Die Bedeutung von Robert Fuchs (1847-1927) liegt – zumindest auf dem ersten Blick – in seiner Arbeit als Musikpädagoge. Sein fünf Jahre älterer Bruder, Johann Nepomuk Fuchs (1842-1899), war ein Schüler von Simon Sechter gewesen, von dem Schubert sich unterrichten lassen wollte, diente als Kapellmeister der Preßburger Oper, dirigierte in einer Reihe von großen Opernhäusern (auch in Wien) und lehrte Komposition am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, zu dessen Direktor er im Jahre 1893 aufstieg. Robert Fuchs gehörte von 1875 bis 1911 zum Personal des Konservatoriums und diente von 1894 bis 1905 als Organist an der Wiener Hofkapelle. Er war ein Freund von Brahms, der ihn erheblich zum Komponieren ermutigte und ihn dem Verleger Simrock vorstellte. Zu seinen Schülern zählten Komponisten wie Gustav Mahler, Hugo Wolf, Richard Strauss, Franz Schreker, Jean Sibelius, Alexander Zemlinsky und – mit Einschränkungen – Franz Schmidt.
Robert Fuchs wurde 1847 in Frauental an der Laßnitz in der österreichischen Steiermark geboren. Als Kind lernte er Flöte, Violine, Klavier und Orgel bei seinem Schwager, dem Schulmeister Martin Bischof, und ließ sich später – wie einst Schubert – in Graz zum Lehrer ausbilden. 1865 zog er nach Wien, wo er seinen Lebensunterhalt als Lehrer, Korrepetitor und Organist bestritt, während er unter Felix Otto Dessoff am Konservatorium Komposition studierte. Seinen ersten großen Erfolg als Komponist erzielte er 1874 mit der ersten seiner fünf Serenaden. Im folgenden Jahr wurde er zum Professor für Harmonielehre am Konservatorium ernannt und zum Dirigenten des Orchesters der Gesellschaft der Musikfreunde. 1886 erhielt er von der Jury der Wiener Musikfreunde den Beethoven-Preis für seine Sinfonie in C-Dur, ein Werk, dessen sich in der Folge Dirigenten wie Nikisch, Schalk, Richter und Weingartner annahmen. Weniger erfolgreich war die Oper »Die Königsbraut«, die 1889 an der Hofoper aufgeführt und von Hanslick gegeißelt wurde.
Seinen fünf Serenaden verdankt er den Spitznamen »Serenaden-Fuchs«, obwohl seine Kammer- und Klaviermusik die klassischen Traditionen der Wiener Schule mit bemerkenswerter Effektivität fortsetzt. Fuchs war stark von der Musik Schuberts beeinflußt, ein Komponist, dessen Gesamtausgabe im Verlag Breitkopf & Härtel durch seinen älteren Bruder mitherausgegeben wurde. Er verbindet lyrische Begabung mit einem soliden Verständnis der harmonischen und kontrapunktischen Technik und setzt in jeder Hinsicht eine Tradition fort, die – in anderen Händen – im frühen zwanzigsten Jahrhundert verschiedene Verzerrungen erdulden mußte. Der Vergleich mit Brahms ist unvermeidlich, da Fuchs mit dem gleichen musikalischen Akzent spricht.
Einiges von der Qualität der Musik von Fuchs wird in der ersten seiner beiden Cello-Sonaten, op. 29 in d-Moll (1881 veröffentlicht) deutlich, ein Werk, das die sofortige Zustimmung Brahms - in der Regel ein strenger Kritiker seiner Zeitgenossen - gewann. Die Affinität mit Brahms zeigt sich im dramatischen ersten Satz der Sonate. Der gleiche Geist erscheint im zart kapriziösen Scherzo und dessen kontrastierenden Trio. Die tief empfundene langsame Bewegung wird durch ein abschließendes Allegro gekrönt, mit der überquellenden Fröhlichkeit der steirischen Landschaft und zunächst ganz im Geiste von Schubert.
Das zweite der drei Werke, die Fuchs für Cello und Klavier schrieb, ist ein Satz von sieben Phantasiestücken, Opus 78, ein Gegenstück zu späteren Kompositionen mit dem gleichen Titel für Violine und Klavier bzw. (1927) für Viola und Klavier. (Daneben entstanden zu verschiedenen Zeiten Phantasiestücke für Klavier Solo.) Das erste Cello-Stück, leicht humorvoll und skurril, führt zu einem zarten und nostalgisch lyrischen zweiten Stück. Mit dem Klavier beginnt das lebendige dritte Stück, in der Art eines schnellen Ländlers, der sich nach kurzer Atempause in einen kontrastierenden Mittelteil verwandelt. Das vierte Stück atmet die Luft des Klavierlieds und wird von einem Menuett in Form einer spätromantischen Duosonate gefolgt. Das sechste Stück bringt die letzten Stücke Schumanns zu Bewußtsein, oder auch die herbstlichen Farben des späten Brahms. Das letzte Stück bemüht sich, die in die Komposition eingeflossene Melancholie wieder zu zerstreuen.
Die zweite Cello-Sonate, in es-Moll, Op. 83, wurde 1908 veröffentlicht, bleibt aber spürbar in der gleichen Welt wie die ein Vierteljahrhundert zuvor geschriebene Erste. Dies ist noch immer das Wien Brahms, ohne Anzeichen jener musikalischen Revolutionen, die anderswo bereits stattgefunden hatten. Der erste Satz ist wieder von lyrischer Intensität, mit an Brahms erinnernden Klaviertexturen und Rhythmen, und mit einer feinen Balance des musikalischen Interesses an den beiden Instrumenten. Der langsame Satz hat wieder einen Hauch von herbstlicher Lyrik und wird von einem Finalsatz gefolgt, der seine klaren Momente von Brahmsscher Virtuosität besitzt (insbesondere im Klavierpart, dessen Textur und gelegentliche Bravour das Spiel des Cellos durchkreuzt).
Quelle: Eigene Übersetzung der englischen »music notes« von Keith Anderson im Booklet
CD 1 Track 4 - Cellosonate d-Moll op 29 - IV. Allegro non troppo ma giocoso
Vater und Sohn Jakob Alt (1789-1872) & Rudolf Alt (1812-1905)
Der 1789 in Frankfurt am Main geborene Landschaftsmaler, Zeichner und Lithograf Jakob Alt erhielt seinen ersten Kunstunterricht in seiner Vaterstadt. Seit 1811 studierte Jakob Alt an der Wiener Akademie die Historienmalerei und bildete sich auf vielen Reisen in die österreichischen Donau- und Alpengegenden selbst als Landschaftsmaler aus. Zweimal, in den Jahren 1828 und 1833, bereiste er Oberitalien und hielt sich auch einige Zeit in Rom auf. In späteren Jahren arbeitete Alt hauptsächlich als Aquarellist (Ansichten von Rom für Kaiser Ferdinand I.) und lieferte einen großen Teil der Vorlagen für das von Adolf Friedrich Kunike lithografierte und herausgegebene Sammelwerk »264 Donau-Ansichten nach dem Laufe des Donaustromes« (Wien 1820-1826), und eine Reihe weiterer Ansichtenfolgen, unter anderem die »Malerische Donaureise von Engelharts-Zell bis Wien«.
