che faralla, che diralla (1-4. 6-10) 3:40
Text: Anonymous - Source: O. Petrucci, Frottole Libro XI, Fossombrone 1514

Anonymous:
(05) Occhi miei, al pianger nati (1-7, 9-10) 4:42
Text: Anonymous - Source: O, Petrucci, Frottole Libio II. Venezia 1505

Joan Antonio Dalza (? - after 1508):
(06) Poi che volse la mia stella (5) 1:36
Source: O. Petrucci. Intabulatura de laino. Libro IV, Venezia 1508

Sebastiano Festa (1490-1524):
(07) L’ultimo di di maggio (1-4) 2:01
Text: Anonymous - Source: Codice Basevi Ms 2440

Bartolomeo Tromboncino (1470-1535):
(08) Zephiro spira e ’l bel tempo rimena (1, 3, 5-7, 9-10) 4:49
Text: Alter Zefiro torna by Francesco Petrarc
Sources: F. Bossinensis, Tenori e contrabbassi intabulati col sopran in
canto figurato per cantar e sonar col lauto, Venezia 1509

Anonymous:
(09) Alle stamegne, donne (1-9, 11) 2:28
Text: Anonymous - Source: Ms. Montecassino 871

Bartolomeo Tromboncino:
(10) Su, su, leva, alza le ciglia (1-7. 9-10) 5:03
Text: Anonymous - Source: A Antico, Prima libro di Frottole intabulate da sonar organi, Roma 1517

Anonymous:
(11) Ahimè sospiri (1, 5, 8) 3:08
Text: Anonymous - Source: Cancionero El Escorial IV.A.24

Marchetto Cara (1470-1525):
(12) Per dolor me bagno el viso (1-7, 9) 5:56
Text: Anonymous - Source: O. Petrucci, Frottole Libro XI. Fossombrone 1514

Vincenzo Capirola (1474-after 1548):
(13) Ricercar Ottavo (5) 1:47
Source: Compositioni di Messer Vincenzo Capirola, 1517 ca.

Francesco Patavino (1478-1556):
(14) Un cavalier di Spagna (1-4) 1:25
Text: Anonymous - Source: Libro primo de la Croce, Pasotti & Donco, Roma 1526

Bartolomeo Tromboncino:
(15) Virgine bella (1. 6-7. 9-10) 4:02
Text: Francesco Petrarca - Source: A. Antico, Canzoni nove, Roma 1510

Marchetto Cara:
(16) Non è tempo d'aspettare (3, 5-7. 9-10) 3:25
Text: Anonymous - Sources: F. Bossinensis, Tenori e contrabbassi intabulati
col sopran in canto figurato per cantar e sonar col lauto, Venezia 1509

Giovan Battista Zesso (Ioannes Baptista Gesso) (15th-16th century):
(17) D'un bel matin d'amore (1-10) 2:13
Text: Anonymous - Source: O. Petrucci, Frottole Lfbro VII, Venezia 1507

Rossino Mantovano (Rossino di Mantova) (fl. 1505-1511):
(18) Lirum bililirum (1-7. 9-10) 6:01
Text: Anonymous - Source: O. Petrucci, Frottole Libro II, Venezia 1505

Playing Time: 60:06

RING AROUND QUARTET & CONSORT

1 = Vera Marenco, Soprano 7 = Marcello Serafini, Tenor Viol
2 = Manuela Litro, Alto 8 = Marcello Serafini, Renaissance Guitar
3 = Umberto Bartolini. Tenor 9 = Maria Notarianni, Bass Viol
4 = Alberto Longhi, Baritone 10 = Atsufumi Ujiie, Recorder ‘
5 = Giuliano Lucini, Lute 11 = Atsufumi Ujiie, Pipe and Tabor
6 = Aimone Gronchi, Viola d'arco 12 = Atsufumi Ujiie, Percussion

Recorded in Chiesa di San Lorenzo di Premanico, Genoa, Italy, 17th-19th October 2011
Producer: Associazione Musicaround Engineer and Editor: Giacomo Papini
Cover: Detail of a fresco by Enrico Bernardi, Castello Bruzzo, Genoa.
(P)+(C) 2015


Das Fest des Fleisches

Rubens und Helene Fourment

Peter Paul Rubens: Liebesgarten. Um 1638. Leinwand, 198 x 283 cm. Prado, Madrid.
Am 6. Dezember 1630 heiratete Rubens in Saint-Jacques zu Antwerpen Helene, die letzte Tochter unter den elf Kindern seines Freundes Daniel Fourment. Er war dreiundfünfzig und sie sechzehn Jahre alt. Diese Tollheit brachte seine Kunst auf ihre höchsten Gipfel, ein wundersames Fest des Fleisches entfaltete sich im Werk des Paladins der Monarchie und der Kirche.

Helene war eine entzückende, rosige und mollige Person, deren Rundungen unserem Graubart den Kopf verdrehten. Er fand in den Umarmungen jenes hellstrahlenden Körpers zum Jugendglanz zurück. Das war in irdischer Verkörperung die ideale Frau seiner Bilder und Träume, übrigens Isabella Brandt erstaunlich ähnlich. Sie schenkte Rubens fünf Kinder: Claire-Jeanne, getauft am 18. Januar 1632, François am 12. Juli 1635, Isabella-Helene am 5. Mai 1635, Pierre-Paul am 1. April 1639. Eine letzte Tochter, Constance-Albertine, empfing die Taufe am 5. Februar 1641, neun Monate nach dem Tode des Malers.

Da gab es nun eine neue Königin im Reiche jenes glücküberschütteten Mannes, jenes erlauchten Künstlers, jenes Höflings und Diplomaten, der in Paris, Madrid und London, nach Brüssel und Antwerpen, sich als einer der erlesensten Geister durchgesetzt hatte. In dem Hause an der Wapperstraat, das sie gut kannte, weil sie mit ihren Eltern dort schon oft empfangen worden war, richtete sich Helene ein, ein wenig verschüchtert, weil sie von nun an Herrin über all die schönen Dinge sein sollte, ein wenig verwirrt, weil sie eine Art Feenmärchen erleben durfte.

Rubens war unsterblich in sie verliebt. Er achtete nicht der bösen Antwerpener Zungen, die herzogen über die Gier des Wenschenfressers nach frischem Fleisch und darüber lästerten, daß Albert, Rubens ältester Sohn, gerade im Alter seiner Stiefmutter stand. Er wußte ganz genau, daß Helene so wenig wie Isabella sein Leben belasten würde. Weiterhin handelte er, wie es ihm gut schien, und lenkte sein Dasein, wie er es verstand, was er nicht hätte tun können, wenn er eine hochgestellte Dame, wie man ihm öfters vorgeschlagen hatte, oder eine reiche, etwas ältere und schon gereifte Großbürgerin genommen hätte.

Peter Paul Rubens: Rubens und seine zweite Frau im Garten. 1631,
 Holz, 98 x 131 cm. Alte Pinakothek, München.
In der Liebe hatte er seinem zärtlichen, sicherlich verwirrten, aber auch entzückten Weibchen alles beizubringen. Das waren, trotz unerwünschten Rheuma-Anfällen, köstliche Augenblicke, welche die lntimitäten des Anziehens und Schmückens verlängerten. Rubens war so glücklich über seine junge Frau und so stolz auf ihre Schönheit, daß er sie aller Welt zeigte. Ohne eine Spur von Scheu verheimlichte er niemandem die opulenten Früchte ihres bezaubernden Körpers. Vor aller Augen und jederzeit öffnete die Venus in der Wapperstraat sperrangelweit die Pforten ihres Zimmers und ihres Ankleide-Cabinets, an dessen Schwelle Rubens stand und zuschaute. „Sie ist seine Göttin, und er nötigt sie der Welt auf wie eine Göttin“ — schrieb Roger Avermaete. Welche Herausforderung an die Heuchler, die Verschämten, die Frömmler! Keiner aber wagte, angesichts der hochangesehenen Stellung des Künstlers etwas zu sagen, und sogar die Kirche schwieg. […]

Eine holdselige Sechzehnjährige stellte alles auf den Kopf. Mit ihrem frischen Gesichtchen, ihrem klaren Blick, ihren lieblichen Wangen, ihrem Kirschenmund und diesem Körper, für den mancher Mucker‚ der in die Kirche ging, weniger wegen des Gebetes im Schatten, als wegen der Selbstgeißelung im Lichte, sich um die ewige Seligkeit bringen würde, entfesselte sie einen Tornado, dessen Heftigkeit niemand vorausgeahnt haben würde. Vielleicht hat sie, ohne es zu wollen, die Tage ihres ältlichen Gatten verkürzt, diese schöne Helena von Antwerpen. Aber die zehn Jahre in Gemeinschaft mit ihr verwandelten sein Werk in ein sinnliches Heldenlied‚ worin sich sein Genie glorreich und unmittelbar in das Glück verwandelte.

Rubens fühlte das Bedürfnis, frei zu sein und es zu proklamieren. Kein Zwang, kein Vorurteil, kein Hindernis mehr. Er wollte von nun an nur noch das Leben genießen. Vor den Tizians im Madrider Schloß hatte er bereits begriffen, daß dieses Leben eitel Licht und Farbe, Jugend und Liebe war. Alles das trat nun zugleich in sein Dasein und in seine Bilder. Der Ernst seiner ersten Gefährtin Isabella beherrschte den barocken Ausdruck, das lyrische Durchdachtsein seiner großen dekorativen Werke; aber Helenes Sinnenfreude befreite Rubens von den Formeln, ließ die Fröhlichkeit aufjubeln und Licht verbreiten über die intimen oder die lauten Feste des physischen Lebens, das in mächtigen Rhythmen die Vereinigung der Wesen und der Dinge, des Menschen mit den Pulsen der Erde, mit den Verwandlungen der Jahreszeiten, mit den Reiterstücken der Helden, mit den Abenteuern der Götter umwogt. Wie er der Madonna Isabellas Gesicht verliehen hatte, so gab er ihr jetzt Helenes Antlitz, aber er lieh die Züge der jungen Frau ebenso der Venus, der Andromeda, der Diana, den lustigen Bäuerinnen oder den Nymphen der Bacchanale. Und die zärtlichen Schönen im Liebesgarten sind unermüdliche Spiegelungen der blendenden Angebeteten in galanter Positur, umringt von rundlichen Putti vor einem herrlichen Traumschloß eines unterjochten Liebhabers, den die Sinne unablässig kitzeln und der seine Trunkenheit und Sehnsucht in seine Bilder hineinbannt. […]

Peter Paul Rubens: Das Pelzchen. Um 1631. Holz,
 175 x 96 cm. Kunsthistorisches Museum, Wien.
Die Liebe gelang Rubens, aber er meisterte sie mit seinen Mitteln. Sein Stil wurde großzügiger und erfuhr wie neue Jugend die Heiterkeit der Farbe, wo strahlendes Gelb, seidiges Ultramarin, belebendes Karmin, schimmernder Lack an die Stelle der ockrigen, braunen, blauen und grünen Töne früherer Perioden traten. Nuancen, Übergänge und Halbtöne üben ihre Modulationen, die gebrannten erdigen Farben verschwinden, und in den Schatten singt die Farbe wie in den Helligkeiten. Weise verteiltes Licht breitet sich zärtlich aus, hier entschieden, dort lebhaft und leicht, genährt mit starkem Purpur und Rot, zur Beglaubigung köstlicher Lebensfreude, wie sie später die besten Erben des Malers, ein Fragonard, ein Delacroix, ein Renoir, ausstrahlten. Zinnobriger Schimmer der Morgenröte, triumphierende Helligkeit des Mittags oder des Abendscheins: Rubens betrachtete mehr denn je die Natur und ließ sich von ihr inspirieren. Bei sich zu Hause, in der Intimität seines Ateliers, erfaßte er die Reflexe auf Helenes schönem Körper. Er hüllte sein Werk in Sonne durch Verherrlichung der Liebe.

Schwierig ist die Datierung der Bildnisse seiner Frau, allein oder mit ihren Kindern, nackt, halbbekleidet oder geschmückt in prunkvollem Staat, im Brautkleid, in Hofkleidung, bedeckt mit Juwelen und in verschwenderischem Dekollete einen Busen zeigend, der von Jahr zu Jahr majestätischer wurde, ohne seine Festigkeit zu verlieren.

Eines Morgens entstieg sie nackt vor seinen Blicken dem Bad. Rubens sah sie jeden Tag so, aber an diesem Morgen warf er jäh seinen Pelz um sie und malte sie. Ihre ersten Geburten hatten sie schwerfällig gemacht, aber ihre Haut war immer noch perlmuttrig, wie aus Licht geschaffen, mit rötlichem Glanz. Das durch ein Band gehaltene blonde Haar umrahmte ein rosiges Antlitz mit verschmitztem Blick und etwas überraschter, sogar verstörter Miene, die sie immer auf ihren Bildnissen zeigt, wie wenn sie erstaunt wäre über ihren Mann, daß er sie gar so häufig darstellte.

Diese Ehrung der Schönheit in einem Bilde, das der Maler eifersüchtig in seinem Atelier bewahrte (heute im Wiener Kunsthistorischen Museum), ist kein Seelenporträt, da die Frauen bei Rubens, im Gegensatz zu denen bei Rembrandt, keine Seele haben. Keinerlei inwendiges Leben kommt da zum Vorschein, als handelte es sich um ein beliebiges Modell, und nichts drückt Charakter und Betragen Helenes aus. Deswegen wissen wir von ihr, die eine so vollkommene Inkarnation der bekannten Redensart „Sei hübsch und sei still“ ist, nichts, kennen nichts, außer den Reizen ihres Körpers, trotz der vielen Bilder, zu denen sie ihm Modell stand. Eine brave Gattin ohne Zweifel, eine gute Mutter und Hausfrau, besonders aber ein vortreffliches Modell, jederzeit bereit sich auszuziehen oder sich zu schmücken, je nach Laune des Meisters, bereit auch zu lieben.

Peter Paul Rubens: Helene Fourment und ihre Kinder.
 Um 1635. Holz, 113 x 82 cm. Louvre, Paris.
Rubens berühmtestes Bildnis der Helene Fourment ist im Louvre. Nach dem Alter der Kinder geschätzt, dürfte es 1636 oder 1637 gemalt worden sein. Skizzenhaft leicht und sicher von Meisterhand angelegt, erinnert es an die große barocke venezianische Schnellmalerei, von der er auch die perlmuttrigen Farben, das purpurgehöhte Blond und die warmen Zinnobertöne, das Rosa und das durchgoldete Grau hat. Gewiß hatte der Künstler die Absicht, diese Skizze zu vergrößern und deren Komposition zu vervollkommnen.

Die recht stark gewordene Helene betrachtet zärtlich und ängstlich zugleich ihren auf ihren Knien sitzenden Buben François. Ihre Tochter Claire-Jeanne, das älteste Kind des Paares, steht vor ihr, und rechts erscheint, kaum angedeutet, das Händchen eines kleinen, sich am Stuhl festhaltenden Kindes, offenbar die zuletzt, nämlich im Jahre 1635, geborene Isabella-Claire.

Ein Wunder der Malerei! Dieses unvollendete und nur stellenweise ausgeführte Werk, dessen Farbe monochrom, realistisch und poetisch zugleich ist, mutet wie die schönste Liebeserklärung an, die ein Maler je der von ihm Geliebten und durch sie der Jugend und dem Leben gemacht hat. […]

Die schönsten Bildnisse der Helene Fourment sind — vom bewundernswerten Trio im Louvre und dem Pelzchen in Wien abgesehen — diejenigen in München, das eine in prunkvoller Hochzeitsgewandung, das andere mit dem Söhnchen François auf den Knien. Ein herrliches, Baron Eduard von Rothschild gehöriges Brustbild zeigt sie in schwarzem Kleid und goldbordürter Mantille, die sie mit der Hand wegschiebt. Es ist sehr saftig gemalt. Nicht weniger schön ist das andere Brustbild in der Sammlung Robert Finck in Brüssel, wo man die Erregung des Künstlers im Pinselstrich spürt.

In der Wapperstraat stand der Honigmond zwischen Rubens und Helene im Zenit. Festlich und freigebig nach seiner Gewohnheit, sehnte sich der Maler danach, seine junge Frau dem gesamten Antwerpen vorzuführen. Zuvor hatte er sie nach Brüssel gebracht und der Erzherzogin Isabella vorgestellt, die hinter ihrem Clarissenschleier voller Freundlichkeit dieses Kind betrachtete, das der Gatte bei dieser Gelegenheit wie einen Reliquienschrein geschmückt hatte. Der Hof murmelte und lächelte, aber die Spötter hielten vor Rubens den Mund, und es gab nur Verneigungen und Gratulationen. Nach beendigter Audienz bestieg Antwerpens König seinen Wagen und kehrte nach Hause zurück. […]

Peter Paul Rubens: Helene Fourment, einen Handschuh
anziehend. Eichenholz, 96,5 x 68,6 cm.
Alte Pinakothek, München.
In seinem Hochzeitsjahr 1630 führte er, auf Bestellung Isabellas, für die Kirche Saint-Jacques-sur-Coudenberg in Brüssel ein großes Altarblatt aus, das heute im Kunsthistorischen Museum zu Wien ist: Die heilige Jungfrau bekleidet den heiligen Ildefonso mit dem Meßgewand. Es ist ein stark bewegtes Barockwerk, wo die Farbe in ihrer ganzen Vielfältigkeit auftönt und das Licht sich in einer breiten Kaskade aus Schnee und Gold mit Opal-‚ Karmin- und Granatgeriesel ausbreitet. Es blendet den Blick wie ein Zauberspiegel und vibriert wie ein von eines Meisters Stab gelenktes Orchester.

Auf die Seitenflügel malte er sehr geschmeichelte Bildnisse des erzherzoglichen Paars, das stolz an der allgemeinen Bewegung teilnimmt. Die plastische Fülle der Haltung, die mächtige Draperie ihrer Mäntel, die großen Gebärden erinnern an die Familiengruppe der Gonzaga, wie sie Rubens vor wohl dreißig Jahren auf einer berühmten Komposition zu Mantua gemalt hatte. Auf den rückwärtigen Flächen der Seitenflügel war eine Heilige Familie in einem Garten dargestellt. Sie wurden im Anfang des 18. Jahrhunderts der Schicht nach losgesägt und nebeneinandergefügt zu einem einzigen Bild, das nun unter dem Titel Heilige Familie unterm Apfelbaum auch im Wiener Kunsthistorischen Museum hängt.

Angelica und der Eremit gehört in die Jahre zwischen 1630 und 1635, als die vielen Porträts und Aktbilder von Helene entstanden. Von da stammt in dieser Komposition aus dem „Rasenden Roland“ die lockere Behandlung des Fleisches in lichtgebadeten Konturen, die hingewischt sind wie in wollüstigem Schauder bebend. Heute ebenfalls im Kunsthistorischen Museum, wurde dieses Bild mehrmals von Rubens-Nachfolgern interpretiert. Watteau selbst scheint sich seiner in „Jupiter und Antiobe“ (Louvre) erinnert zu haben, und das ganze 18. Jahrhundert von Boucher bis Fragonard in seiner Liebe zur Frau als dem Wesen der Lust entsinnt sich Angelicas wunderbarer Anatomie, deren Bewegung noch in Renoirs Badenden und Matisses Odalisken nachklingt.

„Des Weibes Leib, wie ist er lieblich . . .“ Und wiederum überläßt sich Rubens beim Malen von Madonnen, Heiligen und Märtyrern für Kirchen seinem sieghaften Heidentum, seiner lyrischen Sinnenlust, seinen fröhlichen und unwiderstehlichen Trieben, wo die sinnlichen Wallungen des alternden Mannes mit dem von Italien her übernommenen Geschmack an Allegorien und Legenden verschmelzen. Ebenfalls nach 1630 und vor 1635 malte er bekanntlich das Bad der Diana des Boymans-van-Beuningen-Museums in Rotterdam, die Anbetung der Könige des King’s College in Cambridge sowie Jungfrau und Heilige des Museums in Toledo, ursprünglich bestimmt für die Augustiner in Malines, „bezahlt 1631 mit Almosengeldern und durch die Körperschaft des Lohgerberhandwerks: 620 Gulden“. […]

Peter Paul Rubens: Helene Fourment mit ihrem Sohn.
Um 1635. Eichenholfz, 146 x 102 cm.
Alte Pinakothek, München.
Vor dem Bilde Die Jungfrau und Heilige sieht man, wie wach seine Dynamik allezeit ist, stets bereit, sich ebenso gewaltig wie früher in Rhythmen, Massen und schimmernden oder samtigen Farben, unfaßlich jugendlichen Fassungen des Ganzen auszudrücken. Die Heiligen auf der Leinwand in Toledo wiederholen, freilich ein wenig abgeschmackt, Helenes Bild, wie man es vom Liebesgarten her kennt.

Zu Rubens’ Zeiten hieß diese Komposition La Conversation à la mode. Sie zeigt eine galante Gesellschaft hübscher und junger, wenig spröder Frauen und fröhlicher Gesellen im herrlichen Dekor eines Schlosses, während sich tummelnde Amoretten zur idyllischen Stimmung beitragen.

Rubens’ diplomatisches Wirken war also mißlungen und zu Ende. Der Krieg lastete weiterhin auf dem verwüsteten und unterdrückten Flandern, das gerade seine Herrscherin verloren hatte und sich bange fragte, was nun folgen werde. Antwerpen erlebte endloses Unglück. Gleichwohl singt ein Rubens, den die Gicht mehr und mehr in die Zange nimmt, die Liebe jedoch verzücken macht. Er besingt das Leben, die Jugend und die Liebe, er zaubert Farbe auf alles, bedeckt es mit Purpur, Blau, Goldocker, Grün, blühenden Fleischtönen‚ frischen Gesichtern, blondem Haar, entzückender Verfeinerung und Verführung.

Welcher Reiz in diesen Zweisamkeiten‚ gefühlvollen Spaziergängen, solchem träumerischem Liebesgeflüster und Tanzen, wo jeder liebelt und an sein Glück glaubt, als sei er allein auf der Welt! Der barocke Schwall besänftigt sich, das Gewoge wird zu ruhigen Wellen, die weich dahinfließen. An der Schwelle des Alters schreibt ein Mann, dessen Leben immerdar erfüllt war, noch einmal eine gedrängte Seite voll Liebespoesie, eine Verwirklichung aller Lieblingsthemen, also Landschaften, Allegorien, Anekdoten, weibliche Schönheit, Bildnisse, alles zu Ehren Helenes.

Am 18. Dezember 1634 schrieb Rubens an Peiresc: „Im Augenblick stecke ich in Vorbereitungen zum Einzug des Kardinal-Infanten, der zu Ende des Monats stattfinden wird, und ich habe keine Zeit zu leben oder zu schreiben.“ Gleichwohl erwarb er immer noch weitere Kunstwerke, wie eine andere Stelle in diesem Briefe beweist, zu steter Verschönerung seines Antwerpener Hauses. Und er beschäftigte sich mit allerlei Angelegenheiten, besonders mit den Verdrießlichkeiten, die ihm ein deutscher Stecher in Paris bereitete, welcher Rubens’ Drucke ohne Ermächtigung kopierte. Der Mann war schon verurteilt worden, hatte aber Berufung eingelegt, und Rubens ersuchte nun Peiresc, seine „gerechte Sache dem Präsidenten oder den Räten seiner Freunde“ zu empfehlen. Er fügte noch hinzu: „Auf den Briefen, die Ew. Herrlichkeit an mich richten wird, würde es gut sein, wenn Sie an Stelle von ‚ständig bestallter Edelmann des Hauses‘ usw. ‚Sekretär Seiner Katholischen Majestät in Dero geheimem oder privatem Rate‘ setzen wollen.“ Eitelkeit? Eigentlich nicht, aber der Maler hat ungeachtet dessen, was er schrieb, nicht darauf verzichtet, eine politische Rolle zu spielen, und die Ernennung eines neuen Gouverneurs gibt allen seinen Hoffnungen Auftrieb.

Peter Paul Rubens: Die Heilige Jungfrau bekleidet den Heiligen Ildefonso mit dem Meßgewand. 1630.
Kunsthistorisches Museum, Wien.
Am 17. April 1635 vollzog der Kardinal-Infant von Österreich, Regent der spanischen Niederlande, seinen „freudvollen Einzug“ in Antwerpen. Die Stadt schwimmt in eitel Lust, wenigstens scheinbar, da ihre Einwohner ja ernstere Sorgen haben als diese Feier, zu der man alle Handwerkszünfte mobil gemacht hatte, um die Straßen und elf Triumphbogen zu schmücken, die der Zug passieren sollte. Allenthalben gab es nichts als Teppiche, Girlanden, Kirchenfahnen und Banner. Fünfzigtausend Gulden wurden den Schöffen zur Verfügung gestellt, aber sie gaben zwanzigtausend mehr aus und mußten neue Steuern erheben, was entsprechende, freilich vergebliche Proteststürme hervorrief. Rubens entwarf und leitete die gesamte architektonische und malerische Dekoration der mit Skulpturen und Malereien nach Art der Kirchenaltäre verzierten „Theater“, mächtiger monumentaler Aufbauten. Allein für seine Mühe strich er fünftausend Gulden ein.

Das „Pompa introitus Fernandini“ betitelte Erinnerungswerk von Gaspart Gevaert wurde mit Kupferstichen von Theodor van Thulden illustriert, die uns eine Vorstellung von diesem gigantischen Festprunk verschaffen. Nach seiner Gewohnheit überließ Rubens nichts dem bloßen Zufall, sah alles und griff überall ein. Trotz einem plötzlichen Gichtanfall lenkte er die Ausführung seiner Entwürfe mit unfehlbarer Autorität. Seine Mannschaft bestand aus den besten Antwerpener Künstlern: den Malern Jacob Jordaens, Theodor Rombouts, Jean de la Barre, Cornelis Schut, Erasmus Quellin und zwei Söhnen von Hendrik van Baelen; den Bildhauern van Mildert, Luc Fay d’Herbe und van den Eynde; Inschriften und Sinnsprüche lieferte Gevaert. […]

So lernten also die Antwerpener ihren Rubens als Arrangeur symbolischer Schaustücke kennen. Bisher hatte er nur für die Fürsten und den Klerus gearbeitet. Jetzt begab er sich gewissermaßen unters Volk als Regiemeister eines Schaugepränges im Freien unter Beteiligung vieler Tausende von Menschen. Dieses Zusammenwirken eines schöpferischen Genies und der Volksmenge blieb lange ein Einzelfall, bis dann der große französische Maler David Revolutionsfeste arrangierte.

Peter Paul Rubens: Bathseba am Springbrunnen.
 Um 1635. Holz, 175 x 126 cm. Gemäldegalerie, Dresden.
Der gichtkranke Rubens konnte freilich nicht an jener von ihm gestalteten Einzugsfeier teilnehmen, aber der Kardinal-Infant wußte genau über die Dienste Bescheid, welche der Maler der Sache Spaniens geleistet hatte, und stattete ihm einen Besuch ab. Diese Geste schmeichelte den Antwerpenern, obgleich sich manche fragten, ob ihr erlauchter Landsmann unterm Druck der Ereignisse nicht schon mehr spanisch als flämisch geworden sei.

Einige Wochen später erwarb der Künstler das prächtige Schloß Steen in Elewijt, nicht weit von Brüssel. Diese stattliche Residenz hat trotz mancher Umbauten und Restaurierungen ihr altes Gepräge behalten. Damals lag sie inmitten von Feldern und Wäldern, die ein Bach durchfloß. Hier malte Rubens zahlreiche Landschaften, die das Schloß so wiedergaben, wie es war, als er sich dort samt den Seinigen einrichtete und gleichzeitig den Titel eines „Seigneur du Steen“ erwarb, der dann später auf seinem Grabstein an erster Stelle zu lesen war.

Seit 1627 besaß er den „Hof van Orsele“, eine Liegenschaft im Norden Antwerpens, wohin er oft ging um Ruhe zu suchen. Das Wohnhaus auf einem Inselchen inmitten eines Teiches war recht malerisch. Der Steen ist völlig anders. Er ist eine Burg mit Türmchen und Hauptturm, wie sie dem Hofmaler und Sekretär von des spanischen Königs geheimem Conseil, von Philipp IV. und Karl I. zum Ritter geschlagen, zukommt, der eine schier fürstliche Stellung einnimmt und ein beträchtliches Vermögen besitzt. Von nun an ist er Großgrundbesitzer.

Wollte er bei seinen Landsleuten keinen Anstoß erregen, als in einer sehr bitteren Zeit ihrer Geschichte zur Stätte seines hochherrschaftlichen Lebensstils das offene Land bei Brüssel wählte, wo er auch näher beim Hofe wohnte, falls man seiner bedurfte? Rubens machte kein Aufhebens von seinem Ruhm und Reichtum, aber er wollte nach seinem Geschmack leben. Andererseits wurde seine Familie größer und brauchte Platz. Im Monat Mai, da er den Steen erwarb, gebar Helene ihr drittes Kind: Isabella-Helene. Einen Monat später wurde er vom Kardinal-Infanten zum Hofmaler ernannt.

Quelle: Pierre Cabanne: Rubens. Galerie Somogy, Paris, im Bertelsmann Lesering, Ohne Jahr (circa 1965). Der Auszug ist aus dem Kapitel „Das Fest des Fleisches und des Geistes“, Seiten 211 bis 239 (gekürzt)


Und noch mehr alte Musik in der Kammermusikkammer finden Sie hier:

Sumer is icumen in (England, 13./14. Jahrhundert) | Otto Pächt: Zur deutschen Bildauffassung der Spätgotik und Renaissance.

Das Lochamer Liederbuch (Nürnberg, 1452) | Pablo Picasso: Die Frau mit dem Haarnetz (La femme à la résille), 1949.

Das Gänsebuch (Nürnberg, 1510) | Navid Kermanis ungläubiges Staunen über Dürers Hiob.

Alfonso Ferrabosco (England, 16. Jahrhundert): Consort Music | Max Liebermann: Über Adolph Menzel.

Girolamo Frescobaldi: Fiori Musicali (Venedig, 1635) | Otto Pächt: Künstlerische Orginalität. Über Giotto di Bondone und seine Vorläufer.

G. B. Vitali: Varie Sonate alla Francese e all’Italiana a 6 Op.XI, 1684 | Wolfdietrich Schnurre: Kritik und Waffe. Zur Problematik der Kurzgeschichte.



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Adolf Busch: Violinsonate op. 56, Klaviertrio op. 15

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„Es sieht wirklich so aus, dass ich nicht mehr daran denken kann, wie bisher in der Welt herumzureisen und Konzerte zu geben. Das ist ja nun weiter nicht so schlimm, denn ich habe es ja 43 Jahre lang getan und kann nun (endlich) das einmal tun, was ich mir immer gewünscht habe: nach Herzenslust Noten schreiben.“

1952 schrieb Adolf Busch diese Worte, sein Wunsch sollte sich jedoch nicht mehr erfüllen. Zwar vermochte er noch, die Komposition und Reinschrift des Sechsten Psalm für Chor, Orchester und Orgel op. 70 abzuschließen. Doch drei Tage nach der Fertigstellung der Partitur starb der 61jährige in Guilford im US-Staate Vermont.

An diesem 9. Juni 1952 endete eine glanzvolle Karriere, der man das Attribut schillernd nur deshalb verweigern möchte, weil es zu sehr mit dem Beigeschmack des Virtuosentums und der Starallüren gewürzt ist. Selbst bei großzügigster Auslegung hätte man nichts von alledem auf Adolf Busch anwenden können. Er beherrschte sein geigerisches Handwerk mit einer solchen Brillanz, dass er sogar das überdimensionierte und auch heute noch weithin unverstandene Violinkonzert A-dur op. 101 von Max Reger im Repertoire hatte und als Gründer des legendären Busch-Quartetts die interpretatorischen Zügel so fest in der Hand hielt, wie es sich für einen Primarius schickt: mit dem Pianisten Rudolf Serkin, der 1939 sein Schwiegersohn wurde, verband ihn eine jener Traumpartnerschaften, die Musikgeschichte schrieben; sogar als Leiter eigener Kammerensembles konnte er seine künstlerischen Vorstellungen auf eine Weise realisieren, die allgemeine Anerkennung fanden.

Adolf Busch in jugendlichen Jahren
Bei all dieser erstaunlichen Vielseitigkeit kommt man aber nicht umhin, eine Qualität besonders herauszustellen, die zwar keine zuvorderst musikalische ist, die aber vielleicht erklärt, warum Busch sich auf seinem ureigensten Gebiet so überzeugend behaupten konnte: Seine menschliche Integrität (eine Eigenschaft, die je nach dem Naturell kritischer Zeitgenossen entweder als „Kompromisslosigkeit“ oder als „Egoismus“ bezeichnet wird). Diese Integrität war so bewundernswert, nein, beneidenswert ausgeprägt, dass ein Abweichen vom selbst gewählten Weg ebenso wenig möglich war wie vordergründig publikumswirksamer Glitzerschmuck.

Man bedenke, dass Adolf Busch schon im April 1933 aufgrund der einsetzenden Judenverfolgungen sämtliche deutschen Konzertverpflichtungen absagte und allen Lockrufen des Nazi-Regimes widerstand. dem natürlich daran gelegen war, den prominenten Musiker für ihre Propaganda-Maschinerie zu missbrauchen.

Busch, der bereits 1927 seinen Wohnsitz nach Basel verlegt hatte, ließ sich nicht fangen. Vielmehr gab er fünfeinhalb Jahre nach der Machtergreifung in Deutschland auch den Italienern den Abschied, zu dem er sich „durch die unwürdige Nachahmung der barbarischen Judengesetze des Dritten Reiches“ veranlasst sah. Und wieder ein Jahr später (1939) wanderte die Familie Busch-Serkin nach Amerika aus.

Diesen spektakulären Maßnahmen eines unbeugsamen Geistes stehen zahllose Beispiele des Musikers zur Seite. Nachdem Adolf Busch als Schüler des Kölner Konservatoriums 1909 Max Reger kennen gelernt und ein Jahr später unter dessen Leitung das vermeintlich kaum aufführbare Violinkonzert in Berlin gespielt hatte, veranstalteten der Komponist und sein Interpret immer wieder kammermusikalische Konzerte, die um die gemeinsamen Favoriten Bach und Brahms kreisten. Während sich aber Reger im Umgang mit dem Originaltext „schöpferische“ Freiheiten nahm, bestand Busch so nachdrücklich auf der Beachtung der Noten, dass es zwischen schwächeren Gemütern wohl zum endgültigen Bruch gekommen wäre.

Adolf Busch (1891-1952)
Als Franz Schreker 1922 zum Direktor der Berliner Musikhochschule ernannt wurde, legte Adolf Busch, der 1918 als Professor an das renommierte Institut berufen worden war, sein Amt nieder - wie es heißt, weil er mit der kompositorischen Ästhetik des neuen Vorgesetzten nichts anfangen konnte. Sollte das tatsächlich der Grund für den vorzeitigen Abschied des damals 31-jährigen aus dem Hochschuldienst gewesen sein, so wäre auch dieser Schritt zwar ein Ausdruck seiner konsequent gewährten Integrität gewesen; gleichwohl müsste man fragen, ob er hier nicht einer „Stimmungsmache“ aufgesessen ist: Denn der damalige Erfolg des Opernkomponisten Schreker war etlichen Kollegen ein Dorn im Auge, und hatte offenbar genügt, ihn fälschlicherweise als „Neutöner“ à la Schönberg zu verteufeln und das Schreckgespenst der „Neuen Musik“ an die Wände der Unterrichtsräume zu malen, um das gewünschte Klima zu erzeugen.

Adolf Buschs prophylaktische Ablehnung Schrekers wäre - sofern sie denn der Wahrheit entspricht - desto verwunderlicher, als er selbst in seinen Kompositionen nicht eben ein Kind tonaler Traurigkeit war. Gewiss, seine eigenen schöpferischen Wurzeln hatte er in einen anderen, scheinbar traditionelleren Boden geschlagen. Doch wer wollte behaupten, dass das Vorbild Max Reger, das auf Buschs Schaffen einen erheblichen Einfluss ausgeübt hat, sich noch unterwürfig an die althergebrachten harmonischen Gesetze gehalten habe - nur weil er sich als Kontrapunktiker und nicht als Farbenkünstler des Fin de siècle gebärdete?

Ein geradezu rigoroser Kontrapunktiker war auch Adolf Busch. Der Kompositionsschüler von Fritz Steinbach und Hugo Grüters (seinem späteren Schwiegervater) präsentierte sich schon früh auf Max Regers Spuren - so in seinen Variationen und Fuge über ein Thema von Franz Schubert für zwei Klaviere op. 2 (1909) oder mit Praeludium und Passacaglia für zwei Violinen und Klavier op. 4 (1912).

Das in den Jahren 1918 und 1919 entstandene, äußerlich traditionell viersätzige Klaviertrio op. 15 enthält sich nun ebenso wenig der radikalen Linienführung wie jener tonalen Ausflüge, die eine Fülle zusätzlicher Vorzeichen erforderlich machen, weil sie - kaum dass die Musik begonnen hat - mit unbändiger Kraft aus dem Rahmen des vorab umrissenen Tonraumes hinausdrängt, ganz so, als ob die Wahrung der Einzelstimmen wiederum eine Frage der persönlichen lntegrität sei. Dabei sind die grundlegenden Motive der Entwicklung durchaus einfacher Natur; ihre Schichtung aber und komplexe assoziative Verflechtung resultieren in Gebilden, die ihre eigene Modernität nicht verbergen können.

Das Busch-Quartett: Adolf Busch (1.Violine), Gösta Andreasson (2.Violine),
 Hermann Busch (Cello), Karl Doktor (Viola).
An seinen persönlichen Vorstellungen von der Tonalität hat Adolf Busch augenscheinlich bis zuletzt festgehalten, wie die in Klammern vermerkte Tonart a—moll der zweiten Violinsonate (1941) verrät. Zugleich aber zeigt sich in dieser - wiederum viersätzigen - Partitur eine gewisse kontrapunktische Ausdünnung, ein über weitere Strecken quasi akkordischer Klaviersatz, der freilich auf geradezu virtuose Eskapaden namentlich im variationshaltigen Adagio ed espressivo und im Finale Allegretto amabile nicht verzichtet. Zwischen diesen beiden Sätzen steht ein Scherzo in Des, das als Muster inspirierter Einfachheit demonstriert, wie weit sich Adolf Busch aus dem kontrapunktischen Dickicht seines Vorbildes gelöst hatte.

Dazu passt auch. dass er just zur Zeit der zweiten Violinsonate mit seinem Bruder Fritz die Aufführung des Regerschen Violinkonzertes plante und zu diesem Zwecke eine Bearbeitung herstellte‚ die nicht auf die sonst üblichen Kürzungsversuche setzte, sondern statt dessen die Auflichtung der polyphonen Geflechte zum Ziele hatte. Und erneut zeigt sich der integre Umgang mit den Noten anderer: Busch ließ sich von den Tempoangaben des Komponisten leiten, die - wären sie in der Originalfassung realisierbar gewesen - das Werk beinahe 15 Minuten „kürzer“ gemacht hätten und jetzt, nach der Ausforstung des instrumentalen „Unterholzes“ tatsächlich zu verwirklichen waren: Ohne einen Schnitt in die Erfindung zu führen, vollbrachte er das Kunststück, die Partitur, die Reger selbst gegen Ende seines Lebens verleidet war, im Sinne ihres Erfinders zu durchleuchten.

So profitierte posthum der Ältere von der Entwicklung, die der Jüngere im Laufe seiner eigenen Entwicklung genommen hatte. Umgekehrt dürfte Buschs Schaffen heute seinen Nutzen aus der Reger-Renaissance der jüngsten Zeit ziehen und posthum zumindest zu einigen Ehren kommen. Zu entdecken gäbe es wahrlich genug.

Quelle: EvH, im Booklet


TRACKLIST


Adolf Busch (1891-1952)

Trio for Piano; Violin and Cello in A minor (a-moll) op. 15

1 Allegro agitato 9'00
2 Scherzo. Vivace - Molto meno mosso 4'35
3 Largo 6'47
4 Finale. Allegro moderato, ma con fuoco 6'42

Violin Sonata No.2 in A minor (a-moll) op. 56

5 Allegro ma non troppo 9'08
6 Adagio ed espressivo 5'30
7 Molto vivace. quasi Presto 2'13
8 Allegretto amabile 9'13

Total Time: 53'50

Gottfried Schneider Violin
Christian Brunnert, Cello
Dieter Lallinger, Piano (1-4)
Alfons Kontarsky, Piano (5-8)

Recorded: V. 1993 (1-4) | V. 1990 (5-8), Studio 3 BR
Producer/Tonmeister: Michael Kempff (1-4) | Jörg Moser (5-8)
Balance Engineer/Toningenieur: Peter Jütte (1-4) | Alfons Seebacher (5-8)

(P)+(C) 2003


Emily Dickinson

17 Gedichte - und eines

Daguerreotype taken at Mount Holyoke, December 1846 or early 1847;
 the only authenticated portrait of Emily Dickinson after childhood
I never lost as much but twice -
And that was in the sod.
Twice have I stood a beggar
Before the door of God!

Angels - twice descending
Reimbursed my store -
Burglar! Banker - Father!
I am poor once more!
Schon zweimal nahm das Grab mir
So viel wie nie zuvor.
Schon zweimal stand ich bettelnd
Vor Gottes Himmelstor!

Schon zweimal haben Engel
Mich wieder ausstaffiert -
Räuber! Banker - Vater!
Bin wieder ruiniert!
[39]


I’ll tell you how the Sun rose -
A Ribbon at a time -
The Steeples swam in Amethyst -
The news, like Squirrels, ran -
The Hills untied their Bonnets -
The Bobolinks - begun -
Then I said softly to myself -
»That must have been the Sun«!
But how he set - I know not -
There seemed a purple Stile
That little Yellow boys and girls
Were climbing all the while -
Till when they reached the other side -
A Dominie in Gray -
Put gently up the evening Bars -
And led the flock away -
Ich sag dir wie die Sonne aufging -
Ein Band jeweils erschien -
In Amethyst die Türme schwammen -
Die Kunde davon sprang
Wie Eichkätzchen - die Berge
Nun barhaupt - Vogelsang -
Da sagte ich mir leis - »Das muss
Das Werk der Sonne sein!«
Doch wie sie sank - Ich weiß nicht -
Da war ein Purpurzaun
Wo Jungen, Mädchen, klein und gelb
Wild kletterten herum -
Bis sie hinüber fanden -
Ein Grauer Pastor kam -
Sacht Abendschranken setzte - und
Die Herde mit sich nahm -
[204]

Emily Elizabeth, Austin, and Lavoinia Dickinson
by Otis Allen Bullard, oil on canvas, ca. 1840,
Houghton Library, Harvard University
How the old Mountains drip with Sunset
How the Hemlocks burn -
How the Dun Braked is draped in Cinder
By the Wizard Sun -

How the old Steeples hand the Scarlet
Till the Ball is full -
Have I the lip of the Flamingo
That I dare to tell?

Then, how the Fire ebbs like Billows -
Touching all the Grass
With a departing - Sapphire - feature -
As a Duchess passed -

How a small Dusk crawls on the Village
Till the Houses blot
And the odd Flambeau, no men carry
Glimmer on the Street -

How it is Night - in Nest and Kennel -
And where was the Wood -
Just a Dome of Abyss is Bowing
Into Solitude -

These are the Visions flitted Guido -
Titian - never told -
Domenichino dropped his pencil -
Paralyzed, with Gold -
Wie Abendrot die Berge badet
Wie der Tann erglüht -
Wie Magier Sonne Unterholz
Mit Zunder überzieht -

Wie alte Türme Scharlach schenken
Bis der Ball ist voll -
Hab ich die Lippen des Flamingo
Dass ich davon erzähl?

Dann‚ wie das Feuer wogt und ebbend
Hinwellt übers Grün
Mit einem letzten - Saphirzeichen -
Wie eine Herzogin -

Wie leichtes Düstern übers Dorf zieht
Bis Häuser sind ein Fleck
Und in den Straßen Fackeln schimmern,
Die keine Hand dort trägt -

Wie’s nachtet jetzt - in Heim und Höhle -
Und wo der Wald stand einst -
Sich rundgewölbt ein Abgrund öffnet
In die Einsamkeit -

Diese Bilder flohen Guido -
Tizian - schwieg davon -
Domenichino warf den Stift hin -
War gelähmt, von Gold -
[327]


How noteless Men, and Pleiads, stand
Until a sudden sky
Reveals the fact that One is rapt
Forever from the eye -

Memhers of the Invisible,
Existing, while we stare,
In Leagueless Opportunity,
O’ertakeless, as the Air -

Why did’nt we detain Them?
The Heavens with a smile,
Sweep by our disappointed Heads,
Without a syllable -
Wie unbemerkt stehn Mensch, und Stern
Da offenbart der Himmel
Per Handstreich, dass uns Einer fehlt
Dem Aug geraubt für immer -

Die Mitglieder des Unsichtbaren,
Sind, wie wir starren, da
In Meilenloser Möglichkeit
Wie Luft, nicht einholbar -

Wir hielten sie nicht auf - warum?
Die Himmel lächeln milde,
Wehn uns um die enttäuschten Köpfe,
Ohne eine Silbe -
[342]

A possible portrait of Emily Dickinson
This World is not conclusion.
A Species stands beyond -
Invisible, as Music -
But positive, as Sound -
It beckons‚ and it baffles -
Philosophy, dont know -
And through a Riddle, at the last -
Sagacity, must go -
To guess it‚ puzzles scholars -
To gain lt, Men have borne
Contempt of Generations
And Crucifixion, shown -
Faith slips - and laughs, and rallies -
Blushes, lf any see -
Plucks at a twig of Evidence -
And asks a Vane, the way -
Much Gesture, from the Pulpit -
Strong Hallelujahs roll -
Narcotics cannot still the Tooth
Than nibbles at the soul -
Die Welt ist nicht der Schluss.
Weil drüben Etwas wohnt
Unsichtbar, wie Musik -
So wirklich, wie ein Ton -
Das winkt und nasführt uns -
Philosophie, weiß nichts -
Und durch ein Rätsel muss hindurch
Am Ende - auch der Witz -
Es raten, macht Gelehrte wirr -
Es zu ergreifen, trug
So mancher der Geschlechter Hohn
Das Mal der Kreuzigung -
Der Glaube rutscht - lacht, sammelt sich -
Wird rot, wenn’s einer sah -
Zupft an dem Zweig der Evidenz -
Geht nach der Wetterfahn -
Gefuchtel, von der Kanzel -
Macht Hallelujas stark -
Kein Opium bringt den Zahn zur Ruh
Der an der Seele nagt -
[373]


I had been hungry, all the Years -
My Noon had Come - to dine -
I trembling drew the Table near -
And touched the Curious Wine -

'Twas this on Tables I had seen -
When turning, hungry, Home
I looked in Windows, for the Wealth
I could not hope - for Mine -

I did not know the ample Bread -
'Twas so unlike the Crumb
The Birds and I, had often shared
In Nature’s - Dining Room -

The Plenty hurt me - ’twas so new -
Myself felt ill - and odd -
As Berry - of a Mountain Bush -
Transplanted - to the Road -

Nor was I hungry - so I found
That Hunger - was a way
Of persons Outside Windows -
The entering - takes away -
Ich hatte Hunger, all die Jahre -
Doch nun - mein Mittag kam -
Den Tisch zog bebend ich heran
Nahm vom Speziellen Wein -

’s war der, den aufgetischt ich sah -
Wenn ich ging hungrig Heim
In Fenster spähend, nach dem Reichtum
Der niemals würde - Mein -

Brotüberfluss - das kannt ich nicht
Ich kannte Krümel nur
Die mit den Vögeln ich geteilt
Am Esstisch - der Natur -

Die Fülle tat mir weh - war neu -
Krank fühlt ich mich - bizarr -
Verpflanzt auf Straßen wie die Beere
Die einst Gebirgsbusch war -

War auch nicht hungrig - und ich fand
Dass Hunger etwas war
Das Leute nur vor Fenstern kriegen -
Beim Reingehn - nicht mehr da -
[439]

Another possible portrait of Emily Dickinson
I dwell in Possibility -
A fairer House than Prose -
More numerous of Windows -
Superior - for Doors -

Of Chambers as the Cedars -
Impregnable of eye -
And for an everlasting Roof
The Gambrels of the Sky -

Of Visitors - the fairest -
For Occupation - This -
The spreading wide my narrow Hands
to gather Paradise -
Ich wohne in der Möglichkeit -
Und nicht im Prosahaus -
Sie ist an Fenstern reicher -
Hat Türen - übergroß -

Und Zimmer wie die Zedern -
Von keinem Blick durchschaut -
Als ewges Dach der Himmel
Die Giebel drüber baut -

Besuch - der allerschönste -
Beschäftigung - nur Dies -
Ich spreiz die schmalen Hände weit
Und fass das Paradies -
[466]


Because I could not stop for Death -
He kindly stopped for me -
The Carriage held but just Ourselves -
And Immortality.

We slowly drove - He knew no haste
And I had put away
My labor and my Ieisure too,
For His Civility -

We passed the School, where Children strove
At Recess - in the Ring -
We passed the Fields of Gazing Grain -
We passed the Setting Sun -

Or rather - He passed Us -
The Dews drew quivering and Chill -
For only Gossamer, my Gown -
My Tippet - only Tulle -

We paused before a House that seemed
A Swelling of the Ground -
The Roof was scarcely visible -
The Cornice - in the Ground -

Since then - ’tis Centuries - and yet
Feels shorter than the Day
I first surmised the Horses’ Heads
Were toward Eternity -
Weil ich belm Tod nicht halten konnt -
Stand freundlich er bereit -
Die Kutsche trug Uns beide nur -
Und die Unsterblichkeit -

Gemächlich ging's - Ihm eilt es nicht -
Und ich tat ab von mir
Mein Mühen und mein Müßiggehn,
Da Er so höflich war -

Am Schulhof, wo die Kinderschar
In Pausenspielen - rang -
Vorbei - es Starrt das Korn - vorbei -
Am Sonnenuntergang -

Vielmehr - Der ging an Uns vorbei -
Der Tau ?el schaudernd Kühl -
Nur ein Gespinst war mein Gewand -
Mein Umhang - bloß aus Tüll -

Wir machten Halt vor einem Haus
Das wölbte sich im Grund -
Das Dach war kaum zu sehn - Gesims -
Lag tief schon unterm Grund -

Jahrhunderte ist’s her - und scheint
Doch kürzer als die Zeit
Da ich drauf kam - die Pferdeköpfe
Sehn Richtung Ewigkeit -
[479]

Handwriting manuscript of Emily Dickinson
 of her poem "Wild nights, wild nights".
A precious - mouldering pleasure - ’tis -
To meet an Antique Book -
In just the Dress his Century wore -
A privilege - I think -

His venerable Hand to take -
And Warming in our own -
A passage back - or two - to make -
To Times when he - was young -

His quaint opinions - to inspect -
His thought to ascertain
On Themes concern our mutual mind -
The Literature of Man -

What interested Scholars - most -
What Competitions ran -
When Plato - was a Certainty -
And Sophocles - a Man -

When Sappho - was a living Girl -
And Beatrice wore
The Gown that Dante - deified -
Facts Centuries before

He traverses - familiar -
As One should come to Town -
And tell you all your Dreams - were true -
He lived - where Dreams were born -

His presence is enchantment -
You beg him not to go -
Old Volumes shake their Vellum Heads
And tantalize - just so -
Ein kostbar - modriges Vergnügen -
Zu sehn ein Altes Buch -
Im Kleid seines Jahrhunderts -
Ein Privileg - denk ich -

Die ehrwürdige Hand zu fassen -
Dass unsre sie erwärmt -
Und ein - zwei Rückreisen zu tun -
In seine Jugendzeit -

Sein kurioses Urteil - prüfen -
Sein Denken zu erkunden
Zu Themen die uns alle angehn -
Die Literatur des Menschen -

Was die Gelehrten fesselte -
Was für ein Wettkampf lief -
Als Plato sichre Größe - und
Ein Mann war - Sophokles -

Als Sappho - junges Mädchen war -
Und Beatrice getragen
Das Kleid das Dante - heilig sprach -
Stoff von viel hundert Jahren

Durchquert das Buch - vertraut -
Als käme Einer her -
Der lebte - als das Träumen aufkam -
Und nennt dein Träumen - wahr -

Seine Präsenz ist magisch -
Du bittest ihn - so bleib -
Den Pergamentkopf schütteln Bücher
So - foltert uns ihr Reiz -
[569]


The Way l read a Letter's - this -
'Tis first - I lock the Door -
And push it with my fingers - next -
For transport it be sure -

And then I go the furthest off
To counteract a knock -
Then draw my little Letter forth
And slowly pick the lock -

Then - glancing narrow, at the Wall -
And narrow at the floor
For firm Conviction of a Mouse
Not exorcised before -

Peruse how infinite I am
To no one that You - know -
And sigh for lack of Heaven - but not
The Heaven God bestow -
Auf die Art les ich einen Brief -
Den Riegel schieb ich erst -
Dann - um Transport und Rausch zu sichern -
Wird nochmals nachgefasst -

Dann lauf ich fort so weit es geht -
Vergeblich einer klopft -
Zieh meinen Brief vor, langsam wird
Das Siegel aufgezupft -

Dann - inspiziere ich den Boden -
Erforsche auch die Wand -
Und bin gewiss - hier hat man eine
Maus noch nicht verbannt -

Dann les ich, les wie grenzenlos
Ich bin für - Unbekannt -
Dem Himmel seufz ich nach - doch nicht
Nach dem, den Gott bewohnt -
[700]

One of Emily Dickinson's poems
 written on an envelope.
As imperceptibly as Grief
The Summer lapsed away -
Too imperceptible at last
To seem like Perfidy -
A Quietness distilled
As Twilight long begun,
Or Nature spending with herself
Sequestered Afternoon -
The Dusk drew earlier in -
The Morning foreign shone -
A courteous, yet harrowing Grace,
As Guest, that would be gone -
And thus, without a Wing
Or Service of a Keel
Our Summer made her light escape
Into the Beautiful -
Unmerklich wie ein Kummer
Schlich sich der Sommer fort -
Zu unmerklich zuletzt als dass
Es aussah wie Verrat -
Ruh tröpfelte herab
Diffus war längst das Licht,
Eh die Natur den Nachmittag
Beschlagnahmte für sich -
Die Dämmerung kam früher -
Fremd schien die Morgenhelle -
Anmutig höflich, quälerisch,
Ein Gast, schon auf der Schwelle
Und so, ganz ohne Kiel
Und ohne eine Schwinge
Entwischte uns der Sommer sacht -
Auf seinem Weg ins Schöne -
[935]


The last Night that She lived
It was a Common Night
Except the Dying - this to Us
Made Nature different

We noticed smallest things -
Things overlooked before
By this great light opon our minds
Italicized - as 'twere.