Er unterrichtete seinen 1812 geborenen Sohn Rudolf, der schon als Kind des Vaters Lithografien kolorierte. Während und nach seiner akademischen Ausbildung begleitete der Sohn den Vater auf seinen Malerreisen, und in der Folge wurde deren künstlerische Zusammenarbeit so eng, dass es oft nicht möglich ist, in den mit »Jakob Alt« signierten Werken die einzelnen Hände zu scheiden. In späteren Jahren wurde Rudolf Alt berühmter und geschätzter als sein Vater, der daraufhin selbst nur mehr mit »Alt« signierte. 1897 – damals hatte er schon die Wiener Secession mitbegründet – wurde Rudolf in den Adelsstand erhoben und durfte sich »Ritter von Alt« nennen.
Es ist nur konsequent, daß die im Frühjahr 2010 von der Wiener Albertina präsentierte Ausstellung von Aquarellen »Im Auftrag des Kaisers« unter dem Titel »Jakob und Rudolf von Alt« stand. (Wobei aber auch Werke von Eduard Gurk und Leander Russ gezeigt wurden.) Im Auftrag von Kaiser Ferdinand I. entstanden zwischen 1830 und 1849 annähernd 300 Stadt- und Landschaftsansichten, die die Schönheiten des Österreichischen Kaiserreiches und der angrenzenden Länder dokumentieren sollten. Für diese Ansichten hat sich in der Kunstgeschichte der Ausdruck »Guckkastenserie« eingebürgert. Es gibt zwar keine Entstehungsgeschichte zur Serie der Guckkastenblätter und keinerlei Aufzeichnungen über den Verwendungszweck und die Absichten, die hinter dem Projekt standen.
Aber die Bezeichnung „Guckkastenblätter“ wurde durch die Interpretation von Berichten Ludwig Hevesis, des wichtigsten Biografen Rudolfs, geprägt. Diesen zufolge soll Kaiser Ferdinand I. für die Betrachtung der Aquarelle einen Kasten mit einem Hohlspiegel verwendet haben, an dessen Rückseite die Blätter eingeschoben und von hinten beleuchtet wurden. Eine derartige Vorgehensweise kann man sich für die auf Schloss Konopiště bei Prag verwahrten Werke der Serie gut vorstellen, denn sie weisen große Lichtschäden und starken Farbabrieb auf. Die Blätter im Besitz der Albertina und der Nationalbibliothek zeichnen sich jedoch durch erstaunliche Farbfrische und unversehrte Schönheit aus. Die Verwendung in einem Guckkasten, die ja immer vielfache Manipulation bedeutet, ist daher unwahrscheinlich.
Die »Teamarbeit« von Jakob und Rudolf Alt zieht sich durch die gesamte Guckkastenserie. Alle Blätter sind von Jakob – der Auftragnehmer des Hofes war – signiert. Tatsache ist jedoch, daß von den rund 170 Werken der Alts 46 Rudolf geschaffen hat. Dies wurde 1892 in einem Protokoll festgehalten. Die gesamte Guckkastenserie umfaßte über 300 großformatige und bildhaft ausgeführte Aquarelle, wovon heute noch 281 nachweisbar sind. Sie sind im Besitz der Albertina (227), im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (24) und auf Schloss Konopiště bei Prag (30).
Eines der für den »Guckkasten« ausgewählten Motive ist »Der Dachstein im Salzkammergut vom Vorderen Gosausee« von Jakob Alt, zu dem auch der Entwurf in der Albertina aufgewahrt wird. Entwurf und Ausführung wurden im November 2005 in einer Sonderausstellung zum 100. Todestag von Rudolf Alt nebeneinander präsentiert. Während der Bach unverändert rauscht, und der Dachstein unverrückbar in den Himmel ragt, haben die Bauern zwischen den beiden Fassungen die Kühe in den Stall getrieben und den Wanderrucksack geschultert. Und so erscheinen sie auch auf dem Cover von Robert Fuchs` Cellosonaten.
Quellen
Spärlich nur fließen im Netzwerk zu Jakob die nutzbaren Quellen. Hurtig befüllt ich den Krug, schöpfte von hierwie auchdort
Tom Lehrer ist der Schöpfer der brilliantesten jemals aufgezeichneten satirischen Lieder. - Sie wissen das wahrscheinlich schon, aber vielleicht wissen Sie folgendes nicht: Sein erstes Album, Songs By Tom Lehrer war eine der profitabelsten Investitionen in der Geschichte des Musikgeschäfts. Aufgenommen im Studio für 15 $ (15 Dollar – für das ganze Album) und ursprünglich nur für den Verkauf auf dem Campus der Harvard Universität vorgesehen, wurde Songs By Tom Lehrer von Lehrers eigenem Label 370.000 mal verkauft, und wurde eines der meistverkauften (wenn nicht das meistverkaufte) Album mit humoristischer Musik in den USA der 1950er Jahre.
Diese Sammlung enthält die ungekürzte Originalversion von Songs By Tom Lehrer (1953) und von seinem einzigen anderen Studioalbum, More Of Tom Lehrer. Zusätzlich sind alle schwer zu findenden 1960er Aufnahmen mit vollem Orchester enthalten, inklusive eines noch nie veröffentlichten Tracks, und eine brandneue Aufnahme eines der berühmtesten (oder berüchtigsten) Lieder Lehrers, »I Got It From Agnes«, das er niemals zuvor kommerziell aufgenommen hatte.
Lehrers Karriere als Entertainer war so kurz wie brilliant. Er wurde erst 1952, kurz vor seinem ersten Album, ein professioneller Unterhalter. Er stieg 1960 aus dem Showbusiness aus, und zwei Jahre seiner achtjährigen Laufbahn verbrachte er in der Armee. Abgesehen von einem sehr kurzen Comeback in der Mitte der 1960er Jahre (als er sein erfolgreichstes Album, That Was The Year That Was, veröffentlichte), verbrachte er seine Zeit als Lehrer und damit (nach seiner Aussage), das Leben leicht zu nehmen.
Tom Lehrer wurde geboren (am 9.April 1928) und aufgezogen in New York. »Mein Vater war ein Krawattenfabrikant, ein großer Mann in der Industrie. Ich hatte eine normale Kindheit, würde ich sagen. Ich bekam Klavierunterricht, wie jeder in diesen Tagen. Allerdings mochte ich klassische Musik nicht. Ich machte nur das absolute Minimum meiner Klavierübungen, aber dann klimperte ich populäre Musik, die ich von Aufnahmen kannte, und zuletzt gaben meine Eltern nach. In diesen Tagen gab es nicht viele Klavierlehrer für Pop-Musik, aber meine Mutter, Gott schütze sie, fahndete nach einem und fand ihn schließlich.«
CD 1, Track 13: Poisoning Pigeons In The Park
»Meine Eltern nahmen mich mit zu Broadway-Shows. Es gab eine, die ich viele male sah: Let’s Face It mit Danny Kaye. Er war sicherlich meine Inspiration – genauer gesagt seine Lieder, besonders jene, die Sylvia Fine geschrieben hatte. Ich hatte ein Album seiner 78er, das ich immer und immer wieder abspielte, als ich 15 war.«
Kayes Einfluß ist evident in einer Reihe von Lehrers Liedern. Im besonderen wurde »Lobachevsky« direkt inspiriert durch eine Passage Kayes über den großen Russischen Direktor Stanislawski. »The Elements« war ein Versuch, den Song »Tschaikowsky« von Ira Gershwin und Kurt Weill zu übertreffen. Kaye sang ihn in der Show Lady In The Dark, indem er mit Lichtgeschwindigkeit die Namen von 50 Russischen Komponisten herunterratterte.
Als frühreifer Student, absolvierte Lehrer mit 15 die High School und ging nach Harvard. Bald begann er für Partys und besondere Anlässe kleine Lieder und Parodien zu schreiben. 1945, im Alter von 17, schrieb er »Fight Fiercely, Harvard«, die älteste Komposition auf dieser CD. Er absolvierte den Bachelor in Mathematik mit 18 und blieb in Harvard als Postgraduate bis 1953, mit Ausnahme eines Jahres an der Columbia Universität.
»Das erste Mal, daß ich außerhalb einer privaten Party öffentlich sang, war im Graduiertenkurs. Es gab einen Gesangswettbewerb, und vier von uns stellten sich hin und sangen einige meiner Lieder. Wir waren die einzigen Teilnehmer, und so weigerten sie sich, uns den Preis zu geben, aber wir sangen! Dann wurden wir engagiert, um auf dem Harvard Freshman Smoker zu singen, einer jährlichen Veranstaltung, wo die Anfängerklassen – alles Buben in diesen Tagen – zusammenkamen, um Bier zu drinken und sich zu übergeben. Die anderen drei Sänger schlugen andere Karrieren ein, aber ich trat solo weiter auf dem Campus auf, bei Tanzveranstaltungen, und dergleichen.«
»Mein erster echter öffentlicher Auftritt war im Herbst 1952, in einem Nachtclub namens Alpini’s Rendezvous in Boston, für 15 $ pro Nacht. Die Gage wurde mehrmals um 5 $ erhöht, aber als ich dann 30 $ bekam, sagten sie plötzlich, das wär zu viel, und ich ging«. Seit kurzem gab es die ersten LPs, was die Aufnahme und den Vertrieb eines Albums in Eigenregie leichter gemacht hatte, als in den Tagen der fragilen und sperrigen 78er Platten.
»Es gab einen Doktor in Boston namens Shep Ginandes, der Folklieder sang. Er machte ein Album davon und veröffentlichte es privat. Ich rief ihn an, und er hab mir sehr geholfen. Ich fand ein Studio in Boston, und sie übernahmen die Aufnahmesitzung, das Pressen der LPs und den Druck der Umschläge. Ich nahm das erste Album am 22. Jänner 1953 in nur einer Sitzung auf. Ich denke, es hat eine Stunde gedauert, vielleicht ein bißchen länger.«
CD 1, Track 23: We Will All Go Together When We Go
»Die ganze Idee war, es in und um Harvard abzusetzen. Plattenläden waren einverstanden, es für 3 $ zu übernehmen und für 3,50 $ zu verkaufen, aus Gefälligkeit für die Allgemeinheit. Außerdem hatte jedes Studentenheim in Harvard so was wie einen Zeitschriftenladen, und sie würden es auch verkaufen, für 3 bzw. 3,50 $. Die ersten 400 Kopien hatten auf der Rückseite meine Privatadresse aufgedruckt: Kirkland Road 6.«
In diesem Sommer spielten viele Harvard-Studenten das Album zu Hause ihren Freunden vor. »Ich bekam plötzlich Bestellungen von College-Städten aus dem ganzen Land. Dann bekam ich eine Menge Bestellungen aus San Francisco, was ich nicht verstehen konnte. Es stellte sich heraus, das der Musikkritiker des San Francisco Chronicle dem Album eine ganze Kolumne gewidmet hatte, mit Angabe des Preises und der Adresse.«
Zu Weihnachten 1953 wurde Lehrer vom Blue Angel gebucht, damals einer der Top Nachtclubs in New York. Nachdem er die zwei größten Spezialitäten-Plattenläden der Stadt überzeugt hatte, das Album anzubieten, das sich prompt gut verkaufte, wurden mehrere große Plattenlabel neugierig. Aber alle schreckten wahrscheinlich vor den kontroversiellen Texten zurück. Ob er wollte oder nicht, blieb Lehrer ein unabhängiger Unternehmer. »Ich sprach mit Manny Sachs von RCA. Er erklärte, dass RCA Kühlschränke und andere Konsumartikel verkaufen würde, und keine Proteste gegen etwas in ihrem Plattenlabel brauchen könne.«
Auch das Radio scheute sich vor Songs By Tom Lehrer, mit Ausnahme einiger UKW-Sender spät in der Nacht (in jenen Tagen hatten nur Fans von ernster Musik und Hi-Fi Freaks ein UKW-Radio). Aber die Bestellungen per Post wurden mit jeder Woche mehr. Tom richtete in der Vorstadt ein Büro für Lehrer Records ein und stellte Assistenten ein, die Bestellungen ausführten und sich mit der Plattenpresse und den Herstellern der Umschläge beschäftigten. Um eine andere Pressung jedoch mußte er sich selbst kümmern: seine Einberufung.
»Ich ging für zwei Jahre zur Armee – Jänner 1955 bis Jänner 1957. Ich entschied, mich ihnen zu ergeben, denn damals wurden Leute bis zum Alter von 35 Jahren eingezogen. Zuerst vermied ich die Einberufung durch einen Job, mit dem ich einen Aufschub erhielt, bis ich mein Plattengeschäft geregelt hatte , und bis keine Gefahr mehr bestand, dass irgendwer irgendjemand erschießen würde. Mittlerweile hatte das Album zwei Jahre Zeit gehabt, um einzusickern und Wellen zu schlagen. Als ich wieder herauskam, war ich berüchtigt (im ganzen Land), und die Leute schlugen vor, daß ich Konzerte geben sollte.«
»Um `59 hatte ich genug Material für eine weitere Platte. Die meisten populären Gruppen veröffentlichen vor ihrer Tour, aber mit Comedy wollte ich das nicht haben. Ich wollte nicht, daß das Publikum das Material bereits kannte. So beschloß ich, mich zurückzuziehen, nachdem ich überall gewesen war, und die neuen Aufnahmen danach zu platzieren.« More Of Tom Lehrer wurde am 8. Juli 1959 aufgenommen. Dieses Mal kostete es ein wenig mehr als 15 $ - Die Sitzung fand in RCA’s erstklassigem Studio in New York statt. Jedoch auch diesmal wurde die gesamte LP in einer einzigen Session aufgenommen – drei Stunden inklusive Playback und Editing.
CD 2, Track 1: National Brotherhood Week
Ein Angebot zu einer Tour durch Australien und Neuseeland, wo er noch nie gewesen war, half Lehrers Rückzug bis in die Mitt-1960er zu verzögern. Da war auch die Sache einer anderen Aufnahme: Einer seiner Freunde, Robert Sylvester, war Teilhaber von Unicorn Records, einem Bostoner Label, spezialisiert auf die lokalen Radiohelden Bob & Ray und auf esoterische klassische Musik. Sylvester wollte einige von Lehrers besser bekannten Lieder mit vollem Orchester aufnehmen und eine Single Hit versuchen. Der wohlbekannte Arrangeur und Dirigent Richard Hayman wurde engagiert, und am 21. Jänner 1960 wurden vier Lieder aufgenommen. Kurz danach wurden »Poisoning Pigeons In The Park« und »The Masochism Tango« als Singles vom Unicorns Capricorn Label herausgegeben. Aber das Radio war für Lehrer mit Violinen nicht mehr empfänglich als für Lehrer mit Klavier, und die anderen zwei Lieder wurden gar nicht mehr veröffentlicht.