As We went out and in
Between Her final Room
And Rooms where Those to be alive
Tomorrow, were, a Blame

That others could exist
While She must finish quite
A Jealousy for Her arose
So nearly infinite -

We waited while She passed -
It was a narrow time -
Too jostled were Our Souls to speak
At length the notice came.

She mentioned, and forgot -
Then lightly as a Reed
Bent to the Water, struggled scarce -
Consented, and was dead -

And We - We placed the Hair -
And drew the Head erect -
And then an awful leisure was
Belief to regulate
Die letzte Nacht in Ihrem Leben
War wie jede Nacht
Nur dass Sie starb und das hat alles
Ungewohnt gemacht

Uns fiel Geringstes auf
Sonst übersehn, und jetzt
Schien’s durch dies Schlaglicht im Gemüt
Als wär's kursiv gesetzt.

Wie man ging aus und ein
Von Ihrem letzten Raum
In Zimmer, drin die Lebenden
Von Morgen wärn, da kam

Ein Vorwurf auf, dass andere
Noch lebten wenn Sie stirbt
Und Neid auf Sie, die nun schon fast
Im Grenzenlosen weilt -

Wir warteten, Sie glitt davon -
Die Zeit war nun beengt -
Die Seel für Worte zu bedrängt
Da endlich kam der Wink.

Sie sprach von etwas, und vergaß -
Danach Sie leicht sich bog
Wie Schilf zum Wasser, kampflos fast -
Ergab sich und war tot -

Und Wir - Wir ordneten ihr Haar -
Und reckten ihr das Haupt -
Dann kam der schlimme Zeitvertreib,
Zu ordnen was man glaubt -
[1100]

Cover of the first edition of Poems,
published in 1890
The Mountains stood in Haze -
The Valleys stopped below
And went or waited as they liked
The River and the Sky.

At leisure was the Sun -
His interests of Fire
A little from remark withdrawn -
The Twilight spoke the Spire.

So soft opon the Scene
The Act of evening fell
We felt how neighborly a thing
Was the Invisible.
Die Berge standen still im Dunst
Die Täler hielten unten
Nach Gusto strömten Wolke, Fluss
Und legten sich zur Ruhe.

Die Sonne hatte frei -
Ihr feuriger Gewinn
War unsrer Achtung schon entzogen -
Im Zwielicht scharf der Turm.

So weich auf diese Bühne sank
Der Akt des Abends nun
Wir spürten wie das Unsichtbare
Als Nachbar uns empfing.
[1225]


Tell all the truth but tell it slant -
Success in Circuit lies
Too bright for our infirm Delight
The Truth’s superb surprise
As Lightning to the Children eased
With explanation kind
The Truth must dazzle gradually
Or every man be blind -
Sag Wahrheit ganz, doch sag sie schräg -
Erfolg liegt im Umkreisen
Zu strahlend tagt der Wahrheit Schock
Unserem Begreifen
Wie Blitz durch freundliche Erklärung
Gelindert wird dem Kind
Muss Wahrheit sachte blenden
Sonst würde jeder blind -
[1263]

Emily Dickinson's bedroom, with her white dress on a mannequin. [From the Emily Dickinson Museum].
To flee from memory
Had we the Wings
Many would fly
Inured to slower things
Birds with surprise
Would scan the cowering Van
Of men escaping
From the mind of man
Vor dem Gedächtnis fliehn
Gäb’s dafür Schwingen
Flögen wohl viele fort
Gewöhnt an dumpfre Dinge
Und Vögel prüften
Die geduckte Vorhut überrascht
Der Menschheit, die dem
Menschengeist entwischt
[1343]


I do not care - why should I care
And yet I fear I'm caring
To rock a fretting truth to sleep -
Is short security
The terror it will wake
Persistent as perdition
Is harder than to face
The frank adversity -
Mich kümmert's nicht - warum denn auch
Ich fürcht mich kümmert's doch
’ne schlimme Wahrheit einzuschläfern -
Gibt Sicherheit nur kurz
Der Schrecken dass sie aufwacht
Und bleibt wie ein Ruin
Ist ärger als der Widrigkeit
Direkt ins Auge sehn -
[1534]

Emily Dickinson commemorative stamp,
 US, 8 cent from 1971
Those - dying then,
Knew where they went -
They went to God's Right Hand -
That Hand is amputated now
And God cannot be found -

The abdication of Belief
Makes the Behavior small -
Better an ignis fatuus
Than no illume at all -
Die damals starben,
Wussten wohin's ging -
Zu Gottes Rechter Hand -
Doch jene Hand ist amputiert -
Von Gott sich nichts mehr fand -

Die Abdankung des Glaubens
Macht das Verhalten klein -
Besser als ein totales Dunkel
Mag da ein Irrlicht sein -
[1581]


To make a prairie it takes a clover and one bee,
One clover, and a bee,
And revery.
The revery alone will do,
If bees are few.
Für eine Wiese braucht es Klee und Bienen,
Je eins von ihnen,
Und Träumerei.
Die Träumerei tut’s auch allein,
Bei wenig Bienen.
[1779]


Alle erhaltenen 1789 Gedichte von Emily Dickinson (1830-1886) wurden in der zweisprachigen Ausgabe "Sämtliche Gedichte", übersetzt von Gunhild Kübler, 2015 im Carl Hanser Verlag München, veröffentlicht (ISBN 978-3-446-24730-7), womit erstmals eine amerikanisch-deutsche Gesamtausgabe vorliegt. Als Textgrundlage hat die Übersetzerin Franklins "Reading Edition" herangezogen. ("The Poems of Emily Dickinson. Reading Edition." Hrg. Ralph W. Franklin, Mass.: Harvard University Press, 1999).

Die ausgewählten Gedichte erscheinen hier in der Chronologie ihrer Entstehung - mit der Ausnahme des letzten, das nicht datiert werden konnte. (Dies erklärt auch den Titel "17 Gedichte, und eines"). "Wie bei Franklin sind Dickinsons Orthografie und Interpunktion beibehalten und ihre Gedankenstriche einheitlich gesetzt, egal wie lang, kurz, eckig, hoch oder tiefgelegt sie in den Manuskripten erscheinen." (G. Kübler).

The Emily Dickinson Museum comprises two historic houses in the center of Amherst, Massachusetts associated with the poet Emily Dickinson and members of her family during the nineteenth and early twentieth centuries. The Homestead was the birthplace and home of the poet Emily Dickinson. The Evergreens, next door, was home to her brother Austin, his wife Susan, and their three children.


Und es hat noch mehr ausgewählte Musik in der Kammermusikkammer:

Turina | Zilcher | Dvorák: Klaviertrios | Ein Paradies fürs Auge: Gartendarstellungen auf Tapisserien der Renaissance

Béla Bartók: Sonate Violine Solo + Violinsonate Nr 1 | Jaroslav Hašek: Schwejk als Offiziersdiener bei Oberleutnant Lukasch

Gabriel Fauré: Die Klaviermusik in 4 CDs | Arthur Schopenhauer: Über die Freiheit des Willens

Max Bruch: Werke für Klarinette und Viola | Dame Edith Sitwell: Gedichte aus ›Façade‹

Heinrich Ignaz Franz von Biber: Die Rosenkranz-Sonaten | Die Kleinodien des Heiligen Römischen Reiches

Johann Heinrich Schmelzer: Sonatae unarum fidium, seu a violino solo | Max Liebermann: Über Edgar Degas



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Lili Boulanger: Clairières dans le ciel

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Es muß wohl an die dreißig Jahre her sein, daß ich als Student das erste Mal auf die Musik von Lili Boulanger stieß, nämlich auf der klassischen Markevich—Schallplatte, die ursprünglich unter dem Label Everest in den USA herausgebracht worden war. Ich war vom Gehörten zutiefst bewegt und schrieb umgehend an ihre Schwester Nadia, die bereits achtzig war, doch immer noch unterrichtete und die gleiche ungebremste Energie besaß, mit der sie mehr als fünfzig Jahre zuvor ihre Schüler und Bewunderer im Sturm gewonnen hatte.

Jene Musik — und jener Brief — haben in der Tat mein Leben verändert. Nachdem ich den Sommer des Jahres 1967 mit dem Studium bei Nadia am Konservatorium von Fontainebleau verbracht hatte, hatte ich im darauffolgenden Jahr meine erste Musiksendung und veröffentlichte meinen ersten Artikel — beide hatten Lili zum Gegenstand (1968 jährte sich ihr Tod zum fünfzigsten Mal). Seitdem sind Biographien über Nadia und auch Lili erschienen, die eine Fülle faszinierenden Stoffes zum Nachdenken enthalten. Doch keine bietet eine rationale Erklärung dafür, wie Lili im Alter von vierundzwanzig Jahren als die große Komponistin, die sie meiner Einschätzung nach war, gestorben ist. Das gesamte Phänomen Boulanger ist in der Musikgeschichte einzigartig.

Jeder weiß von den Beiträgen, die Nadia Boulanger in erster Linie als Lehrerin zur Musik unserer Zeit geleistet hat. Ich bin nun überzeugt, daß das gesamte Muster und der Zweck ihres Lebens voller reifer Leistungen von der Beziehung mit ihrer Schwester bestimmt waren. In ihrem ersten Brief an mich im November 1967 schrieb sie: „Sie [Lili] starb 1918, doch ihre Worte sind mir immer noch Führung und Hilfe.“ Sicher war es die Erkenntnis, daß Lili die größere Begabung als Komponistin besaß, die sie dazu geführt hatte, selbst das Komponieren aufzugeben; mit der gleichen Sicherheit hat Lilis verfrühter Tod zu einem besonderen, in der Tat einzigartigen, fast mütterlichen Verhältnis geführt, das sie mit jedem Mitglied ihrer internationalen Studentenfamilie aufzubauen versuchte. […]

Lili Boulanger (1893-1918), Komponistin
Die beiden Boulanger-Schwestern waren attraktive und begabte Frauen, obwohl Lili vielleicht mehr Anspruch auf dem orthodoxen Schönheitsideal entsprechende Züge erheben konnte. Beide waren sie sehr fotogen, besonders Lili mit ihren schönen, tiefen, dunklen Augen. (Nadias Persönlichkeit ermöglichte es ihr, gegen Ende ihres Lebens, das Publikum mit dem Klang ihrer Stimme allein in ihrem Bann zu halten.) Eine Reihe von zeitgenössischen Berichten über Lilis Charakterstärke sind uns erhalten geblieben; doch der beste Beweis von allen wird natürlich in ihrer Musik erbracht, in der maskuline und feminine Elemente überraschend nebeneinandergestellt werden.

Roy Harris bemerkte einmal, daß Nadia „das Urteilsvermögen eines starken Mannes vereint mit der Intuition einer großen Frau“ besaß, und das gleiche konnte man auch von Lili behaupten. Tatsächlich sind alle Qualitäten, die für Nadia in der Musik ungeheuer wichtig wurden und deren Förderung in ihren Schülern ihr unermüdliches Bestreben war, auch in Lili sichtbar. Sie hatte Starqualität, besaß ein leidenschaftliches Innenleben, innere Energie, Enthusiasmus, ein waches Gespür, starkes Denken, poetische Sensibilität, Engagement, zweckhafte Ernsthaftigkeit, Disziplin, Konzentration — ihr Leben und ihre Musik bezeugen all dies, und ich könnte mir denken, daß sie die vierundzwanzig Jahre ihres Lebens so intensiv lebte wie jene, denen ihre biblischen siebzig Jahre und mehr vergönnt sind. Ihr Meisterstück Du fond de l’abîme („De profundis“) ist ein Werk vollkommener technischer und geistiger Reife: In ihm scheint sie den emotionellen Erfahrungsschatz und das tiefgehende Verständnis für Probleme eines ganzen Lebens zu komprimieren.

Die Frage ist: Wie hat Lili das gemacht? Im Alter von zwei Jahren erkrankte sie an einer Lungenentzündung, von der sie sich erholte, doch zeit ihres Lebens besaß sie eine erhöhte Krankheitsanfälligkeit. Letzten Endes war es eine Form von Darmkrebs, die sie zerstörte — eine langwierige und schmerzhafte Angelegenheit. Doch sie kämpfte mit erstaunlicher Kraft gegen das Leiden an und war entschlossen, alles, was sie zu sagen hatte zu sagen, solange noch Zeit dafür war. […]

Lili Boulanger (1893-1918), Komponistin
Es gelang ihr beinahe: Die einzige größere Partitur, die unvollendet blieb war eine Opernvertonung von Maeterlincks La Princesse Maleine. Sie lernte das, was sie brauchte, so schnell und so gründlich, daß es sich nur schwer erklären läßt. Vermutlich war es hilfreich, daß ihre Mutter auf intensiver Konzentration bestand, und außerdem war da noch Vater Boulanger, der bereits siebzig war, als Nadia 1887 geboren wurde und siebenundsiebzig, als Lili das Licht der Welt erblickte; die Schwestern müssen wohl schon bald ein Erwachsenenleben geführt haben. Lili muß sich — auf welche Weise auch immer — mit unglaublicher Geschwindigkeit und Leichtigkeit eine vollkommen professionelle Technik angeeignet haben. Ihre Orchestrierung beispielsweise ist meisterhaft. Sie war im wesentlichen eine Klangpoetin, mit dem Gespür eines Künstlers für Schönheit von Farbe und Struktur.

Doch Lilis Gelegenheiten, zu hören, wie ihre Orchestrierungen tatsächlich klangen, waren im Grunde genommen auf ein paar Aufführungen von Faust et Hélène beschränkt. Ihre besten Partituren - Du fond de l’abîme, Psaume 129, das Vieille prière bouddhique, das Pie Jesu - wurden niemals zu ihren Lebzeiten aufgeführt; doch als es so weit war, waren, abgesehen von einigen Modifikationen der Dynamik, keine Anderungen nötig. Die Intuition einer Frau vielleicht? Du fond de l’abîme zeigt auch, daß was die Form anging, Lili die technischen Ressourcen, die sie benötigte, voll und ganz beherrschte. Der Aufbau zeigt das meisterhafte Bewußtsein der Praxis der Symphonie. […]

Die meisten von Lilis veröffentlichten Kompositionen sind Vokalstücke. Dies spiegelt nicht nur die Traditionen wider, mit denen sie im Kreise der Familie, Freunde und Lehrer aufwuchs - Sologesang, Oper, Vokal- oder Chorensemble, Kirchenmusik — sondern auch die Notwendigkeit, sich technisch für den kommenden Prix de Rome vorzubereiten, den sie 1913 (dem ersten Mal, daß er einer Frau verliehen werden sollte) gewann. Von den fünf Chorstücken dieser Einspielung, stammen alle außer Hymne au soleil mit Orchesterbegleitung (unveröffentlicht und schwer zu finden) von Lili; Sie schrieb auch Orchesterversionen von mehreren Liedern des Liederzyklus Clairières dans le ciel.

Nadia Boulanger (1887-1979), Musikpädagogin.
Aufgenommen 1925.
Als erstes wurden Les sirènes and Renouveau geschrieben, die beide gegen Ende des Jahres 1911, als Lili achtzehn Jahre alt war, vollendet wurden; beides sind impressionistische Naturstücke, die sie wie Nadia es ausdrückte in „der Sprache ihrer Zeit“ („le langage de son époque“) geschrieben hatte. Was sofort auffällt, ist die poetische Sensibilität des Kompositionslehrlings im allgemeinen, und im besonderen ihr Gespür für die stimmliche Anordnung. 1913 - dem Jahr, in dem sie mit ihrer Kantate Faust et Hélène den Prix de Rome gewann — reifte ihre Technik rapide. Tatsächlich war Renouveau für die Vorrunde — den concours d’essai— in diesem Wettbewerb geschrieben worden.

Wie Renouveau und Les sirènes ist Soir sur la plaine (1913) ein Naturgedicht; doch waren die ersten beiden frisch inspririerte Aquarelle, so malt Lili hier mit kräftigen Ölfarben. Sie verwendet noch immer ein impressionistisches Vokabular, verleiht ihm jedoch mehr als einen Hauch ihres eigenen Charakters. Hymne au soleil gehört ins Vorjahr (1912) und verzeichnet deutlich die Einwirkung von Debussys Martyre de Saint Sébastien, der zu jenem Zeitpunkt ganz aktuell war; doch es bietet in seiner stämmigen Maskulinität auch eine Vorschau auf eines der ersten Werke mit Lilis wahrer Reife, die Vertonung von Psalm 24 („Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist“).

Für Lili ist B-Moll die Tonart des Abgrunds, der Trauer und Verzweiflung. Ihre stygische Düsternis umgibt nicht nur Du fond de l’abîme sondern auch Pour les funérailles d’un soldat, die Vertonung eines Gedichts von de Musset für Solobariton, Chor und Orchester, das im gleichsam objektiven Rahmen von Begräbnisförmlichkeiten und eines Rituals, der Voraussicht der jungen Komponistin auf menschliches Leid Ausdruck verleiht. Der Anfangs- und der Schlußabschnitt mit ihrer anregenden Besetzung mit Blech- und Holzblasinstrumenten und Schlagzeug auf der einen Seite und dem wortlosen chromatischen Klagen des Chores auf der anderen, zählt mit Sicherheit zu ihren besten Erfindungen. Die Pizzikato-Figuren für Doppelbaß, die nach Brittens Art den Schlag gedämpfter Marschtrommeln imitieren, halten bis zum Ende unerbittlich die Tonart B-Moll. Diese Einspielung ist die eigene Version der Komponistin mit Klavierbegleitung; es ist bemerkenswert, wie die Tonart B-Moll über die Klaviatur in alle Richtungen nachklingt.

Ernest Boulanger (1815-1900), Komponist,
Vater von Lili und Nadia
Clairières dans le ciel („Himmelslichtungen“) ist vielleicht das wichtigste von Lilis säkularen Werken. Seitdem sie sich eine Ausgabe von Francis Jammes’ Gedichtsammlung mit dem Titel Tristesses zugelegt hatte, hatte sie den Wunsch, sie zu vertonen. Jammes wird aufgrund seiner Versbildung und Syntax als symbolistischer Dichter eingestuft; andererseits ist sein Anliegen für Klarheit und Einfachheit ganz entschieden unsymbolistisch. Nachdem sie sowohl die Erlaubnis des Dichters, die Verse zu vertonen als auch seine Zustimmung zur Änderung des Titels eingeholt hatte, wählte Lili dreizehn der vierundzwanzig Gedichte des Zyklus.

Wie ihre Biographin Leonie Rosenstiel bemerkt, identifizierte sich Lili fast mit Sicherheit mit der Heldin der Gedichte — einem hochgewachsenen, etwas mysteriösen jungen Mädchen, das plötzlich aus dem Leben des Dichters verschwunden war, und man weiß nicht wie oder warum. Jammes erinnert sich an seine Emotionen mehr oder weniger in Ruhe; zum größten Teil werden sie von vorbeiziehenden Naturphänomenen hervorgerufen — zwei Akeleien an einem Hang, der Anblick einer ruralen Landschaft, die Erinnerung an den Flieder des vergangenen Jahres, plötzliche schwere Regenfälle. Materielle Gegenstände — ein Medaillon, das ihm als Andenken von seiner Liebsten geschenkt worden war, eine schwarze Madonna am Fuße seines Bettes. […] Die Musik von Clairières fängt den lyrischen Duft und die Unschuld von Pelléas et Mélisande in einer Folge von Selbstportraits ein, die von Sentimentalität ungetrübt sind. Eine scheinbare Naivität wird von einem gelegentlichen Aufflackern von Gewalt widerlegt, insbesondere im letzten Lied (abgesehen vom Namen ein Epilog), das nostalgisch auf frühere Lieder Bezug nimmt und dem man mit der Zeit anhört, das es die Gefühlslast des ganzen Zyklus’ auf sich nimmt.

Raissa Boulanger, geb. Myschezkaja (1854-1935)
 Sängerin, Mutter von Lili und Nadia
Jede Beschreibung von Lili Boulangers Leben und Werk muß notgedrungen eine Reihe von äußerst wichtigen Fragen unbeantwortet lassen: Die genaue Beziehung zwischen Krankheit und Kreativität zum Beispiel. Verliehen Lilis Krankheit und nahender Tod ihrer Musik eine Schärfe und Tiefe, die bei einer normalen Laufbahn oder Gesundheitszustand niemals dagewesen wären? Oder war es eher der Zwang, die unwiderstehliche Berufung zum Komponieren, die ihre spärlichen körperlichen Reserven aufzehrte und zu ihrem Tod führte? War Lili so abgeschirmt und beschützt, daß sie von den normalen Stürmen und Drängen der Pubertät und des frühen Erwachsenenalters gefühlsmäßig unberührt blieb, wie Nadia fest behauptete?

Ich kann dies nur schwer glauben, insbesondere in Anbetracht ihrer Musik, die alles andere als fade ist. Hatte Nadia, so wie Léonie Rosenstiel behauptet, tatsächlich Ressentiments gegen Lili, weil diese sie was unmittelbare, erstklassige musikalische Kreativität betraf, in den Hintergrund gedrängt hatte? Zu welchem Grad erschwerte es ihre natürlichen Schuldgefühle, daß sie — die geringere der beiden Koryphäen — überlebte, während Lili starb? Hatte sie genug für Lili getan — oder hat sie, wie manche denken, zu viel getan? Roger Nichols ist eindeutig der Ansicht, daß der Kult, den Nadia um Lilis Person schuf, in gewissem Maße die wirkliche Person verschleierte. Was wirklich zählte war nicht Lili, „die Feministin“, nicht Lili, „die Märtyrerin“, sondern Lili, „die Komponistin“, und keine Komponistin „aus der etwas hätte werden können“, sondern eine, die ganz sicher „jemand war“.

Quelle: Christopher Palmer, im Booklet. Übersetzung: Anke Vogelhuber


Jules Breton (1827-1906): The song of the Lark. 1884.
 The Art Institute of Chicago.


TRACKLIST

LILI BOULANGER
(1893-1918)

Clairières dans le ciel
tenor and piano 1914 [35'03]

01 Elle était descendue au bas de la prairie [2'08]
02 Elle est gravement gaie [1'46]
03 Parfois, je suis triste [3'06]
04 Un poète disait [1'48]
05 Au pied de mon lit [2'04]
06 Si tout ceci n'est qu’un pauvre rêve [2'32]
07 Nous nous aimerons tant [2'50]
08 Vous m'avez regardé avec toute votre âme [1'20]
09 Les lilas qui avaient fleuri [2'37]
10 Deux ancolies [1'30]
11 Par ce que j'ai souffert [3'05]
12 Je garde une médaille d'elie [1'33]
13 Demain fera un an [8'51]

14 Les sirènes
soprano, chorus and piano 1911 [5'49]

15 Renouveau
three solo voices and piano 1911 [4'56]

16 Hymne au soleil
mezzo soprano, chorus and piano three hands 1912 [3'59]

17 Pour les funérailles d'un soldat
baritone, chorus and piano three hands 1912 [7'51]

18 Soir sur la plaine
soprano, tenor, baritone, chorus and piano 1913 [8'42]

Duration: [67'02]
Martyn Hill, Tenor
Andrew Ball, Piano

New London Chamber Choir:
14, 15, 18 Amanda Pitt, Soprano
15, 16 Jeanette Ager, Mezzo Soprano
15, 18 Martyn Hill, Tenor
17, 18 Peter Johnson, Baritone
16, 17 Ian Townsend, Piano Third Hand
James Wood Conductor

Recorded on 4-6 February 1994
Recording Engineer and Producer Gary Cole
Front Illustration: Jules Breton (1827-1906): The song of the Lark [detail] (1884)
(P) 1994 (C) 2004


La Bruyère

Vom Menschen

Jean de La Bruyère (1645-1696)
Ereifern wir uns nicht gegen die Menschen, wenn wir ihre Gefühllosigkeit, ihre Undankbarkeit, ihre Ungerechtigkeiit, ihren Hochmut, ihre Eigenliebe und ihre Gleichgültigkeit gegen andre sehen: sie sind einmal so geartet, das ist ihre Natur; ebensogut könnte man sich dagegen auflehnen, daß der Stein fällt und das Feuer emporsteigt.

Die Menschen sind eigentlich nicht unbeständig oder sind es nur in kleinen Dingen; sie wechseln ihre Kleider, ihre Sprache, das gesellschaftliche Gehaben; sie ändern bisweilen auch ihren Geschmack: aber sie bewahren ihre ewig schlechten Sitten, beharrlich und beständig im Übel und in der Nichtachtung der Tugend. […]

Unhöflichkeit ist kein ursprüngliches Gebrechen der Seele, sondern die Wirkung verschiedener Laster: törichter Eitelkeit, Unkenntnis seiner Pflichten, Trägheit, Stumpfheit, Zerstreutheit, Verachtung der andern, Mißgunst. Wenn sie auch nicht in die Tiefe dringt, ist sie darum nicht weniger hassenswert; denn sie ist stets ein sichtbarer, offenkundiger Fehler. Man wird freilich zugeben müssen, daß sie, je nach der Ursache, bald mehr, bald weniger verletzt.

Wenn man von einem zornigen, unbeständigen, zänkischen, mürrischen, krittelnden, launischen Menschen sagt: »Das ist seine Gemütsart«, so ist das keine Entschuldigung, wie man gewöhnlich annimmt, sondern das unbeabsichtigte Eingeständnis, daß diese großen Fehler unheilbar sind.

Die Menschen achten viel zuwenig auf das, was man Laune oder Stimmung nennt; sie sollten begreifen lernen, daß es nicht genügt, gut zu sein, sondern daß sie auch gut scheinen müssen, wenn ihnen überhaupt daran liegt, mit andern gesellig und einträchtig zu verkehren, das heißt, Menschen zu sein. Von boshaften Gemütern braucht man Sanftmut und Nachgiebigkeit nicht erst zu fordern; sie fehlt ihnen nie, sie dient ihnen als Falle, die Einfältigen zu fangen, und gestattet ihnen, ihre Schliche um so wirksamer zu üben: man wünschte aber gerade von gütigen Menschen, sie möchten auch nach außen hin stets willfährig und gefällig sein, damit es nicht mehr heißt: die Bösen fügen uns Schaden zu und unter den Guten haben wir zu leiden.

Die meisten Menschen reißt erst der Zorn zu Beleidigungen hin; bei einigen ist es umgekehrt: sie beleidigen, und dann erzürnen sie sich; davon sind wir jedesmal so überrascht, daß wir ihnen gar nicht grollen können.

Die Menschen denken zuwenig daran, Gelegenheiten zu nutzen, wo sie gefällig sein können: wer ein neues Amt antritt, scheint die beste Möglichkeit zu haben, andere zu Dank zu verpflichten, und er tut nichts für sie; das Bequemste und Nächstliegende ist immer die Weigerung, und nur aus Berechnung wird eine Bitte gewährt.

Wer genau weiß, was er von den Menschen im allgemeinen und von jedem von ihnen im besonderen erwarten darf, kann sich getrost ins Getriebe der Welt stürzen.

Ist Armut die Mutter der Verbrechen, dann ist Mangel an Verstand ihr Vater.

Es kommt kaum vor, daß ein Mensch ohne Anstand und Ehre Geist besitzt: ein gerader, durchdringender Verstand führt zuletzt immer zu Ordnung, Rechtschaffenheit und Tugend: Einsicht und Scharfsinn fehlen aber dem, der starrköpfig im Schlechten wie im Falschen beharrt; vergeblich sucht man ihn durch spöttische Reden zu bessern: die andern merken, daß man ihn damit meint, er selbst erkennt sich nicht darin; es ist, als wenn man einem Tauben Beleidigungen sagte. Zum Besten der Menschen von Ehre und zum Nutzen der Allgemeinheit möchte man jedem Schurken ein wenig Einsicht und Verstand wünschen.

Es gibt Fehler, die wir nicht durch Schuld der andern haben, die uns angeboren sind und durch Gewohnheit schlimmer werden; andere wieder waren uns ursprünglich fremd und wir haben sie erst angenommen. Bisweilen hat man von Natur einen umgänglichen Charakter, eine zuvorkommende Art und ein ausgesprochenes Verlangen zu gefallen; aber die Behandlung, die man von denen erfährt, mit denen man lebt oder von denen man abhängt, drängt einen bald aus den natürlichen Maßen und Verhältnissen, ja aus seinem eigenen Wesen heraus: man zeigt sich unwirsch und gallig‚ wie man sich vordem nicht kannte, die ganze Anlage verändert sich, und man bemerkt schließlich zu seinem Erstaunen, daß man mürrisch und griesgrämig geworden ist.

Man kann die Frage hören, warum nicht alle Menschen zusammen gleichsam eine einzige Nation bilden, warum sie nicht die gleiche Sprache sprechen, unter den gleichen Gesetzen leben, dieselben Gebräuche und dieselbe Religion angenommen haben; wenn ich aber an den Widerstreit der Geister, Neigungen und Gefühle denke, so wundere ich mich, daß sich auch nur sieben oder acht Personen unter einem Dach, in einem Raum zu einer Familie zusammenfinden.

Sonderbare Väter, die ihr Leben lang damit beschäftigt scheinen, ihren Kindern Gründe zu liefern, sich über ihren Tod zu trösten!

Alles ist befremdlich in Laune, Sitten und Betragen der meisten Menschen; manch einer hat sein ganzes Leben verdrießlich, aufgeregt, geizig, kriechend‚ unterwürfig‚ mühselig, eigensüchtig zugebracht, dem die Natur ein heiteres, friedliches, genießerisches Gemüt und ein stolzes Herz, frei jeder Niedrigkeit, beschert hatte: Bedürfnisse und Umstände, das Gesetz der Notwendigkeit tun der Natur Gewalt an und verursachen solche Wandlungen. So läßt sich nicht sagen, was solch ein Mensch an sich in seinem Wesen ist; zu vieles Äußere entstellt ihn, verändert ihn, stürzt ihn um; er ist genau das nicht, was er ist oder zu sein scheint.

Das Leben ist kurz und voll Verdruß: es vergeht unter lauter Wünschen; man verspart sich Ruhe und Freuden für die Zukunft, für ein Alter, wo die besten Güter dahin sind, Gesundheit und Jugend. Und wenn diese Zeit naht findet sie uns noch in Wünschen: wir sind nicht weitergekommen, wenn das Fieber uns ergreift und unserem Leben ein Ende macht; wären wir genesen, hätten wir nur immer weiter gewünscht.

Wenn man etwas begehrt, so ergibt man sich auf Gnade und Ungnade dem, von dem man es erhofft: ist man der Gewährung sicher, so sucht man Zeit zu gewinnen, unterhandelt, macht Bedingungen.

Der Mensch hat sich so sehr daran gewöhnt, nicht glücklich zu sein, und es scheint uns so natürlich, alles, was uns wertvoll ist, durch tausend Mühsale zu erkaufen, daß uns verdächtig vorkommt, was sich leicht macht: wir vermögen es nicht zu fassen, daß etwas, was so wenig Anstrengung kostet, für uns von großem Vorteil sei oder daß man mit richtigem Planen so rasch ans Ziel gelangen könne: man glaubt wohl, den glücklichen Erfolg zu verdienen, wagt aber selten einmal damit zu rechnen.

Wer meint, er sei nicht zum Glück geboren, könnte doch wenigstens am Glück seiner Freunde oder Angehörigen teilhaben. Aber Mißgunst raubt ihm auch diese letzte Möglichkeit.

Mag ich vielleicht auch an anderer Stelle gesagt haben, daß die Betrübten unrecht hätten: die Menschen scheinen wirklich zu Unglück, Schmerz und Armut geboren, wenige bleiben verschont; und da ihnen jedes Mißgeschick begegnen kann, sollten sie sich auf jedes Mißgeschick gefaßt machen.

Den Menschen fällt es so schwer, sich in Handelsgeschäften zu einigen, sie wachen so argwöhnisch über ihre kleinsten Interessen, strotzen so vor Streitsucht, möchten so gerne täuschen und so ungern hintergangen werden, schätzen ihren Besitz so hoch, den der andern so niedrig ein, daß ich wahrhaftig nicht begreifen kann, wie überhaupt Ehen, Verträge, Friedensschlüsse, Waffenstillstand, Abmachungen und Bündnisse zustande kommen.

Bei manchen Leuten muß Anmaßung die Größe, Unmenschlichkeit die Festigkeit des Charakters, Arglist den Geist ersetzen.

Spitzbuben halten die andern gern für ihresgleichen; man kann sie schwer hintergehen, aber sie täuschen selbst nicht lange.

Lieber will ich ein Dummkopf sein und dafür gelten als ein Schurke.

Man betrügt niemals gutwillig; die Schurkerei fügt zur Lüge stets noch die Bosheit hinzu.

Wenn es weniger Leichtgläubige gäbe, so würde es auch weniger pfiffige, gewitzte Schlauköpfe geben, die dadurch ihre Eitelkeit befriedigen und ihr Ansehen erhöhen, daß sie ihr Leben lang andere zu betrügen pflegten: warum sollte also Erophil, dem Wortbruch, verlogene Dienstleistungen und Schurkerei nicht etwa Schaden gebracht, sondern Gunst und Wohltaten selbst von denen eingetragen haben, die er im Stich gelassen oder verraten hat, sich nicht unendlich viel auf sich und seine Geschicklichkeit einbilden? […]

Nichts macht es einem einsichtigen Menschen so leicht, das Unrecht, das Angehörige und Freunde im antun, ruhig zu ertragen, als die Betrachtung der menschlichen Gebrechen, die Überlegung, wie schwer es den Menschen fällt, beständig, großmütig, treu und einer Freundschaft fähig zu sein, die stärker ist als die Ichsucht; da er erkennt, was sie vermögen, verlangt er nicht von ihnen, daß sie feste Körper durchdringen, sich in die Luft erheben, gerechten Sinn besitzen. Er mag die Menschheit im allgemeinen hassen, da Tugend so selten ist; aber er wird die einzelnen entschuldigen, ja sie sogar aus höherer Einsicht lieben und bestrebt sein, selber sowenig wie möglich die gleiche Nachsicht zu verdienen.

Es gibt Güter, die wir leidenschaftlich begehren und deren bloße Vorstellung uns schon hinreißt und entzückt; haben wir das Glück, sie zu erlangen, so nehmen wir sie gelassener auf, als wir gedacht hätten; wir erfreuen uns kaum an ihnen und verlangen sogleich nach größeren.

Wiederum gibt es furchtbares Unglück und entsetzliche Leiden, an die wir nicht zu denken wagen und bei deren bloßem Anblick wir erschaudern; kommen sie über einen, so entdeckt man Kräfte in sich, die man nicht vermutete, wappnet sich gegen sein Mißgeschick und findet sich besser damit ab, als man erwartete.

Bisweilen braucht man bloß ein schönes Haus zu erben, in den Besitz eines guten Pferdes, eines hübschen Hundes, eines Gobelins, einer Wanduhr zu gelangen: und gleich ist ein tiefer Schmerz gelindert und ein großer Verlust leichter zu tragen.

Ich stelle mir vor, daß die Menschen ewig auf Erden lebten, und überlege, ob sie sich dann wohl noch angestrengter und noch geschäftiger um ihr Fortkommen bemühen würden als heute.

Ein elendes Leben zu ertragen ist eine Pein; ein glückliches zu verlieren eine Qual: beides kommt auf eins hinaus.

Nichts möchten die Menschen lieber erhalten und nichts schonen sie weniger als ihr Leben. […]

Man stirbt nur einmal, und doch spüren wir die Gegenwart des Todes in jedem Augenblick unseres Lebens; ihn fürchten ist schlimmer, als ihn erleiden.

Unruhe, Furcht, Niedergeschlagenheit halten den Tod nicht fern, im Gegenteil: und doch möchte ich bezweifeln, daß den Sterblichen übermäßiges Lachen anstehe.

Die Gewißheit des Todes wird etwas gemildert durch die Ungewißheit seines Erscheinens; er ist eine unbestimmte Größe in der Zeit, die etwas vom Unendlichen an sich hat und von dem, was man die Ewigkeit nennt.

Laßt uns bedenken, daß wir uns, wie wir gegenwärtig nach der blühenden Jugend zurückseufzen, die nicht mehr ist und nimmer wiederkehren wird, in der Zeit der Hinfälligkeit, die uns erwartet, nach dem Mannesalter sehnen werden, in dem wir jetzt noch stehen und das wir nicht genug schätzen.

Man fürchtet das Alter, ohne daß man weiß, ob man alt werden wird.

Man hofft alt zu werden und fürchtet sich doch davor: das heißt, man liebt das Leben und flieht den Tod.

Es ist einfacher, der Natur nachzugeben und den Tod zu fürchten, als sich dagegen zu wehren, sich mit Vernunftgründen und Betrachtungen zu wappnen und beständig mit sich selbst gegen die Todesfurcht zu ringen.

Wenn ein Teil der Menschen stürbe, der andere nicht, wäre das Sterben eine unerträgliche Trübsal.

Langes Siechtum scheint zwischen Leben und Sterben gestellt, damit der Tod für die Sterbenden und für die Zurückbleibenden eine Erlösung bedeute.

Menschlich gesprochen hat auch der Tod sein Gutes: er setzt dem Alter ein Ziel.

Der Tod, welcher der Hinfälligkeit zuvorkommt‚ erscheint zu günstigerer Zeit als der, welcher sie beendet.

Die Reue über die schlechte Anwendung des verflossenen Lebens führt die Menschen nicht immer dahin, die Zeit, die ihnen noch zu leben vergönnt ist, besser zu nutzen. […]

Man lebt nicht lange genug, um aus seinen Fehlern zu lernen. Sie begleiten uns das ganze Leben hindurch; und nach allem Irren bleibt uns schließlich nur übrig, gebessert zu sterben.

Nichts frischt so das Blut auf wie eine vermiedene Torheit.

Seine Fehler gestehen ist peinlich; man möchte sie geheimhalten und doch einem andern aufbürden: darum zieht man den geistlichen Berater dem Beichtiger vor.

Die Fehler der Toren sind oft so plump und so schwer vorauszusehen, daß sie die Klugen irreleiten und nur denen Vorteil bringen, die sie begehen.

Die größten Menschen zieht der Parteigeist zu den niederen Handlungen des Pöbels herab.

Aus Eitelkeit oder Rücksicht auf den Anstand tun wir oft, was wir aus Neigung oder Pflicht tun sollten, und tragen nach außen das gleiche Benehmen zur Schau. Mancher ist am Fieber gestorben, das er sich durch Nachtwachen am Krankenlager seiner Frau geholt hatte, die er gar nicht liebte.

Im Grunde ihres Herzens verlangen die Menschen nach Achtung, und doch verbergen sie sorgfältig das Verlangen; denn sie möchten für tugendhaft gehalten werden, und aus der Tugend andern Vorteil ziehen als Tugend, eben Hochschätzung und Lob, wäre nicht mehr Tugend, sondern Sucht nach Hochschätzung und Lob, also Eitelkeit: die Menschen sind sehr eitel und hassen doch nlchts mehr, als dafür zu gelten.

Der Eitle kommt auf seine Rechnung, ob er Gutes oder Schlechtes von sich redet: der Bescheidene spricht nicht von sich.

Wie lächerlich die Eitelkeit ist und welch ein schimpfliches Laster, erkennt man am besten daran, daß sie sich nicht zu zeigen wagt und sich oft unter der Maske der Bescheidenheit verbirgt.

Falsche Bescheidenheit ist die ausgeklügeltste Form der Eitelkeit; sie bewirkt, daß der Eitle nicht als eitel erscheint, sich vielmehr durch die seinem angeborenen Laster entgegengesetzte Tugend in Ansehen setzt: sie ist also eine Lüge. Falscher Ruhm ist die Klippe der Eitelkeit; er verführt uns dazu, daß wir wegen Eigenschaften geschätzt werden möchten, die zwar in uns liegen, die aber zu nichtig und wertlos sind, um Aufhebens davon zu machen: er beruht auf einem Irrtum.

Die Menschen sprechen über ihre eigene Person immer derart, daß sie nur kleine Fehler zugeben, deren Geständnis die Aufmerksamkeit auf ihre bedeutenden Gaber oder trefflichen Eigenschaften hinlenkt. So beklagt man sich wohl über sein schlechtes Gedächtnis, höchst befriedigt von seinem tiefen Verstand und guten Urteil; man läßt sich den Vorwurf der Zerstreutheit und der Träumerei gefallen, als wenn man damit für einen Schöngeist erklärt würde; man sagt von sich, daß man zu Handarbeiten ungeschickt sei und tröstet sich über den Mangel so belangloser Talente mit seinen allseits bekannten Geistesgaben; man schilt sich selber bequem und will damit sagen, daß man uneigennützig und vom Ehrgeiz geheilt sei; man errötet nicht über seine Unsauberkeit, denn sie beruht ja auf Gleichgültigkeit gegenüber Nebensächlichem und ist ein Hinweis darauf, daß man sich nur mit Wesentlichem abgibt. Ein Offizier erzählt gern davon, wie er sich eines Tages aus Tatendrang oder Neugier, ohne Dienst und Befehl, in den vordersten Graben oder an eine andere gefahrvolle Stelle begeben habe, und er fügt hinzu, ihm sei von seinem General deshalb ein Verweis erteilt worden. So kann auch ein Mann von hohem Verstand und zielbewußtem Willen, der von Natur mit jener Klugheit bedacht ist, die andere Menschen vergeblich zu erwerben suchen; der seinen Geist durch eine große Erfahrung gestählt hat; den die Menge und Last, die Mannigfaltigkeit, Schwierigkeit und Wichtigkeit der Geschäfte wohl in Anspruch nehmen, doch nicht erdrücken; der mit der Weite seiner Einsicht und seinem Scharfblick alle Ereignisse meistert; der, weit entfernt, die Vorschriften zu Rate zu ziehen, die sich in Büchern über die Staatskunst finden, vielleicht zu jenen überragenden Geistern gehört, die von Natur zur Herrschaft über die andern begabt sind und jenen Regeln zum Vorbild gedient haben; den große Taten vom Schönen und Angenehmen abhalten, das er lesen könnte, und der Gewinn genug daraus zieht, sein eigenes Leben und Handeln, wenn ich so sagen darf, nachzuzeichnen und durchzublättern: ein solcher Mann kann leicht und ohne sich bloßzustellen sagen, daß er kein Buch kennt und niemals liest.

Man will bisweilen seine schwachen Seiten verbergen oder die Meinung, die andre darüber haben, abmildern, indem man sie offen eingesteht. Mancher sagt: »Ich weiß nichts«, der wirklich unwissend ist; einer bekennt: »Ich bin ein alter Mann«‚ und er hat die Sechzig in der Tat überschritten; und ein anderer: »Ich bin nicht reich« und ist ein armer Teufel.

Man meint nicht Bescheidenheit oder verwechselt sie mit etwas grundsätzlich anderem, wenn man sie für ein inneres Gefühl hält, das den Menschen in seinen eigenen Augen erniedrigt, und damit der übernatürlichen Tugend der Demut gleichsetzt. Von Natur denkt der Mensch hoch und stolz von sich selbst, aber nur von sich selbst: die Bescheidenheit verfolgt bloß den Zweck, daß niemand darunter leide; sie ist eine Tugend der Umgangsform, die Blick, Gang, Worte und Stimme zügelt und den Menschen die andern nach außen so behandeln läßt, als wenn er sie wirklich achtete.

Die Welt ist voll von Leuten, die beim Vergleich, den sie bei sich selbst zwischen sich und andern anzustellen pflegen, stets zugunsten ihres eigenen Verdienstes entscheiden und demgemäß handeln.

Ihr sagt, man solle bescheiden sein; wohlgeartete Menschen werden gerne damit einverstanden sein: sorgt nur dafür, daß man die nicht ausnutzt, die aus Bescheidenheit nachgeben, und die nicht niedertritt, die fügsam sind.

Ebenso sagt man: »Man muß sich bescheiden kleiden.« Nichts ist Leuten von Verdienst willkommener; aber die Welt verlangt Putz, und man tut ihr den Gefallen; sie fordert überflüssigen Tand, und man weist ihn vor. Manche schätzen ihre Mitmenschen nur nach feiner Wäsche und reichen Gewändern ein; man kann nicht immer darauf verzichten, um solchen Preis geachtet zu werden. Bei gewissen Gelegenheiten ist man gezwungen, sich zu zeigen: eine breitere oder schmalere Goldborte entscheidet über Zutritt oder Abweisung.

Eitelkeit und übertriebenes Selbstgefühl lassen uns bei andern einen Stolz uns gegenüber vermuten, der bisweilen vorhanden sein mag, ihnen oft aber fremd ist: ein bescheidener Mensch leidet nicht an dieser Empfindlichkeit.

Wie man sich vor der Eitelkeit hüten muß, zu denken, daß andere uns mit Neugierde und Hochschätzung betrachten und sich nur von unseren Verdiensten unterhalten, so müssen wir auch ein gewisses Selbstvertrauen haben und nicht gleich glauben, man flüstere sich etwas ins Ohr, nur um uns Übles nachzureden, oder lache, um sich über uns lustig zu machen.

Wie kommt es nur, daß Alcipp mich heute grüßt, mir zulächelt und sich aus der Kutsche stürzt, um mich ja nicht zu verfehlen? Ich bin doch nicht reich und gehe zu Fuß: er dürfte mich eigentlich nicht sehen. Ach, er will selbst gesehen werden, ich soll bemerken, daß er bei einem hohen Herrn im Wagen sitzt!

Wir sind so von uns selbst erfüllt, daß alles sich auf uns beziehen muß: wir möchten gesehen und gegrüßt werden, selbst von Unbekannten: tun sie es nicht, so sind sie stolz; sie haben zu erraten, wer wir sind.

Wir suchen unser Glück außer uns selbst in der Meinung der Menschen, die uns doch als schmeichlerisch, unaufrichtig, ungerecht, neidisch, Iaunisch und voreingenommen bekannt sind: welche Wunderlichkeit!

Man sollte meinen, daß man eigentlich nur über lächerliche Dinge lachen könne: gleichwohl trifft man Leute, die über lächerliche wie ernste Dinge lachen. Seid ihr töricht und unüberlegt und entschlüpft euch in ihrer Gegenwart irgendeine Ungereimtheit, so lachen sie über euch; seid ihr verständig, sagt lauter gescheite Dinge und bringt sie im richtigen Ton vor, so lachen sie ebenfalls.

Menschen, die uns unser Gut durch Gewalttat oder ungerechte Machenschaften rauben oder durch Verleumdung die Ehre abschneiden, geben gewiß deutlich zu erkennen, daß sie uns hassen; doch das heißt noch keineswegs, daß sie jede Achtung vor uns verloren haben: darum ist es wohl möglich, daß wir uns einmal mit ihnen aussöhnen und sie sogar unserer Freundschaft würdigen. Spott dagegen kann man von allen Beleidigungen am wenigsten verzeihen; denn er ist die Sprache der Verachtung und ihr unmißverständlichster Ausdruck; er greift die Menschen in ihrer innersten Verschanzung an, in ihrem Selbstgefühl; er sucht sie in ihren eigenen Augen lächerlich zu machen; und so kommt ihnen zum Bewußtsein, daß der andere die denkbar schlechteste Meinung von ihnen hat, und sie werden unversöhnlich.

Unser Hang, über andre zu spotten, die Leichtfertigkeit, mit der wir sie herabsetzen und verachten, ist eine Ungeheuerlichkeit; genau wie unser Zorn gegen die, welche uns verspotten, tadeln und verachten. […]

Ein Mann von Geist kennt keine Eifersucht gegenüber einem Handwerker, der einen guten Degen verfertigt, oder gegenüber einem Bildhauer, der eine schöne Statue vollendet hat: er weiß, daß es in diesen Künsten Regeln und Verfahren gibt, die sich nicht erraten lassen, daß man mit Werkzeugen muß umgehen können, deren Verwendung, Benennung und Aussehen ihm unbekannt sind; und der Gedanke, daß er ein bestimmtes Handwerk nicht gelernt hat, tröstet ihn schon, darin kein Meister zu sein. Wohl aber ist er des Neides‚ ja der Eifersucht gegenüber Ministern oder regierenden Herren fähig, als ob Vernunft und gesunder Verstand, die ihm mit jenen gemein sind, die einzigen Werkzeuge wären, mit denen man ein Land regiert und den Staatsgeschäften vorsteht, und als ob sie Regeln, Vorschriften und Erfahrung ersetzen könnten.

Man begegnet selten völlig stumpfen und beschränkten Geistern, noch seltener überragenden und außergewöhnlichen. Die Mehrheit der Menschen schwebt zwischen diesen beiden Extremen. Der Zwischenraum wird ausgefüllt durch eine große Zahl durchschnittlicher Talente, die aber sehr brauchbar sind, dem Staat Dienste leisten und das Nützliche und Angenehme verkörpern: wie Handel, Finanzen, Kriegsdienst, Schiffahrt, Kunst und Handwerk, gutes Gedächtnis, Sinn für Spiel, für Gesellschaft und Unterhaltung. […]

Quelle: Jean de La Bruyère: Die Charaktere oder Die Sitten des Jahrhunderts. Übertragen von Gerhard Hess. (Sammlung Dieterich, Band 43.) Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig, ohne Jahr (ca. 1962) Zitiert wurden Auszüge aus dem Kapitel "Vom Menschen".

Link-Tipp

Die Abbildungen stammen aus Desprez, François: Les Songes drolatiques de Pantagruel. A Paris, Par Richard Breton 1565 und sind online verfügbar. Den Tipp verdanke ich dem sensationellen Blog BiblOdyssey, das ich schon des öfteren durchsucht habe, wenn es mir an geeigneten Bildern mangelte. Ich wurde noch immer fündig - Beispiele hier: 2005-122006-112009-092012-07

Und es hat noch mehr ausgewählte Musik in der Kammermusikkammer:

Chausson: Poème de l’amour et de la mer – Chanson perpétuelle - Mélodies | Ambrose Bierce: Aus dem Wörterbuch des Teufels.

Henri Duparc (1848-1933): Lieder | "A cold coming we had of it, Just the worst time of the year..." Heines andere Winterreise.

Gabriel Fauré: Intégrale des Mélodies | Marcus Aurelius Antoninus: Lehrjahre eines Philosophen.

»Jesous ahatonhia« - Charpentiers Christmette von 1694 mit huronischem Noël | Ernst Haas: Wien, 1947.

Brahms: Ein deutsches Requiem (Klemperer, Schwarzkopf, Fischer-Dieskau) | Karl Vossler: Puristische und Fragmentarische Kunstkritik.



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Carl Orff: «Carmina Burana» - Szenische Kantate für Soli, gemischten Chor, einstimmigen Knabenchor und Orchester

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Die «Carmina Burana» haben sich als bekanntestes Werk Carl Orffs und gleichzeitig als eines der beliebtesten Stücke des 20. Jahrhunderts einen prominenten Platz im Konzertleben weltweit erobert. Der Erfolg beruht auf vielen Faktoren, an vorderster Stelle sind sicher die leichte Fasslichkeit der Musik und die phantasievollen Texte zu nennen, die dem Mittelalter in eleganter Zeitlosigkeit neues Leben einhauchen – ein Guckkasten in einer lang verblichenen Epoche.