Dank der BBC waren die Verkäufe in England sehr viel besser, aber Lehrer hielt an seiner Entscheidung fest, die Konzerthalle zugunsten des Klassenzimmers aufzugeben. Hatten ihn die Auftritte nicht gefallen, würden wir gerne wissen?
»O nein, sie waren fein. Ich hatte die Highscholl genossen, aber ich wollte das nicht wieder machen. Ich hatte eine schöne Zeit, sah neue Orte und traf neue Leute, aber herumfahren und auftreten war nicht so interessant. Ich kam mir wie ein Schriftsteller vor, der jede Nacht dieselbe Novelle vorlesen mußte. Einmal war ich in der New Yorker Town Hall, und sang ‚Fight Fiercely, Harvard‘ und begann mit der zweiten Strophe anstatt mit der ersten, und ich dachte Wie komme ich hier nur heraus?. So brach ich ab, und begann erneut, und war wieder verwirrt, und zuletzt sagte ich: ‚O, Sie kennen den Song ohnehin alle. Ich gehe zum nächsten über.‘ Es war peinlich. Ich hatte nicht an den Song gedacht, sondern nur, was ich nachher zum Abendessen nehmen würde, oder etwas in der Art. So sagte ich OK, die Zeit ist gekommen.«
Den Aktivismus von 1965/66 ausgenommen, als er That Was The Year… aufnahm, war Tom Lehrer der gefeiertste Non-Performer von Comedy aller Zeiten. Von allen Künstlern, die jemals an der Dr. Demento Show teilnahmen, wurde nur „Weird Al“ Yankovic mehr nachgefragt. Seitdem wurden Theatergeher in Tom Lehrers Werk durch die Revue Tomfoolery eingeführt, die 1980 vom Britischen Impresario Cameron Mackintosh produziert und danach in den meisten großen englischsprachigen Städten aufgeführt wurde.
Lehrer hat sich niemals vollständig zurückgezogen. Er unterrichtet in verschiedenen Kursen für Musiktheater und Mathematik an der Universität von California in Santa Cruz. Obwohl er seine Karriere als Songschreiber und Unterhalter aufgegeben hat, hegt er noch viel Stolz und Zuneigung für seine Kreationen.
Es ist wahr, daß einige seiner Lieder heute verschieden aufgenommen werden, verglichen mit der Zeit, als sie geschrieben wurden. »The Old Dope Peddler« ist so ein Fall: »Beabsichtigt war ein Anschluß an ein bestimmtes Genre von sentimentalen Liedern, wie ‚The Old Lamplighter‘ oder ‚The Umbrella Man‘, an die sich heute niemand mehr erinnert. Die Idee war, es würde nur lustig werden, wenn ich über den widerwärtigsten, am meisten abgelehnten Charakter schreiben würde. Ich dachte zunächst an einen Engelmacher, aber zu dieser Zeit konnte man das einfach nicht sagen. Der Drogenhausierer war dann die zweite Wahl.«
CD 2, Track 4: The Folk Song Army
»‘I Wanna Go Back To Dixie‘ war politisch korrekt in den 1950ern, weil jedermann diese Art von Heuchelei mit dem Süden assoziieren konnte. Heute ist der Norden genauso schlecht, sodaß das Lied heute keinen Sinn mehr macht. ‘I Got It From Agnes‘ wurde 1952 geschrieben. Ursprünglich hieß es ‚I Got it From Sally‘. Ich pflegte es in Nachtclubs zu singen, aber veröffentlichte es nicht auf Platte, weil ich nicht mit sogenannter ‚Party-Musik‘ wie jener von Ruth Wallis, Rusty Warren, Redd Foxx identifiziert werden wollte. Ich wollte nicht in diesen Eimer geraten. Als Cameron Mackintosh mich nach etwas frug, das er für Tomfoolery verwenden könne, habe ich es aufpoliert, eine neue Strophe geschrieben, und es mehr zu einem britischen Music-Hall Song gemacht. Natürlich, das war lange bevor irgendjemand von AIDS gehört hatte. – Und ‘The Elements‘ - sie entdecken ständig neue! Ich müßte alle paar Jahre eine neue Version veröffentlichen.«
Quelle: Dr. Demento, im Booklet zu „Songs & More Songs by Tom Lehrer“, aus dem Amerikanischen holprig übersetzt von WMS.Nemo. Die Zitate von Tom Lehrer sind aus einem Interview mit Dr.Demento vom August 1996.
01. Fight Fiercely, Harvard 1:25 02. The Old Dope Peddler 1:26 03. Be Prepared 1:32 04. The Wild West Is Where I Want To Be 2:03 05. I Wanna Go Back To Dixie 1:53 06. Lobachevsky 3:11 07. The Irish Ballad 3:01 08. The Hunting Song 1:18 09. My Home Town 2:39 Three Love Songs: 10. When You Are Old And Gray 1:52 11. I Hold Your Hand In Mine 1:27 12. The Wiener Schnitzel Waltz 1:55
13. Poisoning Pigeons In The Park 2:13 14. Bright College Days 2:06 15. A Christmas Carol 1:43 16. The Elements 1:26 17. Oedipus Rex 1:39 18. In Old Mexico 4:08 19. Clementine 4:18 20. It Makes A Fellow Proud To Be A Soldier 2:40 21. She's My Girl 1:48 22. The Masochism Tango 3:02 23. We Will All Go Together When We Go 3:28
Orchestrated Editions (conducted by Richard Hayman, recorded 1960):
24. Poisoning Pigeons In The Park 2:08 25. The Masochism Tango 2:55 26. The Hunting Song 1:49 27. We Will All Go Together When We Go 2:41
And As If That's Not Bad Enough: 28. I Got It From Agnes 1:44
01. National Brotherhood Week 2:35 02. MLF Lullaby 2:25 03. George Murphy 2:08 04. The Folk Song Army 2:12 05. Smut 3:15 06. Send The Marines 1:46 07. Pollution 2:17 08. So Long, Mom (A Song For World War III) 2:23 09. Whatever Became Of Hubert? 2:13 10. New Math 4:28 11. Alma 5:28 12. Who's Next? 2:00 13. Wernher Von Braun 1:46 14. The Vatican Rag 2:14
Total Time: 37:10
Words and Music by Tom Lehrer, Recorded July 1965 at the hungry i, San Francisco Produced by Jimmy Hilliard / Recording Engineer: Don Geis
»Ein musikalisches Gipfeltreffen« war der Werbe-Slogan der Schallplattenfirma als diese Einspielung von Des Knaben Wunderhorn 1968 erstmals erschien. Beabsichtigt mit der Beschreibung war zweifellos der Hinweis auf die eindrucksvolle Kombination von Talent, welche schon dem Musikkritiker der Tageszeitung Guardian,Edward Greenfield, aufgefallen war als das Werk im gleichen Jahr in der Royal Festival Hall, London, aufgeführt wurde. Dort unterstützte »die beiden größten Liedersänger der Welt« das »beste Orchester Großbritanniens unter der Stabführung eines Dirigenten, der das beste Orchester Amerikas ausgebildet hat«. Man erwartete Superlative. und die stellten sich dementsprechend ein. Das Konzert am 7. März 1968 (und die Wiederholung drei Abende später) blieben vielen als einer der Höhepunkte der Saison in Erinnerung.
Als Ganzes war das Werk dem Großteil des Publikums noch relativ neu. Aufgeführt wurde es selten, und obwohl dies nicht die erste Einspielung war, gab es nur eine andere mit der damals noch nicht berühmten Janet Baker, Geraint Evans und dem London Philharmonic Orchestra unter Wyn Morris, welche lediglich in einem begrenzten Umfang verkauft wurde. Man kannte einige der Lieder, vor allem die schon 1930 entstandene reizvolle Aufnahme Elisabeth Schumanns von Wer hat dies Liedlein erdacht?, es ist jedoch durchaus möglich, daß den meisten Menschen, die solche Schallplatten kauften oder das eine oder andere Lied im Konzertsaal hörten, nicht bewußt war, daß dies aus einem unabhängigen Sammelwerk stammte. Die frühesten Lieder entstanden 1892, das letzte 1901, jedoch 60 Jahre oder länger blieb Des Knaben Wunderhorn hauptsächlich ein verschlossenes Buch. Seine Bedeutung als Keimzelle von Mahlers Symphonien wurde nur allmählich erkannt, und sogar dann dauerte es noch eine Weile bis man diese eigenartige Mischung von Fröhlichkeit und Angst, von kultiverter Verfeinerung und Schlichtheit geistig verarbeitet hatte.
Die Texte sind einer Anthologie von Volksdichtung entnommen, die Achim von Arnim und Clemens Brentano zusammenstellten und 1808 veröffentlichten. Goethe, dem der Band überreicht wurde, meinte, er solle samt dem Kochbuch einen Platz in jedem deutschen Haus haben, eher noch auf dem Klavier, damit man die Texte nach alten Weisen singen konnte oder zu neu komponierten Melodien. Sogar zu jener Zeit sah man in den Gedichten die zweifache Identität von Volksdichtung und Kunstwerk. Obwohl sie nominell für Kinder bestimmt waren, wurde ihr Reiz wahrscheinlich am meisten von gebildeten Erwachsenen geschätzt. Mahlers Bearbeitung verstärkte diesen Reiz durch den Zusatz einer kunstvollen Harmonik, einer Orchesterbegleitung und dem Geschick ausgebildeter Sänger: eine ganz andere Sache als der Gesang von Bauern oder Hausmusikern.
Und eben dies führt zu Streitfragen im Hinblick auf die Interpretation, darunter auch die in der vorliegenden Einspielung. Die doppeldeutige Natur des Werks hat ihre Entsprechung in den divergenten Auffassungen der Kritiker, was den Stil betrifft: schlicht oder kultiviert. Im großen und ganzen fand man, der gute Geschmack verlange Schlichtheit und die Erhaltung des Volkselements. Die hier gehörte Aufführung mit ihren verfeinerten Orchesterfarben und der subtilen Ausdruckskraft von zwei gefeierten Sängern ist eindeutig »Hohe Kunst«. Kritiker erkennen im allgemeinen ein gute Aufführung, wenn sie eine hören, und dem Londoner Konzert sowie der etwas späteren Einspielung konnten sie die hervorragende Qualität nicht absprechen. Eine Reihe von ihnen schrieben jedoch in einer Art als ob sie dies gern tun würden.
Weder zum ersten noch zum letzten Mal in der Musikkritik zog das Wort »schlicht« wie durch ein Magnet das Wort »ehrlich« an: der »Schlichtheit« einiger früherer Aufführungen wurde deshalb »Ehrlichkeit« zugestanden, dagegen bezeichnete man, mehr durch Andeutungen als wörtlich, die ausgefeilte, ausdrucksvolle Aufführung als »kultiviert«, ein Wort, das mit einem ähnlichen Magnetismus den Verdacht auf einen allzuscharfen Intellekt erweckte, dem man vernünftigerweise nicht zu sehr trauen sollte. Dies bezog sich erstens auf die Sänger. Beide Künstler waren dafür bekannt, daß sie sich mit ihrer Musik gewissenhaft befaßten. Während sie studierten machten sie Entdeckungen, und was sie entdeckten brachten sie zum Ausdruck. Da alles Neue umstritten ist, teilten sich die Meinungen über ihren Wert: Wer sie gut fand, war begeistert von dem Reichtum dieses neuen Musikverständnisses, wer nicht einverstanden war, benutzte häufig Wörter wie »wohlüberlegt«, »manieriert« und das verschieden auslegbare »kultiviert«. Von dort lag dann die Meinung nicht fern, daß Spontaneität gefehlt habe und damit ein echtes Gefühl. Darauf kann man antworten, daß ein Künstler eher »wahre Gefühle« für etwas haben kann, das er sich von Grund auf erarbeitete, als für etwas, das er »aufschnappte« und daß Spontaneität beim Singen ohnehin eine zweifelhafte Eigenschaft ist.
In diesem Fall muß man jedoch über die Sänger hinaus auf den Komponisten blicken. Mahlers Partitur ist kein schlichtes Dokument. Überall stehen Ausrufezeichen. Wo andere Komponisten (z.B. Wolf) gewöhnlich der Singstimme keine spezifischen Anweisungen geben, schreibt Mahler (beispielsweise) »immer kläglicher« in Verlor'ne Müh und »unherrlich bewegt« in Das Irdische Leben. Im Lied des Verfolgten im Turm soll der Gefangene »leidenschaftlich, eigenwillig« singen, während das Mädchen »verzagt, schmeichlerisch« klingt. Im Lob des hohen Verstandes, verlangt Mahler einen »kecken« Ausdruck. Die Lieder sollten vokal dargestellt werden, und da man in einem Symphoniekonzert die Illusion vom Dorfburschen und seinem Mädchen kaum aufrechterhalten kann, wird die Darstellung selbst zu einem kultivierten Prozeß, in dem die Künstler und das Publikum die »Schlichtheit« als einen leichten Deckmantel annehmen, den ein komplexer Mensch trägt.
Man braucht Künstler vom Rang Schwarzkopfs und Fischer-Dieskaus, um dies zu erfassen und in der Aufführung zu realisieren. Dazu gehört, wenn auch in anderer Weise, die Schönheit des Klanges und der Geisteshaltung. Im Januar 1969 beschrieb William Mann in seiner Kritik der Schallplatte in der Zeitschrift Gramophone das Duett Wo die schönen Trompeten blasen als »die bewegendste Interpretation eines Mahler-Liedes, die ich jemals gehört habe«. Nach dem Londoner Konzert faßte Stanley Sadie in The Times die ganze Aufführung zusammen: »Der Esel, welcher in Lob des hohen Verstandes Musik auf eine unverschämte Art kritisiert, ist sicherlich kein ärgerer Dummkopf oder Philister als jemand, der ein saures Wort über den gestrigen Abend zu sagen weiß«. Und alle stimmten überein, daß das London Symphony Orchestra unter George Szell herrlich gespielt hatte: »die Streicherfigurationen, das Grollen der gedämpften Blechbläser, die Rhythmik des Schlagzeugs - allen wurde genau das richtige Gewicht zugemessen«. »Brillanz, Charakter und Virtuosität im höchsten Grad« war Michael Kennedys Formulierung in seinem Kapitel über Mahler in Song on Record (Cambridge, 1986). Das Wunder des Wunderhorns bezaubert uns.