Orff wusste dank seiner jahrelangen Erfahrung im schulmusikalischen Bereich um die Wirksamkeit von einfachen Strukturen, klaren Rhythmen und welche musikalischen Hilfestellungen es brauchte, um die Hörer zu etwas «hinzuführen». Die Partitur ist ein rhythmusbetontes Musikbett und beschränkt sich auf einfache melodische und harmonische Strukturen. Interpretieren – im Sinne von «etwas daraus machen» – muss man die «Carmina Burana» sicher nicht. Die Musik verlangt dafür Präzision, Spielfreude, Authentizität und große Vorstellungskraft. Orff selbst erklärte: «Ein besonderes Stilmerkmal der Carmina Burana-Musik ist eine statische Architektonik. In ihrem strophischen Aufbau kennt sie keine Entwicklung. Eine einmal gefundene musikalische Formulierung – die Instrumentation war von Anfang an immer mit eingeschlossen – bleibt in allen ihren Wiederholungen gleich. Auf der Knappheit der Aussage beruht ihre Wiederholbarkeit und Wirkung.»

Wir haben es mit drei Themengruppen oder Bildfolgen (1. Frühling und Natur, 2. In der Schenke, 3. Liebe) zu tun, die von einem Hymnus an die Schicksalsgöttin umrahmt werden. Eine Handlung gibt es nicht – einer der zahlreichen Kniffe, mit dem sich Orff zeitlose Aufmerksamkeit sicherte.

Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4660,
Codex Buranus (Carmina Burana);
fol. 1r mit Schicksalsrad. circa 1230
Alles beginnt mit dem berühmten Chor «O Fortuna», in dem die Glücks- und Schicksalsgöttin als Lenkerin der Welt angerufen wird. Das grandiose Eröffnungsstück offenbart trotz allen Kummers über das wechselnde Glück ungeheure Lebenslust. Das Bild des sich ewig drehenden Schicksalsrades wird im folgenden «Fortune plange vulnera» («Die Wunden, die Fortuna schlug») weiter ausgesponnen.

Es folgt «Primo vere», das mit «Ûf dem anger» gepaart, den herannahenden Frühling und seine Schönheit besingt. In «Veris leta facies» («Frühlings heiteres Gesicht») wird hymnisch das Aufblühen der Welt besungen. Der Gedanke wird solistisch in «Omnia sol temperat» («Alles macht die Sonne mild») entwickelt, die Sonne weckt Frühlingsgefühle im wörtlichen und übertragenen Sinn. Der Chor «Ecce gratum» («Sieh, der Holde») schließt mit einer Zwischenbilanz diese erste Abteilung («Primo vere») und unterstreicht abermals die Wichtigkeit des Frühlings.

«Ûf dem anger» hebt mit einem heiteren Tanz an, der weiter in die frühlingshafte Szenerie führt. «Floret silva nobilis» («Es grünt der edle Wald») ist das Lied einer Frau, die sich beim Anblick des grünenden Waldes schmerzlich des Verlusts ihres Liebhabers und ihrer Sehnsucht nach Liebe bewusst wird. Mit «Chramer, gip die varwe mir» («Kramer gib die Farbe mir») hören wir nun den ersten mittelhochdeutschen Text, der unmittelbar auf das vorangegangene Stück reagiert. Die Frau ergreift die Initiative und bereitet sich darauf vor, wieder einen Mann für sich zu gewinnen – nach allen Regeln der Minne, versteht sich.

Boccaccio, "De Casibus Virorum Illustrium" (Paris, 1467)
MSS Hunter 371-372 (V.1.8-9). Image (vol. 1: folio 1r)
(Glasgow University Library)
Auf die Vorbereitungen folgt sogleich das neckische Spiel zwischen Frauen und Männern: einem Reigen («Reie») folgt ein Spottlied der Burschen über die tanzenden Mädchen («Swaz hie gat umbe», «Was hier im Reigen geht»), denen es nicht schnell genug geht. Dieses Missverständnis klärt sich bei «Chume, chume geselle min» («Komm, Geselle mein») schnell auf, worauf wieder das Spottlied folgt. Mit «Were diu werlt alle min» («Wäre auch die Welt ganz mein») wird schließlich versichert, dass die Dame des Herzens schon den Verzicht auf Krone und Land wert wäre. Es ist nach wie vor umstritten, ob mit den Worten «daz diu chünegin von Engellant lege an minen armen» eine konkrete Person gemeint ist – womöglich ist von Eleonore von Poitou die Rede, die sich 1152 von ihrem Mann, dem französischen König, trennte, um den englischen König zu heiraten.

Um kulinarische Genüsse und unbekümmerte Lebenslust geht es im folgenden Teil «In taberna» («In der Schenke»). Die Botschaft des ersten Stücks ist unmissverständlich: «Estuans interius» («Glühend in mir») tritt als erste offen zur Schau getragene Ich-Botschaft im gesamten Stück hervor. Es ist eine rotzfreche Parodie auf die christliche Beichte in Strophenform. Sprachgewaltig und satirisch geht es in «Olim lacus colueram» («Einst schwamm ich auf dem See umher») weiter, wenn der über dem Feuer bratende Schwan sein trauriges Los bejammert. Nahtlos daran schließt «Ego sum abbas» («Ich bin der Abt») an, in dem sich ein namenloser Zecher zum Abt des Schlaraffenlandes erklärt und jeden warnt, der sich mit ihm auf das Würfelspiel einlässt. «In taberna quando sumus» («Wenn wir sitzen in der Schenke») enthält liturgische Anspielungen, verunglimpft die Fürbitten zum Karfreitag und schließt den zünftigen Fress- und Saufteil der «Carmina Burana» ab.

Christine de Pizan, Folio 41r 'Wheel of Fortune' from Epitre d'Othéa;
Les Sept Sacrements de l'Eglise, c. 1455 (Waddesdon Manor, National Trust)
Der dritte und letzte Teil, «Cours d’amour» («Hof der Liebe»), eröffnet mit «Amor volat undique» («Amor fliegt überall»). Hier stellt sich der kleine Liebesbote vor und beklagt alle Frauen, die ohne Liebe sind. Aber auch den Männern kann es schlecht gehen, wie in «Dies, nox et omnia» («Tag, Nacht und alles») zu hören ist: das Werbelied eines Liebenden, der bis jetzt noch nicht erhört wurde. Das folgende Stück erzählt über das erfolgreiche Zustandekommen einer Beziehung zwischen Mann und Frau: «Stetit puella» («Stand ein Mädchen») changiert zwischen gespielter Unschuld und Raffinesse. In «Circa mea pectora» («In meinem Herzen») geht es um die Gefühle beim Sex, aber auch die praktischen Probleme, die sich dabei ergeben können. Eine hypothetische Erörterung unter unerfahrenen Burschen ist dann «Si puer cum puellula» («Wenn Knabe und Mädchen»).

Handfest und gar nicht hypothetisch geht es dann aber mit «Veni, veni, venias» («Komm, komm, komm zu mir»), wenn ein Mann eine Frau anfleht, mit ihm ins Bett zu gehen. Dieser lüsterne Ausruf wird von einem Blick in das Innere der Angebeteten gefolgt, «In trutina» («Auf der Waage»). Sie überlegt nun bei sich, ob sie sich dem Mann hingeben soll oder nicht, entscheidet sich letztlich aber für die Lust. «Tempus est iocundum» («Lieblich ist die Zeit») heißt der lyrische Hymnus auf die Freuden der Liebe, in dem Männer und Frauen danach drängen, Frühlingsgefühle miteinander auszuleben. Mit dem innigen «Dulcissime» («Süßester») gibt sich nicht nur die Frau ihrem Mann endgültig hin, der amouröse Teil der «Carmina Burana» gipfelt hier in einem Höhepunkt, einer musikalisch-orgasmischen Eruption. Der Epilog mit dem Titel «Blanziflor et Helena» setzt stellvertretend für alle Liebenden den Ritter Blanziflor (eine beliebte Sagenfigur) und Helena, die schönste Frau der Antike, als Überbringer der Dankbarkeit für leibliche Freuden ein. «Ave formosissima» («Heil dir, Schönste») bejubelt in ekstatischer Verzückung die göttliche Jungfrau.

Sebastian Brant, "Das Narrenschiff", Basel 1499.
Holzschnitt von Albrecht Dürer.
Nahtlos an die letzten Akkorde des Hymnus auf die Liebe schließt sich der Kreis wieder zu «O Fortuna». Mit der Beschwörungsformel des Eingangschors wird der Kreis geschlossen, die Rundumbewegung um das Schicksalsrad ist vollendet.

Quelle: Alexander Moore, Grafenegg Kulturbetriebsgesellschaft, auf dem Webauftritt des Tonkünstler Orchester


Linktipps:

Ein Bericht von der Uraufführung 1937.

Carl Orff und das Dritte Reich.

Ein Versuch einer authentischen Aufführung des Manuskripts «Carmina Burana».

Gehören die Carmina Burana ins Kloster Benediktbeuren? Meinungen.



TRACKLIST

Carl Orff

Carmina Burana
(Cantiones profanes)

Fortuna Imperatrix Mundi
01 O Fortuna 2.49
02 Fortune plango vulnera 2.51

I Primo vere
03 Veris leta facies 3.53
04 Omnia sol temperat 1.43
05 Ecce gratum 2.54

Uf dem Anger
06 Tanz 1.59
07 Floret Silvia 3.31
08 Chramer, gip die varwe mir 3.36
09 Reie ... Swaz hie gat umbe ... 5.12
Chume, chum geselle min
10 Were diu werlt alle min 0.54

II In taberna
11 Estuans interius 2.24
12 Olim lacus colueram 3.24
13 Ego sum abbas 1.16
14 In taberna quando sumus 3.22

III Cours d'amour
15 Amor volat undique 3.16
16 Dies, nox et omnia 2.07
17 Stetit puella 2.01
18 Circa mea pectora 2.11
19 Si puer cum puellula 0.57
20 Veni, veni, venias 0.55
21 In trutina 2.07
22 Tempus est iocundum 2.25
23 Dulcissime 0.32

Blanziflor et Helena
24 Ave formosissima 1.43

Fortuna Imperatrix Mundi
25 O Fortuna 2.48

Gesamte Spieldauer: 60.58

Sopran: Lucia Popp
Tenor: Gerhard Ungar
Bariton: Raymond Wo1anksy, John Noble
New Philharmonia Chorus, Leitung: Wilhelm Pitz
Wandsworth School Boy's Choir, Leitung: Russel Burgess
New Philharmonia Orchestra
Rafael Frühbeck de Burgos

(P) 1987 (C) 2003



Der Bücherwurm

Einige Bücher soll man schmecken, andere verschlucken, und einige zuwenige kauen und verdauen.
(Francis Bacon)
Das Mikroskop von Sir Robert Hooke -
 damit kam er dem Wurm auf die Spur.
Im Buch begegnet der Bücherwurm, seit es Bücher gibt. Schon die Papyri der alten Ägypter, die Schriftrollen der Griechen und Römer wurden zur Nahrung des ungebildeten Untiers. Erste explizite urkundliche Erwähnung findet der Bücherwurm, wie sollte es anders sein, in einem Buch des griechischen Philosophen Aristoteles, der ihn als kleinstes aller Tiere und als skorpionähnlichen Wurm ohne Stachel beschreibt. Der römische Dichter Horaz befürchtete, dass seine Werke zum Futter gefräßiger Raupen werden könnten, und schlug vor, die Schriftrollen in Zedernöl zu tränken. Ovid fühlte im Exil »das dauernde Nagen der Sorge an seinem Herzen, wie das Nagen des Bücherwurmes an einer abgelegten Buchrolle«. Und Vitruv in seiner Schrift De architectura, dem einzigen erhaltenen Architekturbuch der Antike, empfahl, dass Schlafräume und Bibliotheken nach Osten ausgerichtet sein sollten, da in nach Süden ausgerichteten Zimmern die Bücher von Würmern und Feuchtigkeit verdorben würden. Mit dem Ende der lateinischen Antike kehrt für den Bücherwurm aber wieder Ruhe ein und er kann unbehelligt die Stille der Bibliotheken genießen, bis in die Neuzeit hinein. Erst im 17.jahrhundert interessiert man sich erneut für ihn. Denn um mehr über das Gewürm zu erfahren, musste man es unter die Lupe nehmen. Das war schwierig, denn erst musste die Lupe erfunden werden.

Die moderne Forschungsgeschichte des Bücherwurms beginnt just bei der Frankfurter Buchmesse 1608. Es ist die Zeit des Fern-Sehens: Der Holländer Hans Lippershey meldet ein Patent auf eine sensationelle Erfindung an, das Fernrohr. Nirgends anders als ausgerechnet auf der Buchmesse stellt er sein neues Instrument der staunenden Öffentlichkeit vor. Die Geschichte des Fernrohrs ist auch die Geschichte des Bücherwurms. Denn erst mit der Idee, durch mechanisch miteinander verbundene, geschliffene Linsen die Sehkraft des Menschen exponentiell zu verstärken, konnte auch so kleinen Lebewesen wie den Bücherwürmern auf die Schliche gekommen werden. […]

Die Mikroskopie, die als Nebenprodukt der Teleskopie erfunden wurde, war anfangs nur ein Hobby für Laien und diente dem Amüsement im Salon. Insecten-Belustigungen nannte der Kupferstecher und Miniaturmaler August Johann Rösel von Rosenhof sein zwischen 1740 und 1759 entstandenes Werk, das überaus erfolgreich in vier Bänden erschien. Die Erkenntnis, dass durch das Mikroskop auch dem wissenschaftlichen Fortschritt gedient werden könnte, brauchte noch eine kleine Weile. Die Erforschung des Bücherwurms hatte daran ihren Anteil.

Der »book-worm« aus
 Hookes Micrographia.
Der Delfter Tuchhändler Leeuwenhoek etwa begeisterte sich unter den selbstgeschliffenen Lupenlinsen für die Facettenaugen der Insekten und beschrieb sie in seinen Arcana naturae detecta. Der Italiener Malpighi studierte unter dem »Flohgucker« die Anatomie der Seidenraupe. Swammerdam entdeckte die Ovarien der Bienenkönigin, die Genitalien der Drohnen. In Middelburg erschien die dreibändige illustrierte Geschichte der Metamorphose der Insekten des Malers Johannes Goedaert. Wissenschaftlich geadelt wurde die neue Technik durch einen Auftrag, den der Engländer Robert Hooke im Jahr 1665 von der Royal Society erhielt. Hooke sollte eine wahllose Sammlung von Gegenständen unters Mikroskop legen, zeichnen und beschreiben. Das Buch, das er veröffentlichte, hieß Micrographia und wurde vom Fleck weg ein Bestseller. Bleibende Bewunderung erwarb Hooke sich der mikroskopischen Beschreibung des Flaschenkorkens. Er erkannte in 50-facher Vergrößerung eine honigwabenähnliche Struktur. Sie erinnerte Hooke, der im Nebenberuf Architekt war und unter anderem nach dem großen Brand von 1666 die City of London wiederaufgebaut hatte, an die Anordnung der mönchischen Schlafräume in einem Kloster, weswegen er sie »Zellen« nannte. Seitdem wird die kleinste lebensfähige Einheit in der Biologie als Zelle bezeichnet. Am Ende seiner Versuchsreihe unterzog Robert Hooke auch ein Tierchen eingehender Betrachtung, das er zwischen den Büchern seiner Bibliothek gefunden hatte. Er nennt in seiner Micrographia, der wir auch die erste holzstichige Abbildung der Kreatur verdanken, dieses Tier »book-worm« und bezeichnet es als »kleine perlfarbene Motte«. Sie habe einen konischen Körper, der in 14 Teile geteilt sei, die wiederum von einer großen Zahl durchsichtiger Schuppen bedeckt seien.

Die Jagd auf den Bücherwurm war eröffnet. Denn mit Hookes Erkenntnissen fing der Streit der Fakultäten über das Wesen des Bücherwurms erst an. Besonders eine Frage durchzieht seit Hookes Veröffentlichung die bücherschwere Debatte wie die Gänge, die der Parasit durch sein Element gräbt: Handelt es sich überhaupt um einen Wurm oder ist der Bücher-»wurm« nicht vielmehr ein Insekt? […]

Es war der Berliner Schulrektor Johann Leonhard Frisch, der 1736 in einem Stück Brot die Larve eines Insekts fand, das auch Zeichnungen, Gemälde und Manuskripte angriff und selbst die dicksten Bücher durchbohrte. In seiner Beschreibung von allerley Insekten in Teutschland gibt Frisch die erste wissenschaftliche Beschreibung eines Buchschädlings. Im Jahr 1774 schreibt in ihrer Not die angesehene Königliche Societät der Wissenschaften zu Göttingen eine Preisfrage aus, um endlich Antwort zu erhalten:

Ein Preis für die Wurmkunde — in diesem Magazin
erschien die Preisschrift der Göttinger Akademie.
Wie vielerley Arten von Insekten giebt es, die den Urkunden und Büchern in Archiven und Bibliotheken schädlich sind? Welchem Stücke der Materialien, als Kleister, Leder, Pappe, u.s.w. geht jede Gattung besonders nach? und welches sind die thunlichsten und durch die Erfahrung bewährtesten Mittel, diese Insecten von Bücher- und Urkundensammlungen theils abzuhalten, theils zu vertilgen?

Drei Abhandlungen haben sich als Antworten erhalten, darunter die preisgekrönte von Johann Hermann, seines Zeichens Doktor der Medizin und außerordentlicher Professor zu Straßbur. Bleibende Meriten hat die Preisschrift sich verdient, indem sie zum ersten Mal schriftlich festhielt, dass »der« Bücherwurm wahrscheinlich gar nicht nur eine Spezies sei, sondern eine Art Sammelbezeichnung, unter der sich verschiedene Tiere verbergen können. Was den Göttinger Preisrichtern vermutlich außerdem wohlgefällig angekommen sein muss und vielleicht letztlich für die Preisvergabe an den Straßburger Forscher ausschlaggebend gewesen sein könnte, war die kreative Strategie des Professors. In einer Art Ausschlussverfahren versuchte er die Unschuld all jener Tierchen zu beweisen, »die man in Verdacht haben könnte, weil sie öfters bey Büchern gefunden werden«. […]

Erst William Kirby, der mit einer Beschreibung der englischen Bienen berühmt wurde und als Gründer der Insektenkunde bezeichnet wird, war in Sacher Bücherwurmforschung vorbildlich. Auch Kirby ging davon aus, dass der Bücherwurm nicht ein einziges spezifisches Tier ist, sondern eine Sammelbezeichnung für verschiedene Schädlinge. Neben den Milbenarten Crambus pinguinalis und Acarus eruditus hatte er besonders die Holzwürmer (Anobium pertinax und Anobium striatum) in Verdacht, von den hölzernen Bücherregalen und Buchdeckeln zu den Büchern selbst migriert zu sein und dort einen Schaden angerichtet zu haben, der »das Gewicht der geschädigten Bücher in Gold aufwiegen ließe«.

Der Bücherwurm erwies sich als außerordentlich undankbares Forschungsobjekt, weil es (was ihn irgendwie sympathisch macht) nahezu ausgeschlossen ist, ihn in Gefangenschaft zu halten. Alle empirischen Untersuchungen des Tiers beschränkten sich darum auf Zufallsfunde in Bibliotheken. Erschwerend kommt hinzu, dass Insekten und besonders Käfer eine Metamorphose durchmachen und den größeren Teil ihres Daseins, oft viele Jahre, als Raupen oder Larven verbringen. In diesem Larvenzustand, der dem Geschöpf vermutlich den Namen Wurm (lat. vermis) einbrachte, ist es für den nicht insektenkundlich Versierten nahezu unmöglich, die Spezies zu bestimmen. Selbst William Kirby gesteht, er habe hinter »staubigen alten Büchern« auch die Raupen von Motten gefunden, sie aber nicht identifizieren können. Erst dem englischen Buchdrucker William Blades gelang es, eines der Tiere zu isolieren und zu beschreiben. […]

Larve des Holzwurms — ein notorischer Bücherwurm.
Im Dezember 1879 bekam Blades von einem Buchbinder aus Northampton einen »fetten kleinen Wurm« geschickt. Der Wurm hatte die Reise gut überstanden, und Blades steckte ihn in eine warme Kiste. Das Ernährungsprogramm für den Wurm hatte Feinschmeckerqualität, es gab Boethius-Fragmente vom englischen Frühdrucker Caxton und eine Seite eines Druckwerks aus dem 17. Jahrhundert. Der Wurm aß ein kleines Stück dieses Blattes, aber dann, »sei es wegen zu vieler frischer Luft, sei es von der ungewohnten Freiheit, sei es von der Ernährungsumstellung«, wurde er schwächer und verstarb nach drei Wochen.

Erst im dritten Anlauf gelang es, einen Bücherwurm am Leben zu halten. Blades konnte ein Exemplar 18 Monate lang beobachten, das im British Museum aus einem frisch aus Athen eingetroffenen hebräischen Kommentar gefischt worden war. Dieser »griechische Bücherwurm« war beinahe so transparent »wie dünnes Elfenbein« und hatte eine dunkle Linie quer durch den Körper, die Blades als Verdauungsorgan identifizierte. Anderthalb Jahre lebte Blades mit dem Wurm zusammen, bis dieser in einem langen Todeskampf verstarb, »tief betrauert« von seinem Besitzer und bevor die Larve sich verpuppt hatte.

Die Schwierigkeiten der Wurmzucht beruhten, so Blades, auf dem Körperbau. Im natürlichen Zustand, also eingeschlossen im Buch, können die Würmer durch Expansion und Kontraktion ihres Körpers die Mundwerkzeuge gegen die sich ihnen entgegenstemmenden Papiermassen schieben. Befreit aus dieser Umklammerung, die für die Bücherwürmer die normale Lebensbedingung ist, können sie nicht mehr richtig essen, auch wenn sie von Nahrung umgeben sind, weil ihnen der Widerstand aus dem Buch fehlt. In der Materie ganz tief drin zu stecken, ist für den Bücherwurm also lebenserhaltend.

Blades konnte noch einige andere Untersuchungen in der Bücherwurmkunde anstellen, bei denen er auf den Wurm nicht angewiesen war, sondern sich auf seine Lieblingsobjekte kaprizieren konnte, die Bücher. Er analysierte, wie weit ein Bücherwurm bei seinem schä(n)dlichen Treiben im Buch überhaupt kommt. Corpus Delicti war ein Frühdruck von Schöffer aus dem Jahr 1477. Die Würmer hatten das Buch von beiden Seiten angegriffen. Im vorderen Einband waren 212 Wurmlöcher. Deren Größe variierte von stecknadel- bis stricknadelkopfgroß. Von hier aus bewegten sich fast alle Wurmgänge im lotrechten Winkel vom Einband ins Innere des Buchblocks. Nur einige wenige hatten sich längs der Papierkante verirrt und waren auf Seite 4 steckengeblieben. Die restliche Armada von Bücherwürmern hatte sich in das wertvolle Buch hineingefressen, »als ob ein Wettrennen stattgefunden hätte«. Bis Seite 11 kamen 57 Würmer. Auf Seite 41 kamen noch 18 Würmer an. Sechs Tierchen schafften es bis Seite 51. Vier von ihnen gaben bis Seite 81 auf. Der längste Wurmkanal endete erst auf Seite 90. Eine kleine Gruppe von Würmern fing beim hinteren Deckel an und fraß sich von hinten nach vorne durchs Buch. Der hungrigste aus diesem Rudel schaffte aber nur 69 Seiten.

Die »Hamburger Gerichtstermite« verwischte ihre eigenen Spuren.
Die Meute, die sich um den Schöffer riss, war aber wahrlich nicht die effektivste. Blades selbst will Fraßkanäle gesehen haben,die quer durch mehrere Bände inklusive Einband führten. Andernorts wird von einem Wurm berichtet, der sich durch die komplette fünfbändige Ausgabe von Hanys Mineralogy gefressen haben soll. Schließlich berichtet der französische Bibliograph Gabriel Peignot, ein einziger Wurm habe sich in gerader Linie durch 27 Folio-Bände gebissen, und zwar so, dass, wenn man durch das Wurmloch eine Kordel spannte, nun alle Bände gleichzeitig hochheben könnte. Einen Beleg für seine wagemutige Behauptung liefert Peignot nicht. Allerdings findet sie sich in 26 anderen Werken, die sich mit Bücherwürmern beschäftigen, zitiert. Selbst wenn also in Wahrheit das Tierchen jenen Fabelrekord nicht geschafft haben sollte, hat es mit vorliegendem Buch dennoch 27 Bände durchdrungen.

Ein Bibliothekar der weltberühmten Stiftsbibliothek von St. Gallen in der Schweiz wiederum erzählte, welchen Nutzen Wurmlöcher haben können. Denn anhand durchgehender Kanalverbindungen kann auch bei mittelalterlichen Schriften ermittelt werden, wie Schriften einst im Regal nebeneinander oder, was früher eher die Regel war, übereinander gestapelt waren. Sogar ein veritabler Kriminalfall wurde aufgrund eines Wurmlochs gelöst. Ein Fälscher mit dem bezeichnenden Namen Hermann Kyrieleis hatte von 1894 bis 1896 Bücher mit angeblich handschriftlichen Eintragungen von Martin Luther verkauft. Um die Echtheit dieser Autographen zu unterstreichen, benutzte der Fälscher wurmstichiges Papier. Dem Philologen Max Hermann indes fiel auf, dass die Tinte am Rand solcher Wurmlöcher ausgelaufen war. Also mussten die Würmer vor den Eintragungen tätig gewesen sein.

Trotz all dieser Einsichten kam es immer noch nicht zu einer Bestimmung des Bücherwurms. Selbst William Blades, der doch so weit gekommen war, konnte nie einen »Bücherwurm« bis zum Schlüpfen und zur Ausflugphase beobachten. Letztlich blieb auch Blades darum nur die etwas nüchterne Feststellung, es gebe Würmer mit hellen Köpfen und solche mit dunklen Köpfen. Vor allem ließ sich die seiner Ansicht nach entscheidende Frage nicht lösen: Ist der Bücher-»wurm« ein Käfer oder eine Schmetterlingsart? Kurz: Sprechen wir 1.) von Nagekäfern, lateinisch Anobium mit den Unterarten a) A. pertinax, b) A. eruditus oder c) A. paniceum oder sprechen wir 2.) von Motten, lateinisch Aecophora, insbesondere der Unterart Ae. pseudospretella?

Eine Bücherlaus (Trogium pulsatorium) unter dem
Mikroskop in Wellington, Neuseeland. [Quelle]
Dies gelang ansatzweise erst dem Pater John O’Conor am Ende des 19.jahrhunderts, und er gab darüber faktenbasiert Auskunft in seiner aufsehenerregenden Studie Facts About Bookworms. Ganz im Stil des damals neuen, positivistischen Wissenschaftsideals schaffte es O’Conor‚ 72 verschiedene Exemplare von diversen Lebewesen zu isolieren, die sich in Büchern fanden und gemeinhin als »Bücherwürmer« klassifiziert wurden. Er beobachtete sie in verschiedenen Entwicklungsstufen beim Aufessen von Büchern und konstatierte, dass es sich tatsächlich hauptsächlich um Larven von Käfern handelte, den Coleoptera. Im Larvenstadium konnte O'Conor sie identifizieren als Sitodrepa panicea, Attagenus pellio und Anthrenus varius. Er fand aber auch ausgewachsene Tiere‚ und zwar Lepisma saccharina, Ptinus fur und Dermestes lardarius. […]

Fausta und Piero Gallo vom römischen Istituto di Patologia del Libro haben den Vorschlag gemacht, die Bücherfeinde zu unterteilen in »gewöhnliche Gäste«, die ihren Wohnsitz in Büchern haben, und »gelegentliche Gäste«‚ die nur unregelmäßig Bücher heimsuchen. Ob das Buch allerdings ein bereitwilliger und vor allem freiwilliger Gastgeber ist, sei dahingestellt. Unter den gewöhnlichen Gästen des Buches nehmen, wie ihr Name bereits andeutet, die Tiere der Familie der Nagekäfer (Anobium) einen hervorragenden Platz ein. Besonders die Art Anobium punctatum, der Gewöhnliche Nagekäfer, steht im Ruf, ein notorischer Bücherwurm zu sein. Anobium punctatum wird auch als »der« Holzwurm bezeichnet, wobei andererseits gerne alle Arten von im Holz bohrenden Käfern so genannt werden. Der Gemeine Nagekäfer gilt als der am weitesten verbreitete Schädling in ganz Europa. Der Entomologe Günther Becker geht so weit zu behaupten, dass er in praktisch jedem Haus in Deutschland zu finden ist. Seine destruktive Wirkung ist so enorm, dass er komplette Möbelstücke (bevorzugt: Antiquitäten) und Dachstühle zerstören kann. Dass er sich auch über Bücher hermacht‚ ist eigentlich ein Missverständnis. Bis ins 18. Jahrhundert waren die Einbände von Büchern aus Holz. […]

In die Spalten des hölzernen Buchblocks legt der Käfer 30 bis 40 zitronenförmige Eier ab. Die Larven haben eine weiche, von creme-weiß bis gräulich-weiß changierende Haut. Ihr Kopf ist von gelblichem Braun, die Mandiblen (also Esswerkzeuge) sind haselnussfarben. Nach dem Schlüpfen beginnen die »Würmer« direkt mit ihrer speziellen Art der »Lektüre« und fressen sich vom Einband in den Buchblock. Da die Adoleszenz dieser Tiere bis zu drei Jahre betragen kann, ist die zerstörerische Kraft ihrer »Lektüre« enorm.

Papierfischchen ("Ctenolepisma longicaudata")
Ein Bücherwurm, der in Deutschland nicht sehr verbreitet ist, aber in südlichen Ländern wie der Mittelmeerregion immensen Schaden in Bibliotheken anrichtet, ist die Termite. Ein legendärer Fall von Termitenbefall wurde aber auch hierzulande aktenkundig: In der Hafenstadt Hamburg wurde um das Jahr 1930 mit Ballasthölzern die nordamerikanische Termitenart Reticulitermes flavipes eingeschleppt. Da das Transportholz teilweise als billiges Bauholz weiterverwendet wurde, konnte das Untier sich im Hamburger Gerichtsviertel und im Justizquartier festsetzen und ist dort bis heute aktiv. Die Bekämpfung der sogenannten Hamburger Gerichtstermite scheiterte nicht nur am eisemen Sparwillen des Hamburger Senats, sondern auch daran, dass das Tier schlauerweise sämtliche historische Bestandspläne der Gerichtsbauwerke vertilgt hat und darum nur schwer zu lokalisieren ist.

Der Gewöhnliche Nagekäfer (es gibt übrigens auch noch den Weichen, den Gescheckten und sogar den Gekämmten Nagekäfer, allesamt sondergleichen Buchschädlinge) wird fälschlicherweise auch als »Totenuhr« bezeichnet. Durch Aufschlagen des Kopfes auf Holz verursachen Nagekäfer nämlich zur Paarungszeit ein klopfendes Geräusch, das Geschlechtspartner anlocken soll und Benutzer von Bibliotheken um jede Konzentration bringen kann. […] Der Name Totenuhr entstammt dem Volksglauben, dass es sich bei dem Klopfen um die Uhr des nahenden Sensenmanns handle. Die Totenuhr fand darum nicht nur als Insekt, sondern auch in literalem Sinne Eingang in Kunst und Literatur. Bei Hölty und Mörike‚ bei Büchner und Rückert wurde die Totenuhr besungen und besprochen. Andreas Gryphius schrieb: »Sei, wenn die Todten-Uhr wird schlagen, mein Schutzherr, Leitsmann, Weg und Licht«. Anton Bruckner soll den ersterbenden Ausklang des Kopfsatzes seiner achten Symphonie in c-Moll mit dem Klopfen der Totenuhr verglichen haben.

Zeigt uns der Bücherwurm hier die enge Verbindung von Buch und Tod und den Weg, den alles Fleischliche einst gehen muss, so mag das seinen Grund auch darin haben, dass er als Vegetarier gilt. Aber wie alle Vegetarier (auch die menschlichen) haben die pflanzenfressenden Insekten eine Reihe von gravierenden Problemen. Zu den größten Nachteilen vegetarischer Ernährung nicht nur für Bücherwürmer zählt der niedrige Eiweißgehalt pflanzlicher Nahrung wie etwa Papier, das ja nichts anderes ist als zu Blättern verfilzte Pflanzenfasern. Außerdem ist der Anteil an lebenswichtigen Vitaminen und Mineralien in Pflanzen, entgegen einem auch in Ernährungsbüchern weit verbreiteten Vorurteil, oft unzureichend. Schließlich ist pflanzliche Nahrung vollgepackt mit unverdaulichen Substanzen. So sind zum Beispiel die Moleküle, die Cellulose bilden, »in einer Weise verknüpft, dass die Enzyme der meisten Insekten (ausgenommen die der Borstenschwänze und einiger höher entwickelter Termiten und anderer Tiere sie nicht aufzuschließen vermögen«. Aus dieser Perspektive wäre es für den Bücherwurm darum praktisch‚ wenn Bücher auch Fleisch enthalten würden. Und das tun sie!

Der Weg des Buches durch den Wurm
 —Verdauungskanal von Larven.
Denn bis ins 12. Jahrhundert wurden Bücher nicht aus Papier‚ sondern aus Pergament hergestellt. Und dessen Rohstoff sind getrocknete Schafshäute.

Ledereinbände sind ebenfalls, kulinarisch betrachtet, nichts anderes als fleischliche Lebensmittel. Auch Fleischfresser werden darum von Bibliotheken magisch angezogen und richten herben Schaden an. Da ist in erster Linie, wie schon sein Name nahelegt, der Speckkäfer (Dermestes lardarius) zu erwähnen. Ein wirklicher Feinschmecker ist er allerdings nicht. In Freilandhaltung ernährt er sich überwiegend von Aas. Man könnte ihn darum als biologische Tierkadaververwertung bezeichnen. In Bibliotheken ist er ebenfalls nicht sehr wählerisch: Horn, Leder, Fell, Pergament und sogar andere tote Insekten verzehrt er ohne Unterschied. Seinem Speiseplan kommt die Eigenschaft zugute, dass der Speckkäfer Keratin verdauen kann. Das ist die Hornsubstanz, aus der Federn, Wolle, Felle oder auch das Exoskelett von Insekten bestehen. Besonders in Insektensammlungen und Naturkundemuseen können die Larven des Speckkäfers darum großen Schaden anrichten. Der Bücherwurm: ein Kannibale?

Dem Brotkäfer, Stegobium paniceum, ist das tägliche Brot beileibe nicht genug. Er ist ein echter Vielfraß‚ der sich neben Backwaren auch von Gewürzen, Suppenwürfeln, Schokolade, Tiernahrung, Trockenfisch oder eben Büchern ernährt. Eine Generationenfolge dauert bei ihm nur drei Monate, weshalb er sich unter guten Bedingungen rasch vermehren kann. Als ebenso verfressen gilt der Kräuterdieb, Ptinus fur. Seine weißlichen Larven haben eine gedrungene, engerlingsartige Gestalt und sind mit mäßit gelblichen Haaren besetzt. Larven und Käfer fressen, was ihnen zwischen die Kauwerkzeuge kommt: Getreideprodukte, Tabak, Tee, Kakao, Leder, Federn, Pelze sowie geräucherte Wurst- und Fleischwaren. In Bibliotheken ist schlimmer noch als seine Fraßtätigkeit die Verunreinigung durch Kot und bandförmige Spinnfäden, mit denen sich die Puppe umgibt. Ähnlich Böses sagt man auch dem Messingkäfer, Niptus hololeucus, nach. Ganz davon abgesehen, dass er in ausgewachsenem Zustand ausgesprochen hässlich ist, da er über und über mit Runzeln und messing-gelben Haaren bedeckt ist, frisst er nicht nur Bücher ohne Ansehen der Autorenperson, sondern hinterlässt danach auch noch seine Exkremente darauf. Zu den bandenmäßigen Fleischfressern unter den Bücherwürmern zählt schließlich noch eine ganze Reihe von Lepidoptera. Das sind Schmetterlinge, die wir gemeinhin zu den sympathischsten Vertretern des Insektenreichs rechnen. Die weniger freundlichen Mitglieder dieser Art sind die Motten, insbesondere aus den Familien der Faulholzmotten und der Echten Motten. Letztere sind ausgesprochene Aasfresser, weswegen eine Diät aus Pergament ihnen sehr zupass kommt. Auch die Lepidoptera haben es auf mehr als nur eine Art ins Innere des Buches geschafft: Sie stehen für den am schwierigsten auszusprechenden Romantitel deutscher Sprache, Urs Widmers Der Kongress der Paläolepidoptereologen.

Spuren eines »Bücherwurms« [Quelle]
Als eines der wenigen Tiere, die selbst Cellulase, ein cellulose-aufspaltendes Enzym, produzieren können, gilt das Silberfischchen, Lepisma saccharina. Der nicht zufällig nach dem Zuckerersatzstoff Saccharin klingende Name kommt daher, dass dieses Fischchen kohlehydrathaltige Kost bevorzugt und darum auch Zuckergast genannt wird. Hielt man das Silberfischchen lange Zeit nur für einen zufälligen Kohabitanten in den Bibliotheken, weil es sich als lichtscheuer und nachtaktiver Geselle gerne in Ritzen von Regalen verbarg, ist es heute als einer der gewalttätigsten Bücherschädlinge identifiziert. Hookes berühmte Darstellung des »book-work« in der Micrographia stellt vermutlich genau einen solchen Vertreter der Lepismae dar. Silberfischchen sind sogenannte Ur-Insekten, das heißt, sie machen keine Metamorphose durch. Entsprechend sind die geschlüpften Jungtiere keine Larven, die sich in Bohrgängen im Buch selbst aufhalten. Vielmehr greifen sie die Bücher von außen an — man nennt das abrasiv — und ziehen sich nach der Attacke wieder in ihre Ritzen zurück. […]

Der Bücherwurm scheint, wie ein Gelehrter festgestellt hat »Sinn für Qualität« zu haben: »In erstklassig ausgestatteten Büchern sind seine Spuren leider häufiger als in Drucken auf schlechtem Papier oder mit Ersatzdruckfarben.« Andere Forschen mutmaßten, dass Bleichmittel, Sulfate und andere Chemikalien, die heute im Papier enthalten sind, dem Bücherwurm den Appetit verdürben. Moderne Literatur ist unbekömmlich? Wenn noch O’Conor feststellte, eine rein belletristische Bibliothek sei relativ sicher, weil kein echter Bücherwurm sich dazu herablasse‚ einen populären Roman zu verspeisen, rekurrierte er wohl eher auf den Umstand, dass moderne Romane aus modernem Material und darum für unseren Wurm unter Umständen nur schwer verdaulich sind. Andererseits hat der Lauf der Zeit gelehrt: Vor nichts, was büchern ist, schreckt der Bücherwurm zurück. Seine nicht-diskriminierende Art, unterschiedslos jede Art von Buch sich zum Fraß zu machen, lässt ihn auch als Musterbeispiel für Toleranz gelten. Papier, Tinte, Leinen- und Ledereinbände, ja selbst die hölzernen Regale, auf denen Bücher thronen, wurden zur Speise des Parasiten. Es wurde sogar gemutmaßt, ob der Schädling vielleicht vom Geruch des Buchbinderleims angezogen würde. Der Bücherwurm — ein Schnüffler?

Ein Buch aus der Yale Medical School Library [Quelle]
Der Straßburger Wurmforscher Johann Hermann, der 1771 mit seinem Bücherwurm-Aufsatz preisgekrönt worden war, fand eine sehr kreative Lösung, nachgerade ein aufklärerisches Outsourcing im Kampf gegen den Bücherwurm, wenn er der Göttinger Akademie ins Stammbuch schrieb, man
»suche durch allerhand Mittel die Liebhaber anzulocken, so wird man unentgeldlich eine Menge Diener haben, welche die Bücher durch Umblättern vor dem Einnisten der Insekten bewahren werden. Man vermehre die Sammlung fleißig, so wird durch öfteres Umstellen und Verrücken der alten Bücher, und Einschieben der neuen, der nemliche Endzweck erhalten werden.«

Wenn es im Universum der Bücher zwei sich ausschließende Tatbestände gibt, dann Lesen und Essen. Ein Buch, das gelesen wird, ist für den Moment vor allen gefräßigen Attacken geschützt. So bemerkt auch Holbrook Jackson: »Ich für meinen Teil rate anstelle von allen möglichen Patentlösungen zu nichts als Sauberkeit, frischer Luft und Lesen.« Und er fährt fort: »Wenn ein Bücherwurm bereits in dein Buch eingedrungen ist, wirst du ihn am besten dadurch los, das du selbst ein Bücherwurm wirst.«

Quelle: Hektor Haarkötter: Der Bücherwurm. Vergnügliches für den besonderen Leser. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2010. ISBN 978-3-89678-662-3. Seite 13 bis 44 (gekürzt).


Und es hat noch mehr moderne Musik in der Kammermusikkammer:

Franz Schmidt: Das Buch mit sieben Siegeln | Baumeister und Bildhauer der Medici: Michelangelos manieristisches Meisterwerk.

Susie Ibarra Trio: Songbird Suite (2002) | Bild und Ähnlichkeit: Aus Manlio Brusatin's "Geschichte der Bilder".

Ernst Krenek: Reisebuch aus den österreichischen Alpen | Das bewohnte Tuch und das Kleid der Erde: Joachim Patinir: Ruhe auf der Flucht. 


Krzysztof Penderecki: Sextett (2000) - Klarinettenquartett (1993) | "Er war einer der berühmtesten Dichter Englands." (Sagt Jay in seinen Silvae, und er meint wedér Shakespeare noch T.S.Eliot).

Heinz Holliger: Streichquartett - Die Jahreszeiten - Chaconne | Samuel Herzog: Was Kunst-Grossanlässe und Filet-Vegetarier mit einander gemein haben.



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Die selbe Aufnahme in einer anderen Pressung (vermehrt um Ravels Ohrwurm)
 

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Weltliche Musik im christlichen und jüdischen Spanien 1490-1650 (Hespèrion XX, Jordi Savall, Montserrat Figueras)

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Die Polyphonie erlebte in Spanien eine frühe Blüte, eine Entwicklung, die sich durch die engen musikalischen Beziehungen, die Spanien im 15. Jahrhundert mit dem übrigen Europa unterhielt, vor allem während der Regierungszeit von Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien‚ noch weiter verstärkte. Es läßt sich vermuten, daß die Liedersammlung Cancionero de Palacio, die von einer etablierten spanischen Schule voller Vitalität zeugt, am Hof von König Ferdinand zusammengestellt worden ist.

Die meisten Stücke in dieser Sammlung sind villancicos und kommentieren volkstümliche Themen in stilisierter Sprache. Kennzeichnend für die villancicos ist ihre klare Gliederung, der homophone Stil und der Gegensatz zwischen Refrain (estribillo) und Strophe (mudanza). Die anderen hier vertretenen Stücke sind romances, lange, einfache Gedichte erzählenden Inhalts mit syllabischem Versbau und Verzierungen während des Vortrags, wie man sie zum Beispiel in den recercadas von Diego Ortiz findet.

Der Cancionero de la Colombina, eines der ältesten Manuskripte spanischer Polyphonie, gehörte Ferdinand Columbus, dem Sohn des Entdeckers, und bezeugt den französischen und italienischen Einfluß auf die Musik der iberischen Halbinsel. Der Cancionero de Uppsala, der 1556 in Venedig im Druck erschien und in der Universitätsbibliothek Uppsala aufbewahrt wird, zeigt die Weiterentwicklung der Villancico-Tradition.

Die Juden wurden 1492 aus Spanien und 1506 aus Portugal vertrieben. Trotzdem hat ihr sefarad, ihr „spanischer“ Gesang eine ungewöhnlich weite Verbreitung gefunden, und die Séfardim, d.h. die Juden Spaniens und Portugals, haben viele Elemente der spanischen Kultur des Mittelalters im Rahmen ihrer religiösen und weltlichen Traditionen weitergegeben. Die Aktivitäten jüdischer Musiker im weltlichen Leben in Spanien sind schon früh vor ihrer Vertreibung bezeugt. Der Romancero, der spanische Romanzen enthält, weist auch zahlreiche altertümliche Texte auf, deren Melodien ebenso reichhaltig wie vielgestaltig sind.

Quelle: Adélaide de Place (Übersetzung Gudrun Meier), im Booklet.

Montserrat Figueras (1942-2011)

TRACKLIST

CD 1 57:20

Court Music and Songs

Villancicos
from Cancionero de la Colombina (end of the 15th century)

01. Niña y viña anon. 01:36
02. Propiñan de melyor anon. 01:42
03. Como no le andaré yo? anon. 02:22
04. Recercada anon. 01:38
05. Fantasia Luys Milan (c.1500-after 1561) 02:15
06. Pavana Luys Milan (c.1500-after 1561) 01:54

Villancicos
from Cancionero de Palacio 1490-1530
07. Al alva venid, buen amigo anon. 03:49
08. Perdí la mi rrueca anon. 02:22
09. A los baños del amor anon. 01:35
10. Fantasia anon. 01:39
11. Romanesca anon. 01:15
12. Pues bien para esta Garcimuñós 03:19
13. Si avéis dicho, marido anon. 01:59

Romances
from Cancionero de Palacio 1490-1530
14, Si d'amor pena sentís anon. 05:12
15. O voy Roman 01:58
16. Qu'es de ti, desconsolado?
Juan de Encina (1468-1529) 05:32

Recercadas sobre tenores
17. Recercada 4 Diego Ortiz (1525-?) 01:41
18. Recercada 5 Diego Ortiz (1525-?) 02:20
19. Recercada 6 Diego Ortiz (1525-?) 01:18

Villancicos
from Cancionero de Uppsala 1500-1550
20. Yo me soy la morenica anon. 01:11
21. Si la noche haze escura anon. 03:47
22. Soleta só jo aci anon. 01:33
23. Con qué la lavaré? anon. 03:53
24. Soy serranica anon. 01:17

CD 2 51:05

Sephardic Romances (anon.)

01. Pregoneros vay y vienen 05:10
02. El rey de Fancia tres hijas tenía 05:13
03. Una matica de Ruda 02:52
04. Palestina hermoza 01:32
05. Nani, nani 06:06
06. El rey que tanto madruga 03:08
07. Por qué llorax blanca niña 07:32
08. Moricos los mis moricos 02:59
09. Lavava y suspirava 05:37
10. Paxarico tu te llamas 01:52
11. La reina xerifa mora 05:56
12. Por allí pasó un cavallero 03:02


HESPÈRION XX

Montserrat Figueras - soprano
Jordi Savall - tenor and bass viola da gamba, bowed Saracen chitarra
Hopkinson Smith - Renaissance lutc, Saracen chitarra
Lorenzo Alpert - recorder, percussion
Arianne Maurette - viola da gamba
Pere Ros - viola da gamba
Pilar Figueras - bagpipe
Gabriel Garrido - percussion
Jordi Savall - direction

Recording: Münstermuseum, Basel, 4-10 November 1975
Producer: Gerd Berg
Balance engineer: Johann-Nikolaus Matthes
(P) 1976 (C) 1999



Ein Mensch ist kein Stilleben


Oskar Kokoschka portraitiert Karl Kraus

Abb. 1 Oskar Kokoschka, Karl Kraus I, 1909, Öl auf Leinwand, 100 x 74,5 cm, zerstört.
„Wenn ich Portraits male", schreibt Oskar Kokoschka 1971 in der Autobiographie Mein Leben, „geht es mir nicht darum, das Äußerliche eines Menschen den Rang oder Attribute seiner geistlichen oder weltlichen Prominenz oder bürgerlichen Provenienz festzuhalten. Es gehört ins Gebiet der Historie, Dokumente der Nachwelt zu überliefern. Was die Gesellschaft früher an meinen Portraits schockierte, war das, was ich in einem Gesicht im Mienenspiel, in Gebärden zu erraten suchte, um dies in meiner Bildersprache als Summe eines Lebewesens in einem Gedächtnisbild wiederzugeben. Ein Mensch ist kein Stilleben.”

In dieser knappen, für Kokoschka ungewöhnlich klaren Aussage ist die Fülle dessen, was diesen Maler über die Portraitisten seiner Zeit hinausragen läßt, eindrücklich offengelegt. Es ist die Summe eines Lebewesens, die er in seltener Weise blitzartig erfaßt zu haben scheint. Eine außergewöhnliche Begabung, eine angeborene Fertigkeit, die Adolf Loos, Kokoschkas erster Förderer, staunend als hellsichtig apostrophierte. Kokoschka selbst führt die Fähigkeit des blitzschnellen Festhaltens eines inneren Ausdrucks auf die Bewegungsstudien seiner Lehrjahre zurück. Er mußte damals seine — wie er schreibt — Modelle, oder Opfer, wie er sie auch nannte, so gut unterhalten, daß sie vergaßen, daß sie gemalt wurden und die Posen in natürliche Bewegungen wandelten. So bedürfe es auch seiner langen Erfahrung im Umgang mit Menschen, meinte er, eine oft in Konvention verschlossene Persönlichkeit wie mit einem „Büchsenöffner” ans Licht zu bringen. […]

Ernst H. Gombrich teilt dazu eine interessante Facette mit: „Ein Kunsthistoriker ist selten in der Lage für eine solch allgemeine Hypothese direkte Beweise zu liefern; aber zufällig genoß ich das Privileg, Kokoschka einmal zuhören zu können, als er über einen besonders schwierigen Portraitauftrag sprach, den er einige Zeit zuvor erhalten hatte. Als er von dem Modell erzählte, dessen Gesicht er so schwer zu enträtseln fand, zog er automatisch eine Grimasse von undurchdringlicher Starrheit. Bei ihm nahm das Verstehen der Physiognomie einer anderen Person seinen Weg deutlich über die eigenen Muskelerlebnisse.“ Kokoschka war in seiner erstaunlichen Naivität als sehr begabter Schüler Bertold Löfflers an der Kunstgewerbeschule in diversesten Tätigkeiten u. a. als Postkartenmaler seit 1907 in der Wiener Werkstätte tätig, hatte das wunderbare Märchen „Die träumenden Knaben" erfunden und illustriert (bezeichnenderweise Gustav Klimt gewidmet), als Adolf Loos ihn in der Kunstschau 1908 entdeckte und ihn aus dieser Idylle riß und — das Genie erkennend oder besser gesagt, die Energie dieses eigentümlichen Träumers ahnend — mit Portraitaufträgen interessanter Persönlichkeiten überhäufte, von denen erwartet wurde, daß sie die Bilder erwerben konnten.

Kokoschka dazu: „Meistens waren es Juden, die mir als Modell dienten, weil sie viel unsicherer als der übrige Teil der im gesellschaftlichen Rahmen fest verankerten Wiener und daher für alles Neue aufgeschlossener waren, viel empfindlicher auch für die Spannungen und den Druck infolge des Verfalls der alten Ordnung in Österreich. Dank ihrer geschichtlichen Erfahrungen urteilten sie weitsichtiger über Politik und auch über Kultur.” Das erste Bildnis von Karl Kraus (Abb. 1) ist Ende September, Anfang Oktober 1909 entstanden und laut Johann Winkler und Katharina Erlings Monographie über Kokoschka von 1995 mit großer Sicherheit im Wallraf-Richartz-Museum in Köln durch Kriegseinwirkung zerstört worden.

Abb. 2 Oskar Kokoschka, Karl Kraus I, 1909,
Feder und Pinsel in Tusche auf Papier,
29,7 x 20,6 cm, Privatbesitz.
Es ist daher nur in einer Schwarz-Weiß-Aufnahme erhalten. Der Hintergrund wird als gelb überliefert. Leo A. Lensing vermutet, daß Kokoschka Karl Kraus aus seiner neuesten Publikation „Die chinesische Mauer” (Juli 1909) lesen gesehen haben könnte, in der die Farbe gelb die Hintergrundfolie bildete: „Der Mund der Welt steht offen und aus den Augen starrt die Ahnung, daß sich das Größte begeben hat. Ringsum ist alles gelb." Lensing weist darauf hin, daß auch noch Edith Hoffmann (London 1947) die vorherrschende Farbe in dem Portrait ein „vivid yellow” nenne und J. P. Hodin dem „aufregenden Gelb“ einen symbolischen Eigenwert zuschreibe.

Kokoschka erinnert sich an das erste Portrait von Karl Kraus als eines seiner frühesten: „Das Portrait von Karl Kraus, dem Herausgeber der in Wien gefürchteten Zeitschrift Die Fackel, war nicht seine Entlarvung, wie die Kritik sagte, sondern die der Wiener Gesellschaft, in der seine Schriften und Vorträge wie Vitriolattentate im Lande der Phäaken wirkten.”