Quelle: John Steane, im Booklet (Übersetzung: Helga Ratcliff)
Revelge
Des Morgens zwischen drei'n und vieren, da müssen wir Soldaten marschieren das Gäßlein auf und ab. Tral-la-li, tral-la-ley, tral-la-lera, mein Schätzel sieht herab!
Ach, Bruder, jetzt bin ich geschossen, die Kugel hat mich schwer getroffen, trag' mich in mein Quartier! Tral-la-li, tral-la-ley, tral-la-lera, es ist nicht weit von hier.
Ach, Bruder, ich kann dich nicht tragen, die Feinde haben uns geschlagen! Helf dir der liebe Gott! Tral-la-li, tral-la-ley, tral-la-lera, ich muß marschieren bis in Tod!
Ach, Brüder, ihr geht ja mir vorüber, als wär's mit mir vorbei! Tral-la-li, tral-la-ley, tral-la-lera, ihr tretet mir zu nah! Ich muß wohl meine Trommel rühren. Tral-la-li, tral-la-ley, tral-la-li, sonst werd' ich mich verlieren, Tral-la-li, tral-la-ley, tral-la-la.
Die Brüder dicht gesät, sie liegen wie gemäht. Er schlägt die Trommel auf und nieder, er wecket seine stillen Brüder. Tral-la-li, tral-la-ley, tral-la-li, tral-la-ley Sie schlagen ihren Feind. Tral-la-li, tral-la-ley, tral-la-lera-la-la, ein Schrecken schlägt den Feind!
Er schlägt die Trommel auf und nieder, da sind sie vor dem Nachtquartier schon wieder. Tral-la-li, tral-la-ley, tral-la-li, tral-la-ley! Ins Gäßlein hell hinaus, sie zieh'n vor Schätzleins Haus. Tral-la-li, tral-la-ley, tral-la-lera.
Des Morgens stehen da die Gebeine in Reih' und Glied, sie steh'n wie Leichensteine, die Trommel steht voran, daß sie ihn sehen kann. Tral-la-li, tral-la-ley, tral-la-lera.
Antonius zur Predigt die Kirche find't ledig. Er geht zu den Flüssen und predigt den Fischen. Sie schlag'n mit den Schwänzen, im Sonnenschein glänzen. Die Karpfen mit Rogen seind all' hierher zogen. Hab'n die Mäuler aufrissen, sich Zuhörn's beflissen. Kein Predigt niemalen den Fischen so g'fallen. Spitzgoschete Hechte, die immerzu fechten, sind eilends herschwommen, zu hören den Frommen. Auch jene Phantasten, die immerzu fasten: die Stockfisch' ich meine, zur Predigt erscheinen! Kein Predigt niemalen den Stockfisch' so g'fallen. Gut Aale und Hausen, die Vornehme schmausen, die selbst sich bequemen, die Predigt vernehmen. Auch Krebse, Schildkroten, sonst langsame Boten, steigen eilig vom Grund, zu hören diesen Mund. Kein Predigt niemalen den Krebsen so g'fallen. Fisch' große, Fisch' kleine, vornehm' und gemeine erheben die Köpfe wie verständ'ge Geschöpfe. Auf Gottes Begehren die Predigt anhören. Die Predigt geendet ein jeder sich wendet. Die Hechte bleiben Diebe, die Aale viel lieben: die Predigt hat g'fallen, sie bleiben wie Allen; die Krebs' geh'n zurücke, die Stockfisch' bleiben dicke, die Karpfen viel fressen, die Predigt vergessen! Die Predigt hat g'fallen, sie bleiben wie Allen.
Giottos Freskenzyklus in der Arenakapelle in Padua
Es ist ein Bild, das man nicht so leicht vergißt, dieser Judaskuß in der Arenakapelle in Padua. In der Mitte stehen Christus und Judas, die Protagonisten. Von Christus sieht man nur das Gesicht im Profil und ein wenig von seinem blauen Mantel. Judas hält ihn mit beiden Armen umfangen. Er umarmt ihn so, daß sein gelber Mantel auch die Gestalt Christi umhüllt. Judas' Gesicht, ebenfalls im Profil, nähert sich Christus, gleich wird er seine Lippen auf die seines Herrn pressen, ihm den verräterischen Kuß geben, an dem ihn der Hohepriester identifizieren kann, um sogleich den Soldaten den Befehl zu geben, ihn endlich zu ergreifen. Sie stehen schon hinter der Gruppe und zu beiden Seiten, um diesen einen, einzigen Menschen gefangenzunehmen. Bis an die Zähne bewaffnet, recken sie ihre Lanzen in die Höhe. Fackeln beleuchten die Szene. Ein Soldat bläst in ein Horn.
Zwischen den Soldaten befinden sich auch die Diener und Knechte des Hohepriesters, der selbst rechts vorne steht, gekleidet in einen prächtigen violetten Mantel mit Goldborten. Er deutet auf den identifizierten Christus. Links hinter diesem, aber bereits ein wenig abgedrängt, versuchen die Jünger zu ihm zu gelangen. Petrus hat sein Messer gezückt und Malchus, dem Diener des Hohepriesters, gerade ein Ohr abgeschnitten. Das Ohr fällt schon, aber das scheint den direkt hinter Christus stehenden Malchus nicht zu kümmern. Er dreht sich nicht einmal zu Petrus um, sondern faßt mit einer Hand unter den Mantel von Judas, wahrscheinlich um den Arm des Gefangenen zu packen. Die Soldaten bilden einen so dichten Kreis um Christus und Judas, daß für Christus kein Entkommen mehr ist.
Neben Malchus und von ihm fast völlig verdeckt schwingt noch einer einen Knüppel, so als wolle er ihn prophylaktisch gleich auf den Kopf Christi sausen lassen. Eine Rückenfigur vor dieser Gruppe hält mit der linken Hand den Mantel eines weiteren Jüngers fest, von dem allerdings nur ein Stück vom Heiligenschein zu erkennen ist, der also nicht identifiziert werden kann.
Das Bild besitzt mehrere Bedeutungsebenen. Zunächst ist es eine Begebenheit im Leben Jesu, das an der Wand der Arenakapelle in einem Zyklus erzählt wird. Nach Fußwaschung, Abendmahl und der Ankündigung, daß einer der Jünger ihn verraten wird, geht Jesus mit ihnen allen, jedoch ohne Judas, in den Garten Gethsemane, um zu beten. Statt zu wachen, während er betet, schlafen die Jünger immer wieder ein. Als sie den Garten wieder verlassen, kommt Judas auf sie zu und küßt Christus.