In der Internationalen Kunstschau 1909, der Nachfolgeausstellung der Kunstschau 1908, sah Kokoschka, wie er behauptet, wie auch Loos und Kraus zum erstenmal, daß es moderne Malerei gab und er empfindet sie in der Rückschau als Beginn einer Laufbahn, die er nicht voraussehen habe können.

Loos erbot sich dazu, die Bilder, die die Portraitierten nicht käuflich erwerben wollten, selber zu erwerben oder an Museen oder andere Interessenten weiterzuverkaufen. (Er soll in kurzer Zeit nach und nach 29 Portraits besessen haben). Dabei deutet er selbst an, daß es unerträglich sei, Kokoschkas Portraits in der Wohnung hängen zu haben, ja daß Kritiker, die Kokoschka ablehnen, vielleicht die sensibelsten Menschen seien. Nur die Zeichnungen seien erträglich.

Alice Strobl stellt in ihrer erhellenden Arbeit über die frühen Zeichnungen Kokoschkas anhand des Œuvrekatalogs von Johann Winkler und Katharina Erling fest, daß er deshalb die zeichnerische Produktion vernachlässigen mußte, da er bis Februar 1910 nicht weniger als 33 Gemälde (31 Bildnisse, ein Stilleben und eine Landschaft) auszuführen hatte. Neben diesen Portraits in Öl seien nur zwei selbständige Bildniszeichnungen entstanden, jene von Adolf Loos und Karl Kraus (Abb. 2). Beide können nicht als Vorzeichnungen gelten. „Das gänzliche Fehlen von Bildnisstudien, die sich unmittelbar auf die Anlage eines Gemäldes beziehen, läßt darauf schließen, daß Kokoschka die Vorzeichnung unmittelbar auf die Leinwand setzte” (was durch Erica Tietze-Conrat eindeutig bezeugt wird). „Der Vergleich des Gemäldes mit der Bildniszeichnung von Karl Kraus zeigt, daß es sich hierbei um zwei völlig getrennte künstlerische Bereiche handelt.” […]

Werner J. Schweiger publizierte 1983 die Kritiken der Wiener Hagenbundausstellung 1911, in der Kokoschka wie in der Kunstschau 1908 das auffallendste und anstößigste Phänomen war. Unter diesen sei die von tiefem Verständnis zeugende Kritik Hans Tietzes erwähnt, von der er später schreibt, daß sie ihn zum Schriftsteller moderner Kunst werden ließ. Anhand des Portraits Janikowsky versucht er zu zeigen, was Kokoschka will:

Abb. 3 Karl Kraus am Vorlesetisch, um 1921, Photographie,
Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Karl Kraus Archiv.
„Aber zuerst versuchen Sie einmal dem Portrait v. J. eine Minute lang in die Augen zu schauen, versuchen Sie sich dem Grauen zu entziehen, das aus diesem glanzlosen Blick eines zerstörten Intellekts spricht, der fürchterlichen Anklage gegen Gott und die Welt zu entrinnen, die Ihnen entgegentönt. Wenn Sie dann noch sagen können, daß es Kokoschka nicht bitter ernst mit seiner Kunst ist ..." Vor allem aber scheint Tietze von den Portraits Karl Kraus und Adolf Loos fasziniert gewesen zu sein: „In anderen Bildnissen ist dieselbe schonungslose Schärfe in den Dienst eines erstaunlichen psychologischen Scharfblicks gestellt. Vergleicht man die nebeneinander hängenden Bilder [Kraus und Loos] so versteht man diese Absicht, eine seelische Eigenschaft als die beherrschende herauszuhören, ihr alle anderen zu unterwerfen und von der körperlichen Erscheinung nur das Wesentliche festzuhalten. Bei dem einen Bild die kalten ganz nach außen schauenden Blicke des unerbittlichen Intellekts, bei dem anderen die einwärts blickenden, fanatischen Augen des Künstlers.”

Ganz anders äußert sich der „Kollege“ und etablierte Kunsthistoriker Josef Strzygowski: „Mit diesen Koko-Strahlen seiner Psyche durchleuchtet er auch die Personen, die das Unglück haben, unter seinen Pinsel zu geraten. Welcher faule Geruch geht von dem Bilde der Frau Dr. L. Fr. aus! Welch ekelhafte Pestbeule präsentiert uns der Maler in diesem Karl Kraus! Peter Altenberg und Adolf Loos samt Frau sind Waisenknaben gegen die Abgründe geheimer Laster, die Kokoschka in diesen beiden Portraits visionär zu öffnen versteht ..."

Die oben erwähnte Lotte Franzos hat sich auch über die mangelnde Ähnlichkeit ihres Portraits beklagt, wurde aber durch einen Brief Oskar Kokoschkas besänftigt: "... Ihr Gesichtsportrait hat Sie gerissen, das habe ich gesehen. Glauben Sie, daß der Mensch, so wie er mich beeinflußt, beim Hals aufhört? Haare, Hände, Kleid, Bewegungen sind mir mindestens so wichtig. Bitte, gnädige Frau, das wirklich ernst zu nehmen, gerade in dem Fall, sonst hat das Bild flecken, die es zerfressen. Ich male keine anatomischen Präparate, oder ich nehme es zurück und verbrenne es.“ Die Dargestellte zählt zu den wenigen, die ihr Bild behielten. Es ist ganz auf den Kontrast Gelb-Blau aufgebaut und eine der einfühlsamsten und zartesten Frauendarstellungen Kokoschkas überhaupt, ähnlich wie die von Erica Tietze-Conrat.

Besonders beleidigend und unwissend gibt sich Arthur Rössler in der Wiener Arbeiter-Zeitung: „Um eines Trumpfes sicher zu sein, luden die Jüngsten Oskar Kokoschka zu Gaste. Er kam und füllte zwei Säle mit seinen aus einer Brühe von molkigem Eiter, Blutgerinnsel und salbig verdicktem Schweiß gezogenen Lemuren ..."

Geradezu aggressiv wird Karl Schreder im Deutschen Volksblatt, Wien: „Wenn sie uns künstlerische Keulenschläge versetzen, müssen wir endlich einmal kräftig zurückhauen, und zwar unnachsichtlich. In erster Linie sollen die Schläge auf Kokoschka niederprasseln, denn er ist der entsetzlichste von allen. Er macht „Portraits", darunter solche stadtbekannter Persönlichkeiten. Wie aus Tollhäusern oder aus mephitischen Grüften emporgestiegen, erscheinen diese grauenvollen Bildnisse, deren Antlitze entweder die Entstellungen zerstörender Krankheiten oder eines zersetzenden Verwesungsprozesses zu tragen scheinen. Und wie grausig sind nur die durchwegs verkrüppelten Hände, teils angeschwollen, teils halb verfault, als hätte die Lepra ihre entsetzlichen Verwüstungen begonnen. u.v.a.m."

Abb. 4 Karl Kraus im Alter von etwa vier Jahren,
um 1878, Photographie,
Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Karl Kraus Archiv.
Dagegen erscheinen in der Fackel würdigende, profunde Arbeiten von Ludwig Erik Tesar (der sich scharf gegen Strzygowski wendet, den er ironisch als „Kunstprofessor" seinen Katheder auf dem Franzensring verlassen und sich in die Redaktionsstube auf dem Schottenring begeben läßt) und von einem der besten Freunde von Karl Kraus, dem Kunsthistoriker Franz Grüner.

Kraus selber, der sich oft photographieren ließ (Abb. 3) und die Photos zur spöttischen Häme seiner Feinde als (Reklame-)Postkarten verbreitete bzw. verteilte und verschenkte, hatte offenbar auch Probleme mit der Ähnlichkeit, war aber, wohl durch Loosens Begeisterung für die Intention des Künstlers, anfangs durchaus positiv gestimmt. Am 23. September 1909 schreibt Kraus an Herwarth Walden, den Berliner Herausgeber des „Sturm", der wichtigsten expressionistischen Zeitschrift in Deutschland, daß Peter Altenberg endgültig explodieren würde, wenn er höre, daß Oskar Kokoschka ihn male, und am 27. September: „Ich werde jetzt von Kokoschka gemalt, ich glaube, die Sache wird ganz bedeutend" und bereits am 11. Oktober: „Seit gestern hängt bei mir das Kokoschka-Portrait.”

Kokoschka berichtet in seiner Autobiographie: „lch malte Karl Kraus in seiner Wohnung. Seine Augen funkelten fiebrig hinter der Nachtlampe. Er wirkte jugendlich, verschanzt hinter seinen großen Augengläsern wie hinter einem schwarzen Vorhang, lebhaft mit den nervösen, feinknochigen Händen gestikulierend.” Diese Erinnerung paßt eigentlich besser auf die kurz nachher entstandene Rohrfederzeichnung (Abb. 2) als auf das zerstörte Gemälde und vor allem die Darstellung mit Brillen und mit den nervös gestikulierenden Händen betrifft, was bei des Malers blühender Erinnerung nicht weiter verwundert.

Im Juni 1910 war das Portrait im Salon Cassirer in Berlin zum erstenmal ausgestellt und wurde, wie die ganze Ausstellung, kaum beachtet, ausser naturgemäß im eigenen Organ. Else Lasker-Schüler, die erste Frau Herwarth Waldens, die Karl Kraus als einzige Frau als Dichterin gelten ließ (hauptsächlich wegen des ihm gewidmeten Gedichtes vom Tibetteppich, das er öfters erwähnt) und deren Kunstkritiken er außerdem schätzte, schreibt im Sturm über das erste Kraus-Portrait: „Das Gerippe der männlichen Hand ist ein zeitloses Blatt, seine gewaltige Blume ist des Dalai Lamas Haupt.“

Kurt Hiller, Kunstkritiker im „Sturm" erwähnt das Portrait ebenfalls: „Auch Karl Kraus schaut mich an; er sitzt ruhig und gefährlich, mit schmaler, intellektueller Hand und spitzem Mündchen und unglaublichen Aquamarin-Augen; der Stoff des zu zerspottenden Universums strömt auf ihn ein; er sitzt zierlich und amüsiert-lächelnd da, irgendwie von hinten still auf dem Sprung; aber um sein Haupt tanzen blitzgelbe Tupfen."

Das Foto des zerstörten Portraits (Abb. 1) zeigt einen jüngeren, scheuen, eher verletzlichen Menschen, wie ihn die Frauen schildern, denen er ein einfühlsamer Zuhörer und Vertrauter war. Der wesentlich jüngere Kokoschka hat offenbar den privaten, freundlichen Jüngling gesehen, den Dichter. Erica Tietze-Conrat erinnert sich in ihrer Autobiographie, wie sie Arnold Schönberg und Alexander von Zemlinsky, die gesellschaftlich in der Familie Conrat verkehrten, einsetzte, um Karl Kraus kennenzulernen:

Abb. 5 Karl Kraus mit Schwester, um 1882, Photographie,
Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Karl Kraus Archiv.
„Sie stellten die Vermittlung her und eines Nachmittags kam Karl Kraus zu uns. Ich empfing ihn allein ... Karl Kraus war etwa acht Jahre älter als ich, aber ein so schüchterner Mensch, daß er mir gleichaltrig erschien. Er hatte auch Stowasser als Lehrer gehabt und wir fanden sogleich Berührungspunkte. Es entwickelte sich daraus eine Freundschaft, die eigentlich bis zu meiner Verheiratung dauerte." Leo A. Lensing, der sich intensiv mit dem Verhältnis zwischen Kokoschka und Karl Kraus auseinandergesetzt hat, vermutet, daß Karl Kraus nicht einseitig nur Kokoschka beeinflußt habe, sondern daß Karl Kraus die Begegnung mit seinem Selbst, „wie es Kokoschka in den beiden ersten Bildnissen dargestellt hat, zu einer gründlicheren Auseinandersetzung mit der künstlerischen Eigenart des Malers" veranlaßt habe. In der Fackel erschienen jedoch Aphorismen von Karl Kraus, die die anfängliche Zustimmung mehr und mehr abschwächen und trotz ihrer gesuchten und offenbar freudig gefundenen Wortspiele wie „erkennen-kennen” u. ä. nicht so sehr das Interesse an der künstlerischen Eigenart des Malers als viel mehr das Unbehagen an dieser durchblicken lassen: „Kokoschka hat ein Portrait von mir gemacht. Schon möglich, daß mich die nicht erkennen werden, die mich kennen. Aber sicher werden mich die erkennen, die mich nicht kennen." Er scheint sich selber, wie fast jeder und jede Portraitierte, anders gesehen zu haben, vor allem wahrscheinlich bedeutender, dämonischer, weniger jugendlich. „Der rechte Portraitmaler benützt sein Modell nicht anders, als der schlechte Portraitmaler die Photographie seines Modells. Eine kleine Hilfe braucht man."

Ob Kraus die Ähnlichkeit mit seinem Jugendphoto aufgefallen ist, kann nicht entschieden werden, aber möglich wäre es. „Oskar Kokoschka malt unähnlich. Man hat keines seiner Portraits erkannt, aber sämtliche Originale."„An einem wahren Portrait muß man erkennen, welchen Maler es vorstellt." Später in der Fackel 360, 1912, 23: „Oskar Kokoschka malt bis ins dritte und vierte Geschlecht. Er macht Fleisch zum Gallert, er verhilft dort, wo Gemüt ist, dem Schlangendreck zu seinem Rechte.” Die Ambivalenz dem Maler und der Malerei gegenüber scheint bereits ins Pejorative zu tendieren. Am auffallendsten am Kraus-Portrait sind die Jugendlichkeit und die Hände. Beides „stimmt" aber auf bemerkenswerte Weise. Kokoschka selbst stellt die Jugendlichkeit ebenso fest wie Erica Tietze-Conrat.

Kokoschka scheint darauf auch ganz besonderen Wert gelegt zu haben. Er schreibt selber, wie erwähnt, daß er den Dichter in seiner Wohnung portraitiert habe. Dort kann er, hinter dem Schreibtisch im Arbeitszimmer, die Kinderphotos von Kraus und seiner Schwester gesehen haben, wie sie auf dem Photo der Wohnung aus dem Jahre 1936 zu sehen sind. Die Wohnung zeigt sehr schön den, bei aller Originalität und Unabhängigkeit in moralischen und gesellschaftlichen Fragen soliden großbürgerlich-konservativen Geschmack der Gründerzeit. Das Photo des Vierjährigen im Oval (Abb. 4) bringt schon die charakteristische, eigenartige Mundstellung, und im Photo mit der Schwester (Abb. 5) ist die Ähnlichkeit mit der Kokoschka-Darstellung frappant: der Blick, die Augenstellung, ganz im Gegensatz zur Beschreibung des Malers als hinter dunklen Brillen verschwindend, ganz klar und hell (Hillers Aquamarinblau suggerierend) und vollends die Hände!

Abb. 6 Oskar Kokoschka, Karin Michaelis, 1911,
Feder in Tusche, Deckweiß auf Papier, 36 x 23 cm,
 Museum Stiftung Oskar Reinhart, Winterthur.
Diese unwahrscheinliche, skelettartige, hängende Hand, wie sie befremdlich empfunden wurde, resultiert ganz natürlich aus der Stellung des Ellenbogens auf der Schulter der sitzenden Schwester, wodurch die Hand locker senkrecht herunterhängt, wobei sie noch „expressionistisch" knochig verlängert wird; sogar die rechte hat dem Maler als Vorbild gedient, rund und kindlich. Offenbar wollte der Maler die Zwiespältigkeit im Wesen dieses sanften Jünglings und Satirikers durch den Gegensatz des Kindlichen der Form und der unerhörten Aggressivität der Farbigkeit - in kräftigem Gelb - ausdrücken. Schick macht eindrücklich auf diese Ambivalenz im Wesen von Kraus aufmerksam. „Im persönlichen Umgang zog er die Unmittelbarkeit vor und hatte nie Allüren des großen Mannes (vertrug aber keine Respektlosigkeit). Er, der immer Sätze voll Antithesen schrieb, die zum Nachdenken zwangen, war im Gespräch liebenswürdig, einfach und immer bemüht, dem Partner das Verstehen zu erleichtem. Er lachte immer darüber, wenn Leute, die seine Bekanntschaft machten, enttäuscht waren, daß er keine Fackelsätze spräche.“

Die damals sehr berühmte dänische Schriftstellerin Karin Michaelis schildert ihr erstes Erlebnis einer Karl Kraus-Lesung am 6. November 1911. Sie hatte gerade „Das gefährliche Alter" geschrieben und mit diesem ihrem Buch über die erotische Krise der Frau von 40 Jahren einen Welterfolg errungen. Josef Strzygowski nennt sie in der zitierten Hagenbund-Kritik verächtlich im gleichen Atem mit den von ihm gleichfalls zutiefst verabscheuten Schönberg, Richard Strauß und Strindberg. Nicht einmal diese vier Protagonisten seien fähig, die Charakteristik einer ekeligen Psyche so wie Kokoschka der Zeit als Spiegel vor Augen zu halten.

Kokoschka, immer auf der Suche nach Berühmtheiten, hat sie im Hause der Familie Schwarzwald, einem der wichtigsten Wiener Schnittpunkte zwischen Pädagogik, Literatur, Musik und Architektur, bildender Kunst und sozialer Fürsorge, alles in allem das Vorbild des Hauses Tuzzi in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, aufgestöbert und sehr zu ihrem Mißvergnügen kurz vor der Abreise (1911) portraitiert (Abb. 6): „lch packte und er zeichnete. Wenn ich mich bückte, kroch er auf dem Fußboden herum, um das Gesicht nicht aus den Augen zu verlieren! Das Bild war in zwanzig Minuten fertig — aber was für ein Bild! Drei Monate Gefängnis wären nicht zuviel gewesen für die Schädigung an gutem Namen und Ruf, die er an mir dadurch verursachte. Die Zeichnung wurde nämlich im Sturm publiziert ... ich befreundete mich mit Kokoschka, konnte ihm aber schwer das Sturm-Verbrechen verzeihen, nicht zum mindesten‚ weil er dauernd behauptete, mein inneres Gesicht sei glänzend getroffen.” Nun die beeindruckende Schilderung ihres ersten Kraus-Erlebnises: „Fast tausend Hörer strömten herbei, um zweieinhalb Stunden dem nervösen Stakkato einer einzigen Stimme zu folgen ... Der Saal ist bis zum letzten Platz voll. Die Jugend hat ihn gefüllt. Eine gährende, schöne Jugend. Nie habe ich auf einem Fleck so viele herrliche Jünglingsgesichter und so viele dunkelglühende fanatisch hingerissene junge Frauen gesehen Alle Lichter sind verlöscht. Nur da oben auf dem grünbekleideten Tisch leuchten zwei vereinzelte Kerzen. Sie funkeln unheimlich. Nun kommt Kraus. Jung (!) mit langen unbeherrschten Gliedern, scheu wie eine Fledermaus eilt er an den Tisch, verschanzt sich bang hinter ihm, kreuzt die Beine, streicht sich über die Stirn, putzt sich die Nase, sammelt sich wie ein Raubtier zum Sprunge, lauscht, wartet, öffnet den Mund wie zum Biß, klappt ihn wieder zu, wartet ...

Abb. 7 Oskar Kokoschka, Karl Kraus II, 1912,
Schwarze Kreide auf Papier, 45,2 x 30 cm, Privatbesitz.
Ein unendlich sanftes, unendlich trauriges Lächeln bebt über sein Gesicht. Eine flüchtige, vornehme, scheue Freude schmilzt alle Strenge in diesem jungen, geistvollen, verbitterten Antlitz. Seine nervösen Hände fahren über die mitgebrachten Arbeiten. Er fängt an, hart, nachdrücklich, energisch, bezwingend, durch Überzeugung bezwingend. Hätte er chinesisch oder persisch gesprochen, man wäre mit der gleichen Spannung gefolgt. Seine eigene innere Glut wirkt wie der Funke der vorbeirasenden Lokomotive auf die sommerdürre Prärie umher: alles flammt auf, während er spricht. Aber mit Beängstigung begriff ich, daß alle diese jungen Seelen viel mehr von Kraus als von seinem tiefen, selbstverzehrenden Zorn ergriffen waren. Waren sie zu jung? Oder waren sie zu sehr Wiener?" […]

Noch in Berlin 1928 staunt der damals begeisterte Kraus-Anhänger Elias Canetti über die Liebenswürdigkeit des Satirikers: „Ich war erdrückt von der Vorstellung, am Tisch eines Gottes zu sitzen Er war ganz anders, als ich ihn von den Vorlesungen her kannte. Er schleuderte keine Blitze, er verdammte niemand ... Wie ungezwungen er lächeln konnte, mir war zumute als ob er sich verstelle. Von unzähligen Rollen, in denen ich ihn gehört hatte, wußte ich, wie leicht es ihm fiel, sich zu verstellen, doch war die, in der ich ihn jetzt erlebte, die eine, die ich nie erwartet hätte, und er hielt sie durch, während einer Stunde oder länger blieb sie dieselbe. Ich erwartete Ungeheures von ihm, und es kamen Artigkeiten. Jeden am Tische behandelte er mit Zartgefühl — aber mit Liebe, als wäre er sein Sohn, behandelte er Brecht, das junge Genie — sein erwählter Sohn.” […]

Der Vergleich mit den Photos verdeutlicht den merkwürdigen Blick Kokoschkas, der nicht das gleichzeitige Aussehen, sondern das Charakteristische eines Lebewesens erfaßte, das in der Jugend oder im Alter besonders deutlich zum Ausdruck kommen kann — die meisten Portraitierten wie etwa die Tietzes wachsen allmählich in das Portrait hinein. Karl Kraus zeigt als Knabe als Charakteristikum die Sanftheit des Lyrikers am deutlichsten, die Kokoschka wohl inspiriert durch das Kinderphoto als Vision aus der Leinwand heraustauchen sah und für das erste Kraus-Portrait und vielleicht noch für die zweite Zeichnung festhalten konnte (Abb. 7). […]

Ganz anders ist Karl Kraus auf den meisten Photos „getroffen", die er offiziell verbreiten ließ, von denen er eines — das im Jahr 1908 von Madame d‘ Ora aufgenommene — wohl dem Maler Max Oppenheimer zur Verfügung gestellt hatte, der ihn 1908, ein Jahr vor Kokoschka, gemalt hat. Konventionell und bis zur disziplinierten Haltung seiner Hände dem Photo entsprechend, scheint es Kokoschka in seiner Ansicht recht zu geben, daß Mopp, wie Oppenheimer sich nannte, erst durch sein, Kokoschkas, Beispiel, „modern" zu malen, begonnen habe und ihn unverschämt nachahme, was seine Freunde Loos, Kraus, Walden, Else Lasker-Schüler usw. bewog, Mopp grausam zu verfolgen, was in der Fackel und im Sturm Niederschlag fand.

1903/04 hatte Walden in seinem „Verein für Kunst“ Vortragsabende und Konzerte zu organisieren begonnen. Er scheint großen, respektfordernden Eindruck, besonders was Kunsturteile betraf, auf Adolf Loos, Karl Kraus und Kokoschka gemacht zu haben. Er war Musiker gewesen, bevor er sich der Malerei der Avantgarde und der Zeitschrift des Expressionismus „Der Sturm” widmete. […] Herwarth Walden war seit 1909 in enger Verbindung mit Kraus und Loos. Kraus hielt im Jänner 1910 drei Lesungen in Berlin, Walden wurde im Februar 1910 von Loos in Wien mit Kokoschka und seinen Zeichnungen bekanntgemacht (Abb. 8). Die erste Nummer des Sturm erschien am 3. März 1910 und brachte schon damals Beiträge von Kraus und Loos. Im Sturm konnte Walden noch nicht eingeführte Literatur und die Kunstrichtungen vertreten, die als Expressionismus, Futurismus, Kubismus etc. seiner Propaganda bedurften.

Abb. 8 Oskar Kokoschka, Herwarth Walden, 1910,
Feder in Tusche auf Papier, 28,8 x 22,5 cm,
 Harvard University Art Museum.
Dabei war Kraus eigentlich ein dezidierter Gegner aller dieser Modernismen, als Klassiker geradezu ein Antimodernist, besonders was die Sprache betraf: „Ich bin nur einer von den Epigonen,/ die in dem alten Haus der Sprache wohnen ...". Deshalb funktionierte die Zusammenarbeit nicht lange. lm Bezug auf die Malerei und im Speziellen auf Kokoschka ließ er sich noch etwas länger von Adolf Loos beeinflussen. Dieser hatte schon im Oktober 1909 an Walden geschrieben: „Maler Oskar Kokoschka will in Berlin eine Ausstellung veranstalten, ich bürge für einen sensationellen Erfolg. Wäre bei Cassirer Platz? Kommen Sie nach Wien? Können Sie sich hier ein paar Tage aufhalten, damit Ihr Portrait auch in die Kollektion kommt?“ Kokoschka hingegen fragte bei Walden an, ob Cassirer wohl sehe, daß seine Sachen die besten auf der Welt seien. Kokoschka, der 1910 engster Sturm-Mitarbeiter in Berlin war und auch bei Walden gewohnt hat, erlebte trotz der vielen Zeichnungen, die erstmals im Sturm gedruckt erschienen, ein Hungerjahr, da auch Walden, außer einer kleinen Subvention von Karl Kraus, kein Geld hatte.

Noch in Wien hatte er die genannte Rohrfederzeichnung von Kraus angefertigt (Abb. 2), nach Alice Strobl Ende Oktober, Anfang November 1909, mit reich bewegten Strukturen und ständig wechselnder Strichbreite. Die auffallend expressive Gestaltung der Hände des „Vorlesers" mit zarter Brille und etwas verhaltenem Gesichtsausdruck wie vor dem Losbruch, lassen an Kokoschkas Schilderung der nächtlichen Portraitsitzungen denken. ln ihrer Expressivität ist sie deutlich auf die Verwendung im Sturm zugeschnitten. Als Kokoschka sie an Walden schickte, fügte Karl Kraus seinem Brief als Postskriptum die positivste Bemerkung hinzu, die er — wohlgemerkt im Beisein des Künstlers — sich abringen konnte: „Ein Meisterwerk“.

Noch einmal hat sich Kraus zumindest teilweise positiv über Kokoschka als Maler geäußert: „lch bin stolz auf das Zeugnis eines Kokoschka, weil die Wahrheit des entstellenden Genies über der Anatomie steht und weil vor der Kunst die Wirklichkeit nur eine optische Täuschung ist.“ (Fackel 374, 1913, 32)

Im Juli 1912 hatte Kokoschka eine zweite Portraitzeichnung, die wie die erste ein völlig selbständiges Werk darstellt und nicht als Vorzeichnung für ein Portrait gelten kann, vollendet (Abb. 7). Sie gilt in der Kokoschka-Forschung als Höhepunkt der Simultandarstellung, die er zu dieser Zeit zur Anwendung brachte, angeregt wohl durch romanische Fresken, beispielsweise die Profil-En face Darstellungen der Zuschauer in der Prokulus-Szene in Naturns, die er noch für das Selbstportrait-Plakat von 1923 verwendet hat. […]

Am 1. April 1916 berichtet Kraus voll Abscheu, daß Karin Michaelis, die er als neutrale Allerweltsfreundin apostrophiert, Kokoschka in verschiedene Häuser in Wien einführe: „Das Ganze beruht auf der bekannten Idee, Krieg, Spitalspflege und Maleraufträge zu verknüpfen. Diese letzten dürften kaum gefördert werden, aber wer zum ,Gesellschaftsmaler' zu gut ist, ist leider nicht zu gut, um auf Jours herumgereicht zu werden. Mir ist das alles grenzenlos zuwider, und es ist mir ganz rätselhaft, wie der gute Loos so andächtig meinen Forderungen lauschen und so unbefangen das Gegentheil thun kann.“

Abb. 9 Oskar Kokoschka, Karl Kraus II, 1925, Öl auf Leinwand, 65 x 100 cm,
Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien.
Was sich hier ankündigt, die ethische Verdammung des Malers, sollte in noch viel schärferer Form über den Dichter Kokoschka kommen. Am 29./ 30. 5. 1916 folgt der Bericht über die endgültige Verurteilung des schon durch das Gedicht Allos Makar (anders als glücklich, in anagrammatischer Umstellung der Namen Alma und Oskar) unliebsam aufgefallenen Delinquenten. Nach dem Bericht einiger Schmeicheleien, die ihm Loos kolportiert habe, kommt der Zornausbruch in merkwürdiger, der Harmlosigkeit des Anlasses inadäquat anmutender Heftigkeit: „aber mich selbst können sie nicht soweit blenden, daß ich von den Gedichten des Kokoschka, die jetzt in einer Zeitschrift erschienen sind, etwas hielte. Loos — es war zum Sterben — zeigte mir diese Gedichte, dazu Zeichnungen. Von diesen verstehe ich jedoch nichts, glaube aber, daß sie ein Irrthum des Loos sind, der sie übrigens zum Theil selbst preisgab. Aber von dem, was man mit der Sprache erleben oder nicht erleben kann, davon weiß ich etwas. Loos versucht, mich zur Anerkennung dieser Verse zu bringen. Es stellt sich heraus, daß er kein Wort davon versteht, sich alle möglichen Erklärungen hineinschreiben ließ, die er wieder nicht versteht. Noch wankt er nicht. Da beweise ich ihm Satz für Satz, Wort für Wort, Beistrich für Beistrich, daß er den ja nicht unsympathischen Mangel, sich nicht handwerkerlich geschickt ausdrücken zu können, für ein schöpferisches Merkmal gehalten hat. Daß es der lächerlichste Dilettantismus ist und nur dort, wo es verständlich wird, lyrischer GemeinpIatz‚ ganz banales‚ tausendmal vorhandenes Zeug. Plötzlich gehen dem guten Loos, den sicher das schlechte Gehör so vieles überschätzen läßt, die Augen über und er stimmt mir so sehr zu, daß er mich bittet, alles dem Kokoschka zu sagen, wozu ich mich natürlich bereit erklärte. Ich bewies ihm, daß er die Unbewußtheit des künstlerischen Schöpfers, der natürlich von dem weisesten Plan behütet ist, mit den Bewußtseinsstörungen des Kokoschka verwechselt hat ... Er freute sich ordentlich, daß ihm die Illusion genommen sei, daß ich sie nun auch dem Kokoschka selbst nehmen wolle, und gab zu, daß er mit seiner Propaganda das Heraufkommen des ärgsten Mistes verschulde und diesen beglaubige ..."

Es sei die „nackte Sprachschande". Am 31./1. VI. 1916 berichtet er weiter. „Heute brachte Loos den Kokoschka und die Gedichte. Ich sagte ihm alles mit der äußersten Schärfe und nahm ihm das Versprechen ab, so etwas nicht mehr zu thun. Gieng es Wort für Wort mit ihm durch, dichtete es um, und der lauschende Loos mußte erfahren, daß alles, was ihm gefallen hatte, entweder wertlos oder Druckfehler waren! Alle Einwände aber imponierten dem Dichter sehr.“ Ein Brief allerdings des so behandelten armen Dichters an Albert Ehrenstein vom 13. 6. 1916 zeigt die — zumindest vorübergehende — Wirkung: „Mein lieber alter Ehrensteindoktor ... Ich bin neugierig, wann der Zeitpunkt eintritt, da ich an Leib und Seele ganz bankrott sein werde. K. Kraus hat mein Gedicht furchtbar verrissen und mir entschieden vorn Dichten abgeraten ..." Kraus forderte, daß Sidonie Nadherny die Gedichte und Zeichnungen selber begutachten müsse, da ja über die prinzipielle Möglichkeit der Portraitierung beschlossen werden solle. Ein Kokoschka-Portrait von Sidonie de Nadherny scheitert offenbar an Karl Kraus’ Widerstand.

Umso seltsamer mutet es an, daß sich Karl Kraus 1925, offenbar als Ersatz für das nie zurückgestellte erste Portrait, von Adolf Loos überreden ließ, noch einmal für ein Portrait zu sitzen, noch dazu seltsamerweise entgegen Kokoschkas Gewohnheit im Heim des Künstlers im Liebhartstal bei Wien (Abb. 9).

Abb. 10 Oskar Kokoschka: Ein Selbstbildnis des Künstlers ohne Haare
 für "Der Sturm".
Oskar Kokoschka berichtet in seiner Autobiographie (1971): „Er (Kraus) hat sich meiner Mutter gegenüber außerordentlich liebenswürdig entschuldigt, als fremder Eindringling zu stören ... Bei der letzten Sitzung — vielleicht eine Woche lang war er jeden Tag mit Loos in einem Fiaker zu uns hinausgefahren — war der Stuhl zusammengebrochen‚ weil er mit Loos zu heftig diskutierte. Ich notierte dies auf der Rückseite des Gemäldes mit den Worten: ‚Pro domo et mundo' (Titel der Aphorismensammlung von Kraus in der die früher in der Fackel erschienenen 5 Kokoschka-Aphorismen zusammengefaßt waren). ‚Der Sessel, auf dem Karl Kraus für das Bild gesessen ist, ist nach der letzten Sitzung zusammengefallen am 7. Feb. 25 und mußte der Tischler gerufen werden. Aus dem Schiffbruch der Welt jener, die mit Brettern oder Barrikaden vor der Stirn geboren sind, hast Du eine Planke zu einem Schreibtisch geborgen. OK’ Das hat ihm gut gefallen." Oskar Kokoschka erinnert sich: „Seine Stimme war schneidend. Loos, dessen Gehör damals schon schlechter geworden war, verstand jedes Wort. Kraus‘ Wesen war vollkommen zwingend. Im Sprung wie eine Wildkatze eines der roten Fackelhefte ergreifend, riß er einen Satz heraus wie ein Stück Fleisch, um Loos von der Treffsicherheit des Ausdrucks zu überzeugen. Beide vergaßen, daß ich malte ..." Der Diskutierende, der Vorleser ist ganz offensichtlich in aller „Lebendigkeit” dargestellt, das rote Fackelheft zwischen den gestikulierenden Händen. Die Stimmung ist nächtlich, Gesicht und Hände bleich mit violetten und weißen Höhungen, der Ausdruck des Gesichtes von tiefer Melancholie überzogen, der Saturn-geborene Künstler ist gemeint, das Vergänglichkeitssymbol des Schmetterlings wie von Pisanello im Portrait der Ginevra d’ Este beschwörend, jedoch bei der trüben Beleuchtung der Nachtlampe, wie er selber es im neunten Band der Worte in Versen (1930) imaginiert, wohl der Mahnung Kierkegaards bewußt: „Ein einzelner Mensch kann einer Zeit nicht helfen oder sie retten, er kann nur ausdrücken, daß sie untergeht" […]

Scheinbar hat Kokoschka die Ablehnung von Karl Kraus unterschätzt oder nie so ernst genommen, da er ihm von Angesicht zu Angesicht wieder freundlich begegnete. Dabei wäre Kraus sogar einverstanden gewesen, seinen bösen Verriß des Dramatikers Kokoschka über sein Drama „Mörder, Hoffnung der Frauen" in der Zeitschrift Tribunal 1920 zu veröffentlichen. Er war gebeten worden, Kokoschka gegen eine schlechte Kritik seines Dramas „Hiob" in der Frankfurter Zeitung zu verteidigen, was das ungebrochene Vertrauen Kokoschkas beweist, trotz der Verachtung, die Kraus seiner Dichtung entgegengebracht hatte. Als Verlag der Schriften von Karl Kraus antwortet Kraus selbst: „Darum möchte er [Kraus] Ihnen, ob Sie nun seine Ansicht veröffentlichen wollen oder nicht, keineswegs verhehlen, daß er den Dramatiker Kokoschka zwar nicht aus dem Drama Hiob, wohl aber aus dem Schauspiel Mörder, Hoffnung der Frauen kennt und dieses, wie die ihm bekannten Verse des Dichters für einen Schmarren hält und zwar so ziemlich für den sprachlich untiefsten, den der neue Dilettantismus hervorgebracht hat. Sie mögen aber überzeugt sein, daß diese Meinung an seinen persönlichen Sympathien für Herrn Kokoschka nichts zu ändern vermocht hat, wenngleich sie ihm die Identität des Dichters mit dem gleichnamigen Maler, von dem er zwar nichts versteht, dessen hohe Anerkennung durch Fachleute ihm aber einleuchtet, zu einem psychologischen Rätsel macht. […]" Diese Stellungnahme wurde natürlich nicht gedruckt und Kokoschka hat wohl nie den Wortlaut erfahren, ebensowenig wie die Ablehnung von Karl Kraus, etwas über die Malerei Kokoschkas zu publizieren.

Abb. 11 Oskar Kokoschka mit kahlrasiertem Kopf,
Wien 1909, Fotographie von Wenzel Weiss.
In einer Anfrage an die „Portraitierten" für den Katalog einer Kokoschka-Ausstellung in der Mannheimer Kunsthalle, die der renommierte Direktor Gustav Hartlaub 1931 veranstaltete, sollte die Frage beantwortet werden „Was Ihnen Kokoschka bedeutet". Karl Kraus schreibt, wieder als Verlag nach hartnäckigem Drängen Hartlaubs zurück: „Herr Karl Kraus würde, selbst wenn er zu einer Äußerung über Dinge der bildenden Kunst befugt wäre, es grundsätzlich ablehnen, ein Urteil auf Wunsch zu formulieren und sich an der Beantwortung einer Rundfrage zu beteiligen." Auf Hartlaubs Anfrage nach einer Möglichkeit der Vermittlung an Hans Tietze antwortet dieser: „Kraus antwortet niemals, ich weiß nicht, was man da machen könnte.”

Karl Kraus hat offenbar endgültig sein Urteil über den Maler dem über den Dichter angeglichen. Noch vor seiner Bekanntschaft mit Loos hatte er sich ja schon gegen die Fakultätsbilder von Gustav Klimt und besonders dessen Frauendarstellungen ausgesprochen — während Befürworter Klimts wie der Kraus-Gegner Felix Salten die „schöne jüdische Jourdame" in der wunderbar zarten verführerischen erotischen aber grausamen „Judith" preist, in der Nike Wagner und neuerdings zahlreiche Journalisten die junge Adele Bloch-Bauer vermuten, deren Züge Klimt verwendet zu haben scheint. Nike Wagner sieht Karl Kraus schon von Anfang an der Moderne wenig geneigt: „Im allgemeinen ist Kraus Anmerkungen zum Secessionsgeschehen zu entnehmen, daß die malerische Moderne ihm genauso wenig zusagte wie die literarische.” So steht er auch Herwarth Walden von Anfang an skeptisch gegenüber und auch Adolf Loos, mit dem er in der grundsätzlichen Haltung zu ethischen Fragen zutiefst übereinstimmt, traut er im Bezug auf die Begeisterung für den Expressionismus kein gültiges Urteil zu. Auch Gerald Stieg erwähnt diese Entwicklung: „Obwohl Kraus zu den Entdeckern und Förderern der expressionistischen Literatur und Malerei (z.B. Kokoschka) zählte, distanzierte er sich später aus formalen und ideologischen Gründen völlig von der ‚Literaturrevolution'. Er ironisierte in der Attitude des poetischen Schulmeisters die Form- und Zuchtlosigkeit der neuen, expressionistischen Dichterschule /in der Fackel 18, 544-545, 20-21/, er zweifelte aber auch das Ethos und Pathos der revolutionären Menschheitsverbrüderungspose an.“

In einigen guten Aufnahmen von J. Scherb ist die Wohnung von Karl Kraus zur Zeit seines Todes in verschiedenen Ansichten erhalten. Neben beiden Zeichnungen Kokoschkas (Reproduktionen) sind einige Aufnahmen von Portraits zu sehen (Janikowski, Karl Kraus I, Loos) und vor allem unzählige Fotos, mehrere als Kind, mit Familie und Freunden usw. Die vielen Photos, die Rahmen der Großphotos, die offensichtlich zeitgemäßer empfunden wurden als Ölgemälde, die Luster, Möbel, Stoffe, Vorhänge zeigen das Ambiente eines anspruchslosen Schreibtischarbeiters, der an der „Kunst" gar nicht interessiert ist, weil er sie nicht braucht, weder um sich auszuzeichnen noch um sich abzuheben, diese Funktionen erfüllte ausreichend die Fackel. So erscheint die Affaire Kokoschka als Mißverständnis, dem aber vier der interessantesten Portraits des Meisters zu verdanken sind.

Quelle: Almut Krapf-Weiler: Ein Mensch ist kein Stilleben. Oskar Kokoschka portraitiert Karl Kraus. In: Belvedere. Zeitschrift für bildende Kunst. 12. Jahrgang, Heft 1/2006. ISNN 1025-2223. Seite 46 bis 65 (gekürzt).


Und es hat noch mehr alte Musik in der Kammermusikkammer:

La Frottola - eine fast vergessene Kunstgattung des 15. und 16. Jh. | Das Fest des Fleisches: Rubens und Helene Fourment.

Das Gänsebuch (Nürnberg, 1510) | Navid Kermanis ungläubiges Staunen über Dürers Hiob.


Das Lochamer Liederbuch (Nürnberg, 1452) | Pablo Picasso: Die Frau mit dem Haarnetz (La femme à la résille), 1949.

Sumer is icumen in (England, 13./14. Jahrhundert) | Otto Pächt: Zur deutschen Bildauffassung der Spätgotik und Renaissance.

Giovanni Legrenzi: Sonate a due e tre Opus 2 (Venedig 1655) | Max Rychner: Vom deutschen Roman. Illustriert von den Präraffaeliten.

Marc-Antoine Charpentier: Leçons de Ténèbres du Jeudy Sainct | Vom Doppeladler zum Bindenschild. Eine Lektion in Heraldik.



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Henry Cowell (1897-1965): Klavier-, Kammer- und Vokalmusik

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Henry Cowell war eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten in der Geschichte der amerikanischen Musik — ein erstaunlich innovativer Komponist, ein unnachahmlicher Klaviervirtuose, ein brillanter Schriftsteller und Dozent sowie ein unermüdlicher Organisator und Propagator, der gewissermaßen im Alleingang die Grundlagen der amerikanischen Kompositionskultur schuf.

Henry Cowell wurde 1897 als Sohn eines irischen Einwanderers und einer couragierten Mutter aus dem amerikanischen Mittelwesten geboren. Nach der Scheidung der Eltern versuchte die Mutter, den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn zu verdienen, doch eine schwere Krankheit führte zu bitterer Armut. Henry verließ die Schule nach der dritten Klasse und verdiente mit dem Haus-zu-Haus-Verkauf von Blumen, als Kuhhirte und mit der Reinigung des Schulgebäudes das nötige Zubrot. Ein Professor der Stanford-Universität bemerkte, daß der verschmutzte Zwölfjährige einen immensen Wortschatz, ein außergewöhnlich breitgefächertes Wissen — einschließlich einer tiefen Kenntnis der Botanik — und ein enormes musikalisches Talent hatte, aber kaum buchstabieren konnte. Er vermittelte Cowell Englischunterricht in Stanford Unhersity und ein Musikstudium an der University of California in Berkeley, wo der renommierte Charles Seeger die unorthodoxen musikalischen Ansichten des jungen Studenten in geordnete Bahnen lenkte. Es dauerte nicht lange, bis Cowell mit ersten Kompositionen an die Öffentlichkeit trat.

Nach dem Militärdienst im Ersten Weltkrieg entwickelte sich Cowells Karriere sprunghaft. Das sog. „Ton-Cluster" (ein Übereinanderstellen zweier oder mehrerer in der Notation unmittelbar benachbarter Töne) wurde zu seinem Markenzeichen. Diese Tontrauben, die gelegentlich bereits in der Klaviermusik früherer Jahrhunderte begegnen, dominieren bei ihm oft ganze Stücke und verlangen vom Interpreten nicht selten den Einsatz des Unterarms, der flachen Hand oder der Faust. Das Spektakel eines sich mit diesen ungewöhnlichen Mitteln produzierenden Pianisten, der später auch die Saiten des Flügels mit den Händen anriss oder über sie hinwegstrich, machte Cowell zu einer internationalen Kuriosität. Während nur wenige Kritiker die musikalische Basis dieser Technik erkannten, zweifelte kaum jemand an Cowells künstlerischer Integrität. Zu den Berufskollegen, die ihn bewunderten, zählten neben Artur Schnabel und Alban Berg auch Béla Bartók, der Cowell persönlich um Erlaubnis bat, Ton-Cluster auch in seiner eigenen Musik zu verwenden. Obgleich Cowells Klavierwerke neue Klanghorizonte öffneten, so koexistierten seine fortschrittlichen Ideen stets mit einer traditionellen, von seiner Vorliebe für Folklore beeinflussten Melodik, die selbst seine experimentellste Musik unmittelbar zugänglich macht.

Henry Cowell in jungen Jahren, mit Klavier
Die hier ausgewählten Klavierwerke zeigen Cowell auf der Suche nach neuen technischen Herausforderungen und stilistischer Vielfalt. Piece for Piano with Strings (1924), ein Produkt seiner Europa-Tournee von 1923, wurde in Frankreich erstveröffentlicht. Der merkwürdige Titel (wörtlich „Stück für Klavier mit Saiten“) bezieht sich auf Cowells Technik des direkten Bearbeitens der Saiten mit den Händen. Detaillierte Spielanweisungen beinhalten etwa das Anzupfen mit den Fingerkuppen zur Erzeugung eines sanften Tons oder mit den Fingernägeln für härtere, geschärfte Klänge. Der für Cowell so typische Klavierdonner ist mit „weitgriffigen" Ton-Clustern notiert, die den Einsatz beider Unterarme erfordern.

Vestiges (1920) zeigt eine gewisse Verwandtschaft mit dem europäischen Expressionismus, schweißt jedoch atonale Harmonien zu einem tonalen Rahmenwerk zusammen. Der Suche nach rhythmischer Freiheit entsprang das kurze Stück Euphoria (ca. 1929), dessen Musik gleichsam über die Taktgrenzen hinausfließt. (Obwohl dieser Titel heute allgemein gebräuchlich ist, lässt Cowells Handschrift vermuten, dass er ursprünglich „Euphonia" lauten sollte. Das lärmende What's this (ca. 1915) ist wildgewordene Motorik; ein englischer Kritiker witzelte, seine Antwort auf die Frage nach den Werktitel sei nicht druckreif! Elegie, komponiert um 194l, verwendet Cowellsche Techniken in einem eher konservativen Stil.

The Banshee (1925), obwohl ursprünglich nicht als Programm-Musik konzipiert, ist untrennbar mit der Legende des irischen Hausgeists verbunden, der seine Klage immer dann erhebt, wenn ein Familienmitglied im Sterben liegt. Während ein Assistent das rechte Pedal betätigt, wirbelt der Pianist im Innern des geöffneten Flügels wie eine Hexe über einem brodelnden Kessel und zaubert protoelektronische Klänge hervor.

Cowells Schaffen begann bereits früh vielfältigere Formen anzunehmen. In dem visionaren Buch New Musical Resources (1916-19. erschienen 1930) formulierte er erstmals seine Ideen. Zur Theorie kam mit der Gründung der California Society for New Music 1925 die Praxis hinzu — dieser Verein, ein Unterstützungsorgan für junge Komponisten, organisierte zunächst Konzertveranstaltungen und brachte später auch die Zeitschrift New Music mit neuen Werken etablierter und aufstrebender Künstler sowie eine Schallplattenreihe heraus. In den frühen 1930er Jahren initiierte Cowell ein zukunftweisendes Musikprogramm an der New School for Social Research in New York, das einzigartige Einblicke in außerwestliche Musik vermittelte. Ein Guggenheim-Stipendium gab ihm 1931-32 die Gelegenheit, seine Kenntnisse der Musik anderer Weltkulturen am Berliner Phonogrammarchiv zu erweitern. All diese Erfahrungen flossen in seine Kompositionen, Vorlesungen und Schriften ein, in denen er seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, dass sich die gigantische ethnische Vielfalt der Musik zu neuen, ungewöhnlichen Amalgamen umschmelzen lässt. Nicht zuletzt durch seine Rundfunksendereihe Music ofthe World's‘ Peoples und das Folkways-Schallplattenlabel wurde er zum führenden Propagator für außerwestliche Musik.

Henry Cowell, mit Assistent
In den späten 1920 Jahren begann sich Cowell verstärkt der Komposition von Kammern-, Orchester- und Vokalmusik zu widmen. Zwar begann der Hang zum Experimentieren in seiner Musiksprache in den Hintergrund zu treten, die Werke büßten aber niemals die typisch schrullige, undefinierbare Findigkeit ihres Schöpfers ein. Six Casual Developments (1933) für Klarinette und Klavier - oder in Bearbeitungen für Holzbläserquintett sowie für Klarinette und Kammerorchester, enthält Cowells einziges Experiment mit einem vom Jazz inspirierten Stil. In Two Songs (1936) nach Gedichten von Catherine Riegger, der Tochter des Komponisten Wallingford Riegger, verbindet er tonale Melodik und Harmonisierung mit Ton-Clustern und veranschaulicht somit den Text in einer Weise, die Tradition und Moderne in sich vereinigt.

Das Jahr 1936 war der Beginn einer für den Komponisten schwierigen Zeit. Im Rahmen einer allgemeinen kalifornischen Hysteriekampagne gegen sexuelle Delikte wurde er wegen angeblicher Gesetzesübertretungen zu einer fünfzehnjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, von der er vier Jahre in der San Quentin-Haftanstalt verbüßte, bevor er auf Bewährung entlassen wurde und nach New York ging. wo er die Volksliedsammlerin Sidney Hawkins Robertson heiratete. 1942 hatte ihn der Gouverneur von Kalifornien begnadigt, nachdem sogar der Staatsanwalt eingesehen hatte, dass die Verurteilung unrechtmäßig gewesen war. Während der letzten Jahre seines Lebens unterrichtete Cowell an der New School for Social Research, der Columbia University, dem Peabody Conservatory und anderen Institutionen.

Eines seiner erstaunlichsten Werke der Nachkriegszeit — und eines von verschiedenen Stücken, in denen er seine eigenen Ideen einer Weltmusik verwirklichte — ist Set of Five (1952). Im gleichsam barocken Largo werden Klavier und Violine von einem rhythmischen „Continuo“ aus gedämpften Gongschlägen begleitet. Das Allegro verschmilzt Violine, Klavier und Xylophon zu einer einzigen Farbe, während ein kontrastierendes „Trio" mit Effekten im tiefen Klangregister überrascht. Der mittlere, einem barocken Cantabile ähnelnde Satz besitzt gleichwohl eine höchst unbarocke, von indischen Tablas oder, wie in unserer Einspielung, von Tam-Tams erzeugte Begleitung. Im Presto setzen ein indisches Jalatarang bzw. fünf Porzellan- oder Metallschüsseln (Continuum verwendet Suppenschüsseln) die charakteristischen Akzente. Hinter der kontinuierlichen Variation, die die beiden scherzoartigen Sätze zu monumentalen Zungenbrechern macht, verbirgt sich eine klare formale Logik. Im majestätischen Finale lässt Cowell seine ganze Kompositionspalette aufblitzen: Ton-Cluster, Obertöne der Klavier-Saiten, außerwestliches Schlagzeug, tonale Harmonien und eine geradezu herausfordernde Sang1ichkeit.

Henry Cowell spielt die Shakuhachi, mit Edgar Varese
Eine 1956-57 unternommene Asienreise führte den Komponisten auch in den Iran und zum Madras-Musikfestival, der größten alljährlichen Veranstaltung mit Werken der klassischen Musik Indiens. Produkte dieser Reise waren zwei Stücke, in denen Cowell persische und westliche Idiome und Instrumente miteinander vermischt: Persian Set für Kammerorchester und Hommage to Iran. Obwohl beide Kompositionen ihre Wurzeln in der persischen Kultur haben, sind sie ganz bewusst aus dem Blickwinkel eines amerikanischen Besuchers konzipiert, der eine beiden Gesellschaften verständliche Musiksprache anstrebt.

Hommage to Iran, als Duo veröffentlicht, war ursprünglich als Trio gedacht. In der Druckfassung dämpft der Pianist die Klaviersaiten mit den Fingern, um den Klang einer Trommel zu imitieren. In der 1963 mit Cowells Zustimmung entstandenen Einspielung wurden der erste und dritte Satz sowie Teile des vierten von einem Geiger und einem Schlagzeuger gespielt, wobei als Trommel ein arabisches oder türkisches Dombak verwendet wurde: Gemeint war jedoch das persische Zarb, eine becherförmige Trommel aus Holz, die auch als Tombak bekannt ist. Nachdem ich das Stück bereits in der veröffentlichten Version aufgeführt hatte, studierte ich das Zarb, um Cowells Originalfassung so nahe wie möglich zu kommen. Ahnlich wie Set of Five enthält auch Hommage to Iran einen Cowellschen „Hummelflug“.

Das reiche künstlerische Erbe, das Cowell bei seinem Tod neben einer Vielzahl großartiger Werke hinterließ und das in den Arbeiten namhafter Schüler wie John Cage oder Lou Harrison eine würdige Fortsetzung fand, besteht nicht zuletzt in den von ihm ausgehenden Impulsen für die Bereitschaft eines breiten Publikums, sich für außerwestliche Musik zu begeistern. Cowells unermüdlicher Einsatz für den kompositorischen Nachwuchs seines Landes sorgte für ein Klima des Individualismus, das jene grenzenlosen Energien freisetzte, die die Vereinigten Staaten zu einem Weltzentrum der Komposition machten.

Quelle: Joel Sachs (Deutsche Fassung: Bernd Delfs), im Booklet


TRACKLIST

Henry Cowell (l897-l965):

A Continuum Portrait - 2


Homage to Iran 14:50
01 Andante rubato 6:43
02 Interlude: Presto 1:09
03 Andante rubato 3:18
04 Con spirito 3:41
Mark Steinberg, Yiolin; Joel Sachs, Persian Drum; Cheryl Seltzer, Piano

05 Piece for Piano with Strings 3:34
06 Vestiges 2:31
07 Euphoria 0:59
08 What's This 0:35
09 Elegie 5:16
10 The Banshee 2:05
Cheryl Seltzer, Piano

Two Songs (Poems of Catherine Riegger) 4:23
11 Sunset 1:52
12 Rest 2:31
Raymond Murcell, Baritone; Cheryl Seltzer, Piano

Six Casual Developments 7:43
13 Rubato 0:51
14 Andante 1:11
15 Andante 1:57
16 Allegro 0:53
17 Adagio cantabile 1:44
18 Allegretto con moto 1:09
David Krakauer, Clarinet; Joel Sachs, Piano

Set of Five 16:32
19 Largo sostenuto 3:21
20 Allegro 2:10
21 Andante 4:09
22 Presto leggiero 2:20
23 Vigoroso 4:31
Marilyn Dubow, Violin; Gordon Gottlieb, Percussion; Joel Sachs, Piano

Playing time: 59:44

Continuum (Cheryl Seltzer and Joel Sachs, Directors)
www.continuum-ensemble-ny.org

Tracks 5-12 and 19-23 recorded 1984 at the Great Hall at Copper Union, New York City.
Tracks 1-4 and 13-18 recorded 1992 at the American Academy and Institute of Arts and Letters
Producers: Cheryl Seltzer and Joel Sachs
Engineer and Editor: Dr. Frederick J.Bashour
Cover Photo: Henry Cowell playing The Banshee c. 1926
(C) 2006


Hugo Friedrich:

Petrarcas Laura

Laura und Petrarca. Ausschnitt aus einem Wandgemälde in der Casa di Petrarca,
Via Valleselle, 4, 35032 Arquà Petrarca (Padua).
Wer Laura war, können wir allein von Petrarca selber erfahren. Doch wir erfahren sehr wenig, wenn wir eine Auskunft über ihre reale Existenz erwarten. Nur eine einzige Stelle im Canzoniere gibt es, wo er ihren Namen offen ausspricht (Nr. 332, v. 50). Die übrigen Male ist der Name in Wortspiele verhüllt. Auch in der ganzen Masse seiner Prosabriefe kommt der Name lediglich einmal vor, und zwar in der latinisierten Form Laurea (Famil. II,9). Als er ihren Tod erfuhr, trug er ihn mit genauer Zeitangabe in seinen Vergil-Kodex ein, wie er dies auch bei anderen ihn persönlich angehenden Ereignissen tat. Der Eintrag vermerkt neben dem Todesdatum (6. April 1348) das Datum der ersten Begegnung (6. April 1327) und spricht von der Gewißheit, daß ihre Seele, „wie das auch Seneca von Scipio Africanus sagt“, in den Himmel zurückgekehrt ist, woher sie kam. Gleich danach finden sich die Worte, daß er, Petrarca, „mit bitterer Süße“ — amara quadam dulcedine— das alles niederschreibe. Dieses Leitmotiv seiner Liebesdichtung, verbunden mit der humanistischen Reminiszenz aus Seneca (genau aus dessen epist. 86,1) und mit den Daten, von deren Stilisierung wir gleich sprechen werden, deuten auf den Ort der eigentlichen Existenz Lauras, auf den geistigen.

Weitere Datierungen enthält der Canzoniere selber. Sie bezeichnen jeweils die seit jener Begegnung in Avignon verstrichenen Jahre bis zum Tod der Herrin, es sind einundzwanzig, und vom Tode an weitere zehn Jahre; eine letzte Datierung (Sonett Nr. 336) gibt noch einmal Jahr, Tag und Stunde des Todes an. Vage Anspielungen auf Laura sind in einigen lateinischen Dichtungen enthalten. Ausführlich mit ihr beschäftigt sich der dritte Teil des Secretum, jedoch in bezug auf die Liebe zu ihr und auf das Schuldgefühl dieser Liebe, an der im übrigen weiterzudichten Petrarca ja nicht abließ.

Das ist alles: Rufname, Ort und Zeitpunkt der Begegnung, Ort und Zeitpunkt des Todes, Daten der Liebesdauer. In den dreißiger Jahren schon sind dem Freund und Gönner Petrarcas, Giacomo di Colonna, Zweifel an der realen Existenz Lauras gekommen. Er nennt die Liebesdichtungen erfunden und die Seufzer Petrarcas geheuchelt (ficta carmina; simulata suspiria). Dies wenigstens entnimmt man dem Antwortbrief Petrarcas. Dessen Antwort selber ist pathetisch, ausweichend, nichtssagend. Meine Blässe und mein Leiden, so lesen wir, sind doch Beweise genug für meine Liebe, denn wie sollte man derartiges heucheln? (Famil. II,9). Man kann es heucheln, vor allem dann, wenn der Briefschreiber in Avignon wohnt und der Adressat in Rom.

„Le Rime di M. Francesco Petrarca“ aus der 
Kölner „Biblioteca Petrarchesca Reiner Speck“.
Die Blässe aber beweist, daß man seinen Horaz und seinen Ovid gut kennt: tinctus viola pallor amantium, dieser Vers aus Horaz (Carm. III,10) war dem Humanisten ebenso geläufig wie der andere aus Ovid: Palleat omnis amans (Ars am. I,729). Den ersteren wiederholt Petrarca nahezu wörtlich im Canzoniere (Nr. 224). Eine an den gleichen Giacomo di Colonna gerichtete metrische Epistel (Epist. I, 7), auch von der Blässe redend und vom Joch der Lauraliebe, von der Flucht vor ihr durch die Länder, durch die Meere, besagt genau so wenig wie jener Prosabrief, ist vermutlich keinem anderen Beweggrund zu verdanken als dem sprachkünstlerischen, der das im Prosabrief Gesagte in die Stilzone der Hexameter versetzt, wo antike Autoren noch reichlicher anklingen dürfen als dort. Der Name Laura — oder, wie im lateinischen Gewand zu erwarten wäre, Laurea — fehlt in der Epistel völlig, die Herrin heißt nur noch „Weib, durch meine Verse berühmt geworden, altadligen Geschlechts.“ […]

Trotzdem besteht kein zwingender Anlaß, Lauras Existenz zu leugnen. Allen Anlaß aber haben wir, die im Canzoniere gedichteten Situationen von realen Vorkommnissen zu trennen, und weiterhin, wie unten noch ausgeführt werden soll, zu bezweifeln, ob die Bedichtete auf den Namen Laura getauft war, obwohl das damalige Vorkommen dieses Namens in der Provence durchaus gesichert ist. Die Geschichte Lauras ist das, als was sie vor uns tritt: die innere Geschichte eines Liebenden. Wie diese, so hat auch sie ihre Wirklichkeit nur in der Dichtung selber. Aus einem Minimum an Tatsachen, die sich abgespielt haben können — die Begegnung, der Tod —, macht der Canzoniere ein Maximum an seelischen Ereignissen. Der Canzoniere hat genau den Rang, den Petrarca selber, im dritten Dialog des Secretum, der Erzählung Vergils von der Liebe Didos (Aeneis IV) zuschreibt: „Du weißt — so läßt er sich von Augustin sagen —, daß dies alles nur erdichtet ist, und doch achtete der Erdichter auf die Ordnung der Natur.“ Dies bedeutet: Dichtung muß in ihren Stoffen, die erfunden sein können, auf seelische Glaubwürdigkeit und Wahrheit bedacht sein. Der Canzoniere hat diese Wahrheit. Wir bedürfen zu seiner Auslegung nicht der Rekonstruktion einer Wirklichkeit, zu der uns ohnehin alle Materialien fehlen.

Francesco Petrarca im „Codex Pluteus“.
Siena, 1463, Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz.
Eher bedürfen wir der Erinnerung an das heitere antike Wissen, daß Dichter nicht wörtlich genommen werden sollen. Ovid hat es, wenn auch mit gespieltem Protest, in einigen Versen der Amores so ausgedrückt: „Es ist doch nicht üblich, die Dichter als Zeugen zu hören; lieber wünscht’ ich, es hätte mein Wort kein Gewicht“, und: „Ins Unendliche hebt sich des Dichters fruchtbare Willkür, bindet nie seinen Vers mit geschichtlicher Treue“. Man wird nicht ganz so weit gehen können, wie es Ovid zu tun scheint, aber in diese Richtung wird man gehen müssen, um die auch von Petrarca eingehaltene Distanz zwischen Leben und Dichtung zu erkennen. Laura mag die Liebesdichtung Petrarcas angeregt haben. Doch bildet die Dichtung alles neu, in einer inneren Welt, worin immer noch der Geist der provenzalischen Poesie und des dolce stil novo weht und das Erfundene höhere Würde hat als das Vorgefundene. Wir können auch heute nicht anders urteilen als Herder, der die biographische Neugier und Fabelei des Abbé de Sade zurückwies und schrieb: „Laura möge in Person oder zum leibhaftigen Petrarca gewesen sein, was sie wolle; dem geistigen Petrarca war sie eine Idee, an die er . . . allen Reichtum seiner Phantasie, seines Herzens, seiner Erfahrungen, endlich auch alle Schönheiten der Provenzalen dergestalt verwandte, daß er sie in seiner Sprache zum höchsten, ewigen Bilde . . . zu machen strebte.“

Die dichterisch transformierte Laura ist eingesponnen in ein Netz von Zahlen. Auffallend dabei, daß Tag und Monat der Begegnung mit ihr die gleichen sind wie diejenigen ihres Todes: 6. April. Im dritten Gedicht des Canzoniere wird umschreibend gesagt, daß die Begegnung am Karfreitag stattgefunden habe; nach den Angaben eines anderen Sonettes (Nr. 211), sowie nach der Eintragung im Vergil-Kodex war es der Karfreitag des Jahres 1327. Doch fiel in jenem Jahr der Karfreitag auf den 10. April. Die Abänderung des Datums kann kaum anders als aus dem Bedürfnis nach Zahlensymbolik verstanden werden; sechs ist eine Sakralzahl: sechs Schöpfungstage, am sechsten ist der Mensch erschaffen; die patristische Theologie, mit der Petrarca vertraut war, fügte hinzu, daß am sechsten Tag Adam gesündigt habe und an einem sechsten Tag der Erlöser von der Sünde, Christus, geboren worden sei. Die Übereinstimmung zwischen beiden Daten wird noch dadurch enger, daß Begegnung wie Tod „zur ersten Stunde“ erfolgt sein sollen, d. h. zu einer Stunde, die nach heutiger Zeitrechnung acht Uhr morgens wäre (Nr. 336). […]

Laura im „Codex Pluteus“.
Siena, 1463, Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz.
Petrarca hat die Herrin des Canzoniere mit einer Symbolik von solcher Folgerichtigkeit und Beharrlichkeit umgeben, daß man geradezu von einem Laura-System sprechen kann. Wie erwähnt, tritt ihr Name eindeutig nur in einem einzigen Vers des Canzoniere auf. In allen anderen Fällen gebraucht er das durch Artikelsetzung lautgleiche Wort l’aura oder lautähnliche Wörter wie lauro, l’auro, l’oro, aureo (Lorbeer, Gold, golden), einmal auch die Gruppe l’aura ora, die wegen der Vokalverschmelzung l’aurora gelesen werden kann. Auf diese Weise entsteht ein Geflecht von Beziehungen, das die verschiedensten Motive und Erscheinungen sowohl untereinander wie auch mit Laura verbindet. Jeder Vers dieser Art meint primär die einfache Bedeutung des jeweiligen Wortes, darüber hinaus aber den anklingenden Namen der Herrin und damit diese selbst.

Die wichtigste Verbindung in diesem System ist diejenige von Laura und lauro, Lorbeer. Letzterer ist das Attribut des Dichterruhms und des Gottes der Dichter, Apollon. Der immergrünende Baum, der, nach Plinius, als einziger unter allen Bäumen nicht vom Blitz getroffen wird, symbolisiert die Unsterblichkeit der Dichter. So kann Petrarca mit dem zu lauro umgebildeten Namen der Herrin auf sein eigenes, Unsterblichkeit erhoffendes Dichten verweisen, ja eine urbildliche Kausalität zwischen ihr und dem Dichten herstellen. Möglicherweise hat die wirkliche Laura gar nicht so geheißen; zu auffallend ist die Tauglichkeit des Namens zur symbolischen Verwendung, als daß man nur an einen Zufall glauben dürfte. Es scheint, daß Petrarca diesen Namen gewählt hat, um mit ihm eine für ihn so wichtige Funktion der Herrin auszudrücken, die Erweckung zum Dichter. Wie sehr er die Gleichsetzung von Laura und Lorbeer wollte, geht zudem aus dem dritten Dialog des Secretum hervor. Aus dem Gesichtspunkt der Selbstkritik, nämlich mit tadelnden Worten des Gesprächspartners Augustin, bekennt er, daß er nicht nur der Schönheit Lauras, sondern ebenso ihrem Namen verfallen sei, so sehr, daß er jeglichem verfalle, was diesem Namen ähnlich klinge, dem Ruhm am meisten.

Doch die symbolische Namenbeziehung reicht weiter. Da der Lorbeer die heilige Pflanze des Apollon ist, wird der Gott mehrmals im Canzoniere genannt, unter Auswertung seiner verschiedenen mythischen Rollen. Als Gott der Musen rechtfertigt er Petrarcas Äußerungen über das Dichten. In der Nachantike sah man beharrlicher als in der griechischen Mythologie in ihm den Sonnengott, Phoibos Apollon.

Laura krönt den Poeten. Miniatur aus Petrarcas Canconiere,
15. Jahrhundert, Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz.
Daher leiten die Gedichte des Canzoniereüber zum Sprechen von der Sonne, von ihrem Aufgeben oder von ihrem Untergehen. Das Aufgeben, l’aurora, die Morgenröte, hat Klangähnlichkeit mit dem Namen Laura, so daß Aurora sowohl aus dieser wie aus Apollon legitimiert wird. Aber Aurora ist auch nach einigen — nicht allen — mythologischen Überlieferungen verwandtschaftlich mit Apollon verbunden: sie ist seine Tochter. Apollon hat die Nymphe Daphne geliebt, die, um ihm zu entgehen, in einen Lorbeerbaum verwandelt wird. So ist, wie in einem sich schließenden Ring, erneut eine Beziehung zum Lorbeer und zur klangähnlichen Laura hergestellt, damit zur Liebe selber, so daß Petrarca die Lauraliebe in Reminiszenzen aus dem Daphnemythos einkleiden kann. In einigen Texten, so z.B. im Sonett Nr. 41, ist Laura völlig mit Daphne identifiziert. Mit ihr stimmt sie auch darin überein, daß sie, gleich dieser, das reine, der Liebe abgeneigte Geschöpf ist. Mit mehrfachem Anklang an die Daphnedarstellung bei Ovid wird ihre Schönheit beschrieben, und wie Daphne ist sie die Fliehende, in der charakteristischen Gebärde des nach rückwärts gewendeten Kopfes und mit den wehenden Haaren.

Zu diesen Vcrstrebungen treten noch folgende hinzu. Das klangähnliche l’auro, l’oro, erscheint im Goldhaar der Herrin. Das aus oro abgeleitete dorare (vergolden) wird von ihrem Antlitz, aber auch von den Pfeilen Amors gesagt. Die Sonne (Phoibos Apollon) wiederum dient zur Metapher für die Augen der Herrin. Aus dem Lorbeer ergibt sich weiterhin die Bildgruppe: Baum, Wurzel, Rinde, Blätter, dazu die Farbe grün, überwiegend auf Landschaften bezogen und nur in wenigen Fällen metaphoriseh gemeint. Zur Landschaft führt aber auch das Laub des Lorbeers und zugleich das Haar der Herrin. Denn gemäß einer schon antiken Gepflogenheit kann Haar metaphorisch für Laub verwendet werden. Dies ist auch bei Petrarca so, weshalb das entsprechende Wort chioma zum einen zwischen Laura und lauro vermittelt, zum andern von belaubten Bäumen zu sprechen gestattet. Landschaftlich auswertbar ist ferner l’aura soave, eine seit den Provenzalen übliche Metonymie für den Frühling, so daß Laura auch zum Symbolnamen des Frühlings als der Zeit des Liebens wird. Schließlich deutet der Komplex „Dichten“ ebenfalls in landschaftliche Elemente, nämlich vermittels des Wortes fiore, das als rhetorischer Terminus Schmuck des Ausdrucks, eine Figur der Redekunst bedeutet und mühelos zu Versen über blumenreiche Wiesen hinlenkt.

Gespräch im Garten
Die Technik, mittels derer Petrarca solche Verstrebungen erreicht, ist die Paronomasie — Verwendung klangähnlicher, jedoch in Ursprung und Bedeutung verschiedener Wörter — und die Wahrnehmung weiterer Assoziationen, die sich aus den paronomastischen Wörtern gewinnen lassen. Diese rein sprachliche Technik weist erneut auf die sprachliche, und das heißt: geistige Heimat dieser Liebesdichtung. Sowohl in seiner Technik wie auch in ihrer Spezialisierung auf aura — lauro — auro hat Petrarca Vorgänger gehabt. Sie finden sich — sehr maßvoll — im Lateinischen, so bei Varro, bei Horaz, bei Servius und bei Isidor von Sevilla, aber auch im Provenzalischen, und hier bei Arnaut Daniel, dem Vorbild Petrarcas. Arnaut hat die meisten der bei Petrarca wiederkehrenden Wortspiele mit aura. Doch fällt sofort auch ein Unterschied auf. Während Arnaut Daniel in den paronomastischen Wörtern den nie nennbaren Namen der bedichteten Herrin versteckt und mit solchem Verstecken sein Ziel erreicht und erledigt hat, geht Petrarca weiter und erhebt die Paronomasien zu Symbolen für ein ganzes Feld von Beziehungen. Möglich bleibt, daß die aus den hochmittelalterlichen Poetiken bekannte Tradition eine Rolle gespielt hat, wonach in topischer Regelmäßigkeit die Beschreibungen weiblicher Schönheit von goldenen Haaren sprechen, vom goldenen Haarreif, von der Ähnlichkeit des Gesichtes mit Aurora. Doch auch hier gewinnt man mit der Ableitung aus einem Vorbild nicht viel. Niemand vor Petrarca ist so weit gegangen wie er, der zum bedeutungsreichen System erhob, was vor ihm ein Spiel war. Denn in seiner Lyrik hängt alles mit allem zusammen. Jedes Gedicht, das die genannten Worte enthält, hat mehrfache Bedeutungen, die symbolisieren, daß eine geheime Einheit Laura, Liebe, Dichten, Landschaft miteinander verbindet. In jeder einzelnen der paronomastischen und assoziativen Ableitungen aus dem Namen Laura sind gleichzeitig alle anderen Ableitungen und damit alle anderen Beziehungen mitgedacht.

Laura. Italienische Schule, 16. Jahrhundert.
Habsburger Porträtgalerie, Schloss Ambras, Innsbruck
Wenn Petrarca zum ersten Male in der italienischen Lyrik in so großem Maße die Landschaft zum Gegenstand seines Dichtens macht, so mag daran gewiß ein Wille zur Annäherung an die Welt der Erscheinungen beteiligt sein, in Verbindung mit einigen absichtsvollen Nachbildungen von Versen aus den Eklogen Vergils und aus dem irdischen Paradies der Divina Commedia. Indessen scheint er sich das Recht dazu aus dem Entschluß gegeben zu haben, die sinnenhafte Welt abzuleiten aus einer Welt vielstrahliger geistiger Beziehungen. Denn nicht zu übersehen ist, daß er die landschaftlichen Bestandteile innerhalb des Wortkreises hält, den er paronomastisch aus dem Namen Laura und assoziativ aus dem um diesen Namen liegenden Bedeutungsfeld gewinnt. Da die paronomastisch und assoziativ gewonnenen Wörter auf Laura zurückverweisen, enthalten sie Symbole. Symbole aber, seien es mythische wie Lorbeer, Apollon, Daphne, oder rein erscheinungshafte wie Gold, Sonne, Blüten, gelten hier höher als das Wirkliche, weil sie geistigen Ranges sind. Jene Aussage des Secretum, die wir oben erwähnt haben, ist eine vollkommen richtige Selbstauslegung Petrarcas: er liebt einen Namen, ein Wort. Indessen geht diese Wortliebe nicht auf Kosten der seelischen Wahrheit; die Poesie des Canzoniere ist eine solche der Liebe. Allerdings fällt letztere mit der Wortliebe zusammen. Wortliebe, die zu einer vielsagenden Symbolik führt, erteilt der Lauraliebe die spirituale Vollkommenheit, ohne daß die menschliche Seelenwahrheit geopfert werden müßte, denn sie kann ja eingefügt werden in das spirituale System.

Die in der Lyrik Petrarcas hin und her gehenden Wege zwischen Worten und Sachen sind keine natürlichen, vielmehr solche, die durch das Wort und den Mythos gebahnt werden. Wiederum sind sie nicht willkürliche Wege oder bloße Spielereien, denn sie gehorchen dem Gedanken, daß ein Wort das Wesen der Sache ausdrücke und die Wortähnlichkeit eine Gewähr für die Sachverwandtschaft biete. Das ist antik-mittelalterliches Erbe. Im Canzoniere vermählt sich die humanistische Sensibilität für die Schönheit der Sprache mit dem mittelalterlichen, auch bei Dante noch lebendigen Prinzip, ein Wort und eine Sache um so höher zu stellen, je reicher ihre Beziehungen und Analogien sind. Daher die Fülle im Namen der Laura: er ist verbunden mit Lorbeer, Ruhm, Apollon; daher die Vergeistigung der Landschaft: sie ist sinnenhaft, hell, bewegt und kommt mit ihren Blüten, ihrem Laub, ihrem Gold doch her aus den Unsichtbarkeiten, die in jenem Namen geborgen sind; daher die Rechtfertigung dieser Liebe: sie ist die Analogie zu Apollons Liebe für Daphne und ist der Ursprung eines Dichtens, das mythologisch in Beziehung zu Apollon steht.

Anselm Feuerbach (1829-1880): Laura in der Kirche, 1865.
Neue Pinakothek, München
Dies ganze System ist kompliziert. Es ist an die Stelle jener komplizierten Amortheorien getreten, die einst dem dolce stil novo zugrunde lagen, und die Petrarca aufgegeben hatte. Aber es ist nicht so dichtungsfremd, wie der moderne Leser vermuten könnte. Es ist erdacht, jedoch von einem Denken, das nicht Widersacher der Poesie ist. Dank seiner Symbole bringt es in die Dichtung einen Bedeutungszuwachs, der in unsymbolischer Aussage nicht zu gewinnen gewesen wäre. In allen Erscheinungen, die durch den Canzoniere gehen, menschlichen oder landschaftlichen, fällt das Sichtbare mit dem Zeichenhaften zusammen. Daher entsteht diejenige Sinnen- wie Sinnfülle, die nie der Allegorie, sondern allein dem Symbol glückt. Der Symbolismus Petrarcas erlaubt, die Verse mit leisen Anspielungen zu versehen und — um Worte A. W. Schlegels zu gebrauchen — den „Reiz des Doppelsinnes“ zu erzeugen, der bestätigt, daß „die zartesten Mysterien wirklicher sind als alle äußere Wirklichkeit.“ Zuweilen kann dieser Symbolismus wohl zur Allegorie erstarren, so im Sonett Nr. 228: Laura ist, als Lorbeerbaum, von Amor dem Liebenden ins Herz gepflanzt; mit dem „Pflügen“ seiner Feder, mit dem Windhauch seines Seufzens und mit benetzenden Tränen brachte er ihn zum Blühen . . . Oder es kommen manieristische Häufungen vor wie zum Beginn des Sonetts Nr. 246: L’aura, che'l verde lauro e l’aureo crine / Soavemente sospirando move . . . („Die Luft, den grünen Lorbeer und das Goldhaar / In sanftem Seufzen regend . . .“). Derartiges verliert sich indessen gegenüber dem sonstigen Maßgefühl Petrarcas, das Aufdringlichkeiten des symbolischen Systems vermeidet und die Symbolglieder in der Nähe des Natürlichen zu halten versteht. Erst in der Marienkanzone (Nr. 366), die der irdischen Schönheit abschwört, hört die wie eine zweite Sprache durch den Canzoniere gehende Laurasymbolik auf.

Quelle: Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main, 1964. Zitiert wurde aus Kapitel IV: Francesco Petrarca, Seiten 192-201 (gekürzt)


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Hanns Eisler: Lieder (Dietrich Fischer-Dieskau, Aribert Reimann, 1987)

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Hanns Eislers „Hollywooder Liederbuch“ ist der vielleicht bedeutendste Liedzyklus des 20. Jahrhunderts in deutscher Sprache. Autorisiert sind Zusammenstellung und Reihenfolge der 47 Lieder von Eisler freilich nicht. Auf 38 Autographen findet sich der Titel (zuweilen auch zu „Hollywooder Liederbüchlein“ verkleinert), neun weitere Partituren lassen sich der Sammlung chronologisch und inhaltlich zuordnen. Eisler komponierte die Lieder in Hollywood seit dem Frühjahr 1942 neben groß besetzten Filmmusikpartituren und griff dabei auf Texte von Brecht, Hölderlin u. a. zurück: »Für mich ist es hier eine Hölle der Dummheit, der Korruption (einer wahrlich unbeschreibbaren!) und der Langeweile. Das einzig gute ist mein neues Liederbüchlein …«. Später, in Ost-Berlin, löste Eisler das Liederbuch quasi auf und verteilte die Lieder auf verschiedene Bände seiner Werkausgabe „Lieder und Kantaten“. Erst 1976, etliche Jahre nach dem Tod des Komponisten, wurde das „Hollywooder Liederbuch“ in der Gesamtausgabe „Eisler – Gesammelte Werke“ (EGW) zusammen veröffentlicht. Die erste vollständige Aufführung erfolgte dann 1982 in Leipzig.

Kein anderer Liedsänger hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts derart stilbildend gewirkt wie Dietrich Fischer-Dieskau. Mit seinen psychologisierenden Ausdeutungen, die oft in geradezu manieristischer Weise einzelne Wörter bedeutungsvoll artikulieren, vermochte er ein großes Publikum in seinen Bann zu ziehen und viele Kollegen zur Nachahmung zu animieren.

Als er sich in den 1980er Jahren dem Schaffen Hanns Eislers zuwandte, schien der Widerspruch zur Ästhetik des Komponisten, der sich über solch einfühlendes Singen stets mokiert und für seine Lieder eine ganz andere Darstellungsweise verlangt hatte, unvermeidlich. Wenn man nun die Aufnahmen Fischer-Dieskaus von Exil-Liedern Eislers hört, stellt man mit einigem Erstaunen fest, daß der Sänger sich dafür einen ganz besonderen Interpretationsstil zurecht gelegt hat, der von seinem eigenen einfühlenden Singen ebenso weit entfernt ist wie von Eislerscher „Freundlichkeit“. Zwar gibt es auch hier einige Lieder, die Fischer-Dieskau auf seine bekannte Weise interpretiert, etwa wenn er im Hölderlin-Fragment «An die Hoffnung» das Wort „kalt“ mit schneidender Schärfe artikuliert, bei „stille“ still wird und das „schaudernde Herz“ mit bebender Stimme veranschaulicht.

Doch das ist hier die Ausnahme. Die meisten Lieder geht Fischer-Dieskau in einer Art Bänkelsänger-Manier an: er verschleift die Tonhöhen mit Portamenti, nimmt es mit den Zieltönen der vokalen Aufschwünge nicht immer genau, und verfällt gelegentlich in einen ungepflegten Sprechgesang. Erstaunlicherweise appliziert er diese Vortragsweise nicht nur jenen Brecht-Liedern wie etwa den Fünf Hollywood-Elegien, die ihres satirischen Gehaltes wegen dafür sich anzubieten scheinen. Nein, auch das zweite und dritte der Hölderlin-Fragmente geht Fischer-Dieskau in solch hemdsärmeliger Weise an und vergröbert diese subtilen Gebilde in beinahe schon grotesker Weise.

Quellen: Breitkopf und Härtel bzw. Christoph Keller

Der Komponist Hanns Eisler bei der Arbeit,
fotografiert von Gerda Goedhardt, 1944

TRACKLIST

Hanns Eisler (1898-1962)

Lieder

01. Spruch 1939 [01:22]
02. In die Städte kam ich [02:16]
03. An die Überlebenden [01:50]
04. Über die Dauer des Exils [01:26]
05. Zufluchtsstätte [00:58]
06. Elegie 1939 [02:37]
07. An den Schlaf [01:25]
08. An den kleinen Radioapparat [01:05]
09. In den Weiden [00:52]
10. Frühling [01:11]
11. Auf der Flucht [01:13]
12. Über den Selbstmord [01:42]
13. Gedenktafel für 4000 Soldaten, die im Krieg
gegen Norwegen versenkt wurden [00:40]
14. Spruch [01:10]
15. Hotelzimmer 1942 [01:55]
16. Die Maske des Bösen [01:02]
17. Despite These Miseries [01:54]
18. The Only Thing [01:50]
19. Die letzte Elegie [01:21]
20. Unter den grünen Pfefferbäumen [00:52]
21. Die Stadt ist nach den Engeln genannt [01:33]
22. Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen [00:54]
23. Diese Stadt hat mich belehrt [01:06]
24. In den Hügeln wird Gold gefunden [00:48]
25. In der Frühe [01:46]
26. Erinnerung an Eichendorff und Schumann [00:52]
27. An die Hoffnung [01:10]
28. Andenken [02:01]
29. Elegie 1943 [01:48]
30. Die Landschaft des Exils [01:30]
31. Verfehlte Liebe [01:09]
32. Monolog des Horatio [01:17]

Total 44:50
Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton
Aribert Reimann, Piano

Recorded at Sender Freies Berlin, Kleiner Sendesaal, in December 1987
Recording producers: Ursula Klein, Wolfgang Mohr
Recording engineer: Harry Tressel
(C) 2002


Edmund Wilson:


Paul Valéry


Paul Valéry (1871-1945)
Im Alter von 22 Jahren traf Valéry das erste Mal mit Mallarmé zusammen; das war 1892; er wurde danach einer der treusten und ernsthaftesten Anhänger Mallarmés. Valéry schrieb damals wenig, und er versammelte seine Verse nicht einmal zu einem Buch; doch die Symbolisten der damaligen jüngeren Generation scheinen seine Überlegenheit von Anfang an akzeptiert zu haben. Wir sehen heute in diesen Gedichten vor allem das Keusch-Himmlische, die Blau-und-weiß-Stimmung solcher Mallarmé-Gedichte wie »Erscheinung« in, wie uns scheint, verdünnter und verwässerter Form. Wie sein Meister wird Valéry »verfolgt« vom »Azur«; aber jener Azur ist weniger der reine, blaue Raum, sondern eher eine verdünnte obere Luftschicht. Aber manchmal ist in diesen frühen Gedichten schon der späte Valéry zu erkennen: sein typisches Interesse an der vom Material unabhängigen Methode führt ihn dazu, zwei Versionen eines Sonetts zu veröffentlichen; und in dem vielleicht bemerkenswertesten frühen Gedicht, dem unvollendeten »Profusion du Soir«, wird der Sonnenuntergang, den der Dichter schaut, durch eine Valéry eigene Technik seinem Bewußtsein assimiliert, bis er oft nur noch ein Bildgefüge für einen Komplex von Gefühlen und Gedanken zu sein scheint.

Valéry hat uns eine seltsame Beschreibung seiner damaligen Haltung Mallarmé gegenüber hinterlassen:

»Als ich Mallarmé persönlich kennenlernte, bedeutete mir die Literatur fast nichts mehr. Lesen und Schreiben waren mir zur Last, und ich muß gestehen, daß etwas von dieser Unlust geblieben ist. Die Erkenntnis meines Ich um ihrer selbst willen, die leidenschaftliche Aufhellung dieser Erkenntnis, der Wunsch, mein Dasein klar und scharf zu sehen, beschäftigten mich unablässig. Dieses verborgene Leiden entfernt von der Literatur, obwohl sein Ursprung in ihr zu suchen ist.

Mallarmé jedoch stellte in meinem inneren System die Verkörperung der bewußten Kunst und den höchsten Grad des edelsten literarischen Ehrgeizes dar. Sein Geist war dem meinen ständig nah, und ich hoffte, daß bei allem Altersunterschied und ungeheuren Abstand unserer Leistungen doch der Tag kommen würde, an dem ich ihm ohne Scheu meine eigensten Probleme und Ansichten darlegen könnte. Nicht etwa, daß er mich einschüchterte, denn niemand war sanfter noch von reizenderer Einfachheit als er; aber damals meinte ich, literarische Arbeit sei kaum vereinbar mit dem Streben nach Strenge und vollkommener Wahrhaftigkeit des Denkens. Eine äußerst heikle Frage. Durfte ich sie Mallarmé vorlegen? Ich liebte ihn und stellte ihn höher als alle; aber ich hatte aufgehört, das anzubeten, was er sein Leben lang angebetet, dem er es ganz geweiht hatte, und ich fand nicht den Mut, ihn das wissen zu lassen.

Doch schien mir, ich könnte ihm nicht aufrichtiger huldigen, als indem ich ihm meine Gedanken anvertraute und ihm darlegte, wie sehr seine Forschungen und die so feinen, so genauen Analysen, von denen sie ausgehen, in meinen Augen das Problem der Literatur verändert und mich dazu gebracht hatten, das Spiel aufzugeben. Es zielten nämlich die Bestrebungen Mallarmés, in genauem Gegensatz zu den Lehren und den Bemühungen seiner Zeitgenossen, dahin, den gesamten Bereich der Literatur einer abstrakten Ordnung der Formen zu unterwerfen. Höchst erstaunlich ist es, daß er durch das vertiefte Studium seiner Kunst, ohne wissenschaftliche Kenntnisse, zu Begriffen so abstrakter Art, so nah verwandt den höchsten Spekulationen bestimmter Wissenschaften, gelangte. Er sprach übrigens von seinen Ideen nie anders als in Gleichnissen. Es war eigentümlich, wie sehr eine lehrhafte Darstellung ihm widerstrebte. Sein Beruf, den er verabscheute, mochte zu dieser Abneigung beitragen. Versuchte ich, mir über sein Streben klar zu werden, so erlaubte ich mir freilich, es im stillen auf meine Art zu benennen. Die Literatur im allgemeinen schien mir der Arithmetik vergleichbar, d. h. der Lösung von Einzelaufgaben, aus denen sich der Lehrsatz nur schwer entnehmen läßt; die Literatur, wie er sie sich dachte, schien mir der Algebra zu entsprechen, denn sie setzte den Willen voraus, die Sprachformen selbst sichtbar darzustellen, sie durch den Gedanken hindurchscheinen, sie rein um ihrer selbst willen sich entfalten zu lassen.

Aber von dem Augenblick an, da jemand eine Methode gefunden und erfaßt hat, ist es zwecklos, sich mit ihrer Anwendung abzugeben — sagte ich mir.

Der Tag, auf den ich hoffte, kam nie.«

Mallarmé starb 1898. Valéry aber hatte bereits eine Krise durchlebt, die dazu führte, daß er es aufgab, Gedichte zu schreiben. Wie wir von Valéry Larbaud wissen, war diese moralische und intellektuelle Krise durch eine unglückliche Liebesaffäre heraufbeschworen worden. In schlaflosen Nächten kämpfte Valéry mit seinen Gefühlen: »Der Wille, auf sich selbst zurückgeworfen‚ schulte sich zum Sprung, die Idole zu zerbrechen und, um welchen Preis auch immer, sich von diesen Täuschungen zu befreien: der Literatur und der Empfindung. Zum Wendepunkt, zum teuren Sieg kam es in einer stürmischen Nacht, in einem jener Stürme an der Ligurischen Küste (Valéry befand sich in Genua), die nur von wenig Regen begleitet werden; doch dafür sind die Blitze so häufig und hell, daß man sie für das Tageslicht hält. Seit jener Nacht galt nichts mehr von dem, was bis dahin das Leben des jungen Mannes ausgemacht hatte. Er verließ Montpellier, wo er die Universität besucht hatte, und ging nach Paris, wo er sich, wenn er wollte, in Einsamkeit verschließen konnte, um sich jener Durchdringung seiner selbst zu ergeben, der allein er sich seitdem gewidmet hat.«

Paul Valéry: Die junge Parze.
Ins Deutsche übertragen von Paul Celan.
Wiesbaden, Insel Verlag, 1960.
In den folgenden zwanzig Jahren arbeitet Valéry im Kriegsministerium und in der Nachrichtenagentur Havas; er schreibt keine Gedichte mehr. Es interessieren ihn nur noch »die Erkenntnis des eigenen Ich um ihrer selbst willen, die leidenschaftliche Aufhellung dieser Erkenntnis und der Wunsch, sein Dasein klar und scharf zu sehen«. In dieser Zeit schreibt er seine Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci und erfindet seine mythologische Figur M. Teste. Leonardo und M. Teste (Herr Kopf, eine Parallelschöpfung zu Rabelais’ »Messer Gaster«, Herr Bauch) sind für Valéry Symbole des reinen Intellekts, des sich selbst zugewandten menschlichen Bewußtseins. Leonardos Geist als solcher ist unermeßlich größer als irgendeine seiner Manifestationen in bestimmten Tätigkeitsbereichen, im Malen, im Schreiben, in der Technik oder der Kriegskunst. Das Handeln lähmt und beraubt den Geist. Denn als solcher kann der Geist sich mit einer unendlichen Anzahl von Möglichkeiten beschäftigen — er wird nicht durch fachliche Grenzen eingeschränkt. Der Geist an sich ist allmächtig. Und konsequenterweise ist die Methode, die Theorie, wie etwas zu tun sei, interessanter als die Ausführung. Denn die Methode findet viel größere Anwendungsmöglichkeiten — sie kann universal angewandt werden. Wenn nämlich ein Prinzip tatsächlich »erkannt und begriffen worden ist, so ist es ganz nutzlos, die Zeit mit seiner Anwendung zu verschwenden«.

Und anders als Leonardo haßt Monsieur Teste es, seine Methode auf irgendeine Weise praktisch zu verwenden. Seine ganze Existenz ist der Überprüfung seiner eigenen geistigen Prozesse gewidmet. Er ist das Symbol des menschlichen Bewußtseins, das sich isoliert hat von »allen Meinungen und geistigen Gewohnheiten, die dem gewöhnlichen Leben und dem Verkehr mit anderen Menschen entspringen‚« und das erlöst ist von »allen Empfindungen und Ideen, die durch sein Unglück und seine Furcht, seine Ängste und Hoffnungen, nicht aber frei durch reine Welt- und Ichbetrachtung im Menschen erzeugt oder erregt werden«. Herr Teste ist, wie sein Schöpfer zugibt, freilich ein Ungeheuer. Und obwohl er auf uns eine gewisse Faszination ausübt, lehnen wir ihn ab: er läßt uns schaudern. Wir fühlen mit Madame Teste, der bei Herrn Testes Verhalten unbehaglich zumute wird, bei seiner Art, einen Raum zu betreten, so, als sähe er ihn gar nicht, oder wenn er sie mit »Wesen« oder »Ding« anredet. Doch obgleich sie ihn auch fürchtet und zugleich ihn nicht versteht, hat sie doch nie aufgehört, ihn zu verehren; sie beneidet die andern Frauen, die gewöhnliche Männer geheiratet haben, keinesfalls. Und wenn er von seinen Meditationen erwacht, greift er manchmal unvermittelt wie mit Erleichterung, Appetit und Erstaunen nach ihr. Monsieur und Madame Teste sind einander schließlich unentbehrlich.

1900 heiratet Valéry eine Dame aus dem Mallarmé-Kreis. Und nach Ablauf der zwanzig Jahre beginnt er wieder zu schreiben. André Gide überredet ihn endlich dazu, der Sammlung und Veröffentlichung seiner frühen Gedichte zuzustimmen; dabei kommt Valery der Gedanke, der Sammlung ein neues Gedicht von etwa 25 bis 50 Versen hinzuzufügen — das letzte Gedicht, das er vielleicht je schreiben würde. Zuvor jedoch, in der Zeit seiner Zurückgezogenheit, hatte er sich mit Psychologie, Physiologie und Mathematik befaßt; es sind vor allem methodische Fragen, die ihn beschäftigen. »Zwanzig Jahre ohne Gedichte zu schreiben, sogar ohne den Versuch dazu; und fast sogar ohne welche zu lesen! Dann stellen sich wieder diese Probleme; und man entdeckt, daß man sein Metier nicht beherrscht hatte, daß die kleinen Gedichte, die man vor so langer Zeit geschrieben hatte, den Schwierigkeien ausgewichen waren, daß sie unterdrückt hatten, was sie nicht auszudrücken wußten, daß sie sich einer infantilen Sprache bedient hatten.« In seinem neuen Gedicht unterwirft er sich »Gesetzen, festen Bedingungen, die sein wahres Objekt ausmachen. Es ist wirklich eine Übung, als solche gedacht, durchgeführt und überarbeitet: ganz das Produkt einer absichtlichen Anstrengung, dann einer zweiten absichtlichen Anstrengung, deren schwierige Aufgabe darin besteht, die erste zu verschleiern. Wer mich zu lesen weiß, wird eine Autobiografie lesen: in der Form. Der Stoff ist von geringer Wichtigkeit.«

Und dieses Gedicht, das zunächst nur eine Seite füllen sollte, beschäftigt Valéry mehr als vier Jahre und beläuft sich schließlich auf fünfhundertundvierzig Zeilen. Im letzten Augenblick, als es gerade gedruckt werden soll (1917), findet Valéry dafür den Titel »Die junge Parze.« Aber trotz des Titels, trotz des heroisch-erhabenen Stils und der widerhallenden Alexandriner ist »Die junge Parze« kein konventionelles französisches Gedicht über ein Thema der griechischen Mythologie. Valéry spricht von der »ziemlich monströsen Paarung meines Systems, meiner Methoden und meiner musikalischen Ansprüche mit den klassischen Konventionen«. Und sicherlich verkörpert dieses geheimnisvolle Gedicht eine Gattung, die es in der Literatur bisher nie gegeben hat. Mallarmés Herodiade und sein Faun sind Vorläufer von Valérys junger Schicksalsgöttin: sie besitzen schon die gewisse Ambiguität und scheinen zeitweise weniger Figuren der Fantasie zu sein als vielmehr an metaphysischen Träumereien festgemachte Namen.

Jacques Emile Blanche: Paul Valéry, 1923.
Valéry aber hat die Subtilität der Konzeption, die Komplexität der Darstellung dieser typisch symbolistischen Form viel weiter vorangetrieben als Mallarmé. Ist »Die junge Parze« der Monolog einer jungen Schicksalsgöttin, die gerade von einer Schlange gebissen wurde? Ist es die Träumerei des Dichters, der eines frühen Morgens im Bett erwacht und mehr oder weniger wach den Tagesanbruch erwartet? Ist es die Reise des menschlichen Bewußtseins, das seine Grenzen überprüft und seine Horizonte erforscht: die Liebe, das einsame Denken, das Handeln, den Schlaf, den Tod? Ist es das Drama des Geistes, der von der Welt sich zurückziehen und über sie hinaus gelangen will, dabei aber unweigerlich ins Leben zurückgezogen und in die Prozesse der Natur verwickelt wird? Es ist alles das — und doch sind die verschiedenen Schichten, »die physische, die psychologische und die esoterische«‚ wie Francis de Miomandre sie nennt, nicht übereinander gelegt wie in einer konventionellen Allegorie oder einer Fabel. Sie sind miteinander verschmolzen und gehen immer ineinander über; und das macht die Dunkelheit des Gedichts aus. Die Dinge, die in der »Jungen Parze« und in Paul Valérys anderen mythologischen Monologen geschehen — im »Narziß«‚ in der »Pythia« und der »Schlange« jener an poetischer Aktivität so reichen Periode, die direkt auf »Die Junge Parze« folgt — diese Dinge sind einerseits nie ganz vorstellbar als Ereignisse, die tatsächlich geschehen; andrerseits aber sind sie auch nie allein auf die Gedanken im Kopf des Dichters zu reduzieren. Das Bild kommt nie voll zum Vorschein; die Idee ist nie ganz ausformuliert. Und trotz aller Herrlichkeiten des Klangs, der Farbe und der Suggestion, wie wir sie Strophe für Strophe in diesen Gedichten finden, scheinen sie mir doch unbefriedigend, weil sie nicht als Ganze zu erfassen sind.

Vergleichen wir aber Valéry mit Mallarmé, an den er in seinen Gedichten so oft erinnert, dann wird deutlich, daß Valéry über die größere Kraft und die stärkere Imagination verfügt. Mallarmé ist immer Maler, gewöhnlich ein Aquarellist — er schrieb Verse auf die Fächer der Damen, so wie er sie auch mit kleinen Figuren und Blumen hätte bemalen können. Er verfügt über Farbigkeit und Tiefe, aber es ist nur die Farbigkeit und Tiefe, die dem erreichbar ist, der flächig arbeitet; während Valérys Genius eher plastisch ist: seine mythologische Lyrik ist von der Dichte stark geballter Wolken — und wären sie nicht Wolken, wir müßten sie marmorn nennen. Er zeigt die Figuren und Gruppen halbplastisch, und er erzielt weniger Farb- als Lichtwirkungen: das Silberne, das Düstere, das Sonnige, das Durchscheinende, das Kristalline. Und mit der Emphase einer heroisch-nachklingenden Diktion, die an Alfred de Vigny erinnert, sind Valérys Verse erfüllt von dem fließenden Flimmern, den angedeuteten Ambiguitäten und den sehr fein erfaßten Zwischentönen, die er von Mallarmé gelernt hat. So wie Mallarmé Debussy Anregungen gab, wurde Valery, der Debussys Beliebtheit überlebte, in der »Jungen Parze« von Gluck inspiriert. Valéry ist auf eine Art das Maskulinum einer Kunst, deren Femininum Mallarmé ist. Jene Eigenschaften Mallarmés, die es ihm ermöglichten, eine Frauenzeitschrift herauszugeben und mit seiner typischen Nettigkeit über die Stile weiblicher Kleidung zu schreiben, werden bei Valéry durch einen kraftvolleren und kühneren Geist ergänzt, der eine natürliche Affinität zu dem des Architekten besitzt.

Rainer Maria Rilke und Paul Valéry in Anthy-sur-Léman (Haute-Savoie),
 15.09.1926. Im Hintergrund der Bildhauer Henri Vallette
Zudem verfügt Valéry, verglichen mit Mallarmé, über die größere Substanz. Trotz der Behauptung, daß ihn in seinen Arbeiten nur die Form, nur die Methode interessieren, hat Valérys Poesie eine gewisse dramatische Qualität. Vor allem beschäftigt ihn ein ganz besonderer Konflikt — der Konflikt zwischen dem Teil der menschlichen Existenz, der durch die Abstraktion eines Monsieur Teste dargestellt wird und jenem Teil, der eingetaucht ist in die Empfindungen der Alltagswelt und durch deren Ereignisse abgelenkt wird. Wenn man nur den »Monsieur Teste« lesen würde — obwohl Monsieur Teste recht humorvoll dargestellt wird — oder nur Valérys Prosa, könnte man Valéry für einen ausgesprochen trockenen und hartnäckig abstrakten Kopf halten. Und in der Tat spielt der Gesichtspunkt des Monsieur Teste in Valérys Gedichten eine auffällige Rolle, wie auch seine Prosa von ihm beherrscht wird: keiner seiner Figuren ist nämlich jemals ein Leben erlaubt, das unabhängig ist von der Welt des Intellekts, in der sie jederzeit als Abstraktion erscheinen kann; und mit Recht verdächtigen wir Valéry, daß er dem Menschen die Marmorsäulen und die hohen Palmen vorzieht, die er zu Helden von Gedichten macht, oder daß er sie zumindest befriedigender findet. Sogar in der Liebe neigt er dazu, die sinnliche Befriedigung hinauszuzögern und seine Geliebte in den Zustand zeitloser Erwartung zu versetzen, die für ihn rivalisierende Befriedigung bedeutet; in »Die Schritte« bittet er die Frau, sich nicht zu beeilen, denn er genießt das Warten auf sie genauso wie ihren Kuß; und die Schlange läßt er zu Eva sprechen, als diese gerade die Frucht des Baumes kosten will:

»Que si ta bouche fait un rêve,
Cette soif qui songe à la sève,
Ce délice à demi futur,
C'est l’éternité fondante, Eve!«

(Wenn dein Mund träumt,
jenen Durst, der auf Wein sinnt‚
jene Köstlichkeit der halben Zukunft,
das ist begründete Ewigkeit, Eva!)

So scheint er im Grunde schlafende oder ermüdete Frauen am meisten zu lieben, weil er sie sich dann, wie in »Die Schläferin«‚ als Formen reiner Abstraktion vorstellen kann, aus denen die Person entflohen ist; oder er kann, wie in »La Fausse Morte«, darüber nachdenken, daß die Sättigung der Liebe eine Art Tod ist; wie in »Intérieur« schreibt er den Frauen eine immaterielle Anwesenheit zu, die sich vor das Auge des Geistes schiebt wie Glas vor die Sonnenstrahlen. Jedoch hat es vielleicht nie einen Dichter gegeben, der die Sinnenwelt mit mehr Geschmack genossen hat als Valéry, oder sie anschaulicher verkörpert hat. In der Nachahmung von Formen, Klängen, Licht- und Schatteneffekten, von pflanzlicher und fleischlicher Materie durch schöne Verse ist Valéry niemals übertroffen worden. Von der Sommerzikade sagt er:

Henri Cartier-Bresson: Paul Valèry, 1945
»L'insecte net gratte la sécheresse«
(Das reine Insekt schabt die Trockenheit.)

über einen Friedhof am Meer:

»Où tant de marbre est tremblant sur tant d’ombres«
(Wo soviel Marmor zittert über soviel Schatten.)

über den Teich des Narziß im abendlichen Wald:

»une tendre lueur d’heure ambigue existe«
(Es herrscht ein zarter Schimmer zweideutiger Stunde.)

und über das Wasser, das glatt wie ein Spiegel ist:

»Onde déserte, et digne
Sur son lustre, du lisse effacement d'un cygne«
(verlassene Welle, würdig,
daß auf ihrem Glanz ein Schwan sanft entschwinde.)

Über die rauhe See heißt es:

»Si l’âme intense souffle, et renfle furibonde
l’onde abrupte sur l’onde abbatue, et si l'onde
Au cap tonne‚ immolant un monstre de candeur,
Et vient des hautes mers vomir la profondeur
Sur ce roc«

(Wenn die starke Seele atmet, und die plötzliche Flut
auf der verlaufenen Flut wütend anschwillt, und die
Fluten am Felsen branden, opfernd ein Untier der Reinheit,
und es kommen hohe Seen, die die Tiefe auf den
Felsen speien)

Und seine menschlichen Figuren gleichen heroischen Statuen, die dennoch voller Schwingungen und zarter Verhüllungen sind. Die Schlange stellt vor uns eine Eva des Michelangelo:

Edmund Wilson (1895-1972), Literaturkritiker
»Calme‚ claire‚ de charmes lourde,
Je dominais furtivement,
L'oeil dans l’or ardent de la laine,
Ta nuque énigmatique et pleine
Des secrets de ton mouvement!«

(Ruhig, klar, von schwerem Zauber,
ich herrschte heimlich,
das Auge im feurigen Gold des Haares,
dein Nacken, rätselhaft und voll
von den Geheimnissen deiner Bewegung.)

Und später, wenn sie in Versuchung geführt wird:

»Le marbre aspire, l’or se cambre!
Ces blondes bases d’ombre et d’ambre
Tremblent au bord du mouvement!«

(Der Marmor atmet, das Gold wölbt sich,
die hellen Festen des Schattens und des Bemsteins
zittern am Rande der Bewegung!)