Die Passionsgeschichte wurde vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung im Mittelalter häufig als Zyklus dargestellt und sollte als fortlaufende Bilderzählung gelesen werden - so wie man heute einen Comic liest. In der Arenakapelle aber besteht der Zyklus aus lauter gerahmten Bildern, die in sich abgeschlossen wirken. Der Fluß der biblischen Geschichte wird durch die gemalten Rahmen, durch die Fenster, aber auch durch Auswahl und Reihenfolge der Bilder unterbrochen und gebremst. Der Verrat des Judas steht isoliert zwischen zwei Fenstern an der Stirnwand, ihm folgen das Abendmahl und dann die Fußwaschung. Gethsemane wurde ausgelassen, der Judaskuß ist das zentrale Bild des Registers.
Der Judaskuß erzählt aber nicht nur einen Teil der Passionsgeschichte. In weiterreichender Bedeutung demonstriert er die Allgewalt der Staatsmacht im allgemeinen, wie es sie schon immer gegeben hat und auch weiterhin geben wird. Der Staatsfeind - Christus - darf nicht entkommen. Deshalb wird ein einzelner, waffenloser Pazifist mit einem so gewaltigen Aufgebot an Soldaten gefangengenommen.
Ein dritter Aspekt, den Judaskuß an so prominenter Stelle darzustellen, ja ihn überhaupt darzustellen, hängt mit dem Auftraggeber für die Arenakapelle zusammen. Der Freskenzyklus wurde wahrscheinlich 1305 vollendet. Auftraggeber war ein Paduaner Kaufmann, Enrico Scrovegni, angeblich der reichste Mann am Ort. Ausführender war Giotto, der bedeutendste italienische Maler des 14.Jahrhunderts. Manchem gilt Giotto auch als Baumeister der Arenakapelle, doch fehlen bislang die entscheidenden Beweise.
Giotto ist der erste nachantike Maler, über den schon zu Lebzeiten Anekdoten kursierten, der bereits von Zeitgenossen als großer Künstler bezeichnet wird und der nachgewiesenermaßen so reich war, daß er sich mehrere Stadthäuser sowie Landbesitz leisten konnte und außerdem Webstühle vermietete, eine lukrative Einnahmequelle. Um so erstaunlicher ist, wie wenig wir wirklich über ihn wissen.
Geboren wurde er wohl um 1267, auch wenn die Daten 1266 und 1276 immer wieder glaubhaft gemacht werden. Doch fehlen jedwede Dokumente. Sein Vater war vielleicht Schmied oder Bauer in Colle di Vespignano, einem kleinen Ort im Mugello, nordöstlich von Florenz. Längst gibt es dort ein «Geburtshaus Giottos», und es gibt auch eine Brücke, an der angeblich eine folgenreiche Begegnung stattgefunden haben soll. Zunächst kolportiert von dem Florentiner Bildhauer und Architekten Lorenzo Ghiberti in seinem Werk über Kunst und Künstler, den Comentarii (um 1450), die ihrerseits in großen Teilen von Giorgio Vasari in seine Viten (1567) übernommen und dort ausgeschmückt wurden, hütete der kleine Giotto die Schafe seines Vaters, als der berühmte Florentiner Maler Cimabue des Weges kam. Er «fand Giotto, der, während seine Schafe weideten, auf einer ebnen Steinplatte mit einem etwas zugespitzten Steine ein Schaf nach dem Leben zeichnete, was ihn Niemand gelehrt, sondern er nur von der Natur gelernt hatte. Cimabue blieb stehen, verwunderte sich sehr und fragte ihn, ob er mit ihm kommen und bei ihm bleiben wolle ...»
Der brave Junge, der, so weiter bei Vasari, «von klein auf ... in allem, was er that, viel Lebhaftigkeit und einen ungewöhnlich treffenden Verstand [zeigte], weshalb er nicht nur seinem Vater, sondern Allen, die ihn kannten ... sehr lieb war», erklärte, er käme gern mit, wenn sein Vater damit einverstanden wäre. Cimabue und der Vater Giottos, «Il Bondone», einigten sich schnell, der Knabe durfte mit dem Maler nach Florenz ziehen und lernte dort nicht nur in kürzester Zeit «die Manier seines Meisters», sondern konnte vor allem die Natur so gut nachahmen, «daß er die plumpe griechische Methode [nämlich die Manier seines Meisters] ganz verbannte und die neue und richtige Weise der Malerei hervorrief, indem er die Bahn brach, lebende Personen gut nach der Natur zu zeichnen, was mehr als zweihundert Jahre nicht geschehen war, oder ... keinem so schnell und glücklich gelang wie Giotto ...»
Kein Geringerer unter den Zeitgenossen als Dante hat diesem Lehrer-Schüler-Verhältnis im Fegefeuer, dem zweiten Teil seiner Göttlichen Komödie, ein bleibendes Denkmal gesetzt in den Versen:
«Einst wähnte Cimabue, er behaupte In Malerei das Feld, und Ost und West Ruft heute Giotto, der den Kranz ihm raubte.» (Purgatorio XI, 94 - 96)
Die Geschichte mit dem Schaf, an dem sich das Talent des Knaben erwies, hat sich hartnäckig gehalten. Inzwischen ist das Schaf zu einer Metapher für den Maler selbst geworden und findet sich in der kunsthistorischen Literatur wie in dem 1985 erschienenen Buch von Luciano Bellosi mit dem Titel Das Schaf des Giotto(«La pecora di Giotto»).
Giotto blieb nicht in Florenz. Er ist viel gereist, muß die römische Malerei kennengelernt haben. Vermutlich war er 1293 erstmals in Rom, sah die Werke des Pietro Cavallini, traf vielleicht sogar mit ihm selbst zusammen. Schon in der Chronik, die Riccobaldus von Ferrara 1312 verfaßte, also in einer Zeit, als Giotto noch lebte, ist zu lesen, daß der Maler in den Franziskanerkirchen von Assisi, Rimini und Padua «glänzende Zeugnisse seiner Kunst hinterlassen» habe. Vasari behauptete dann gut zweihundert Jahre später, die Franziskuslegende in der Oberkirche von Assisi sei Giottos Werk. Seit dem 19.Jahrhundert streiten die Kunsthistoriker bis heute (!) über Giottos Anteil an diesem Zyklus.
Von den jüngsten Erkenntnissen scheint die Version am wahrscheinlichsten, daß Giotto gemeinsam mit Pietro Cavallini und Cimabue diese Fresken im Langhaus gemalt hat. Doch ist es müßig, den andauernden Streit der Wissenschaftler zu referieren oder gar nachvollziehen zu wollen. Denn die Argumente sind selten rein sachlich, sondern meist patriotisch gefärbt, je nachdem, ob es sich um prorömische oder proflorentinische Kunsthistoriker handelt. Auch wenn es inzwischen Stimmen gibt - so die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Januar 2001 -, die in Giotto nur noch ein Synonym für den Aufbruch jener Jahre sehen wollen, der von mehreren Malern geleistet wurde, wollen wir doch nach wie vor davon ausgehen, daß er der federführende Meister der Paduaner Fresken war, die er mit einem großen Kreis von Gehilfen, seiner Werkstatt, gemalt hat.