Und in einer bewundernswerten Zeile der »Schläferin« enthüllt er eine liegende Figur:

»Ta forme au ventre pur qu’un bras fluide drape.«
(Deine Form im reinen Wind, die ein fließender Arm verdeckt.)

So wechselt Valerys Poesie ständig zwischen der fühlbaren und sichtbaren Welt und einem Raum intellektueller Abstraktion. Und der Kontrast beider, der implizierte Konflikt zwischen den absoluten Gesetzen des Geistes und den einschränkenden Zufälligkeiten des Lebens — unmöglich von einander zu trennende Gegensätze — ist, wie ich meine, das eigentliche Thema seiner Gedichte. Man könnte denken, ein ziemlich undankbares Thema — jedenfalls eines, das von den Gefühlen romantischer Dichtung sehr weit entfernt ist. Doch dieser seltsame Antagonismus hat Valéry zu den einzigartigsten Gedichten inspiriert, die je geschrieben wurden, zu den unzweifelhaft großen Gedichten unserer Zeit.

Als Beispiel dafür, wie Valery dieses Thema mit all seinen Mitteln angeht, können wir sein bekanntestes und vielleicht gelungenstes Gedicht anführen, »Le Cimetière Marin;« es krönt Valérys Rückkehr zur Lyrik nach der langen Zeit des Schweigens. In diesem Gedicht bleibt der Dichter eines Mittags an einem Friedhof am Meer stehen: die Sonne scheint über ihm zu verharren; das Wasser sieht so eben aus wie ein Dach, auf dem die Boote die Tauben sind. In diesem Augenblick scheint die Außenwelt jenes Absolute darzustellen, dem Valéry sich immer wieder zuwendet und von dem er seit so vielen Jahren besessen ist. Doch er ruft aus: »Mittag ohne Bewegung ... Ich bin in dir die heimliche Veränderung ... der Makel deines großen Diamanten ...« Doch die Toten dort unten, sie sind in die Leere eingegangen, sie sind Teil der unbelebten Natur geworden. Und angenommen, er selbst, der lebendige Mensch habe als Lebender nur die Illusion von Bewegung, wie der Läufer oder der Pfeil in Zenos Paradoxon? »Nein, nein!« ermahnt er sich. »Zerbrich das Brüten, die Unbeweglichkeit, die auch dich fast geschluckt hat!« Der salzige Wind erhebt sich bereits, das stille Dach des Meeres zu zerbrechen und gegen die Felsen zu schleudern. Die Welt gerät wieder in Bewegung, und der Dichter muß ins Leben zurückkehren.

Wilson, Edmund: AXEL'S CASTLE.
NEW YORK: CHARLES SCRIBNER'S SONS,
1931, first edition
Es ist allerdings unmöglich, auch nur ein einziges Valéry-Gedicht in anderen Worten nachzuzeichnen: man ist dabei gezwungen, auf alles für Valéry Charakteristische zu verzichten. Beim Versuch, seine Bedeutung zu erklären, erklärt man zuviel. Im Grunde gibt es nämlich in einem Gedicht wie »Der Friedhof am Meer« gar keine echten Ideen, keine wirklichen allgemeinen Reflexionen: vollständiger als selbst Yeats in »Unter Schulkindern« stellt Valéry Gefühl und Idee als miteinander verschmolzen dar, und diese wiederum eingebettet in die Szene, aus der sie stammen. Ziel und Triumph des symbolistischen Dichters ist es, die Beständigkeit der Außenwelt auf ihr wechselndes Verständnis durch das Individuum reagieren zu lassen. Es ist in der Tat die Wirkung des Dichters, wenn nicht sein Ziel, uns an dem traditionellen Dualismus zweifeln zu lassen, der aus Außenwelt und Erkenntnis zwei verschiedene Dinge macht. In einem Gedicht wie »Der Friedhof am Meer« gibt es keine einfache zweite Bedeutung: es gibt die wunderbar getreue Nachahmung der sehr komplexen und sich ständig wandelnden Beziehung des menschlichen Bewußtseins zu den Dingen, deren es sich bewußt ist. Der Mittag ist die unbelebte Natur, aber auch das Absolute in der Vorstellung des Dichters; er ist auch sein zwanzig Jahre langes Nichthandeln — und auch bloß der Mittag, den es in einem Augenblick nicht mehr geben wird, weil er dann nicht mehr ruhig und nicht mehr Mittag ist. Und das Meer, das in den Augenblicken der Ruhe einen Teil des Diamanten der Natur bildet, als dessen einziger Makel — weil im Wechsel begriffen — sich der Dichter empfindet, ist auch ein Bild für das Schweigen des Dichters, eines Schweigens, das in dem Augenblick, als Wind aufkommt und die See peitscht, einer plötzlich hervorbrechenden Äußerung weichen wird, der Hervorbringung des Gedichts selbst. Welt und Dichter überschneiden sich ständig, durchdringen einander ständig, wie in einem romantischen Gedicht; aber anders als der Romantiker wird der Symbolist nicht einmal versuchen, die Beziehungen beider im Gleichgewicht zu halten. Die Konventionen der Bilderwelt des Gedichts wechseln so schnell und so natürlich, wie die Bilder die Vorstellung des Dichters durcheilen.

Edmund Wilson: Axels Schloß. Studien zur Literarischen Einbildungskraft 1870-1930. (Übersetzt von Wolfgang Max Faust und Bernd Samland). Ullstein, Frankfurt, 1980. (Ullstein-Buch Nr. 35050). ISBN 3-548-35050-X. Zitiert wurden die Seiten 53 bis 61.


Das moderne Klavierlied wohnt in der Kammermusikkammer:

Lili Boulanger: Clairières dans le ciel | Jean de la Bruyère: Vom Menschen ("Ereifern wir uns nicht..."), Mit grotesken Zeichnungen von 1565.

Joseph Marx (1882-1964): Lieder | Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit. Seit 50 Jahren ist der Mond für ›Gewißheit‹ kein gutes Beispiel mehr.

Der Dirigent als Liedkomponist (Bruno Walter) | Vorsicht, Satire - Angewandte Lyrik von Klopstock bis Blubo (Friedrich Torberg).

Charles Ives: Klavierlieder | Lucien Febvre: Zwischen dem Ungefähr und dem strengen Wissen liegt das Hören-Sagen.

Ferruccio Busoni: Klavierlieder | Leo Spitzer: Werbung als populäre Kunst.("From the sunkist groves of California - Fresh for you")



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Hanns Eisler / Arnold Schönberg: Quintette für Bläser

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Neben Alban Berg und Anton Webern gehörte Hanns Eisler zu den namhaftesten Schülern Arnold Schönbergs. Daß Alexander Zemlinsky ihn einmal als einzig selbständigen Kopf unter Schönbergs Zöglingen bezeichnete, mag daran liegen, daß sich Eisler von Beginn an den l'art pour l’art-Anschauungen des Schönbergkreises widersetzte. Der ideologische Streit zwischen Lehrer und Schüler war demnach vorprogrammiert. Schönberg prophezeite mit väterlicher Nachsicht, daß sich Eisler den Sozialismus schon abgewöhnen würde, wenn er zum ersten Mal in seinem Leben zwei anständige Mahlzeiten am Tag haben werde, drei gute Anzüge und etwas Taschengeld. Eisler hielt Schönberg für einen »Kleinbürger ganz entsetzlicher Art«. Die Auseinandersetzung beschränkte sich zunächst auf weltanschauliche Differenzen, bis die Beziehung zwischen beiden ab 1926 aufgrund von Mißverständnissen für lange Zeit einfror.

In musikalischer Hinsicht brachten Eisler und Schönberg einander große Hochachtung entgegen. Schon früh erkannte Schönberg das kompositorische Talent des jungen Eisler. Er unterrichtete ihn anfangs gratis, ließ ihn zeitweise sogar bei sich wohnen und äußerte sich immer wieder anerkennend über das Schaffen seines Schülers. Eisler wiederum fühlte sich Schönberg nicht nur in menschlicher Hinsicht dankbar verbunden, sondern schätzte und bewunderte dessen künstlerische Genialität. 1954 — zum 80. Geburtstag Schönbergs — würdigte er seinen Lehrer als einen der größten Komponisten nicht nur des 20. Jahrhunderts: »Seine Meisterschaft und Originalität sind erstaunlich … Seine Schwächen sind mir lieber als die Vorzüge mancher anderer … Verfall und Niedergang des Bürgertums — gewiß, aber welch eine Abendröte!« (Vortrag in der deutschen Akademie der Künste).

In techniseh-handwerklicher Hinsicht ist Schönbergs Einfluß auf Eisler groß. Beide verbindet das Prinzip des sogenannten »Lapidarstils«, wie der Leipziger Musikwissenschaftler Eberhardt Klemm schrieb, der darin besteht, keine Note zuviel zu schreiben, nur das konstruktiv absolut Notwendige musikalisch zu formulieren. In stilistischer Hinsicht allerdings deutet sieh Eislers Individualität schon früh an, etwa in seiner Neigung zu sarkastisch—humoristischen Wendungen, zu einer musikalischen Leichtigkeit und einer unverkrampften Musiksprache.

Ein Beispiel ist das Divertimento op. 4— ein frühes Bläserquintett von 1925. Eisler gelingt hier — entsprechend des Titels — jener leichte Ton, den er später mit dem Begriff »Freundlichkeit« umschrieb. Obwohl das Werk an den frei-atonalen Stil anknüpft, ist das Thema des ersten Satzes, der in erweiterter dreiteiliger Liedform (A B A) steht, fast zwölftönig. Im A-Teil wechselt das Thema von der Oboe zum Fagott, in der anschließenden Wiederholung vom Fagott zum Horn. Der B—Teil arbeitet mit knappen Kontrapunkten aus A und leitet in einem Kanon zur Reprise des A-Teils über. Einen ursprünglich geplanten Mittelsatz — ein kurzes Menuett mit Trio — hat Eisler verworfen. Der abschließende Variationssatz stellt ein sparsam begleitetes siebentaktiges Thema auf, das in sechs beinahe witzigen Variationen verarbeitet wird, wobei die Durchführungsart im Sinne der Vorform der Zwölftontechnik erfolgt. In der Coda erscheinen die vorangegangenen Variationen erneut in verknappter, komprimierter Form.

Hanns Eisler in Malibu, Kalifornien, 1947
Ein Ouintett op. 26 mit gleichter Besetzung wie Eislers Werk (für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott) schreibt Arnold Schönberg 1925/24. Es ist sein konservativster Versuch, strenge Zwölftontechnik mit klassischen Satzweisen und Formen zu versöhnen. Die vier Satze des etwa 40 Minuten langen Werkes folgen treu den klassischen Typen: Sonatenhauptsatz, Scherzo mit Trio, dreiteilige Liedform, Rondo. Die Grundform der Reihe mit ihren drei Spiegelungen bildet in den vier Sätzen das alleinige Material aller Themen. Die Reihe selbst ist mit zielbewußter List so erfunden, daß ihre Hälften sich wie Tonika und Dominante verhalten (es-g-a-h-cis-c = b-d-e-fis-gis-f). Beantwortungen werden damit in der oberen Ouinte möglich, von denen Schönberg mehrfach Gebrauch macht. Der so zustande kommende pseudo-tonale Charakter der Musik bildet einen paradoxen Gegensatz zur strengen zwölftönigen Konstruktion der Komposition, die eigentlich Konsonanz und Tonalitat ausschließt. Die Uraufführung des Ouintetts fand anläßlich des 50. Geburtstags von Schönberg am 15. September 1924 in Wien statt.

Inwieweit sich neue Kompositionsmethoden wie die Zwölftontechnik auch für den Film — also für »angewandte Musik« — eigneten, untersuchte Hanns Eisler während seiner Exiljahre in Amerika: zwischen Januar 1940 und Oktober 1942. Die 1909 gegründete Rockefeller-Stiftung, die zunächst nur naturwissenschaftliche Forschungen unterstützt hatte, weitete nun ihre Förderung auch auf kulturelle Projekte aus, u. a. auf Rundfunk und Film. Daher wurde Eisler an der New Yorker »New School of Social Research« ein Stipendium »experimentelle Studien der Musik in der Filmproduktion« zur Verfügung gestellt. Dies war nicht nur in künstlerischer Hinsicht wichtig für Eisler, sondern sicherte ihm zugleich seinen Lebensunterhalt für wenigstens zwei Jahre.

Die theoretische Auswertung der Forschungsergebnisse zwschen 1942 und 1944 wurde in dem Buch »Komposition für den Film« (1947, Oxford University Press) zusammengefaßt. Für seine Untersuchungen wählte Eisler u.a. kurze Dokumentarfilme aus, z.B. den Stummfilm »Regen« von Joris Ivens. Zu diesem Leinwandstück komponierte Eisler 194l ein zwölftöniges Bläserquintett: die Variationen »14 Arten den Regen zu beschreiben«, das der Komponist für sein bestes Kammermusikwerk hielt. Gleich zu Beginn des Werks zitiert er in einem Anagramm Schönbergs Initialen (A-eS-C-H) und widmet es drei Jahre später seinem Lehrer zum 70. Geburtstag. Schönberg gefiel das Stück, er wollte es zusammen mit dem Film in seiner Vorlesung an der Universität vorführen. Auch Brecht mochte es, da es für ihn »etwas von chinesischer Tuschzeichnung« habe. Eisler wollte mit dem Stück einerseits einen akustischen Eindruck vom Naturprozeß »Regen« vermitteln, ohne jedoch deskriptiv oder malerisch zu werden. Andererseits stand der Regen für Eisler — entsprechend seiner persönlichen Situation im Exil und der politischen Lage in Deutschland — auch als Symbol für Trauer. Musikalisch äußert sich das in einem agressiven und unsentimentalen Ton, wie man ihn auch aus Eislers Kampfmusik kennt.

Quelle: Antje Hinz, im Booklet

Porträt Arnold Schönberg von Karl Schrecker, um 1939

TRACKLIST


HANNS EISLER
(1898-1962)

[1] Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben op.70 12:56
Fourteen ways to describe the rain
(Variationen - variations)

Kammermusikvereinigung der Deutschen Staatsoper Berlin:
Wilfried Winkelmann, Flöte - flute
Hans Himmler, Klarinette - clarinet
Friedrich-Carl Erben, Violine I und Leitung - violin I and direction
Arnim Orlamünde, Viola
Wolfgang Bernhardt, Violoncello
Jutta Czapski, Klavier - piano

Divertimento op. 4 6:47
[2] 1. Andante con moto 2:10
[3] 2. Thema mit Variationen 4:35.


ARNOLD SCHÖNBERG
(1874-1951)

Quintett für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott op. 26 39:19
Quintet for Flute, Oboe, Clarinet, Horn and Bassoon

[4] l. Schwungvoll 11:29
[5] 2 Anmutig und heiter; scherzando 9:12
[6] 3. Etwas langsam (Poco Adagio) 9:23
[7] 4 Rondo 9:15

Danzi-Bläserquintett Berlin:
Werner Tast, Flöte - flute
Klaus Gerbeth Oboe
Manfred Rümpler, Klarinette - clarinet
Gerhard Meyer, Horn
Eckart Königstedt, Fagott - bassoon
Total: 59:13

Eisler [op. 70]:
Recording: Berlin, Christuskirche, 5. 10/1967
Recording Producer and Balance Engineer: Bernd Runge, Eberhard Richter
Recording Engineer: Jürgen Regler, Werner Ebel

Eisler [op. 4] / Schönberg:
Recording: Dresden, Lukaskirche, 12/1987 und 1/1988
Recording Producer: Eberhard Geiger
Balance Engineer: Eberhard Richter, Horst Kunze
Recording Engineer: Hans-Jürgen Seiferth.

(p) 1968/1990
(c) 1997


Navid Kermanis ungläubiges Staunenüber den SOHN

Christuskind. Perugia, um 1320. Nußbaumholz, Höhe 42,2 cm. Bode-Museum, Berlin.
Der Junge ist häßlich. Er ist noch viel häßlicher als auf diesem oder überhaupt jedem Photo, das ich im Internet aufgestöbert oder mit der guten Kamera, die ich mir geborgt, selbst aufgenommen habe. Von Bild zu Bild klickend, würde ich so weit gehen zu sagen, daß der Junge geradezu photogen ist – wenn ich mir sein wirkliches Aussehen vor Augen führe. Der Mund zum Beispiel, dieser offene Mund: hasenschartig der Unter-, hervorstehend der Oberkiefer, und mehr noch die Lippen: die untere kurz oder genaugenommen nicht kurz, sondern gestaucht, fett in die beiden Wölbungen sich dehnend, dazu eine Oberlippe wie ein Zelt, das von zwei Schnüren nach oben gezogen wird und sich seitlich bis über die Mundwinkel ausbreitet. Auf den Aufnahmen, weil sie immer nur einen Blickwinkel einfangen, ist bestenfalls zu ahnen, wie blöd der Junge mit seinen auseinanderklaffenden Lippen aussieht, wirklich blöd, also mehr als nur unschön, nämlich tumb, und zwar so eine fiese Tumbheit, die zugleich etwas Plumpes und Garstiges hat, etwas Verzogenes, Bengelhaftes, nur an sich Denkendes. Unangenehm, geradezu unappetitlich ist die Vorstellung eines Kusses, so gern und unbefangen man sonst von Kindern geküßt wird – aber von dem? Es gibt so Kinder, die sich mit fünf Jahren immer noch in der ungeputzten Pofalte kratzen, ungeniert, und einem die Scheiße noch entgegenstrecken. Bei diesem ist es nur Farbe, die abgeblättert ist, aber ausgerechnet an den drei Fingern, die er segnend hochhält, von der Nagelspitze bis übers zweite Gelenk. Im ersten Augenblick fürchtet man, er würde sie gleich in den Hals stecken, so gekrümmt sind die braunen Finger schon.

Und wie rund er ist, also nicht fett im Sinne von schwergewichtig, vielmehr gerundet, die Nase breiter als lang und die Haut wie aufgeblasene Ballons gewölbt. Weil die zurückgezogene Unterlippe das ballrunde Kinn in die Höhe hebt, wirken die Wangen noch kugeliger. Im ganzen besteht das Gesicht mithin aus drei, nein: vier, nein: fünf Bällen, weil das Doppelkinn und die Nasenspitze ebenfalls kugelrund sind, nur kann man das Kugelige eben nicht in seinem schon karikativen Volumen ermessen, wenn man den Jungen aus einem einzigen Blickwinkel, folglich nur zweidimensional sieht. Die beiden Brüste sind ebenfalls rund wie bei einer Frau, fällt mir auf, da ich die Photos des Jungen betrachte, und an den Ober- und Unterarmen kringelt sich das Fett, so daß weitere Kügelchen entstehen. Ein Wonneproppen, würde eine Mutter sagen, die ihren Sohn selbst dann für den Hübschesten hält, wenn er für jeden anderen, erst recht für einen Anders- oder Ungläubigen wie mich, ein Ausbund an Scheußlichkeit ist. Auch der katholische Freund, den ich bat, bei seinem nächsten Besuch in Berlin beim Bode-Museum vorbeizugehen, weil auf den Photos, die ich ihm geschickt hatte, die Blödheit nur zweidimensional ist, selbst der Freund räumt am Telefon ein, daß er mit dem Jungen Schönheit, Anmut, Liebreiz am wenigsten assoziiert.

— Haben Sie die Finger gesehen? frage ich.

— Ich stehe noch davor, flüstert der Freund.

Den Jungen fand er sofort, mußte nur den erstbesten Wärter nach einem häßlichen Christuskind fragen, um grinsend den Weg gewiesen zu bekommen, alle Wärter wußten Bescheid: zum Dickerchen den Korridor lang und im kleinen Kuppelsaal die erste Tür links. Hingegen im Katalog haben sie das Christuskind nicht abgebildet und selbst im Sonderkatalog der Skulpturensammlung nur ein kleines, fast schon winziges und noch dazu vorteilhaft ausgeleuchtetes Photo abgedruckt, als schäme sich die Museumsleitung dafür oder wolle keinen Ärger heraufbeschwören mit einer Art von Gotteslästerung. Dabei stört es in Berlin allenfalls noch Türken, wenn Gott gelästert wird. Vor allem aber geht es darum zu verstehen, daß genau dieser Junge den Vater lobpreist.

Die katholische Kunst kenne das Motiv des kindlichen Jesus erst seit dem dreizehnten Jahrhundert, weicht der Freund in die Kunstgeschichte aus, die Skulptur müsse daher ein recht frühes, noch nicht ausgereiftes Beispiel sein. Besonders der heilige Franziskus habe das Christuskind geliebt, und Mystikerinnen hätten es in der Versenkung geherzt und in den Armen gewiegt, um sich mit der Gottesmutter eins zu fühlen.

— Diesen Rotzlöffel? frage ich.

— Nun ja, flüstert der Freund, er vermute, daß der Künstler in diesem speziellen Fall, der sich wohl weniger für die Unio mystica eigne, die Züge und dann wohl auch die dichten Locken des Auftraggebers verewigt habe, oder des Auftraggebers Kind.

— Aha, sage ich, um auf die Erklärung überhaupt zu reagieren, mit der ich mich nicht zufriedengeben mag.

Da entschuldigt sich der Freund schon, er müsse auflegen, habe mir nur rasch Bescheid geben wollen. «Schauen Sie bei Ratzinger nach», simst er noch hinterher. «Hab ich schon», simse ich zurück.

Lieber hätte ich den Freund zum heiligen Franziskus befragt, der sich um die Häßlichkeit des Sohns vielleicht gar nicht scherte, weil er jedes Kind, ob häßlich, ob schön, als Gottes Kind herzte. Der zurückgetretene Papst jedenfalls, den der Freund mehr schätzt als Franziskus I., hat kein Buch über die Kindheit Jesu geschrieben. Ausgerechnet die Jahre, in denen Jesus ein Kind war, nicht mehr Baby und noch nicht Jüngling, sind in dem Kindheitsbuch ausgelassen. Benedikt XVI. schildert die Ankündigung der Geburt, die Geburt selbst, den Besuch der Weisen und die Flucht nach Ägypten – da war Jesus noch ein Baby. Dann setzt Benedikt XVI. erst wieder bei dem beinah schon Jugendlichen ein. Und dazwischen? Er wird wissen, der zurückgetretene Papst, daß es Hinweise gibt, das Kindheitsevangelium des Thomas; wenn es auch nicht in den Kanon aufgenommen worden ist, galt es Christen vieler Jahrhunderte als ein Zeugnis, das beachtet werden muß.

Ohne mich in die philologische Debatte einmischen zu wollen, schien mir das Kindheitsevangelium stets ein sehr realistischer Text zu sein. Eben weil es verstört, sehr unvorteilhaft von der Vorstellung abweicht, die man sich gläubig oder ungläubig vom erwachsenen Jesus macht, konnte ich mir seine Bewahrung und Verbreitung innerhalb des Christentums nur mit einer besonders starken Überlieferungskette erklären. Denn schlüssig verbunden, in eins gesetzt mit dem geliebten Säugling und dem später so heftig liebenden Mann, fand ich das Kindheitsevangelium nie. Da spielt zum Beispiel – und das ist der Auftakt, so knallend – der Fünfjährige am Ufer eines Baches und leitet das vorbeirauschende Wasser mit bloßer Willenskraft in kleine Pfützen um. Ein Nachbarsjunge nimmt einen Weidenzweig und fegt das Wasser zurück in den Bach. Die beiden geraten in Streit, und bisher liest sich noch alles normal, eine Szene zwischen zwei Jungen, wie sie in jedem Kindergarten passiert. Aber dann schreit Jesus, daß der Nachbarsjunge wie ein Baum verdorren, weder Blätter noch Wurzeln noch Frucht mehr tragen solle. Und alsbald verdorrt der Nachbarsjunge ganz und gar, und das heißt wohl, er stirbt, verendet elendig und stürzt seine Eltern ins Unglück, wie es im Kindheitsevangelium ausdrücklich heißt. Ungerührt geht Jesus nach Hause.

Und so setzt sich der Bericht fort, genau in dem Stil, mit den gleichen Charakterzügen: Im Dorf stößt ein Junge im Laufen versehentlich an Jesu Schulter. Was tut Jesus? Tötet den Jungen mit einem einzigen Wort. Und als die Eltern dieses und des anderen Jungen und immer mehr Leute sich bei Josef beschweren – was tut Jesus? Läßt alle erblinden. Und als er seinen Lehrer Zachäus an Wissen überbietet, macht er den Greis vor allen Leuten zum Gespött; Zachäus verzweifelt und will nur noch sterben wegen dieses Kindes, das ein Ausbund an Scheußlichkeit sein muß.

Vielleicht sind Benedikt XVI. und mit ihm der katholische Freund zu sehr von der Schönheit gebannt, die ihnen am Christentum und damit an Jesus Christus selbst so wichtig erscheint, um das Häßliche ebenfalls zu sehen. Ich verstehe ihr Beharren, muß in einer Stadt wie Berlin nur einen gewöhnlichen Sonntagsgottesdienst besuchen, um beizupflichten, wie sehr dem Christentum Schönheit heute fehlt. Armut allein macht keinen Gott groß. Indes wird Schönheit auch erst mitsamt ihres Gegensatzes wahr. Jesus selbst sagte oder soll gesagt haben, in einem Spruch, den der Kirchenvater Hippolyt überliefert: «Wer mich sucht, wird mich finden unter den Kindern von sieben Jahren an.» Das heißt doch wohl, daß man den Erlöser nicht in dem Fünfjährigen findet, den das Kindheitsevangelium beschreibt. Es heißt, daß selbst der Sohn erst werden mußte, was er in den kanonischen Überlieferungen von Anfang an ist. Jesus könnte ein Rotzlöffel gewesen sein, ein Ungeheuer von einem Kind, mit Wunderkraft ausgestattet, ja, die er jedoch voller Arglist eingesetzt. Ich fürchte, man wird meinen, ich lästere Jesus nun selbst. Dabei ist es keine Lästerung und die Arglist ein Attribut, das Gott ebenfalls zugesprochen wird.

Von Bild zu Bild klickend, frage ich mich, ob Jesus nicht zum Liebenden wurde, indem er sich beschämt an die Lieblosigkeit des Kindes erinnerte, das er gewesen, ein endlich Verzückter, Beseelter, Erkennender, der selbst im Verbrecher das Gute hervorhob, selbst im Häßlichen die Schönheit pries? Es gibt diese Lieblingsanekdote der Sufis, die auch mir die liebste ist: Jesus kommt mit seinen Jüngern an einem toten, schon halb verwesten Hund vorbei, dessen Maul offensteht. «Wie schrecklich er stinkt», wenden sich die Jünger angeekelt ab. Jesus aber sagt: «Seht doch, wie herrlich seine Zähne leuchten!» Mit dem Hund meinte Jesus vielleicht auch das Kind, das er war.

Aber die Mutter – man wünscht keiner Mutter, einen solchen Sohn zu haben, ihr angekündigt von Engeln, von Königen verherrlicht, und dann entpuppt er sich als verzogenes Bürschchen, das vor Wunderkraft nur so strotzt. Das Kindheitsevangelium erwähnt Maria erst ganz zum Schluß, als Jesus schon älter als sieben Jahre ist. Bestimmt hat sie sich über ihn gegrämt, sich für seine Untaten auch geschämt und dennoch zu ihm gehalten, den Wonneproppen vorbehaltlos geliebt. Das ist die Mutter, die Mutter schlechthin: egal wie das Kind ist. Das ist der Sohn, jeder Sohn, der die Liebe von der Mutter erst lernt. Im Arm halten, wiegen, wollt ich den Jungen nicht.

Quelle: Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. C.H.Beck, München 2015, edition C.H.Beck Paperback, ISBN 978 3 406 71469 6. Seite 14 bis 20.


Mehr Bläsermusik | Mehr Navid Kermani | in der Kammermusikkammer

Johann Sobeck (1831-1914): Bläserquintette | Lessing: Von dem Wesen der Fabel

Mozarts Hornkonzerte in der klassischen Aufnahme von 1953: Dennis Brain | »Daß Narrenschyff ad Narragoniam« des Sebastian Brant, 1494 gedruckt in Basel.

Das Gänsebuch (Nürnberg, 1510) | Navid Kermanis ungläubiges Staunen über Dürers Hiob

Franz Lachner: Septett - Robert Fuchs: Klarinettenquintett | Navid Kermanis ungläubiges Staunen über Rembrandts Lazarus



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Beethoven: Bagetellen, Sonaten und Trio (Glenn Gould, 1952/54)

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Glenn Gould hätte das Internet geliebt. Er, der in der intimen und unmittelbaren Atmosphäre des Radios aufgewachsen war, nahm das Fernsehen begeistert an, experimentierte mit der Technologie, verbrachte Stunden am Telefon und gab ein Vermögen dafür aus und schuf ein einzigartiges Dasein im Aufnahmestudio. Obwohl sein vorzeitiger Tod ihn der Web-Erfahrung beraubte, war er Zeuge einiger erstaunlicher musikalischer, technologischer und sozialer Entwicklungen und trug selbst zu diesen bei.

Als die kanadischen Rundfunk- und Fernsehanstalten 1936 mit Radioübertragungen begannen, war der junge Glenn Gould Teil einer Zuhörerschaft, die bald zu seinem Ideal wurde — eine Zuhörerschaft, die weder zu sehen noch zu hören war. Als die erste Übertragung des achtzehnjährigen Pianisten 1950 live gesendet wurde, war es nicht so sehr die Idee einer weitverstreuten und doch vereinten Zuhörerschaft, die Gould ansprach, sondern vielmehr, daß er mit der Musik allein sein konnte.

Ohne Ablenkung durch Husten, Bonbonpapier und Unterhaltung. Gould freute sich, mit seiner lebenslangen Mission zu beginnen, dem Publikum und den Künstlern den Gedanken abzugewöhnen, daß Musik ein Zuschauersport ist. Wie er später in seinem gepriesenen High Fidelity Artikel mit dem Titel Let‘s Ban Applause (Laßt uns Applaus verbieten) schrieb, “…Ich glaube, daß die Rechtfertigung von Kunst das innere Feuer ist, das sie in den Herzen der Menschen entzündet, und nicht ihre oberflächlichen, veräußerlichten Manifestationen. Der Zweck der Kunst ist nicht die Freigabe eines momentanen Adrenalinstoßes, sondern vielmehr der allmähliche, lebenslange Aufbau eines Zustands des Staunens und der Gelassenheit.”

Die Verlockung des Mikrophons erwies sich als unwiderstehlich, und als die Zeit verging und die Technologie sich verbesserte, wurde Gould immer unzufriedener mit Live-Übertragungen und —Konzerten. Je mehr Zeit er im Aufnahmestudio verbrachte, desto mehr wuchs seine Abneigung gegen die Unmöglichkeit einer zweiten Aufnahme. “Es handelt sich um eine streng klösterlich behütete Umwelt, diese Welt des Aufnahmestudios, darum liebe ich sie so”, schrieb Gould. “Schließlich handelt es sich um einen Ort, wo der ersten Aufnahme sehr gut die sechzehnte für das Endprodukt vorausgehen kann und wo beide vielleicht durch Jahre später aufgenommene Einfügungen verbunden werden.”

Seine Abwendung vom Konzertleben begann kurioserweise mit den CBC-Live- Übertragungen Anfang der 50er Jahre und endete am 10. April 1964, knapp neun Jahre nach seinem New Yorker Debüt. Es gab kein großes Trara bei seinem Ausscheiden, keine große Publicity, keine sentimentalen Andenken an sein Abschiedsprogramm mit Bach, Beethoven und Hindemith in Los Angeles, weil niemand wußte, daß Glenn Gould seinen Konzertfrack für immer an den Nagel hängen würde. Er hatte sich jahrelang mit dem Gedanken getragen, aber ob Gould selbst wußte, daß diese Vorführung seine letzte öffentliche Vorführung sein würde, darüber lassen sich viele Vermutungen anstellen.

Glenn Gould im Tonstudio
Aber irgendetwas war im Gange, denn der Mann, der „die Idee des Nordens” liebte, zog sich in das winterfest gemachte Wochenendhäuschen der Familie in Uptergrove, Ontario, am Simcoe-See zurück, neunzig Meilen nördlich von Toronto. In dieser Abgeschiedenheit konnte er herausfinden, was er tun mußte, um sein schöpferisches Leben weiterzuführen. Er kehrte natürlich nie wieder zur Konzertbühne zurück und tat, was selbst führende Leute in der Musikbranche nicht für möglich hielten, nämlich seine gefeierte Karriere fortsetzen, ohne jemals wieder in einer Konzerthalle aufzutreten.

Uptergrove hatte zu einem früheren wesentlichen Zeitpunkt in Goulds Laufbahn eine wichtige Rolle gespielt. Im Jahre 1952 entschied der 19jährige Pianist, daß es an der Zeit war, seinen Lehrer, Alberto Guerrero, den chilenisch-kanadischen Pianisten und Komponisten, der nicht nur Gould, sondern auch eine Reihe anderer distinguierter Komponisten zu seinen Schülern zählte, zu verlassen. Es war eine schwierige Entscheidung und obwohl Gould eine beeindruckende Liste von Konzertauftritten hinter sich hatte, war er hin und her gerissen zwischen Spielen und Komponieren. Zusammen mit seinen Büchern, einem Kassettenrekorder und seinem Hund ließ sich Gould häuslich in dem Wochenendhäuschen an seinem geliebten Chickering-Klavier nieder, um herauszufinden, ob er es wirklich in sich hatte, ein Pianist von Wert zu werden. Diese Zeit der Introspektion dauerte über zwei Jahre und erlaubte ihm wenige öffentliche Auftritte.

Im Herbst 1952, kurz nach seinem Geburtstag, spielte er jedoch für Distinguished Artists, eine Radioserie der CBC, die selbst so distinguiert war, daß sie über 25 Jahre lief. In den drei Übertragungen im Herbst spielte Gould Musik von Beethoven, einem Komponisten, für den Gould sein ganzes Leben lang zweideutige Gefühle hegte. In einem Magazinartikel des Jahres 1972, in dem Glenn Gould sich selbst über Beethoven interviewte, wurde die Appassionata und die Fünfte Sinfonie zugunsten der Achten Sinfonie, des Quartetts op. 95 und der Mondscheinsonate beiseite gefegt. Er zog “sparsame”, “ausgeglichene” Werke vor, die eher einem “Übergangsbeethoven” und nicht so sehr dem “Schlachtroß” Beethoven entsprachen. Von den hier eingeschlossenen Werken fürs Klavier wurden als einzige die charmanten sechs Bagatellen op. 126, jemals kommerziell von Gould aufgenommen.

Glenn Gould im Tonstudio
Im Sommer 1954 führten die Stratford Festspiele eine außergewöhnliche Inszenierung von Strawinskis Die Geschichte vom Soldaten auf, mit Marcel Marceau in seinem nordamerikanischen Debüt und Alexander Schneider als dem wandernden Geigenspieler. Gould begleitete Schneider in einem Konzert von Bach, Brahms und Beethoven und sein musikalisches Können machte einen unauslöschlichen Eindruck auf den Violinisten. Die kanadische Cellistin Zara Nelsova wurde die Dritte für Trios, ein Ereignis, an das sie sich gern erinnert. “Er war so jung und so aufs Spielen erpicht. Er hatte einige seltsame Vorstellungen über Beethoven, aber die meisten davon haben wir ihm ausgeredet”, sagt sie mit leisem Lachen. Frau Nelsova erinnert sich ebenfalls an Goulds Liebe zum Lesen. “Morgens erschien er, das Gesicht gelb von einer durchlesenen Nacht — Tolstoi und die großen Schriftsteller.” Trotz seines exzentrischen Wesens und seiner Hartnäckigkeit erwies Gould sich als liebenswürdiger und aufmerksamer Kammerpartner, ein Ruf, den er während seiner ganzen Laufbahn beibehielt.

Ihr Beethovens Allegretto in B-Dur und das Geistertrio in Stratford wurde auf drei Kanälen des neuen CBC-Fernsehsendenetzes übertragen (Toronto‚ Ottawa und Montreal). Wie die Klaviersonaten von 1952 wurden auch diese Beethoventrios nie kommerziell von Gould aufgenommen.

Quelle: Cynthia Dann-Beardsley, im Booklet

Technische Anmerkungen von Peter Cook

Das gesamte Material auf dieser CD stammt von bei der Programmausstrahlung gemachten Archivaufnahmen. Die ursprünglichen Aufnahmen wurden von CBC-Technikern auf l6—Zoll Azetatplatten gespielt, die jetzt im Staatsarchiv [National Archives] in Ottawa aufbewahrt werden (Bagatellen und die Sonate op. 49). Gould hatte in kommerziellen Studios für seinen eigenen Gebrauch Kopien seiner Aufnahmen anfertigen lassen. Wo die CBC-Studioaufnahmen nicht überlebt haben (wie zum Beispiel im Falle der Trios und der Sonaten, op. 101 und op. 7) wurden Goulds eigene Platten als Quelle für diese CD benutzt. Diese 33,3er und 78er sind jetzt Teil der Glenn Gould Sammlung in der kanadischen Staatsbibliothek [National Library of Canada] in Ottawa. Obwohl die Tonqualität der ursprünglichen Platten nicht immer den professionellen Normen entspricht, sind die Aufnahmen von künstlerischem und historischem Wert.


TRACKLIST

Ludwig van Beethoven
(1770-1827)

Original CBC broadcasts


Six Bagatelles for Piano, Op. 125 15:04
01 No. 1 in G Major: Andante con moto 2:11
02 No. 2 in G minor: Allegro 1:47
03 No. 3 in E Flat Major: Andante 2:57
04 No. 4 in B minor: Presto 3:18
05 No. 5 in G Major: Quasi allegretto 1:15
06 No. 6 in E Flat Major: Presto - Andante amabile e con monto 3:20
(Broadcast on: Distinguished Artists, Sept. 28, 1952

Piano Sonata No. 28 in A Major, Op. 101 (1816) 16:16
07 I. Allegretto ma non troppo 3:39
08 II. Vivace alla marcia 3:45
09 Adagio, ma non troppo, con affetto 8:42
(Broadcast on: Distinguished Artists, Oct. 12, 1952

Piano Sonata No. 4 in e Flat Major, Op. 7 (1797/98) (excerpt) 9:31
10 II. Largo, con gran espressione
(Broadcast on: Distinguished Artists, Oct. 12, 1952

Piano Sonata No. 19 in G minor, Op. 49, no. 1 (1797) 6:25
11 I. Andante 3:30
12 II. Rondo, Allegro 2:55
(Broadcast on: Distinguished Artists, Oct. 5, 1952

* Allegretto in B Flat Major, WoO 39 3:29
13 Allegretto
(Broadcast on: Summer Festival July 18, 1954)

* Piano Trio in D Major, Op. 70, No. 1 "Ghost" 22:49
14 I. Allegro vivace e con brio 6:41
15 II. Largo assai ed espressivo 10:00
16 III. Presto 5:55
(Broadcast on: Summer Festival July 18, 1954)

Total: 74:02
Glenn Gould, piano
* Alexander Schneider, violin
* Zara Nelsova, violoncello

Music compilation: Neil Crory
Analogue to digital transfers: Gilles Saint-Laurent and Peter Cook
Digital reconstruction and remastering: Peter Cook

Les disques SRC / CBC Records
(P) 1997


NINFA FIORENTINA


Abb. 1. Domenico Ghirlandaio: Die Geburt Johannes des Täufers, um 1490,
Cappella Tornabuoni, Santa Maria Novella, Florenz.

André Jolles: Ein Brief vom 23.11.1900


Lieber Freund

Erinnerst du dich unseres Gespräches vor ungefähr einem Jahr in jener Mondnacht auf der Terrasse deiner Villa in San Domenico. […]

Wir hatten natürlich über Kunst geredet. Ich mit dem epicuraeischen Uebermut eines Knaben der, erst vor kurzem freigekommen von den strammenden Fesseln der universitairen Studien, jetzt zum ersten Mal schwelgt an dem Fest der Florentiner Vor-Renaissance. Du mit der mehr bedächtigen Würdigkeit eines Gastes, der sich zwar noch nicht ganz satt gegessen hat, dessen erster Hunger aber gestillt ist. Wir wurden nicht einig. Ich schalt dich in meinem Herzen einen Pedanten, du mich wahrscheinlich einen paradoxellen Freibeuter. […]

Und jetzt komm ich wieder. Aber der übermüthige Kämpfer von damals ist ein demüthiger Bittsteller geworden; der Verächter aller offiziellen Wissenschaft und ihrer Dogmen, der keine andere Autorität als die des Künstlerauges anerkannte, der es wagte, dein heiliges Archiv als muffig und dumm zu beschimpfen und durch die Kunst hüpfen wollte so wie die Ziegen auf dem Berge Gilead, tritt in gebückter Haltung mit einem trübselig winkenden Palmzweig zu deinem Altar und bittet dich unterthänigst den Geist aus ihm zu bannen, der ihm keine Ruhe lässt und ihn wie von Furien gepeitscht‚ durch eine Unterwelt von wilden Phantasien jagt.

Was ist geschehen? Cherchez la femme, mein Lieber. Es ist eine Dame im Spiel, die grausam mit mir kokettiert. Ich hab einen geistigen flirt angefangen und werde dessen Opfer. Verfolge ich sie, oder verfolgt sie mich? Ich weiss es wahrhaftig nicht mehr. Aber lass mich meine Leidensgeschichte dir der Reihe nach erzählen.

Ich machte ihre Bekanntschaft bei einem Wochenbesuch in einer Kirche . . . und jetzt wirst du sie wahrscheinlich schon kennen. Sie wohnt in dem Chor von Sa Maria Novella, linke Wand, zweite Reihe von Unten, auf dem Bild rechts vom Zuschauer.

Der kleine Johannes ist glücklich zur Welt gekommen und Elisabeth empfängt Besuch auf ihrem langen, feierlichen Staatsbett. (Abb. 1) Sie sieht noch etwas angegriffen aus (bei ihrem Alter ist solche Affäre keine Kleinigkeit) und der Arzt hat stärkende Mittel verschrieben, die ein Dienstmädchen ihr auf einem Präsentirteller anbietet. Vor dem Bett sitzen auf niedrigen Schemeln: die Amme, die dem kleinen Bengel grade zu trinken giebt und eine Wärterin die ihm ›Mantjes‹ vormacht.

Detail aus Abb. 1
Der Gesammteindruck der heiligen Vorstellung ist ziemlich nüchtern. Es fehlt eine Pointe. Das Gold der Nimben von Johannes und Elisabeth ist verblichen und mit diesem Strahlenkranz auch ihre biblische Glorie. Es sind einfach sogar ziemlich bürgerliche Personen. Aber wenn der Wert der erbauenden Erinnerungen verloren ist, wird er doch reichlich ausgeglichen durch eine prahlende Gegenwart. Niemand geringeres als eine reiche florentinische Edelfrau macht hier ihren Besuch. Nicht so sehr bei der Wöchnerin, die sie selbst nicht ansieht, eben so wenig bei der heiligen Mutter, die vor kurzem ein Kind geboren hat, dessen mächtige Stimme später die Wasser des Jordan erbeben macht, sondern sie macht so im allgemeinen einen Besuch. Die aristocratischen Hände über dem etwas gewölbtem Bauchi gefaltet, das Haupt mit hochherziger Arglosigkeit auf dem schlanken Hals getragen schreitet sie fort, während ihr vorsichtiger Schritt kaum die starren Falten ihres schwer brocatenen Gewandes verschiebt. Sie ist von einer etwas oberflächlichen Stattlichkeit, nicht sehr characteristisch aber sehr distinguirt: eine Weltdame mit unübertreffbarer Gratie und hochnobelen Manieren aber ohne viel Geist.

Hinter ihr spazieren zwei gleichgültige alte Personen: ihre Mutter und ihre Tante. Und hinter diesen grade bei der geöffneten Thür läuft, nein fliegt, nein schwebt der Gegenstand meiner Träume, der allmählich die Proportionen eines anmutigen Alpdruckes anzunehmen beginnt. Eine fantastische Figur, nein ein Dienstmädchen, nein eine klassische Nymphe kommt, auf ihrem Kopfe eine Schüssel mit herrlichen Südfrüchten tragend, mit weit wehendem Schleier ins Zimmer hinein. Aber, der Teufel, das ist doch keine Manier, ein Krankenzimmer zu betreten, selbst nicht wenn man gratulieren will. Diese lebendig leichte aber so höchst bewegte Weise zu gehen; diese energische Unaufhaltsamkeit, diese Länge vom Schritt, während alle andern Figuren etwas Unantastbares haben, was soll dies Alles?!

Abb. 2. Domenico Ghirlandaio: Gastmahl des Herodes (Tanz der Salomé),
um 1490, Cappella Tornabuoni, Santa Maria Novella, Florenz.
Aber was meint vor Allem dieser plötzliche Unterschied im Fussboden, wo alle andern fest stehen oder gehen auf einem harten florentiner Fliesengrund, scheint dieser unter den Füssen meiner Geliebten seine natürliche Eigenschaft von Unbeweglichkeit zu verlieren; er scheint sich die wiegende Elastizität einer sonnenbeschienenen Frühlingswiese anzueignen, er wippt wie die dicken Mooskissen auf einem grünschattigen Waldpfad, ja, manchmal kommt es mir vor als ob er etwas Überirdisches hat, als ob das dienende Mägdlein, anstatt auf den gangbaren Wegen zu laufen, wie eine Göttin auf zarttreibenden Wolken fortgleitet, als ob sie mit beflügelten Füssen den hellen Aether durchschnellt, oder auf den langsam schaukelnden Wellen, auf den wie Delphinrücken sich krümmenden Rundungen, halb sich treiben lässt, halb sich fort bewegt, zu gleicher Zeit, mit der Gratie eines grossen Vogels, der in breitem Flug, auf gestrecktem Flügel schwebt, und der eines ranken Schiffes, das mit geblähtem Segel, rythmisch das mächtige Wasser spaltet. (Abb. 1 Detail)

Vielleicht mach ich sie poetischer als wie sie wirklich ist — welcher Liebhaber thut das nicht — aber ich hatte den ersten Moment als ich sie sah, das sonderbare Gefühl, das uns manchmal beim Sehen einer düstern Berglandschaft, beim Lesen eines grossen Dichters, oder auch wenn wir verliebt sind, überkommt: das Gefühl von »wo hab ich dich mehr gesehen«. […]

Lieber Freund, man verliebt sich eigentlich nur einmal. Wenn man denkt es öfters zu thun, sieht man immer nur andre Fläche desselben Prismas. Die Objekte wechseln, die Verliebtheit bleibt eins und untheilbar. Und so entdeckte ich denn, in vielem was ich in der Kunst geliebt hatte, etwas von meiner jetzigen Nymphe.

Mein Zustand schwankte zwischen einem bösen Traum und einem Kindermärchen. Wenn ich meine Wunderlampe in die Hand nahm, und das Zauberwort sprach, erschienen zwar keine fünfzig Cirkassische Sklaven, die Goldschalen auf dem Haupt trugen gefüllt mit Blumen aus puren Edelsteinen […]. Aber diesmal erschien immer nur das laufende Dienstmädchen mit ihrem Schleier.

Bald war es Salome, wie sie mit todbringendem Reiz vor dem geilen Tetrarch angetanzt kommt (Abb. 2); bald war es Judith, die stolz und triumfirend, mit lustigem Schritt, das Haupt des ermordeten Feldherrn zur Stadt bringt; dann schien sie sich unter der knabenhaften Gratie des kleinen Tobias versteckt zu haben, so wie er mit Mut und Leichtherzigkeit zu seiner gespenstischen Braut marchiert. Manchmal sah ich sie in einem Seraphin, der in Anbetung zu Gott geflogen kommt, und dann wieder in Gabriel wie er die frohe Botschaft verkündet. Ich sah sie als Brautjungfer bei dem Sposalizio in unschuldiger Freude, ich fand sie als fliehende Mutter bei dem Kindermord mit Todesschrecken im Gesicht.

Ich versuchte sie wieder zu sehen, wie ich sie das erste Mal getroffen hatte im Chor der Dominicanerkirche, aber sie hatte sich verzehnfacht. — Ich verlor meinen Verstand. Immer war sie es die Leben und Bewegung brachte in sonst ruhige Vorstellungen. Ja, sie schien die verkörperte Bewegung ... aber es ist sehr unangenehm die zur Geliebten zu haben.

Detail aus Abb. 2
Und so komm ich wie gesagt zum Priester der offiziellen Wissenschaft, der das Allerheiligste des Quattrocento kennt oder wenigstens zu kennen hat, um mich nach ihrem Namen, Stand und ihrer Adresse zu erkundigen. Wer ist sie, woher kommt sie, hab ich sie schon früher, ich meine schon anderthalb Jahrtausend früher getroffen, ist sie von Alt-griechischem Adel und hatte ihre Urgrossmutter ein Verhältnis mit Leuten aus Klein-Asien, Egypten oder Mesopotamien, aber vor allem, kommen Briefe an »Die laufende Nymphe. P. R.« zu recht.

Im Ernst was ist das mit dem Mädchen
Heut und immer dein


Aby Warburg: Eine Antwort


Nein, mein Freund, so ohne Weiteres kann ich dich nicht mit dem Mädchen bekannt machen; ohne irgendwie introduzirt zu sein, stürmst Du auf das abwehrend geschlossene Gehege einer florentinischen Patrizierfamilie los, selbst gerade so ungestüm wie Dein leichtfüßiges Fräulein. So husarenmäßig kann man denn doch nicht gleich die intime Bekanntschaft von jemand machen wollen, der zum Haushalte der Tornabuoni, wenn auch nur als dienstbarer Geist, gehört.

Aber ich merke schon, Du weisst garnicht recht, was hinter diesen Bildern vorgeht Laß uns leise im Chorgestühl niedersitzen, damit sie sich nicht stören lassen: die Tornabuoni führen hier nämlich ein geistliches Schauspiel auf, zu Ehren der Jungfrau Maria und Johannes des Täufers. Giovanni Tornabuoni ist es glücklich gelungen, das Patronat des Chores und das Recht zur bildlichen Ausschmückung zu erwerben und nun dürfen seine Angehörigen als Figuren der heiligen Legende persönlich auftreten; von dieser Erlaubnis machen sie ruhig und würdevoll Gebrauch: patrizische Kirchgänger, denen tadellose Manieren im Blut liegen. Daß nun in diese schwerwandelnde Respektabilität ihrer christlichen Gedämpftheit Dein heidnisches Windspiel hinein wirbeln darf, das zeigt mir die Tornabuoni von der rätselhaft unlogischen Seite primitivster Menschlichkeit, die mich mindestens ebenso sehr anzieht, wie Dich der pläsirliche Leichtsinn Deiner Unbekannten. Es lockt Dich, ihr wie einer geflügelten Idee durch alle Sphären im platonischen Liebesrausche zu folgen, mich zwingt sie, den philologischen Blick auf den Boden zu richten, dem sie entstieg und staunend zu fragen: wurzelt denn dieses seltsam zierliche Gewächs wirklich in dem nüchternen florentinischen Erdboden? […]

Abb. 3. Domenico Ghirlandaio: Die Verkündigung des Zacharias, um 1490,
Cappella Tornabuoni, Santa Maria Novella, Florenz.
Vergiß nicht, der Chor von Santa Maria Novella war die feierlichste Grabstätte, welche streitbare Dominikanermönche zu vergeben hatten; wie unbeschränkt und gewaltsam ihr Eifer hier herrschte, beweist ihr siegreich durchgeführter Streit mit Francesco Sassetti, dem unmittelbar vor Giovanni Tornabuoni anerkannten Patronatsherrn des Chores. […] Sassetti hatte am 22. Febr. 1470 von den Mönchen von Santa Maria Novella durch notariellen Akt sein von alters her seiner Familie zustehendes Recht zur Ausschmückung des Altarbilds und des Hauptchores bestätigt und verbrieft erhalten. Trotz dieses Kontraktes und obgleich Sassetti die Kirche bereits mit kostbaren Paramenten beschenkt hatte, treiben die Mönche nicht allein ihren Patronatsherren, weil er andere bildliche Darstellungen an den Wänden sehen wollte als ihnen genehm war, zur Kirche hinaus und zwingen ihn, die geplanten Malereien des Ghirlandajo in einer Capelle von San Trinità anbringen zu lassen, sie entfernen auch noch widerrechtlich das Grabmal seines Vaters Tommaso von seinem angestammten Platze. […]

Hatte etwa Francesco den Jüngern des hl. Dominicus zugemutet die Legenden des Concurrenzheiligen S. Francesco, die er ja in S. Trinità hat darstellen lassen, weil er sein Namenspatron war, vor Augen zu haben? Wie sehr ihm die Verehrung seines Namenspatrons am Herzen lag, geht aus der ausdrücklich einzigen Bedingung hervor, die er 1487 an eine extra Donation an S. Trinità schloß, daß am Tage des hl. Francesco eine große und feierliche Seelenmesse in seiner geschmückten Capelle gelesen werden müsse. […]

Francesco Sassetti, der Compagnon der Medici in ihrer Lyoner Filiale, war ein sehr reicher und angesehener Mann, Giovanni Tornabuoni außerdem noch der leibliche Onkel des Lorenzo Magnifico und dessen erfolgreicher diplomatischer Vertreter bei der römischen Curie; dort hatte er mit Pfaffen umzugehen gelernt. Dem blinden mönchischen Eifer setzte er Anfangs scheinbare Nachgiebigkeit und freundl. Versprechungen entgegen, und stellte sie aber schließlich, als sie nichts mehr daran ändern konnten, einfach vor die vollendete Thatsache seiner erfüllten ikonographischen Wünsche.

In dem Contract den Giovanni Tornabuoni mit Domenico Ghirlandajo abschloß am 1. Sept. 1485 sind die Gegenstände der Fresken genau vorgeschrieben. Da die Verleihung des Patronatsrechtes an die Familie Tornaquinci (von der die Tornabuoni nur ein Zweig waren) von Seiten der Mönche erst am 13. Oct. 1486 geschah, so stand die Urkunde den Mönchen vorher zur Einsicht offen.

Darum gelingt ihm nur fünf Jahre später mit demselben Maler, woran Sassetti gescheitert war.

Detail aus Abb. 3.
Die Ausführung entspricht nun diesen notariellen Urkunden durchaus nicht. Auf der linken Seite oben war statt des Kindermords: die Verkündigung, statt der Vertreibung des Joachim: Jesus unter den Schriftgelehrten vorzusehen. Auf der rechten Wand sollte die »Heimsuchung« dorthin kommen, wo sich jetzt die Geburt des Johannes befindet, die dann ein Stockwerk höher gerückt wäre, so daß Du Dein bewegliches Fräulein nicht so bequem betrachten könntest; unten sollte eigentlich neben der Verkündigung an Zacharias die »Taufe Christi« dargestellt werden, darüber die »Predigt des Johannes« an Stelle der Namensgebung, die ursprünglich garnicht in Aussicht genommen war, sondern »Johannes wie er in die Wüste geht«! Ganz ignorirt wurden die kontraktlich für die schmalen Fresken neben dem Chorfenster ausbedungenen Dominikaner-Heiligen Thomas d’Aquino, der hl. Antoninus, Vincenzo und die hl. Catharina; statt ihrer erblickt man in der Mitte die Verkündigung an Maria, und St. Johannes in die Wüste gehend und unten nehmen ihre Stellen die knienden Stifter selbst ein: Giovanni Tornabuoni und seine Frau Francesca Pitti: das zeigt Herkunft und Richtung der ganzen kontraktwidrigen Veränderung: keine dogmatische Illustration zum großen Ruhm des hl. Dominicus sondern ein Weihgeschenk zu Ehren der hl. Jungfrau und Sankt Johannes sollte zur Schau gestellt werden, ein bildliches Dankopfer für das bestehende Familienglück und ein Gebet in effigie um Fürbitte zu weiterer gedeihlicher Fruchtbarkeit. Darum sind offenbar die beiden Wochenstubenbilder, das Opfer des kinderlosen Joachim, die Begegnung der Elisabeth und die Verheißung des Sohnes Johannes an Zacharias an die sichtbarsten Stellen gerückt und darum tragen gerade hier die Personen der Legende die Züge ganz bestimmter Personen der Familie Tornabuoni. In der Wochenstube der hl. Elisabeth wird das kirchlich dogmatische Element gänzlich eliminirt: der repräsentationsfreudige Kaufmann und der geschmackvoll ornamentale Künstler trafen auf Kosten der Mönche einen harmonischen Ausgleich: Verlangte nun aber auch einmal die heilige Legende ihr gutes Recht wie auf dem Opfer des Zacharias, so zerlegen sich die drei (K) Kirche, Kaufmann, Künstler in ihre natürlichen Bestandteile, Verratend, daß sie keine organische Verbindung fanden, sondern nur einer willkürlichen Mischung ihre malerische Existenz verdanken. […]

Die Worte des Evangeliums erfüllen den Raum mit zwei grandiosen Silhouetten, der ehrwürdige, in der andächtigen Erfüllung des Räucheropfers aufgestörte Hohepriester und vor ihm der hereinstrahlende Engel, der ihm die unerwartete Sohnesverheißung kündet; nur das leise Gemurmel des betenden Volkes im Vorhofe gesellt sich noch hinzu, wie Rauschen im Aehrenfeld, das dumpf ergeben im Wehen des göttlichen Windes mitwogt, der anonymen Masse Oberton.

Was macht nun die Consorteria Tornaquinci aus diesem religiösen Drama? ein kirchliches Ausstattungsstück, in dem die Statisten anscheinend zu Hauptacteuren werden.

Da man die meisten der auftretenden Personen mit einiger Sicherheit identifiziren kann, so überreiche ich Dir anbei ein bühnenmäßiges Personenverzeichnis zur Erklärung der Scene. (Abb. 3)

Abb 4. Domenico Ghirlandaio: Vertreibung Joachims aus dem Tempel,
um 1490, Cappella Tornabuoni, Santa Maria Novella, Florenz.
Bei unserem Versuche, eine Zeit nachzuerleben, wo festlich spielender Gestaltungstrieb und künstlerisch spiegelnde Kraft »noch (um sich Jean Pauls Worte zu erinnern) auf einem Stamm geimpfet blühen«, ist dieser Theaterzettel kein gewaltsam herangezogener pikanter Vergleich, vielmehr eine wesensgleiche Metapher.[…]

Die Verheißung des Sohnes Johannes

Ein Opferspiel aufgeführt in der Grabcapelle der Consorteria Tornaquinci

Handelnde Personen:
Zacharias, Hohepriester in Jerusalem     } im Allerheiligsten
der Engel des Herrn }

Stumme Personen:

Chor der neun Familienhäupter innerhalb der Opferstätte
1. Giovanni Tornabuoni                        } die 4 ältesten
2. Bartolommeo Nicolai Pieri Popoleschi } Stammhalter auf
3. Hieronymus Adoradi Giacchinotti } einer Stufe links
4. Leonardo Tornabuoni } vom Altar

5. Giovanni Tornaquinci } die fünf
6. Girolamo Tornabuoni Domherr } jüngeren
7. Gianfrancesco Tornabuoni } Stammhalter
8. Simone Tornabuoni } links vom
9. Hieronymo di Scarabotto } Altar

Chor des außenstehenden Volkes, vorgestellt von andern Verwandten u. zeitgenössischen Celebritäten u. Honoratioren

Abb. 5. Domenico Ghirlandaio: Die Geburt Marias, um 1490, Cappella Tornabuoni, Santa Maria Novella, Florenz.
links

10. Benedetto Dei, Chronikenschreiber
11. Baccio Ugolini, Musiker u. Priester an S. Lorenzo
12. Tieri di Tornaquinci, Verwandter
13. Luigi Tornabuoni, Praeceptor u. Commendatore an S. Jacopo in Campo Corboli sowie Malteser Ritter
14. Giovanni Batista Tornabuoni? Ridolfi?
15. Gentile Becchi, Bischof v. Fiesole (Erzieher)
16. Cristoforo Landino     } Kenner des Alterthums /
17. Angelo Poliziano } Gelehrte und
18. Marsiglio Ficino } führende Geister

rechts:
19/22  4 junge Frauen der Familie
23/ Federigo Sassetti, apostolischer } befreundet [/]
Protonotar } junge Leute
24 Andrea de Medici, der häßliche } der Gesell-
Leibgardist des Lorenzo Magnifico } schaft
25 Gianfrancesco Ridolfi }

Die Handlung geht in der Nische eines römischen Triumphbogens aus dem Zeitalter Constantin d. Großen vor sich, der mit Reliefs aus dem Leben d. Trajan verziert ist.

Zeit der Handlung: 1490

Ueber dem Thorweg rechts folgende Inschrifttafel mit den lateinischen Worten:

AN. MCCCCLXXXX. Quo. pulcherrima. civitas. opibus. Victoriis. artibus. aedificiisque. nobilis. copia. salubritate. pace. perfruebatur.

Im Jahre 1490, als unsere schönste Stadt, durch Schätze, Siege, Künste, Bauwerke geadelt, Reichthum‚ Gesundheit und Frieden genoß.

Würde ein kunsthistorisch unbefangener Zuschauer, ohne ausdrücklichen Hinweis auf den Zusammenhang den biblischen Kern in dieser weltlichen Schale erkennen? Kaum; sie würden etwa denken: hier gibt eine vornehme Renaissancefamilie Gesellschaft vor ihrer Loggia und in einer Nische im Hintergrunde an dem antiken Buffet ist ein alter Haushofmeister damit beschäftigt, das Festgetränk zu bereiten, zu dem ihm ein junger Diener die längst erwartete Citrone bringt.

Detail aus Abb. 5.
Mit dem diskreten Lächeln innerer Ueberlegenheit wendet sich der müde Kulturmensch auf seiner italienischen Erholungsreise von so viel banalem Realismus ab: ihn zieht Ruskins Machtgebot hinaus auf den Klosterhof, zu einem mittelmäßigen Giottesken Fresko, wo er in den lieben, unverdorbenen einfachen Trecentisten sein eigenes Gemüt wieder zu finden hat. Ghirlandajo ist eben keine ländlich murmelnde Erfrischungsquelle für Praeraffaeliten aber auch kein romantischer Wasserfall dessen tolle Cascaden dem andern Reisetypus, dem Uebermenschen in den Osterferien, mit Zarathustra in der Tasche seines Lodenmantels, neuen Lebensmut einrauscht, zum Kampf ums Dasein, selbst gegen die Obrigkeit.

Und doch! Laß uns verweilen und laß nur die andern Schönheitsbedürftigen Ferienreisenden neidlos vorübereilen zu den lieblicheren oder erhabenen Objekten ihres Kunstgenusses.


Aby Warburg: Florentinische Wirklichkeit und antikisirender Idealismus


[…] (Abb. 1) Auf einem der Fresken die Ghirlandajo für Giovanni Tornabuoni in Santa Maria Novella etwa 1490 malte, ist die Geburt des heiligen Johannes, des Schutzpatrons des Tornabuoni, allerdings sehr weltlich florentinisch dargestellt. Für Maler und Auftraggeber war es ein willkommener Vorwand, eine Staats-Visite zu schildern, wo die Damen aus dem Hause Tornabuoni eine vornehme Dame zur Geburt ihres Kindes beglückwünschen. Von beiden Seiten her, geht es würdevoll gelassen zu; die Mutter ruht auf dem schön verzierten Paradebett würdig wie eine etruskische Matrone auf ihrem Sarkophag. Eine Magd im Hintergründe bringt ihr Erfrischungen‚ im Vordergrunde ist die Amme mit der Ernährung des neugeborenen Kindes beschäftigt, während eine andere Dienerin die Hände ungeduldig ausstreckt, um das Kind zum Bade in Empfang zu nehmen. Die drei stattlichen Frauen, die der heiligen Elisabeth die Ehre ihres Besuches erweisen, sind offenbar nicht gerade freudig aufgeregt, wenigstens wissen sie ihre Gefühle unter dem schweren Faltenwurf der Brokatgewänder und der würdevoll drapirten Tuchmäntel wirksam zu verbergen. Lebhafte Beweglichkeit, die den pompös einherwandelnden Damen vom Hause Tornabuoni nicht ziemt, kommt dann aber um so explosiver in der Früchte tragenden Dienerin heraus, die vergeblich versucht, ihre unvorschriftsmässige antike Vergangenheit durch die stürmische Entfaltung häuslicher Tugenden zu verdecken, ihre heidnisch römische Abkunft verräth sich in dem gebauschten Gewand, in dem stilisirten Faltenwurf, an den sogar mit Sandalen bekleideten Füssen.

Abb. 6. Domenico Ghirlandaio: Marias Tempelgang, um 1490,
Cappella Tornabuoni, Santa Maria Novella, Florenz.
All zu durchsichtig schimmert durch die Maske der eilig schreitenden Dienerin die römische Siegesgöttin hindurch, gewohnt im stürmischen Fluge luftige Räume zu durchmessen. Was Ghirlandajo wohl zu einem modernen individuellen Maler sagen würde, der kollegial besorgt um Domenicos Originalität, angesichts dieser eilenden Dienerin ihn schonend aber nicht ohne leisen Tadel darauf aufmerksam machen würde, dass ihm in diesem Falle doch wohl eine Figur der Antike vorgeschwebt habe. »Altro chè [und ob],« meint man ihn verächtlich hinwerfen zu hören! Das ist ja gerade unser Stolz, dass die »Nymphen der Antike« wieder zu uns zurückgekehrt sind.

(Abb. 4) Domenico, weit entfernt davon, sich etwa einer Anlehnung an die Antike zu schämen, setzt ja auf dem Fresko direkt darunter auf dem Opfer des Joachim in Graumalerei Architektur links oben das Vorbild seiner Nymphe hin: Es ist die getreu copirte Siegesgöttin aus dem Triumphbogen des Constantins in Rom, die den siegreichen Kaiser bekrönt. Keine mythische Figur der antiken Sage hat bekanntlich im künstlerischen Abbilde dem Christenthum so verzweifelt Widerstand geleistet, wie das Standbild einer Siegesgöttin in der römischen Kurie, die erst zur Zeit Constantins als offizielles Kultbild der Unerbittlichkeit des heiligen Ambrosius zum Opfer fiel. Aus dem Relief im Innern des Triumphbogens hat sie aber der fromme kirchenväterliche Eifer bis auf den heutigen Tag nicht vertreiben, ja selbst ihr Fortleben in kirchlicher Kunst nicht verhindern können, denn anscheinend als gut biblische Figur, als tanzende Salome, als Erzengel, der den Tobias begleitet‚ als eilende Dienerin bei der Geburt der Maria oder Johannes, schreitet sie leichtfüssig durch die Kunst der Frührenaissance.

Das stolze Flügelrauschen hat sie sich freilich abgewöhnen müssen, aber in der unmotivirt flatternden Beweglichkeit der Gewänder weht noch ein Hauch aus jenen höheren Regionen, in denen sie als heidnische Siegesgöttin schwebte. Aber kaum irgendwann hat in der florentinischen Kunst die toskanische Nymphe, die eilende Jungfrau des täglichen Lebens, sich mit solcher Unbefangenheit den Idealgestalten der Vergangenheit gleichgesetzt, wie hier auf dem Fresko des Ghirlandajo. […]

Quelle: Aby Warburg: Werke in einem Band. Suhrkamp, Berlin, 2018. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2242 . ISBN 978-3-518-29842-8. Ausgezogen wurde aus den Seiten 198-209 und 226-227.


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George Gershwin: Rhapsody in Blue

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Mit "Rhapsody in Blue" wollte George Gershwin den Amerikanern musikalisch eine eigene nationale Identität verleihen. Und mithilfe der Musik auch alle ethnischen und kulturellen Barrieren überwinden. Nicht zuletzt begründete der Komponist mit der "Rhapsody" auch seinen eigenen Weltruhm. Am 12. Februar 1924 wurde das Stück uraufgeführt.

"Das erste Solo in der Klarinette - das ist ein Aufruf." So beschreibt der Pianist Denis Matsuev den Beginn der "Rhapsody in Blue". Der signalhafte Aufstieg in der Klarinette fesselt die Zuhörer auf Anhieb. Bei der Uraufführung der "Rhapsody" in der New Yorker Aeolien Hall tobte das Publikum. Das Konzert vom 12. Februar 1924 schrieb Geschichte. George Gershwin hatte den Amerikanern ein Stück echte amerikanische Musik geschrieben. In ihr spiegelt sich auch das Leben im Schmelztiegel New York wieder, findet Denis Matsuev: "Das erste Thema assoziiere ich mit Amerika. Ich sehe gleich New York, die Freiheitsstatue, Manhattan, Jazzclubs, Birdland, Bluenotes, Jazz. Das ist ein Symbol von New York, von Amerika. Und alle anderen Themen, die es da gibt, sind mit fröhlichen Motiven verbunden. Es ist die Rhapsodie der Freude, die Rhapsodie des Glücks. Sie ist so optimistisch, so lebensbejahend."

Zunächst wollte Gershwin sie "American Rhapsody" nennen. Der Vorschlag "Rhapsody in Blue" kam von seinem Bruder Ira, mit dem er viel als Textdichter zusammenarbeitete. Der Name spielt auf die "Blue Notes" an, ein wichtiges Merkmal der Jazzmusik. Gershwin baut sie in seine Musik ebenso ein wie die für den Blues so charakteristischen, swingenden Rhythmen. Jazz steht für Freiheit. Kein Wunder, dass Gershwin sich für die Form der Rhapsodie entschied. Denn sie enthält kein vorgegebenes Schema, der Komponist ist total frei. "Mir gefällt der rhapsodische Stil, er ist so frei und lässt der Interpretation viel Raum", sagt Denis Matsuev. "Die 'Rhapsody in Blue‘ ist das Symbol für amerikanische Kultur und amerikanische klassische Musik, die mit Jazz vermischt ist. Jeder kennt die 'Rhapsody in Blue': sie ist Popmusik, Jazz und klassische Musik in einem - einfach alles und das ist genial."

George Gershwin (1898-1937)
In Auftrag gegeben hatte die "Rhapsody in Blue" der Bandleader Paul Whiteman. Er führte mit seinem Orchester gerne Stücke im Jazz-Stil auf, auch wenn sich diese Musik doch deutlich von dem originalen Jazz der Afroamerikaner unterschied. Whiteman schwebte eine Synthese von europäischer Kunstmusik und afroamerikanischem Jazz vor. Als er Gershwin um ein entsprechendes Stück für Klavier und Orchester bat, zögerte der Komponist. Gershwin hatte bisher vor allem Musik für Musicals geschrieben. Jazz hingegen war für ihn musikalisches Neuland. Whiteman half der Entscheidung nach, indem er Gershwins neue Komposition, von der noch keine Note existierte, kurzerhand in der Zeitung ankündigte – zusammen mit dem Datum der Uraufführung. Gershwin blieb keine Wahl. Innerhalb von drei Wochen schrieb er seine "Rhapsody in Blue".

"Eine Mischung. Natürlich ist es vorrangig klassische Musik. Gershwin gehört zu den klassischen amerikanischen Komponisten. Er ist eine Legende. Aber die 'Rhapsody' zählt ebenso zu den Jazz-Standardstücken. Ich spiele oft meine selbst komponierte Improvisation darüber. Beim echten Jazz schreibt man die Noten ja nicht auf. Jazz entsteht spontan. Natürlich kann man Jazz auch nach Noten spielen. Aber dann ist es kein echter Jazz. Die Rhapsody in Blue ist ein toller Jazz-Standard, ein fantastisches Thema. Aber erst wenn man darüber improvisiert, ist es wirklich Jazz."

Die "Rhapsody in Blue" enthält drei große Kadenzen für das Klavier. Bei der Uraufführung spielte Gershwin selbst den Solopart. Die Orchestrierung stammt nicht von ihm, sondern von Whitemans Arrangeur Ferde Grofé. Im Orchester spielen auch Instrumente mit, die man sonst eher in einer Big Band findet, wie beispielsweise das Saxophon. Einige Themen spielt das Orchester auch allein – ohne Klavier. Wie beispielsweise das lyrische Thema, das ein wenig an Rachmaninow erinnert.

Die Uraufführung der "Rhapsody in Blue" war ein großer Erfolg. Rachmaninow saß damals übrigens auch im Publikum. Bis heute hat die "Rhapsody" nichts von ihrer Faszination verloren. Denis Matsuev hat sie bereits mehr als 100 Mal im Konzert gespielt. Für ihn ist die Coda am Schluss immer wieder ein Höhepunkt: "Beim Schlussthema in der Coda kommt der Vulkan zum Ausbruch. Das kommt bei Publikum sehr gut an."

Quelle: Susanna Felix, am 12.02.2019 in BR Klassik

George Gershwin am Klavier

TRACKLIST

George Gershwin
(1898-1937)

Rhapsody In Blue & Other Works


[1] Rhapsody in Blue (Originalfassung) 13:45
Orchestrierung: Grofé
Klavier: Wayne Marshall
City of London Sinfonia

Klavierkonzert F-Dur
[2] I. Allegro 14:00
[3] II. Adagio - Andante con moto 13:11
Trompete: Howard Snell
[4] III. Allegro agitato 7:07
Klavier: Daniel Blumenthal

[5] Ein Amerikaner in Paris 18:39
English Chamber Orchestra
Stuart Bedford

[6] Cuban Overture 9:44
Saint Louis Symphony Orchestra
Felix Slatkin

Gesamte Spieldauer: 76:36
(P) 1997
(C) 2003


Ovid: Diana und Aktäon

Rembrandt: Das Bad der Diana mit Aktäon und Kallisto, um 1635,
Öl auf Leinwand, 168 x 93 cm, Museum Wasserburg Anholt
Publius Ovidius NasoMetamorphosen
Metamorphoseon LibriLiber Tertius, 138 - 252
AktäonDie Göttin im Bade
Prima nepos inter tot res tibi, Cadme, secundas
causa fuit luctus, alienaque cornua fronti
addita vosque canes satiatae sanguine erili.
at bene si quaeras, Fortunae crimen in illo,
non scelus invenies: quod enim scelus error habebat?

Mons erat infectus variarum caede ferarum:
iamque dies medius rerum contraxerat umbras
et sol ex aequo meta distabat utraque,
cum iuvenis placido per devia lustra vagantes
participes operum conpellat Hyantius ore:

‘lina madent‚ comites‚ ferrumque cruore ferarum,
fortunamque dies habuit satis; altera lucem
cum croceis invecta rotis Aurora reducet,
propositum repetemus opus; nunc Phoebus utraque
distat idem terra finditque vaporibus arva.
sistite opus praesens nodosaque tollite lina!’
iussa viri faciunt intermittuntque laborem.

Vallis erat piceis et acuta densa cupressu,
nomine Gargaphie, succinctae sacra Dianae,
cuius in extremo est antrum nemorale recessu,
arte laboratum nulla: simulaverat artem
ingenio natura suo; nam pumice vivo
et levibus tofis nativum duxerat arcum.
fons sonat a dextra tenui perlucidus unda,
margine gramineo patulos succinctus hiatus.
hic dea silvarum venatu fessa solebat
virgineos artus liquido perfundere rore.
quo postquam subiit, nympharum tradidit uni
armigerae iaculum pharetramque arcusque retentos;
altera depositae subiecit bracchia pallae,
vincla duae pedibus demunt; nam doctior illis
Ismenis Crocale sparsos per colla capillos
conligit in nodum, quamvis erat ipsa solutis.
excipiunt laticem Nepheleque Hyaleque Rhanisque
et Psecas et Phiale funduntque capacibus urnis.
Inmitten von so viel Glück gab dein Enkel dir, Kadmos, den
ersten Grund zur Trauer, dazu das fremde Geweih, das ihm auf
die Stirn gesetzt wurde, und ihr Hunde, gesättigt am Blut des
Gebieters. Doch erwägt man es wohl, dann findet man dabei nur Fortunas
Schuld, keinen Frevel, denn welche Sünde war’s, sich zu verirren?

Der Berg war schon gerötet vom Blut verschiedenen Wildes,
schon hatte die Mitte des Tages die Schatten der Dinge zusammen-
gezogen und die Sonne war gleich weit entfernt von beiden Enden
ihrer Bahn, als der böotische Jüngling den im Dickicht umher-
streifenden Gefährten des Weidwerks mit freundlicher Stimme zurief:

»Netze und Eisen triefen vom Blut der Tiere, ihr Freunde; Glück genug
brachte der Tag. Morgen, wenn auf ihrem safranfarbenen Wagen Aurora
wieder das Licht bringt, gehen wir, wie beschlossen, aufs Neue ans Werk.
Jetzt aber, da Phöbus von Morgen- und Abendland gleich weit entfernt ist
und durch seine Glut den Boden rissig werden läßt, macht eurem jetzigen
Tun ein Ende und holt die geknoteten Netze!«
Die Männer befolgen das Gebot und stellen die Arbeit ein.

Da war ein Tal, von Fichten und spitzen Zypressen beschattet,
Gargaphie mit Namen, der Diana im kurzen Jagdgewand
heilig. Im entlegensten Dickicht des Waldes ist dort eine Höhle,
nicht künstlich geschaffen: künstliche Bildung täuschte die ein-
fallsreiche Natur vor, denn sie hatte aus unbehauenem Bimsstein
und leichtem Tuff ein gewachsenes Gewölbe gebildet. Zur
Rechten rieselt eine Quelle, nicht reich an Wasser, aber ganz klar,
deren breites Becken ein Rasenrand einfaßt. Hier pflegte die
Göttin der Wälder, von der Jagd ermüdet, ihre jungfräulichen
Glieder mit schimmernden Tropfen zu netzen. Sobald sie dahin
gelangte, übergab sie ihrer Waffenträgerin, einer der Nymphen,
Spieß und Köcher samt dem entspannten Bogen. Eine andere
fing mit den Armen das abgeworfne Gewand auf, zwei lösen die
Riemen am Fuß, während, geschickter als jene, Krokale, die
Tochter des Ismenos, das den Nacken umwallende Haar in
einen Knoten faßt — sie selbst trägt es allerdings offen. Nephele
aber und Hyale und Rhyanis und Psekas und Phiale schöpfen
das Naß und gießen es dann aus weiten Gefäßen.

Tizian: Diana und Actäon, 1556-1559,
Öl auf Leinwand, 184 x 202 cm, National Galleries of Scottland
Dumque ibi perluitur solita Titania lympha,
ecce nepos Cadmi dilata parte laborum
per nemus ignotum non certis passibus errans
pervenit in lucum: sic illum fata ferebant.
qui simul intravit rorantia fontibus antra,
sicut erant‚ viso nudae sua pectora nymphae
percussere viro subitisque ululatibus omne
inplevere nemus circumfusaeque Dianam
corporibus texere suis; tamen altior illis
ipsa dea est colloque tenus supereminet omnis.
qui color infectis adversi solis ab ictu
nubibus esse solet aut purpureae aurorae,
is fuit in vultu visae sine veste Dianae.
quae, quamquam comitum turba stipata suarum,
in latus obliquum tamen adstitit oraque retro
flexit et, ut vellet promptas habuisse sagittas,
quas habuit, sic hausit aquas vultumque virilem
perfudit spargensque comas ultricibus undis
addidit haec cladis praenuntia verba futurae:
‘nunc tibi me posito visam velamine narres,
si poteris narrare, licet.’ nec plura minata
dat sparso capiti vivacis cornua cervi,
dat spatium collo summasque cacuminat aures,
cum pedibusque manus‚ cum longis bracchia mutat
cruribus et velat maculoso vellere corpus.
additus et pavor est. fugit Autonoeius heros
et se tam celerem cursu miratur in ipso.
ut vero vultus et cornua vidit in unda‚
‘me miserum!’ dicturus erat: vox nulla secuta est.
ingemuit: vox illa fuit, lacrimaeque per ora
non sua fluxerunt; mens tantum pristina mansit.
quid faciat? repetatne domum et regalia tecta
an lateat silvis? timor hoc, pudor inpedit illud.
Diana erfrischt sich eben im vertrauten Bad, doch siehe, der
Enkel des Kadmos — er hat zum Teil sein Tagwerk verschoben
und durchstreift ungewissen Schritts den unbekannten Wald —
gerät in jenen Hain! So wollte es sein Verhängnis. Sobald er die
Grotte betrat, die die Quelle befeuchtet, schlugen die
Nymphen, nackt wie sie waren, beim Anblick des Mannes
sich an die Brust, erfüllten zugleich mit kläglichem Schreien
den ganzen Wald, umringten Diana und deckten sie mit
ihren Leibern. Allein, höher gewachsen als sie ist die Göttin
selbst; um Haupteslänge überragt sie alle.
Die Röte, die Wolken färbt im Licht der Abendsonne oder der
purpurnen Aurora, die überzog Dianas Antlitz, weil man ohne
Gewand sie erblickte. So dicht sie auch die Schar ihrer
Gefährtinnen umringte, drehte sich sich doch zur Seite und
wandte das Gesicht ab. Wie gerne hätte sie nun die Pfeile zur
Hand gehabt, die sie hatte! So aber schöpfte sie Wasser und
spritzte es dem Mann ins Angesicht, und während sie auch
sein Haar mit dem rächenden Naß netzte, fügte sie
folgende Worte hinzu, Vorboten künftigen Unheils: »Jetzt
magst du erzählen, daß du mich ohne Schleier gesehn hast, wenn
du’s noch erzählen kannstl« Ohne weiter zu drohen, gibt sie sei-
nem feuchten Haupt das Geweih des langlebenden Hirsches,
gibt Länge dem Hals und läßt die Ohren ganz oben sich spitzen,
verwandelt die Hände in Füße, in schlanke Läufe die Arme und
hüllt in geflecktes Fell seinen Leib. Furchtsamkeit bekam er
dazu. Es flieht Aktäon, der Held, und daß er so flink ist, wun-
dert ihn eben beim Lauf. Als er im Spiegel des Wassers sein
Gesicht und das Geweih erblickte, wollte er »Ich Unseligerl«
rufen, doch es folgte kein Wort, er stöhnte nur. Das war nun
seine Stimme, und Tränen strömten über die Züge, die nicht die
seinen waren; nur Empfindung blieb ihm wie früher. Was soll er
tun? Soll er nach Hause, zur Königsburg sich begeben oder sich
bergen im Wald? Dies verbietet die Furcht und jenes die Scham.

Tizian: Der Tod des Actäon, 1559-1575,
Öl auf Leinwand, 178 x 198 cm, National Gallery, London
Dum dubitat, videre canes; primique, Melampus
Ichnobatesque sagax latratu signa dedere,
Gnosius Ichnobates, Spartana gente Melampus.
inde ruunt alii rapida velocius aura,
Pamphagus et Dorceus et Oribasus, Arcades omnes,
Nebrophonusque valens et trux cum Laelape Theron
et pedibus Pterelas et naribus utilis Agre,
Hylaeusque ferox nuper percussus ab apro
deque lupo concepta Nape pecudesque secuta
Poemenis et natis comitata Harpyia duobus,
et substricta gerens Sicyonius ilia Ladon,
et Dromas et Canache Sticteque et Tigris et Alce
et niveis Leucon et villis Asbolus atris
praevalidusque Lacon et cursu fortis Aello
et Thous et Cyprio velox cum fratre Lycisce
et nigram medio frontem distinctus ab albo
Harpalos et Melaneus hirsutaque corpore Lachne
et patre Dictaeo, sed matre Laconide nati
Labros et Agriodus et acutae vocis Hylactor
quosque referre mora est. ea turba cupidine praedae
per rupes scopulosque adituque carentia saxa,
quaque est difficilis quaque est via nulla, sequuntur.
ille fugit: per quae fuerat loca saepe secutus,
heu, famulos fugit ipse suos! clamare libebat
‘Actaeon ego sum, dominum cognoscite vestrum!’
verba animo desunt; resonat latratibus aether.

Prima Melanchaetes in tergo vulnera fecit,
proxima Therodamas, Oresitrophus haesit in armo
(tardius exierant, sed per compendia montis
anticipata via est); dominum retinentibus illis,
cetera turba coit confertque in corpore dentes.
iam loca vulneribus desunt; gemit ille, sonumque‚
etsi non hominis, quem non tamen edere possit
cervus‚ habet maestisque replet iuga nota querellis
et genibus pronis supplex similisque roganti
circumfert tacitos tamquam sua bracchia vultus.
at comites rapidum solitis hortatibus agmen
ignari instigant oculisque Actaeona quaerunt
et velut absentem certatim Actaeona clamant
(ad nomen caput ille refert) et abesse queruntur,
nec capere oblatae segnem spectacula praedae.
vellet abesse quidem, sed adest: velletque videre,
non etiam sentire canum fera facta suorum.
undique circumstant, mersisque in corpore rostris
dilacerant falsi dominum sub imagine cervi.

Nec nisi finita per plurima vulnera vita
ira pharetratae fertur satiata Dianae.
Während er noch schwankte, erblickten ihn seine Hunde, und
als erste gaben bellend Schwarzfuß Laut und Spürnase mit der
feinen Witterung. Spürnase stammte aus Kreta, Schwarzfuß war
von spartanischer Rasse. Gleich stürmen, schnell wie der Wind,
noch andre herbei: Allesfresser, Scharfauge, Bergsteiger — Arka-
dier alle —, Hirschkalbwürger, der starke, und mit Windsbraut
der schreckliche Hetzer, Flügelschlag, gut als Renner wie Fangab
als Spürhund, Waldmann, der wilde, vom Eber kürzlich ver-
wundet, Försterin — von einem Wolfe gezeugt —, und Hirtin, die
Schafen einst folgte, von zwei Jungen begleitet Harpyie, mit
schmächtigen Weichen Ladon aus Sikyon, Läufer und Kläffer
und Schecke und Tiger und Kraftvoll, dann mit hellen Zotteln
Schneeweißchen, Kohlschwarz mit dunklen, Spartakus, bären-
stark, Wirbelwind, unermüdlich im Laufe, Blitz und die schnelle
Wölfin mit ihrem Bruder aus Zypern, Packan mit dem weißen
Fleck mitten auf der schwarzen Stirn, Finsterling auch und
Flock, ganz struppig am Leibe, und — der Vater ein Kreter, die
Mutter aus Sparta — Meerwolf und Reißzahn und Blaff mit seiner
durchdringenden Stimme, dazu andere, deren Erwähnung
nur aufhält. Dieser Schwarm folgt voller Gier nach Beute über
Berg und Tal und Klippen und unzugängliche Felsen, da wo der
Weg beschwerlich ist und da, wo es keinen mehr gibt. Aktäon
flieht durch Gelände, durch das er so oft den Spuren des Wilds
gefolgt war. Ach, er flieht vor den eigenen Helfern! Gern wollte
er rufen: »Aktäon bin ich, erkennt doch euren Herrn!« Doch dem
Wünsche fehlen die Worte, es widerhallt vom Bellen der Äther.

Zuerst verletzte ihn Schwarzhaar im Rücken, dann Wildfang,
Bergbursche biß sich am Bug fest. Die waren später losgerannt,
doch hatten sie im Bergwald den Weg abgekürzt und Vorsprung
gewonnen. Während diese ihren Herrn festhalten, sammelt sich
die übrige Meute und gräbt ihm die Zähne in den Leib; schon fehlt es
an Raum für neue Wunden. Aktäon seufzt — der Laut, den er ausstößt,
ist zwar nicht menschlich, doch so, wie ein Hirsch nie schreien könnte
— und erfüllt mit Wehklagen das bekannte Gebirge, sinkt vorwärts auf
die Knie nieder, gleich einem, der demütig um Schutz fleht, und läßt
seine Blicke schweifen, als wären es bittende Hände. Aber seine Gefährten
treiben die rasende Meute mit den üblichen Rufen ahnungslos
an, halten Ausschau nach Aktäon, und, als wäre er fern, rufen sie
um die Wette Aktäon. Er wendet bei seinem Namen das Haupt.
Sie klagen, daß er nicht da sei, daß er, verspätet, das Schauspiel
des Fanges nicht mit ihnen teile. Da wünscht er zwar, fern zu
sein, doch er ist da! Er möchte nur sehen, nicht spüren das wilde
Treiben der eigenen Hunde! Von allen Seiten umdrängen sie ihn,
schlagen ihr scharfes Gebiß in seinen Leib und zerreißen ihren
Herrn in der trügerischen Erscheinung eines Hirsches.

Erst, als unter zahllosen Wunden sein Leben endete, war, so
sagt man, der Zorn der köchertragenden Diana gestillt.

Pieter van Liesebetten: Diana und Actäon, 1656-1660,
Kupferstich nach Tizian aus der Folge "Theatrum Pictorium", 21 x 31 cm.
Quelle: Ovid: Metamorphosen. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Gerhard Fink. Albatros, Mannheim 2010. ISBN 978-3-491-96280-4. Seiten 128-135


In der Kammermusikkammer ist gelegentlich auch Platz für großes Orchester:

Sergei Rachmaninow: Klavierkonzerte (Peter Rösel, Berliner Sinfonie-Orchester, Kurt Sanderling). | Italienische Dichter des Mittelalters, übertragen von Karl Vossler. 

Franz Liszt: Klavierkonzerte Nr. 1 & 2, Totentanz, Ungarische Fantasie. | Historisch-Musische Anagrammatik von Helmut Kracke, und Bilder von Minimax. "Am Anfang war auch Schnabel nur / Das Ende einer Nabelschnur."

Chopin: Klavierkonzerte Nr. 1 und 2 (Alexis Weissenberg, 1967), | Erwin Panofsky: Interpretatio Christiana: "Antoninus Pius wurde in St. Peter verwandelt, Herkules zur Fortitudo, Phaedra zur Jungfrau Maria".

Mozart / Mendelssohn: Violinkonzerte mit Jascha Heifetz. | Fritz von Herzmanovsky-Orlando: Maskenspiel der Genien: "Es ist eine traurige, aber unbestreitbare Tatsache, daß die Welt dem Phänomen Österreich mit tiefem Unwissen gegenübersteht."



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Francis Poulenc: Klavierwerke

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Der Komponist Francis Poulenc wurde im Jahr 1899 in eine wohlhabende Familie von Pharmaindustriellen hineingeboren. Seine Mutter, eine ausgezeichnete Pianistin, gab ihm die ersten Klavierstunden‚ als er erst fünf Jahre alt war. Als zehnjähriger konnte er einige Gedichte von Mallarmé auswendig hersagen und mit 16 Jahren nahm er Unterricht bei Ricardo Viñes, dem Freund von Debussy und Ravel, deren Werke er interpretierte. 1918 wurde Poulenc mit den Komponisten Georges Auric, Arthur Honegger, Darius Milhaud und Eric Satie bekannt; letzterer war der Widmungsträger seiner ersten veröffentlichten Komposition, der Rapsodie nègre. Im Jahr 1920 verlieh der französische Musikkritiker Henri Collet Poulenc, Auric, Honegger, Milhaud, Louis Durey und Germaine Tailleferre den Beinamen „Groupe des Six“. Diese von Satie und Jean Cocteau beeinflussten Komponisten standen infolge ihrer fortschrittlichen Ideen in einem etwas dubiosen Ruf.

Die vorliegende CD beginnt mit den Trois Mouvements perpétuels (1918), die bei pianistischen Amateuren beliebt waren. Im Jahr 1924 verbreitete sich Poulencs Ruhm dank seiner Musik für Diaghilevs Ballet Les Biches auch außerhalb von Paris. Etwa zehn Jahre später kam sein Freund Pierre-Octave Ferraud bei einem Autounfall ums Leben; dieses Ereignis berührte ihn so tief, dass er sich wieder dem katholischen Glauben seiner Familie zuwandte. Er schrieb eine Reihe von Chorwerken über geistliche Texte, sowohl a cappella als auch mit Orchesterbegleitung. Diese Chorwerke und viele andere markante Kompositionen für Klavier, verschiedene Kammermusikbesetzungen, Orchester, sowie Lieder und Opern bilden seinen unverwechselbaren Nachlass. Während des Zweiten Weltkriegs lebte er im besetzten Teil Frankreichs und 1947 hatte er mit seiner ersten Oper, Les Mamelles de Tirésias, einen Riesenerfolg. Im folgenden Jahr besuchte er die Vereinigten Staaten zum ersten Mal. 1963 steckte er mitten in der Arbeit an seiner vierten Oper über Cocteaus La Machine infernale, als er in Paris einem Herzanfall erlag.

Kennzeichen von Poulencs Œuvre sind das warm leuchtende Kolorit, die rhythmische Vitalität und originelle Harmonik; dazu kam eine ausgesprochen individuelle Synthese von Humor und Melodik (und, wie er selber postulierte, „beaucoup de pedale“). Diese Eigenheiten kommen in der Auswahl der vorliegenden CD, die etwa ein Drittel seiner solistischen Klavierwerke enthält, gut zur Geltung. Der überwiegende Teil seiner Kompositionen für das Instrument stammt aus den frühen 1930er Jahren; allerdings entstanden die ältesten hier aufgenommenen Werke — die Trois Mouvements perpétuels und die Sonate zu vier Händen — schon 1918, und die dritte Novelette, sein letztes Werk für Klavier solo, viel später, nämlich 1959. Poulenc behauptete, sein einfallsreichster Klaviersatz sei in der Begleitung seiner Lieder zu finden, aber seine solistischen Stücke sind von seinem ganz individuellen Stil belebt. Am Klavier fand Poulenc an erster Stelle seine kompositorische Sprache; nach eigener Aussage konnte er nie die Freude am Klavierspielen vom Bedürfnis zu komponieren trennen.

Quelle: Anonymus, im Booklet

Francis Poulenc (1899-1963)

TRACKLIST

Francis Poulenc (1899-1963)

Klavierwerke

Trois Mouvements perpétuels (1918)
01. I. Assze modéré 01:19
02. II. Très modéré 01:01
03. III. Alerte 02:43

Trois Novelettes
04. Nr.1 C-Dur (1928) 02:54
05. Nr.2 b-moll (1928) 01:59
06. Nr.3 e-moll (1959) 02:23

07. Valse C-Dur (1919) 01:51

08. Pastourelle (1927) 02:11

Suite française (1936)
09. Bransle de Bourgogne 01:38
10. Pavane 02:33
11. Petite marche militaire 01:00
12. Complainte 01:24
13. Bransle de Champagne 01:55
14. Sicilienne 01:31
15. Carillon 01:46

16. Presto B-Dur (1934) 01:36

Sonate pour Piano à quatre mains (1918)*
17. I. Prélude 02:11
18. II. Rustique 01:54
19. III. Finale (très vite) 01:52

20. L'Embarquement pour Cythere (1951)* 02:08

Suite C-Dur (1920)
21. I. Presto 01:57
22. II. Andante 02:04
23. III. Vif 01:28

Trois Pièces (1928)
24. Pastorale 02:27
25. Hymne 04:11
26. Toccata 02:03

27. Mélancolie (1940) 05:43

28. Humoresque (1934) 01:45

Trois Intermezzi
29. Nr.1 C-Dur (1934) 01:40
30. Nr.2 Des-Dur (1934) 02:11
31. Nr.3 As-Dur (1943) 04:16

Villageoises (1933)
32. Valse tyrolienne 00:36
33. Staccato 00:46
34. Rustique 00:39
35. Polka 00:31
36. Petite ronde 00:41
37. Coda 00:54

38. Française (1939) 01:36

39. Bourrée au Pavillon d'Auvergne (1937) 01:35

Gesamt 75:07
Gabriel Tacchino, Klavier
*mit Jacques Février, Klavier

Aufgenommen: XII 1966 (1-8), III 1967 (9-16), X - XI 1972 (17-20), IV 1979 (21-23), X 1980 (24-28),
V 1982 (29-31), XII 1983 (32-38), X 1983 (39), Salle Wagram, Paris.
Produzent: Eric Macleod
Tonmeister: Paul Vavasseur (1-20), Serge Remy (21-23, 27-39), Daniel Michel & Serge Remy (24-26)

(P) 1968, 1973, 1982, 1985
(C) Compilation 2003


Lukian: Das Gastmahl oder die Lapithen

(Philon (PHI) und Lykinos (LYK) (1,17)

Kentauromachie. Frontplatte eines Sarkophags, um 150 n.Chr, Marmor. Archäologisches Museum, Ostia
PHI. […] Aber sag mir zuerst: Hatte euch Aristainetos zur Hochzeit seines Sohnes Zenon eingeladen?

LYK. Nein, es war seine Tochter Kleanthis, die er dem Sohn des Eukritos zur Frau gab — du weißt schon: Vater Geldverleiher, Sohn Philosophiestudent.

PHI. Beim Zeus, ein ausnehmend hübsches Bürschchen, aber er ist doch noch ein zarter Junge und kaum alt genug, um zu heiraten!

LYK. Einen passenderen hatte er aber nicht, glaube ich. Und weil der einen ordentlichen Eindruck machte, sich zur Philosophie hingezogen fühlt und außerdem der einzige Sohn des reichen Eukritos ist, da hat er ihm vor allen anderen den Vorzug als Bräutigam gegeben.

PHI. Eukritos’ Geld — da nennst du keinen kleinen Grund! Jetzt aber, Lykinos: Wer waren die Gäste?

LYK. Warum sollte ich dir die übrigen alle aufzählen? Die Vertreter von Philosophie und Rhetorik hingegen, von denen du, glaube ich, in erster Linie hören willst, waren der alte Stoiker Zenothemis und mit ihm Diphilos‚ genannt ›Labyrinth‹, der Lehrer von Aristainetos’ Sohn Zenon; von den Peripatetikern Kleodemos, du weißt schon, der Zungenfertige, der Disputiermeister, ›Schwert‹ nennen ihn seine Schüler und ›Beil‹. Es war aber auch der Epikureer Hermon da, und schon bei seinem Eintreten sahen ihn die Stoiker böse an, wandten sich ab und bekundeten deutlich ihren Abscheu vor ihm wie vor einem Vatermörder und verfluchten Frevler. Sie alle waren als Aristainetos’ eigene Freunde und Bekannte zum Fest eingeladen worden, und mit ihnen der Grammatiker Histiaios und der Rhetor Dionysodoros. Chaireas, dem Bräutigam, zu Gefallen war auch sein Lehrer, der Platoniker Ion, zu Gast, ehrwürdig anzuschauen, jeder Zoll divin‚ und Zucht und Unbescholtenheit standen ihm ins Gesicht geschrieben: Schließlich nennen ihn die meisten ja auch ›Maßstab‹ mit Blick auf die Geradheit seiner Anschauungen. Bei seiner Ankunft machten ihm alle Platz und begrüßten ihn wie einen von den Mächtigen, kurz: der Herrgott auf Besuch, das war’s, daß der vielbestaunte Ion gekommen war.

Schon wurde es Zeit, sich auf den Klinen niederzulassen, es waren beinahe alle da; auf der rechten Seite der Eintretenden nahmen die Frauen das ganze Liegesofa ein, ziemlich viele waren es, und unter ihnen die Braut, sorgfältigst verschleiert, von den Frauen schützend umgeben. Gegenüber der Tür lagen all die übrigen, jeder nach seinem Rang. Den Frauen gegenüber lagen zuerst Eukritos, dann Aristainetos. Dann gab es eine Diskussion, ob nun zuerst Zenothemis der Stoiker seinem Alter entsprechend folgen solle oder Hermon der Epikureer: Denn er war Priester der Dioskuren und entstammte der ersten Familie der Stadt. Doch Zenothemis löste diese Aporie: »Aristainetos,« sagte er, »wenn du mich hinter diesem Hermon da auf den zweiten Platz verweist, einem, um kein anderes Schimpfwort zu gebrauchen, Epikureer, dann lasse ich dich mit deinem ganzen Symposion hier stehen und gehe.« Mit diesen Worten rief er schon nach seinem Sklaven und sah aus, als wolle er den Raum verlassen. Da sagte Hermon: »Dann setz dich eben auf den ersten Platz, Zenothemis; allerdings hätte es dir gut zu Gesicht gestanden, einem Priester Platz zu machen, wenn schon aus keinem anderen Grund, wie sehr auch immer du den göttlichen Epikur verachtest.« — »Daß ich nicht lache‚« sagte Zenothemis, »ein Epikureer — und Priester!« und mit diesen Worten nahm er Platz, nach ihm dann trotzdem Hermon, dann Kleodemos der Peripatetiker, dann Ion und unterhalb von ihm der Bräutigam, dann ich, neben mir Diphilos und unterhalb von ihm sein Schüler Zenon, dann der Rhetor Dionysodoros und der Grammatiker Histiaios.

Kentauromachie. Friesplatte vom Apollontempel in Bassai,
Westliche Langseite, Platte 528. British Museum, London
PHI. Potztausend, Lykinos, geradezu ein Musenheiligtum beschreibst du da, ein Symposion von fast ausschließlich weisen Männern, und ich muß den Aristainetos wirklich für seine Entscheidung loben, zu einem großen und wichtigen Fest anstelle anderer Leute die Weisesten der Weisen einzuladen, eine Blütenlese der jeweiligen Schulen, und nicht die einen schon, aber die anderen nicht, sondern alle ohne Unterschied.

LYK. Er gehört eben, lieber Freund, nicht zu diesen Allerweltsreichen, sondern die Bildung liegt ihm am Herzen, und er verbringt die meiste Zeit seines Lebens mit diesen Leuten.

Nun, das Essen verlief zuerst ganz ruhig, und die Speisenfolge war abwechslungsreich. Aber ich denke doch, das muß ich dir nicht alles aufzählen, die Brühen und die Kuchen und die übrigen leckeren Sachen: von allem im Überfluß. Indessen beugte sich Kleodemos zu Ion: »Siehst du den Alten«, sagte er — er meinte Zenothemis, ich hörte nämlich zu —, »wie er sich mit den Köstlichkeiten vollstopft‚ wie er sich seinen Umhang mit Suppe bekleckert, und was er alles seinem Sklaven hinter sich gibt: Und er glaubt, die anderen würden es nicht merken, aber er denkt nicht an die in seinem Rücken! Zeig das auch mal dem Lykinos, damit er Zeuge ist!« Ich brauchte aber Ions Hinweis gar nicht, hatte ich es doch schon viel früher bemerkt, da ich von meinem Platz aus alles gut überblicken konnte.

Kaum hatte Kleodemos das gesagt, da platzte uneingeladen der Kyniker Alkidamas herein, jenes bekannte Scherzwort auf den Lippen, wonach »ungerufen erschien Menelaos«. Die meisten fanden das unverschämt und unterbrachen ihn mit naheliegenden Entgegnungen: »Töricht handelst du, Menelaos«, skandierte der eine, der andere: »Nur Agamemnon, dem Sohne des Atreus, behagte das gar nicht«, und brummelten noch weitere zur Situation passende und elegante Bemerkungen in ihre Bärte: Offen zu reden traute sich allerdings keiner, denn sie fürchteten sich vor Alkidamas, der eben wirklich ein »Meister im Schlachtruf« ist und von allen Hunden der lärmendste Kläffer. Deshalb hielten ihn auch alle für eine bedeutende Persönlichkeit, und er jagte jedermann gewaltige Angst ein. Aristainetos wollte ihn auf einen Sessel neben Histiaios und Dionysodoros komplimentieren, aber er sagte: »Zum Teufel damit! Sessel und Liegen sind was für Weiber und Schlappschwänze wie euch, die ihr euch da auf diesem weichen Lager ausstreckt, ach was: fläzt, und es euch, auf Purpur gebettet, schmecken laßt. Ich hingegen ziehe es vor, im Stehen zu essen und dabei im Speisesaal auf und ab zu gehen. Und sollte ich müde werden, dann lege ich mich auf meinen Mantel und stütze mich auf den Ellbogen, wie Herakles auf den Bildern.« — »Aber bitte doch«, sagte Aristainetos, »wenn es dir so lieber ist.« Und so spazierte Alkidamas von nun an während des Essens im Kreis herum und wechselte wie die Skythen stets zur fetteren Weide, immer auf den Spuren der Speisenträger. […]

Kentauromachie. Friesplatte vom Apollontempel in Bassai,
Südliche Schmalseite, Platte 526. British Museum, London
Auch bei den anderen Gästen kreiste der Becher jetzt unaufhörlich, man prostete einander zu und unterhielt sich, Lichter wurden hereingebracht. Da sah ich in all dem Getriebe den Diener, der bei Kleodemos stand, einen hübschen Mundschenk, verstohlen lächeln — ich soll ja wohl, denke ich, auch alles erzählen, was sich am Rande des Festes ereignete, vor allem, wenn es sich um delikatere Dinge handelt —, und gleich ließ ich ihn nicht mehr aus den Augen, um herauszufinden, warum er lächelte. Kurz darauf kam er nach vorn, um Kleodemos’ Schale entgegenzunehmen, der aber streichelte seinen Finger und drückte ihm, glaube ich, mit der Schale zwei Drachmen in die Hand. Der Diener lächelte wieder, als er ihm den Finger streichelte, allerdings bemerkte er, glaube ich, die Münzen nicht: So entglitten sie seinen Fingern und fielen geräuschvoll zu Boden, was die beiden erröten ließ, und zwar ziemlich. Die Gäste unmittelbar daneben fragten sich, wem die Münzen gehören könnten‚ denn der Diener bestritt, sie verloren zu haben, und Kleodemos, an dessen Platz das Geräusch zu hören gewesen war, tat so, als ob er sie nicht hätte fallen lassen. Nun, man wandte sich darüber anderen Dingen zu und vergaß die ganze Sache: Es hatten ohnehin nicht sehr viele mitbekommen, außer einem, wie mir schien: Aristainetos. Der ließ nämlich kurz darauf den Diener sich diskret entfernen und befahl zu Kleodemos einen von den schon älteren und kräftigen, einen Esel- oder Pferdetreiber. Ja, so ging diese Angelegenheit also aus, und es hätte für Kleodemos reichlich peinlich werden können, wenn sie bei allen Gästen die Runde gemacht hätte und nicht sofort von Aristainetos im Keim erstickt worden wäre, der den Übermut der Zecher bestens im Griff hatte. […]

Die meisten waren jetzt schon stark angeheitert, und der Speisesaal hallte wider von ihren lauten Unterhaltungen: Dionysodoros‚ der Rhetor, deklamierte irgendwelche von seinen Reden, eine nach der anderen, und sonnte sich in der Bewunderung der hinter ihm aufwartenden Diener; der Grammatiker Histiaios, der neben ihm lag, rezitierte Gedichte und vermischte dabei Verse von Pindar, Hesiod und Anakreon, so daß daraus ein einzelnes Lied entstand, das fürchterlich komisch war, vor allem aber, gerade als ob er das Kommende vorausgesagt hätte, diese Verse: »Sie ließen ihre Schilde zusammenstoßen«, und »gleichzeitig schrieen sie da vor Schmerz und vor Jubel«. Zenothemis hingegen las währenddessen aus einem Buch mit kleiner Schrift vor, das er sich von seinem Diener hatte geben lassen. […]

Denn nun trat in die Mitte des Saales ein Diener, der verkündete, er komme von Hetoimokles dem Stoiker. Er hatte ein Schreibtäfelchen bei sich und sagte, sein Herr habe ihm aufgetragen, dies allen öffentlich zu Gehör zu bringen und dann wieder zurückzukommen. Aristainetos gab ihm die Erlaubnis zu sprechen; so trat er also zur Lampe und las laut vor.

PHI. Wohl eines der üblichen Loblieder auf die Braut, Lykinos, oder ein Hochzeitsgedicht?

Kentauromachie. Friesplatte vom Apollontempel in Bassai,
Östliche Langseite, Platte 522. British Museum, London
LYK. Das dachten wir natürlich auch, aber von wegen! Davon konnte keine Rede sein! Da stand vielmehr folgen- des: »Hetoimokles der Philosoph grüßt Aristainetos. Von meiner Einstellung zu Festessen legt wohl mein ganzes bisheriges Leben Zeugnis ab. Jedenfalls habe ich mich, obwohl mich jeden Tag viele Leute, die viel reicher sind als du, mit Einladungen bedrängen, noch nie so mir nichts dir nichts dafür hergegeben: Ich kenne doch das Gelärme und die Ausgelassenheit bei Gelagen! Nur in deinem Fall ärgere ich mich, zu Recht, wie ich meine: Da habe ich mich so lange und so intensiv um dich gekümmert, und nun hältst du mich noch nicht einmal für würdig, mich unter deine Freunde zu zählen, sondern ich allein bekomme nichts ab, dabei wohne ich direkt nebenan. Es bekümmert mich mehr für dich, daß so dein Undank offenbar wird; denn für mich liegt die Glückseligkeit nicht in einer Portion Schweine- oder Hasenbraten oder in einem Stück Kuchen, die ich bei anderen, die wissen, was sich gehört, reichlich genießen kann. Denn ich hätte heute auch bei meinem Schüler Pammenes ein vollendetes Festessen bekommen können — alle Welt spricht davon —, habe aber abgesagt, obwohl er gebettelt hat, weil ich Dummkopf mich für dich aufgehoben habe. Du aber hast mich übergangen und bewirtest andere — natürlich! Denn du hast ja noch nie einen Blick gehabt für das, was besser ist, und die kataleptische Phantasie besitzt du schon gar nicht! Aber ich weiß, wem ich das zu verdanken habe: deinen tollen Philosophen, Zenothemis und Labyrinth, denen ich — Adrasteia sei fern — im Handumdrehen mit einem einzigen Syllogismus das Maul stopfen könnte. Soll doch mal einer von ihnen sagen, was die Philosophie ist! Oder diese erste aller Fragen, worin sich die Schesis von der Hexis unterscheidet! Um gar nicht erst von den Aporien zu sprechen, dem ›Horn‹, dem ›Haufen‹ oder dem ›Schnitter‹.

Aber bitte, viel Glück mit ihnen! In der festen Überzeugung, daß allein das Edle gut ist, trage ich die Entehrung leicht. Trotzdem habe ich, damit du dich jedenfalls später nicht in die Ausrede flüchten kannst, du hättest die Einladung in dem ganzen Trubel bloß vergessen, dich heute zweimal angesprochen, einmal morgens vor dem Haus, dann später noch einmal beim Opfer im Dioskuren-Tempel. Somit bin ich gegenüber den Anwesenden entschuldigt. Wenn du aber jetzt glaubst, ich sei wegen des Essens wütend, dann denke an die Geschichte von Oineus: Da kannst du nämlich sehen, daß auch Artemis sich geärgert hat, weil er nur sie allein nicht zum Opfer holte, während er die anderen Götter alle bewirtete. Davon spricht Homer ungefähr folgendermaßen:

›Er vergaß es, oder dachte nicht daran, gewaltig war er verblendet in seinem Mute.‹

und Euripides:

›Das ist das Land Kalydon, der Peloponnes
Gegenüber, mit seinen glücklichen Feldern.‹

und Sophokles:

›Ein Schwein, ein gewaltiges Ding, zu den Feldern des Oineus
Sandte die Tochter der Leto, die fernhintreffende Göttin.‹

Kentauromachie. Friesplatte vom Apollontempel in Bassai,
Westliche Langseite, Platte 521. British Museum, London
Nur ein paar Beispiele von vielen habe ich dir angeführt, damit du merkst, was für einen Mann du übergangen hast, um dafür Diphilos zu bewirten, und ihm deinen Sohn anzuvertrauen, natürlich: Er ist dem Bürschchen ja sehr zugetan, und sie verkehren miteinander voller Hingabe. Wäre solcher Klatsch nicht unter meinem Niveau, dann könnte ich mehr erzählen, und wenn es dich interessiert, kannst du dir vom Pädagogen Zopyros bestätigen lassen, daß es stimmt. Aber man soll ja keine Hochzeit stören und auch nicht andere Leute verleumden, und schon gar nicht mit so häßlichen Vorwürfen. Und wenn Diphilos es auch verdient hätte, wo er mir schon zwei Schüler abspenstig gemacht hat, so werde ich aber doch aus Liebe zur Philosophie schweigen.

Ich habe diesem Diener aufgetragen, für den Fall, daß du ihm ein Stück Schweinebraten oder Hirschfleisch oder Sesamkuchen für mich als Entschuldigung für das entgangene Essen mitgibst, es nicht anzunehmen, damit es nicht so aussieht, als hätte ich ihn eigens zu dem Zweck geschickt.«

Während dieser Lesung, lieber Freund, lief mir vor lauter Scham der Schweiß hinunter, und ich wäre am liebsten, wie man so schön sagt, in den Erdboden versunken, als ich sah, wie die Gäste bei jedem Satz lachten, vor allem diejenigen, die Hetoimokles kannten, einen schon ergrauten und ehrwürdig aussehenden Mann. Da wunderten sie sich nun, daß sie gar nicht gemerkt hatten, was für einer er wirklich war, und daß sie sich durch seinen Bart und sein ernstes und strenges Gesicht hatten täuschen lassen. Denn ich glaube, Aristainetos hatte ihn nicht aus Unachtsamkeit übergangen, vielmehr hätte er wohl nie zu hoffen gewagt, daß Hetoimokles eine Einladung annehmen oder sich für so etwas hergeben würde. Und so hatte er es nicht für der Mühe wert gehalten, es auch nur zu versuchen.

Als nun der Diener endlich fertig vorgelesen hatte, da wandten sich die Blicke aller Gäste auf Zenon und Diphilos, die vor Schreck ganz blaß geworden waren und deren hilflose Gesichter die Vorwürfe des Hetoimokles bestätigten; Aristainetos hingegen war ganz verstört und innerlich aufgewühlt, forderte uns aber trotzdem zu trinken auf, versuchte schmallippig lächelnd, den Vorfall vergessen zu machen, und schickte den Diener mit den Worten weg, er werde sich darum kümmern. Kurz danach stand auch Zenon auf und zog sich unauffällig zurück, nachdem sein Pädagoge ihm mit einer Kopfbewegung zu verstehen gegeben hatte, er solle auf Anordnung seines Vaters verschwinden.

Kleodemos hatte schon die ganze Zeit nur auf eine passende Gelegenheit gewartet - er wollte sich nämlich mit den Stoikern anlegen und platzte beinahe, weil er keinen rechten Anlaß finden konnte —, und jetzt, wo der Brief gewissermaßen den Startschuß gegeben hatte, sagte er: »Solche Früchte verdanken wir dem edlen Chrysipp, dem herrlichen Zenon und dem Kleanthes: unseliges Geschwätz, ewige Fragereien und philosophisches Posieren, aber eigentlich sind sie fast alle Leute wie Hetoimokles. Schaut euch diesen Brief an, ganz der eines ehrwürdigen Greises, und am Ende ist Aristainetos Oineus und Hetoimokles Artemis! Beim Herakles, nein, was für schöne Segenswünsche, und wie passend für ein Fest!« »Allerdings, beim Zeus!« sagte Hermon, der oberhalb von ihm lag. »Hetoimokles hat, denke ich, läuten hören, daß bei Aristainetos ein Schwein auf den Tisch kommen sollte, und daher hielt er es für nicht unangebracht, die Sprache auf den kalydonischen Eber zu bringen. Aber, bei Hestia, Aristainetos, schick dem Alten nur schleunigst seinen Teil am Erstlingsopfer, bevor er am Ende noch vor Hunger eingeht wie Meleager. Andererseits sollte ihm das doch nichts ausmachen: Chrysipp hielt so etwas ja für gleichgültig‚« »Ihr redet von Chrysipp?« fragte Zenothemis ziemlich laut und richtete sich auf. »Ihr nehmt einen einzigen Mann, der nicht einmal regelgerecht philosophieren kann, Hetoimokles den Scharlatan, zum Maßstab, um Denker wie Kleanthes und Zenon zu beurteilen? Wer seid ihr denn, daß ihr euch so zu reden traut! Hast du denn nicht, Hermon, den Statuen der Dioskuren die Locken abgeschoren, weil sie aus Gold waren? Dafür wirst du noch büßen, wenn du dich erst in den Händen des Henkers befindest. Und du, Kleodemos‚ hast du es nicht mit der Frau deines Schülers Sostratos getrieben und hast die peinlichsten Folgen tragen müssen, als man dich ertappt hat? Wollt ihr also nicht still sein, wo ihr genau wißt, was ihr auf dem Kerbholz habt?« — »lmmerhin mache ich nicht bei meiner eigenen Frau den Zuhälter«, antwortete Kleodemos, »so wie du, und ich habe mir auch nicht von einem ausländischen Schüler sein Reisegeld anvertrauen lassen und dann bei der Athena Polias geschworen, ich hätte es nie bekommen, und ich verleihe mein Geld auch nicht auf vier Prozent, und ich gehe meinen Schülern auch nicht an die Gurgel‚ wenn sie ihre Studiengebühren nicht pünktlich zahlen.« »Du wirst aber nicht abstreiten wollen«, sagte Zenothemis, »daß du dem Kriton für seinen Vater Gift verkauft hast.«

Michelangelo: Zentaurenschlacht, um 1492, Marmor, 84 x 90 cm.
Museo Casa Buonarroti, Florenz
Und mit diesen Worten schüttete er ihnen, er hatte nämlich gerade seinen Kelch in der Hand, seinen restlichen Wein, fast noch die Hälfte, ins Gesicht. Auch Ion, der daneben saß, bekam seinen Anteil ab, und verdient hatte er es durchaus. Hermon beugte sich vor, um sich den Wein vom Kopf zu wischen, und rief die Anwesenden zu Zeugen an für das, was man ihm angetan hatte. Kleodemos, der keinen Weinkelch hatte, drehte sich zu Zenothemis um, bespuckte ihn und packte ihn mit der Linken am Bart, um ihm eine runterzuhauen‚ und er hätte den Alten umgebracht, wenn Aristainetos ihm nicht die Hand festgehalten hätte, über Zenothemis hinübergestiegen wäre und sich zwischen sie gelegt hätte, damit sie, mit ihm als Sperrmauer‚ Frieden halten mußten. […]

Denn auch nachdem Aristainetos sich zwischen sie gelegt hatte, hörten Zenothemis und Kleodemos nicht auf, sich hartnäckig weiterzuzanken. Vielmehr sagte Kleodemos: »Für jetzt soll es genügen, wenn ihr als Dummköpfe entlarvt werdet, aber morgen will ich euch so in die Schranken weisen, wie es sich außerdem noch gehört. Antworte mir daher, Zenothemis, du oder der Tugendbold Diphilos, wie es kommt, daß ihr den Gelderwerb als gleichgültig bezeichnet, aber an nichts anderes denkt als bloß daran, wie ihr noch mehr anhäufen könnt, und euch deswegen immer an die Reichen haltet und Geld zu Wucherzinsen verleiht und Studiengebühren erhebt, und warum ihr die Lust verabscheut und die Epikureer anklagt, selber aber, wenn es euch nur Lust bereitet, die schlimmsten und peinlichsten Dinge tut und mit euch geschehen laßt und euch schon ärgert, wenn man euch nicht zum Essen einlädt. Lädt man euch aber ein, dann eßt ihr so viel, und so viel gebt ihr euren Dienern ...« — und mit diesen Worten versuchte er die Stofftasche an sich zu reißen, die der Sklave des Zenothemis hielt und die mit den verschiedensten Fleischsorten gefüllt war, und beinahe hätte er sie aufgemacht und das Fleisch auf den Boden geworfen, aber der Sklave ließ nicht los und hielt kräftig dagegen. Und Hermon sagte: »Bravo, Kleodemos! Sollen sie doch mal erklären, wieso sie die Lust anklagen, aber selbst mehr als alle anderen auf Lustgewinn aus sind.« — »O nein, sag du doch, Kleodemos«, antwortete Zenothemis, »wie du dazu kommst, den Reichtum nicht für etwas Gleichgültiges zu halten.« — »Nein‚ du!« Und so ging es einige Zeit hin und her […] und zugleich wurde uns der sogenannte ›letzte Gang‹ serviert, ein Vogel für jeden, Schweinefleisch, Hase, Bratfisch, Sesamkuchen und Knabberzeug, und das alles durfte man auch mit nach Hause nehmen. Es stand aber nicht eine Platte mit Essen vor jedem, sondern Aristainetos und Eukritos hatten eine zusammen auf einem Tisch, und jeder von beiden sollte das nehmen, was sich auf seiner Seite befand; Zenothemis der Stoiker und Hermon der Epikureer hatten genauso eine gemeinsame Platte, dann der Reihe nach Kleodemos und Ion, nach ihnen der Bräutigam und ich; Diphilos bekam Essen für zwei serviert, denn Zenon hatte ja das Fest verlassen. […]

Antonio Canova: Theseus tötet den Zentaur, 1805/19.
Kunsthistorisches Museum, Wien.
Hermon und Zenothemis lagen auf einer Kline, wie ich erzählt habe, Zenothemis weiter oben, Hermon unterhalb von ihm. Ihnen hatte man alles übrige in gleicher Menge serviert, und sie packten es friedlich ein; der Vogel, der vor Hermon lag, war allerdings (rein zufällig, glaube ich) ein klein wenig fetter: Aber auch die hätten sie, jeder seinen, einpacken sollen. Da ließ Zenothemis — paß gut auf, Philon, jetzt kommen wir nämlich zum Höhepunkt der Ereignisse —, Zenothemis, sagte ich, ließ seinen Vogel los und griff nach dem, der vor Hermon lag, weil der, wie gesagt, fetter war. Aber Hermon hielt ihn fest und wollte nicht zulassen, daß Zenothemis mehr haben sollte als er. Lautes Gezeter, dann fielen sie übereinander her, droschen einander die Vögel ins Gesicht, packten sich gegenseitig am Bart und riefen um Hilfe, Hermon den Kleodemos‚ Zenothemis Alkidamas und Diphilos, und die Herren ergriffen Partei, die einen für diesen, die anderen für jenen, außer Ion: Der wahrte strikte Neutralität. Die anderen jedoch kämpften, ineinander verkeilt. Da griff sich Zenothemis einen Pokal, der vor Aristainetos auf dem Tisch gestanden hatte, schleuderte ihn auf Hermon,

»und schoß an jenem vorbei, eine andre Bahn nahm das Geschoß«,

und spaltete dem Bräutigam den Schädel, die Wunde war ordentlich tief. Da kreischten die Frauen los, und die meisten sprangen aufs Schlachtfeld, vorne weg die Mutter des Bürschchens, als sie das Blut sah. Auch die Braut fuhr hoch, in höchster Angst um ihn. Bei all dem zeichnete sich Alkidamas als Kampfgenosse des Zenothemis aus und zertrümmerte mit seinem Knüppel dem Kleodemos den Schädel, dem Hermon zermalmte er den Kiefer, und er verwundete einige Diener, die ihnen zu helfen versuchten. Ihre Gegner ließen sich allerdings nicht so leicht in die Flucht schlagen, im Gegenteil! Kleodemos bohrte dem Zenothemis mit gestrecktem Zeigefinger das Auge aus, packte ihn an der Nase und biß sie ihm ab, und Hermon warf den Diphilos, der zur Unterstützung des Zenothemis herbeigeeilt war, kopfüber von der Kline herunter. Bei dem Versuch, sie zu trennen, wurde auch Histiaios, der Grammatiker, verwundet, indem er, glaube ich, von Kleodemos‚ der ihn für Diphilos hielt, einen Tritt in die Zähne bekam. Da lag er nun, der Arme, und »spie noch Blut«, ganz wie bei seinem Homer. Kurz, ein gewaltiges Durcheinander und Geheule. Die Frauen flatterten um Chaireas herum und schrieen und jammerten, die übrigen Gäste versuchten zu schlichten. Das größte Übel von allen stellte Alkidamas dar, der, nachdem er sich nun einmal zum Herrn des Schlachtfeldes gemacht hatte, auf jeden, der ihm in den Weg kam, eindrosch. Und viele wären zu Boden gegangen, da kannst du sicher sein, wenn er nicht seinen Knüppel zerbrochen hätte. Ich drückte mich aufrecht an die Wand und beobachtete alles, ohne mich einzumischen, wohl belehrt durch das Beispiel des Histiaios, wie riskant es ist, in einer solchen Situation vermitteln zu wollen.

Lapithen und Kentauren hättest du nun hier sehen können, umgekippte Tische, Blut in Strömen, Pokale im Flug. Zuletzt kippte Alkidamas die Lampe um und stürzte alles in tiefe Dunkelheit, wodurch die Sache natürlich nur um so schlimmer wurde. Denn so schnell hatten sie kein anderes Licht zur Hand, und viele schreckliche Dinge geschahen in der Dunkelheit. Als endlich jemand kam und Licht brachte, ertappten wir Alkidamas dabei, wie er gerade die Flötenspielerin auszog und vergewaltigen wollte, und Dionysodoros wurde bei einer anderen lustigen Sache erwischt: Ihm fiel nämlich beim Aufstehen ein Pokal aus dem Mantel. Er redete sich dann damit heraus, Ion habe ihn aufgehoben und ihn ihm in der Aufregung gegeben, damit er nicht verloren ginge, und Ion, rührend besorgt, bestätigte das.

Lucian von Samosata (120-180/200 n.Chr.).
Kupferstich von William Faithorne (1616-1591). [Quelle]´
So endete schließlich dieses tränenreiche Gastmahl doch noch in Gelächter über Alkidamas, Dionysodoros und Ion. Die Verwundeten wurden auf Bahren hinausgetragen; es ging ihnen schlecht, vor allem dem alten Zenothemis, der mit einer Hand seine Nase, mit der anderen sein Auge betastete und schrie, er sterbe vor Schmerzen, so daß Hermon, obwohl er selbst auch nicht gut dran war — zwei Zähne waren ihm ausgeschlagen worden —, das als Zeugenaussage gegen die stoische Philosophie nahm: »Denk daran, Zenothemis«, sagte er, »daß du den Schmerz für etwas nicht Gleichgültiges hältst!« Der Bräutigam wurde, nachdem Dionikos seine Wunde verarztet hatte, nach Hause gebracht, mit einem Verband um den Kopf; man hatte ihn auf den Wagen gelegt, auf dem er die Braut hätte heimführen sollen — ein bitteres Hochzeitsfest hatte der Arme gefeiert! Auch um die anderen kümmerte sich Dionikos, so gut er konnte, und sie wurden zum Schlafen nach Hause gebracht, wobei sich die meisten noch auf der Straße erbrachen. Alkidamas hingegen blieb, wo er war. Sie konnten den Kerl nicht hinausschaffen, nachdem er sich erst einmal quer über die Kline geworfen hatte und eingeschlafen war.

Das, werter Philon, war das Ende des Gastmahls, oder besser noch, ich zitiere jenen bekannten tragischen Schlußvers:

›In vielen Gestalten erscheint das Werk der Unsterblichen,
Vieles, was wir nie gehofft, führen die Götter zu Ende,
Vieles Gehoffte ward nicht vollzogen.‹

Denn in der Tat: Auch dies ging ganz gegen die Erwartung aus. Das jedenfalls habe ich gelernt: Daß es nicht ungefährlich ist, mit solchen Philosophen zu speisen, wenn man selbst kein Durchsetzungsvermögen besitzt.

Quelle: Lukian: Gegen den ungebildeten Büchernarren. Ausgewählte Werke. Übersetzt von Peter von Möllendorff. Artemis &amb; Winkler, Düsseldorf/Zürich 2006. ISBN 3-7608-4121-2. Seiten 146 bis 166 (gekürzt)


Link-Tipps

Lukian spielt im Alternativtitel seines Textes auf die Kentauromachie an, was mich dazu verführt hat, ihn mit den entsprechenden Illustrationen zu ergänzen.

Ogmios war ein Gott der Gallier, den Lukian in seinem Essay »Der gallische Herakles« (um 175 u.Z.) beschreibt. Er hat in Südgallien ein Fresko gesehen, auf dem ein Greis dargestellt war, von dessen durchbohrter Zunge zu den Ohren der ihm folgenden Menschen feine goldene Ketten führten. Für Lukian äußert sich darin die Personifikation der Redekunst.


Mehr französische Klaviermusik in der Kammermusikkammer

Gabriel Faurè (Jean-Philippe Collard, 1970-1983). | Arthur Schopenhauer: Über die Freiheit des Willens.

Frédéric Chopin (Daniel Barenboim, 1974). | Philippe Ariès: Der gezähmte Tod. (Aus den »Studien zur Geschichte des Todes im Abendland«)

Erik Satie (Michel Legrand, 1993). | Die Seagram Murals von Mark Rothko.



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Kurt Weill / Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper (Aufführung 1968)

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Gleich nach der Uraufführung im Jahre 1928 erfaßte ein wahrer Dreigroschenoper-Taumel Berlin, und bald darauf das ganze Land, dem erst die Nazis 1933 ein gewaltsames Ende setzten. Den Text zum Werk hatte Bert Brecht beigesteuert, und sich dabei "The Beggar's Opera" von Gay/Pepusch bedient, die exakt zweihundert Jahre zuvor, 1728, in London uraufgeführt wurde. Zudem hatte er Gedichte von Francois Villon, einem spätmittelalterlichen französischen Dichter, ins Deutsche übersetzt und in seinen Text eingebaut. Brechts Formulierungskraft war großartig, und Kurt Weill hatte dazu Melodien erfunden, die an Einprägsamkeit nicht zu überbieten sind. Mit seinen "Songs", einem Verschnitt zwischen Schlager und Moritat, schuf er einen neuen Typus der Form, mit der sich Operettenhaftes und Parodistisches bestens verbinden ließ. Die Moritat von Mackie Messer, die zu Anfang und zum Schluß des Werks erklingt, wurde zu einem Weltevergreen. Das Stück war als Anklage gegen die kapitalistische Gesellschaft der "goldenen" zwanziger Jahre gedacht und sollte gleichzeitig einen neuen Musiktypus begründen, der von der damals noch vorherrschenden "klassischen Operette" zu den Musicals unserer Zeit einen Bogen spannte.

Zur Aufführung 1968

Zur Legende der "Dreigroschenoper" gehört - neben dem turbulenten Verlauf der Proben für die Uraufführung - ihr verschlungener Weg durch die Schallplattengeschichte. Bis 1968, also bis vierzig Jahre nach der Berliner Premiere, sollte es dauern, bis die erste vollständige Fassung auf Platte erscheinen konnte, sowohl mit den Dialogen als auch mit den Songs. Die musikalische Leitung lag in Händen eines damals noch wenig bekannten Mannes: James Last. Ihm zur Seite stand ein Ensemble, das sich ebenso aus renommierten wie aus damals noch unbekannten Größen zusammensetzte. Man trifft nicht, wie gelegentlich in späteren Jahren, auf große Opernstimmen; man trifft ebenso wenig auf reine Revue-Sänger. Es ist vielmehr eine Melange aus echten Sing-Schauspielern: Helmut Qualtinger als Peachum und als dessen Gattin Berta Drews, Ehefrau von Heinrich George und Mutter von Götz. Karin Baal, die als "blonde Rebellin" den Zeitgeist der 50er und 60er Jahre verkörperte, sang und spielte Polly, Martin Held trat als Londons oberster Polizeichef auf, Dr. jur. Franz Josef Degenhardt, als Liedermacher eine der führenden Stimmen der 68er-Bewegung, übernahm die Rolle des Moritatensängers. Ein Jux am Rande: Als Ansager fungierte Deutschlands damals prominentester Nachrichtensprecher, Karl-Heinz Köpke. So entstand eine Aufnahme für den Platten-Hörer; daher wurde auf einige wenige bühnenrelevante Passagen verzichtet; es war eine Aufnahme, die in der Presse ein breites Echo fand, von entrüsteter Ablehnung bis enthusiastischer Begeisterung; eine Aufnahme, die niemanden kalt lassen wollte und konnte. In Brechts 50. Todesjahr [2006] ist diese Aufnahme dem Dornröschen-Schlaf in den Polydor-Archiven entrissen und dem Publikum nach digitalem remastering in neuem Klanggewand zugänglich gemacht worden. An der Aktualität des Werkes gibt es nichts zu deuteln. Für James Last hat Brechts und Weills Gemeinschaftsproduktion nach wie vor einen hohen Stellenwert: "Beide werden immer ihren Platz in den Kulturlandschaften haben müssen. Alleine dafür müssen wir allen jungen Interpreten dankbar sein, die immer wieder für neue Aufführungen sorgen.“

Quelle: Die Dreigroschenoper: Gesamtaufnahme Audio-CD – Hörbuch, 2006

TRACKLIST

Kurt Weill (1900-1950)
Bertolt Brecht (1898-1956)

Die Dreigroschenoper
Theaterstück mit Musik


(01) Vorspiel 2:12

(02) Die Moritat von Mackie Messer 3:38
(Moritatensänger)

(03) Morgenchoral des Peachum 1:04
(Peachum)

(04) Der Anstatt-Dass-Song 1:49
(Peachum und seine Frau)

(05) Bill Lawgen und Mary Syer 0:41
(Chor)

(06) Die Seeräuber-Jenny 3:46
(Polly Peachum)

(07) Der Kanonensong 2:31
(Brown / Mackie Messer)

(08) Siehst du den Mond über Soho 1:36
(Polly Peachum / Mackie Messer)

(09) Einst glaubte ich, als ich noch unschuldig war 4:45
(Polly Peachum)

(10) Die Ballade von der sexuellen Hörigkeit 2:15
(Frau Peachum)

(11) Erstes Dreigroschenfinale: Über die Unsicherheit
menschlicher Verhältnisse 3:37
(Polly Peachum / Peachum / Frau Peachum)

(12) Hübsch als es währte - Die Liebe dauert oder
dauert nicht 1:21
(Polly Peachum / Mackie Messer)

(13) Die Zuhälterballade 4:28
(Mackie Messer / Spelunken-Jenny)

(14) Die Ballade vom angenehmen Leben 2:44
(Mackie Messer)

(15) Eifersuchtsduett 1:10
(Polly Peachum / Lucy Brown)

(16) Zweites Dreigroschenfinale: Erst kommt das Fressen,
dann kommt die Moral 3:36
(Moritatensänger / Spelunken-Jenny / Chor)

(17) Die Ballade von der sexuellen Hörigkeit, 2. Teil 1:08
(Frau Peachum)

(18) Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen
Strebens 1:34
(Peachum)

(19) Salomo-Sonq 3:23
(Spelunken-Jenny)

(20) Ballade, in der Macheath jedermann Abbitte
leistet 3:54
(Mackie Messer)

(21) Drittes Dreigroschenfinale: Verfolgt das Unrecht
nicht zu sehr 5:54
(Polly Peachum / Frau Peachum / Spelunken-Jenny /
Mackie Messer / Brown / Peachum / Chor)

(22) Die Moritat von Mackie Messer (Schluss) 1:24
(Moritatensänger)

Gesamtspielzeit 58:30


Jonathan Jeremiah Peachum, Besitzer der Firma Bettlers Freund:
Helmut Qualtinger
Celia Peachum, seine Frau: Berta Drews
Polly Peachum, seine Tochter: Karin Baal
Macheath, genannt Mackie Messer: Hannes Messemer
Brown, oberster Polizeichef von London: Martin Held
Lucy seine Tochter: Sylvia Anders
Spelunken-Jenny: Hanne Wieder
Filch, ein Bettler: Hans Clarin
Moritatensänger: Franz-Josef Degenhardt
Ansager: Karl-Heinz Köpke
Musikalische Leitung: James Last

Aufnahme: 1968 Publikation: 2000


Heinrich Tietze:

DAS GROSSE FERMATSCHE PROBLEM

Buchdeckel der von Pierre de Fermats Sohn Clément-Samuel veröffentlichten
 Version der Arithmetica des Diophantos von 1670 mit den Bemerkungen
 seines Vaters. [Quelle]
Es gibt sehr alte mathematische Probleme, von denen in ziemlich weiten Kreisen zwar nicht immer eine klare Vorstellung herrscht von denen aber bekannt war, daß sie noch ungelöst seien und von denen geglaubt wurde, daß irgendwo ein Preis für ihre Lösung ausgeschrieben sei. Hierher gehört vor allem das Problem der Quadratur des Kreises, ebenso das der Dreiteilung eines Winkels; und man stößt auch heute noch hie und da auf Leute, die hier noch an Lösungen glauben, die man nur entdecken müsse, und an Preise, die man erwerben könne. Keineswegs so alt wie die genannten geometrischen Konstruktionsprobleme aus dem Altertum ist nun ein Problem, das uns der französische Mathematiker Fermat (1607-1665) hinterlassen hat. Und das Unglück, das hier geschehen ist, bestand darin, daß tatsächlich von einem für die Förderung der Wissenschaft begeisterten Mann, der sich selbst mit dem Problem befaßt hatte, — es war dies Dr. Paul Wolfskehl in Darmstadt — im Jahr 1908 ein Preis von 100.000 Mark gestiftet wurde; was nun zur Folge hatte, daß bei einer ungezählten Menge von Unberufenen der Entdeckertrieb erwachte und von vermeintlichen, mit Fehlern und Mißverständnissen behafteten Lösungen eine wahre Sintflut entstand, die erst wieder verebbt ist, seit der vor dem Krieg (nämlich vor 1914) in Papier-Mark hinterlegte Preis zugleich mit so vielen anderen Stiftungen durch die Inflation entwertet war. […]

Wir beginnen mit den Quadratzahlen 12, 22, 32, ... und fragen, ob es möglich ist, daß die Summe zweier Quadratzahlen wieder eine Quadratzahl ist. Immer wird die Summe zweier Quadratzahlen ja nicht wiederum eine Quadratzahl sein. Beispielsweise ist 12 + 22 = 1 + 4 = 5 keine Quadratzahl; ebensowenig ist es 12 + 32 = 1 + 9 = 10, oder auch 22 + 32 = 4 + 9 = 13. Aber vorkommen kann es schon, wie man am Beispiel 32 + 42 = 9 + 16 sieht, wo die Summe 25 = 52 selbst eine Quadratzahl ist. Die Antwort auf unsere Frage fällt also bejahend aus, und wenn man sich noch ein wenig umtut, dann findet man noch mehr Beispiele, wie 52 + 122 = 25 + 144 = 169 = 132 oder 152 + 82 = 225 + 64 = 289 = 172. Man hat sogar — u. zw. schon im Altertum — eine vollständige Übersicht über alle möglichen solchen Fälle, deren es unendlich viele gibt, in Gestalt einer einfachen Formel sich verschaffen können.

Diese Seite der Arithmetica von 1670 enthält
Pierre de Fermats Randbemerkung. [Quelle]
Wir gehen nunmehr über zur dritten Zeile unserer tabellarischen Zusammenstellung, wo alle dritten Potenzen der natürlichen Zahlen (die „Kubikzahlen“) verzeichnet zu denken sind. Und wiederum fragen wir: Kann es vorkommen, daß die Summe zweier Kubikzahlen wieder eine Kubikzahl ist? Hier kann ich Ihnen nun mit keinem Beispiel aufwarten. Denn es hat noch niemand ein Beispiel dafür gefunden,
daß für drei natürliche Zahlen x, y, z die Gleichung

x3 + y3 = z3

erfüllt wäre, obwohl mit der Frage, die ja im Anschluß an die Quadratzahlen recht nahe liegt, schon viele, denen die Neigung zum Basteln und Grübeln im Reich der ganzen Zahlen innewohnt, sich abgegeben haben. Die Vergeblichkeit des Suchens nach einer Lösung der Gleichung x3 + y3 = z3 in drei natürlichen Zahlen x, y und z ließ nun bei manchem Mathematiker den Verdacht entstehen, es möchte überhaupt gar keine solchen Zahlen geben, was ja der einfachste Grund sein würde, daß man bis jetzt keine Lösung fand. Und so hat denn — wie man einer Schrift entnimmt, die den Scheich Abu Dschafar Muhamed Ibn Allusain zum Verfasser hat — bereits der arabische Astronom und Mathematiker Alhogendi um 970 einen — wenn auch nicht ausreichenden — Versuch gemacht, einen Beweis für die Unlösbarkeit der Gleichung x3 + y3 = z3 in natürlichen Zahlen x, y, z zu geben. Auch bei dem persischen Mathematiker Beha Eddin (geb. 1547, gest. 1622 in Ispahan) kehrt die Angabe wieder, die Gleichung sei unlösbar.

Was bei den dritten Potenzen vergeblich gesucht worden war, mißlang auch bei den vierten Potenzen; nämlich zwei vierte Potenzen von natürlichen Zahlen zu finden, deren Summe wieder eine solche vierte Potenz ist: Auch Lösungen der Gleichung

x4 + y4 = z4

in natürlichen Zahlen x, y, z schienen nicht zu existieren oder allenfalls nur in so hohen Zahlbereichen, daß sie sich den naturgemäß mit nicht ganz großen Zahlen gemachten rechnerischen Versuchen entzogen. […]

Pierre de Fermat (1607-1665).
Kupferstich von François de Poilly (1623-1693). [Quelle]
Aber wie dem auch sei, so mochte wohl schon vor Fermat der eine oder andere Mathematiker die Mutmaßung gehabt haben, daß auch für größere Exponenten n (also für n = 5, n = 6, n = 7, usw.) die Gleichung

xn + yn = zn

keine Lösung in natürlichen Zahlen x, y, z habe.

Was aber die ganze Problemstellung dauernd mit dem Namen Fermats verknüpft hat, war der Umstand, daß er, der zu den angesehensten Mathematikern seiner Zeit zählte, behauptet hat, er besitze einen Beweis für die Unlösbarkeit aller Gleichungen von der eingeschriebenen Gestalt, das ist also für alle Exponenten n von n = 3 aufwärts. Mit dieser Behauptung, nicht zuletzt mit der ganzen Art, wie so manche seiner Entdeckungen bekanntgeworden sind, hat es nun eine eigene Bewandtnis.

Seines großen Zeitgenossen und Rivalen René Descartes (1596 bis 1650), der in Europa kreuz und quer herumgekommen, schließlich, kurz nach seiner Ankunft am Hof der Königin Christine erst mit dem Tode Ruhe fand, haben wir in der III. Vorlesung gedacht. Wie ganz anders — fernab von den religiös-politischen und kriegerischen Kämpfen der Zeit des 30jährigen Krieges — verlief das Leben Pierre de Fermats, der am 17. August 1601 in dem kleinen Ort Beaumont de Lomagne bei Toulouse geboren, nur ganz selten aus Toulouse und seiner Umgebung herauskam; hier die Rechtswissenschaften studiert hatte, als er 1631 Parlamentsrat wurde, bald darauf sich verheiratete, in den folgenden Jahren geadelt wurde und am 12. Januar 1665 in Castres starb. Aber welche Fülle neuer Gedanken auf den verschiedensten Gebieten der Mathematik finden wir bei diesem Mann, dessen Tagesarbeit durch die regelmäßige Verwaltungstätigkeit seiner Vaterstadt in Anspruch genommen war! Fragen, die wir seit Newton (1643-1727) und Leibniz (1646-1716) mit dem systematisch durchgebildeten Rechenverfahren der Differential- und Integralrechnung erledigen, wurden schon damals von erfindungsreichen Mathematikern mit eigenen Methoden behandelt; und so wie Descartes hat hier Fermat Bedeutsames in der Lösung einzelner, speziell geometrischer Fragen, u. zw. mit einer genial gehandhabten Methode für Maximum- und Minimum-Probleme geleistet. Und wenn wir mit dem berühmten, 1637 erschienenen Buch „Géométrie“ von Descartes den Beginn einer „analytischen Geometrie“ datieren, so hatte gleichwohl auch Fermat‚ wie aus seinem Briefwechsel mit anderen Gelehrten nachweisbar ist, ganz unabhängig die Grundgedanken der analytischen Geometrie entwickelt, wenn er auch in keiner Weise die Priorität der Veröffentlichung Descartes bestreitet.

Marin Mersenne (1588-1648).
Kupferstich von P. Dupin, 1765. [Quelle]
Noch war übrigens damals die Art, wie neue Ergebnisse der Fachwelt bekannt gemacht wurden, sehr verschieden von der heute üblichen, wo (zumindest in Friedenszeit) anerkannten Verfassern zur Drucklegung ihrer Manuskripte die Auswahl offensteht zwischen mannigfachen regelmäßig erscheinenden Fach- und Akademiezeitschriften, die es alle damals noch nicht gab. Auch erinnern wir uns aus den Streitigkeiten um die sogenannte Cardanische Formel für Gleichungen 3. Grades der Gepflogenheit, eigene Lösungen einer Frage zurückzuhalten und vorerst die fachliche Konkurrenz zur Lösung herauszufordem — eine Gepflogenheit, die noch zwei Generationen nach Fermats Zeit in einem weithin bekanntgewordenen Streit der verfeindeten Brüder Jakob und Johann Bernoulli lebendig war. Dabei wurde die Verbindung mit der Fachwelt — auch des Auslands — durch einen Briefwechsel hergestellt, der bei Fermat zumeist über gewisse Mittelspersonen geleitet wurde, wie den Minoritenpater Mersenne (1588-1648) in Paris (zeitweise auch im Kloster von Nevers), einen Mann von überaus großem wissenschaftlichem Bekanntenkreis. Aber auch in direktem Briefwechsel beschränkte man sich auf Mitteilungen von Resultaten und verschwieg den Weg, der zu ihnen führte. Und wie man bei Reisen oder in einsamen Gasthöfen hinsichtlich des Reisegepäcks, so fühlte sich der Gelehrte nicht sicher vor räuberischen Zugriffen nach seinem geistigen Eigentum, wie sie dadurch, daß die wissenschaftlichen Mitteilungen nicht sofort der gesamten Fachwelt unterbreitet werden konnten, möglich wurden und tatsächlich vorgekommen sind — als dunkle Flecken auf dem Charakter einzelner Forscher. Auch zwischen Fermat und Descartes, welch letzterer in Leyden wohl etwas bessere Gelegenheit zur Drucklegung hatte, gab es einmal durch unliebsame Indiskretionen eines Dritten mit den Druckbogen einer optischen Untersuchung eine Trübung, die aber dann durch einen an Descartes gerichteten Brief von Fermat behoben und in äußerst höflichen Formen beigelegt wurde.

Auf dem Gebiet der Algebra, von dem Descartes’ Buch „Géométrie“ mehr enthält, als der Titel verrät, mag man Descartes den Vorrang vor den ebenfalls nicht unbedeutenden Leistungen Fermats geben. Unbestritten aber steht auf dem Gebiet, zu dem unsere oben besprochene Frage über die Gleichungen xn + yn = zn gehört, und das wir heute als Zahlentheorie bezeichnen, Fermat an der Spitze nicht nur seiner Zeitgenossen, sondern geradezu weithin auf einsamer Höhe. Aber in sehr eigenartiger Weise ist gerade auf diesem Gebiet sein großer schöpferischer Gedankenreichtum auf uns gekommen.

Leonhard Euler (1707-1783).
Pastel von Jakob Emanuel Handmann, 1753  [Quelle]
Hier müssen wir in die Zeit der altgriechischen Mathematiker zurückgreifen, um den genialen Meister der Zahlentheorie zu finden, an den Fermat anknüpft: Diophantos von Alexandria. Das berühmte Werk „Arithmetisches“ Diophants enthält in seinem ersten Teil eine Art Vorlesung über die Elemente der Algebra, wie wir heute sagen würden, wobei eine — von den heutigen Formen des Buchstabenrechnens äußerlich natürlich abweichende — aber schon überaus systematische Bezeichnungsweise algebraischer Ausdrücke eingeführt wird. Ein zweiter Teil enthält eine große Anzahl von Einzelaufgaben und die an manche von ihnen angeschlossenen allgemeinen Aussagen stellen bedeutsame Ergebnisse eben jenes Teils der Mathematik dar, den man nunmehr als Zahlentheorie bezeichnet. In welchem Ausmaß das Werk, das seiner Einleitung nach 13 Bücher umfassen sollte, unvollständig auf uns gekommen ist und was es ursprünglich noch enthalten haben mag, darüber haben Geschichtsforscher unserer Wissenschaft mancherlei Überlegungen angestellt. […] Aus Angaben bei anderen Schriftstellern muß man oft versuchen, Fehlendes zu ergänzen.

Über Diophant selbst erfährt man zwar aus einem — im Sinn seiner eigenen Aufgaben verfaßten — hübschen Rätselgedicht), daß er 84 Jahre alt wurde; aber außer den wenigen Angaben über Frau und Kind, die hinein verwoben sind, weiß man eigentlich nur, daß er in Alexandria gewirkt hat, nicht aber wann; und es bleibt Mutmaßung, er sei Zeitgenosse des 361-363 n. Chr. regierenden römischen Kaisers Julian Apostata gewesen.

Wir überspringen nun rund 13 Jahrhunderte — vielleicht noch mehr — von der Abfassung des Diophantschen Werkes bis zu seiner ersten gedruckten Herausgabe im Jahre 1621. Und es ist ein Exemplar dieser Ausgabe, das eine besondere Bedeutung gewinnen sollte: dasjenige, das Fermat in Händen hatte. Auf den verschiedensten Seiten machte er Randbemerkungen, die tiefliegende, neue zahlentheoretische Erkenntnisse enthielten, ohne Angabe von Beweisen, wie er sie wohl manchmal anderwärts veröffentlicht hat. Raschen Publikationen waren ja weder die äußeren Umstände günstig, von denen wir schon kurz gesprochen haben und wozu wohl auch die berufliche Beanspruchung als Parlamentsrat zu rechnen ist, noch entsprachen sie den im Geist der Zeit gelegenen Neigungen von Fermat. Unter diesen Randbemerkungen zu Diophant aber findet sich eine, die die Unmöglichkeit der Lösung in natürlichen Zahlen x, y, z für die Gleichung x3 + y3 = z3, desgleichen für x4 + y4 = z4 und ganz allgemein für xn + yn = zn, mit jedem beliebigen Exponenten n größer als 2, behauptet, wobei Fermat ausdrücklich hinzufügt:

Carl Friedrich Gauß (1777-1855),
Gemälde von Gottlieb Biermann, 1887  [Quelle]
„Hierfür habe ich einen wahrhaft wunderbaren Beweis entdeckt, aber der Rand ist zu schmal, ihn zu fassen."
["Cujus rei demonstrationem mirabilem sane detexi; hanc marginis exiguitas non caperet."]

Dies die Behauptung Fermats. So steht es in einer vom Sohn Fermats nach dessen Tode herausgegebenen neuen Diophant-Ausgabe (1670), die diese und die anderen „Randbemerkungen“ bringt und dadurch ihren besonderen Wert erhielt.

Ob Fermat, der sonst sehr sorgsam in der Form seiner Behauptungen war, wirklich einen lückenlosen Beweis besaß? Ob die Randbemerkung nur dem ersten Erschauen eines Weges durch das Labyrinth des Problems entsprang — eines Wegs, den näher auszubauen und auf seine Ausführbarkeit zu überprüfen, späterem Durcharbeiten vorbehalten blieb? Wir wissen es nicht. Und da alle uns erhaltenen und in Frage kommenden Briefe und Schriften aus dem Nachlaß längst auf das eingehendste durchforscht sind, werden wir es wohl nie erfahren. Wohl aber ist das bis heute ungelöste Problem, ob wirklich für jeden Exponenten n > 2 eine Lösung von xn + yn = zn in natürlichen Zahlen x, y, z unmöglich sei, dauernd mit dem Namen Formats verbunden geblieben und hat seinen Namen in weitere Kreise getragen, als alle seine unbestritten gesicherten mathematischen Erfolge.

Allerdings hat man, besonders auch aus Hinweisen auf andere analoge Aussagen, einen Fingerzeig, in welcher Richtung das Beweisverfahren lag, das Fermat im Auge hatte. Zumal die ersten Erfolge, die später wenigstens in einigen Fällen zum Nachweis der Fermatschen Behauptung führten, in der gleichen Richtung liegen. Der Gedanke, von dem dabei zunächst ausgegangen ist, liegt recht nahe, wenn man sich vergegenwärtigt, daß beispielsweise im Falle des Exponenten n = 4 ein weiter Bereich von Zahlen x, y daraufhin durchprobiert war, ob nicht vielleicht einmal eine Summe x4 + y4 selbst gleich einer vierten Potenz z4 sei. Wenn also die Gleichung x4 + y4 = z4überhaupt eine Lösung haben sollte, dann jedenfalls nur in recht hohen Zahlen, die außerhalb des rechnerisch durchforschten Bereichs liegen.

Ernst Eduard Kummer (1810-1893) 
Wir haben schon bei früheren Gelegenheiten betont, daß man niemals den unendlichen Gesamtbereich aller Zahlen mit der Methode des Durchprobierens erschöpfen könne und daß zum Nachweis der allgemeinen Gültigkeit einer Behauptung ein geeigneter neuer Gedanke erforderlich sei. Wie steht es nun, wenn sich aus der Annahme einer Lösung von x4 + y4 = z4 in Zahlen x, y, z, die vielleicht ganz ungeheuer groß sein mögen, erschließen ließe, daß dann stets auch eine andere Lösung in wenigstens etwas kleineren Zahlen, sagen wir in höchstens halb so großen Zahlen existieren muß? Nimmt man an, der Bereich unter 10.000 sei rechnerisch durchforscht und es haben sich darin keine Zahlen x, y, z gefunden, so daß für sie die Gleichung x4 + y4 = z4 gelten würde. Unsere Schlußweise würde dann sofort gestatten, zu behaupten, daß auch im Bereich bis 20.000 keine Lösung anzutreffen sein wird, weil ja aus ihr auf eine Lösung unter 10.000 geschlossen werden könnte. Nun aber ist wieder klar, daß auch bis 40.000 keine Lösung liegen kann, da aus ihr auf eine unter 20.000 zu schließen wäre. Ein solches Schlußverfahren würde uns also jedes weiteren Probierens entheben: die Behauptung, daß es überhaupt keine Lösung geben kann, wäre gesichert.

In einem Bruchstück eines angefangenen, aber nicht vollendeten Aufsatzes, der auf der Leydener Bibliothek entdeckt wurde, spricht Fermat von einer Methode der „unendlichen oder unbegrenzten Abnahme“ („la descente infinie ou indéfinie“). Diese Bezeichnung trifft aber genau das Wesen der eben geschilderten Schlußweise.

Ob nun Fermat wirklich eine solche Schlußweise für das Problem der Gleichung xn + yn = zn besaß, u. zw. für jeden beliebigen Exponenten n und nicht nur für n = 4, wo man dies mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit annehmen darf, wird wohl immer im Dunkel bleiben. Denn wenn auch in einzelnen Fällen Erfolge erzielt wurden, so sind doch durch nunmehr zweieinhalb Jahrhunderte die Bemühungen der verschiedensten Forscher, in der angedeuteten Richtung einen allgemein gültigen Beweis zu entdecken, in welchem man dann den Beweis Fermats vermuten könnte, vergeblich geblieben.

Zu mächtigen Anregungen in der Weiterentwicklung der Zahlentheorie haben aber die Gedanken und Fragestellungen Fermats — und nicht zum wenigsten seine „Randbemerkungen“ zu Diophant — geführt. Gerade das nach ihm benannte Problem der Lösungen von xn + yn = zn, das uns heute beschäftigt, spielt dabei keine kleine Rolle, da von ihm aus ganz neuartige Zweige der Zahlentheorie sich entwickelten.

Andrew Wiles (* 1953), der den Großen Fermatschen
 Satz erst 1994 bewiesen hat. [Quelle]
Bleiben wir aber vorerst beim Fermatschen Problem selbst und berichten wir über den dermaligen Stand und wie sich nach Fermat die Dinge entwickelt haben! Es waren gewisse einzelne Werte des Exponenten n, für welche zunächst die Fermatsche Behauptung bewiesen werden konnte. Und zwar ist es nicht der Exponent n = 3, also nicht die Gleichung x3 + y3 = z3 gewesen, für die man zuerst die Unmöglichkeit einer Lösung in natürlichen Zahlen x, y, z nachweisen konnte, sondern die Gleichung x4 + y4 = z4, also der Exponent n = 4. Hier ergaben historische Nachforschungen, daß schon Frénicle de Bessy (der etwa 1602-1675 lebte) in einer 1676 erschienenen Schrift einen Beweis darlegte, von dem man annimmt, daß er mit Gedankengängen übereinstimmt, die schon Fermat für diesen Fall skizzierte. Ohne etwas von der nicht sehr bekanntgewordenen Untersuchung Frènicles zu wissen, hat sieben Jahrzehnte später, im Jahre 1747, der berühmte Mathematiker Euler nicht nur das gleiche Resultat bezüglich der Gleichung x4 + y4 = z4 gewonnen, sondern er hat 1763 unbestritten als erster in dem wesentlich schwierigeren Fall x3 + y3 = z3 die Unmöglichkeit einer Lösung in natürlichen Zahlen x, y, z zu beweisen vermocht‚ so daß man ihn als den ersten Bahnbrecher auf dem Gebiet des berühmten Problems angesehen hat. […]

Wieder verging mehr als ein halbes Jahrhundert, bis der Fall des Exponenten n = 5 und vierzehn Jahre später n = 7 erledigt werden konnte. Hat sich der erste der damals lebenden Mathematiker, der große Gauß, der so viele und verschiedenartige Probleme zu bewältigen wußte, niemals mit der von Fermat der Nachwelt hinterlassenen Aufgabe befaßt? Warum hat er dieses Problem nie erwähnt? Hielt er die Zeit dafür noch nicht reif und jene Gebiete noch nicht weit genug ausgebaut, auf denen fußend nachmals E. E. Kummer die bis heute weitreichendsten Fortschritte erzielen sollte? Gauß’ Nachlaß hat ergeben, daß er für die vorgenannten Fälle n = 5, n =: 7 etwa dieselben Beweise skizziert hatte, die dann von Dirichlet und Lamé veröffentlicht wurden. Hat er darin vielleicht nur Vorbereitungen zu einem allgemeinen Beweis für beliebige Exponenten n gesehen, den er nachmals, beim damaligen Stand der Zahlentheorie, noch nicht für fällig ansah? Wenn dies das Urteil eines Gauß gewesen sein konnte, soll man da nun lachen oder weinen über jene eingangs erwähnten vielzu vielen Preiswerber und über all die Harmlosen, die ohne Kenntnis vom Stand der Wissenschaft sich gleich an die Bezwingung ihrer schwerstumworbenen Probleme wagen?

Quelle: Heinrich Tietze: Gelöste und ungelöste mathematische Probleme aus alter und neuer Zeit. Band 2. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1982. ISBN 3-423-04399-7. Zitiert wurden Auszüge aus der 13. Vorlesung - Seite 104 bis 118

Tietze (1880-1964) hielt seine Vorlesungen in den 40er-Jahren des vorigen Jahrhunderts und konnte den Beweis der Fermatschen Vermutung nicht mehr erleben.


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