Dokumentarisch ist von dem Maler Giotto überliefert, daß er verheiratet war und acht Kinder hatte. Bereits 1301 konnte er sich ein Haus leisten und die Webstühle vermieten. Giotto war am Papsthof in Avignon, malte für Kardinal Stefaneschi in Rom und wurde 1328 vom König von Neapel zum Hofmaler ernannt. Dieses Amt behielt er, bis ihn die Florentiner 1334 als Dombaumeister zurückberiefen. Ein Entwurf des Campanile (Glockenturm) von seiner Hand hat sich im Museum der Sieneser Dombauhütte erhalten. Doch die Arbeiten waren nicht weit über die Fundamentierung hinausgekommen, als Giotto am 8.Januar 1337 starb. Wie es sich für einen Dombaumeister geziemt, wurde er im Dom bestattet. Vor etwa dreißig Jahren hat man dort Gebeine gefunden, die man mit ihm in Zusammenhang bringt. Inzwischen wurden seine Gesichtszüge rekonstruiert. Und natürlich bestätigte sich, was schon Giovanni Boccaccio im Decamerone (1353) geschrieben hatte: Giotto war klein und häßlich. Doch Boccaccios fünfte Geschichte des sechsten Tages ist auch ein weiteres Beispiel dafür, wie groß Giottos Ruhm schon kurz nach seinem Tod war, bezeichnete Boccaccio ihn doch als «den ersten Maler der Welt».
Dieser zu Lebzeiten schon legendäre Ruf war wohl auch der Grund, weshalb der Paduaner Enrico Scrovegni ausgerechnet Giotto beauftragte, die Arenakapelle auszumalen. Im heiligen Jahr 1300 kaufte Scrovegni das Land, auf dem sich früher die römische Arena befunden hatte, um dort einen neuen Familienpalast mit einer privaten Kapelle zu errichten. Scrovegni war nicht allein zu Reichtum gekommen, der Vater Reginaldo war ein berüchtigter Wucherer gewesen, dessen Geld Enrico wahrscheinlich auf nicht ganz ehrenhafte Weise noch weiter vermehrt hatte.
Wucher war damals eine der schlimmsten Sünden, und man geht davon aus, daß Enrico mit dem Bau der Kapelle den Wucher des Vaters sühnen wollte. Andererseits prahlte er jedoch wieder mit dem Bau durch die Freskenausstattung, für die er den berühmtesten (und teuersten) Maler Italiens verpflichtete. Außerdem scheint die Kirche größer geraten zu sein, als bei der Genehmigung vorgesehen war, und einen Glockenturm besessen zu haben. Bereits am 9. Januar 1305 beschwerten sich die Mönche des nahegelegenen Eremitani-Klosters über die Größe der Kirche, den Glockenturm und «viele andere Dinge ..., die mehr aus Prunksucht, eitlem Stolz und Reichtum errichtet wurden als zum Lobpreis, zum Ruhm und zur Ehre Gottes».
Der einschiffige, tonnengewölbte Bau wurde 1303 geweiht, spätestens 1305 müssen die Fresken fertig gewesen sein. Das heißt, Giotto hatte höchstens zwei Jahre Zeit für die Ausmalung der gesamten Kapelle gehabt. Schon dieser Zeitrahmen spricht dafür, daß mit ihm zahlreiche Gehilfen am Werk gewesen sind.
Die Tonne ist mit einem intensiven Blau gestrichen, auf dem goldene Sterne prunken. Medaillons mit Christus, der Muttergottes und den Propheten unterbrechen das Blau ebenso wie die gemalte Architektur in der Deckenmitte, die wie ein Gurt die Tonne teilt. Die oberste Reihe der jeweils sechs Bilder des Zyklus greift in die Wölbung ein, die beiden Register darunter sind ebenso hoch wie die Fenster auf der Südwand, weshalb dort bei den unteren beiden Registern nur fünf statt sechs Bildern Platz gefunden haben. Die einzelnen Bilder sind von Rahmen getrennt, die Intarsien nachbilden. In einer ebenfalls gemalten marmornen Sockelzone unterhalb der Fenster sind die Allegorien der Tugenden und Laster zu sehen.
Die Westwand wird von einem monumentalen Jüngsten Gericht eingenommen, im Osten ist der Altarraum durch einen Triumphbogen vom Kirchenraum getrennt. Auf diesem Bogen beschließt ganz oben Gottvater im Kreis der Engel die Geburt Christi. Direkt darunter überbringt der Erzengel Gabriel Maria die frohe Botschaft der Verkündigung, wobei Engel und Muttergottes in zwei Bildfeldern stehen, die durch den Bogen getrennt sind. Zwei weitere Bildfelder scheinen in keinem Zusammenhang zu stehen.
Unter Maria sieht man die sogenannte Heimsuchung, das Treffen zwischen den Schwangeren Maria und Elisabeth, das häufig auf die Verkündigung folgt. Elisabeth, die Mutter von Johannes dem Täufer, wird durch den in ihrem Leib hüpfenden Sohn auf die gebenedeite Frucht Mariens aufmerksam gemacht. Unter dem Engel der Verkündigung ist jedoch ein ganz anderes Bild zu sehen: der bereits erwähnte Verrat des Judas, bei dem dieser vom Hohepriester die Silberlinge als Lohn erhält.
Der Zyklus beginnt mit der Mariengeschichte und endet mit dem Pfingstwunder. (Wertloser) Reichtum und (glückbringende) Fruchtbarkeit stehen sich dabei immer wieder antithetisch gegenüber. So wird zu Beginn des Zyklus das Opfer des wohlhabenden Joachim abgelehnt, weil er offensichtlich unfruchtbar ist. Draußen, bei seinen Hirten, träumt ihm, daß seine Frau ein Kind - Maria - gebären wird. Joachim eilt daraufhin nach Hause und begegnet seiner Frau Anna am Stadttor. Diese Begegnung an der Goldenen Pforte zeigt normalerweise eine Umarmung der beiden. Hier jedoch küssen sich Joachim und Anna ganz innig. Dieser liebevolle Kuß, mit dem die Zeugung Mariens belegt wird, steht ganz im Gegensatz zu dem falschen und niederträchtigen Judaskuß.
Die beiden Kußszenen sind ebenso ein Gegensatzpaar wie Heimsuchung und Zahlung der Silberlinge. Dem freudigen Erkennen des Gottessohns steht der Verrat gegenüber, der durch einen Sack Geld, also wertlosen Reichtum, möglich gemacht wird. Und dann, im Jüngsten Gericht, in der Hölle, hat sich Judas aufgehängt, an diesem Sack, der ihm das Verderben gebracht hat.
Auf gleicher Höhe mit dem in der Hölle erhängten Judas wird im Himmel gezeigt, wie Enrico Scrovegni der Muttergottes seine Kapelle darbringt. Und auch dieses Stifterbild ist bezeichnend für das neue Selbstbewußtsein der Kaufleute: Scrovegni kniet zwar vor der Muttergottes, aber er ist nicht mehr kleiner als sie. Und er, der noch lebt, befindet sich bereits unter denen, die im Himmel Aufnahme gefunden haben.
Hinter dem knienden Scrovegni leiten Engel einen Zug auferstandener Seliger in den Himmel. Da einige von ihnen individuelle Gesichtszüge tragen, hat man zwei verschiedene Personen mit Giotto identifizieren wollen. Einmal steht er angeblich in einer der letzten Reihen zusammen mit Dante und dem Bildhauer Giovanni Pisano, das andere Mal drei Reihen weiter vorne. Doch Dokumenten zufolge soll er sich selbst in Florenz, nicht aber in Padua dargestellt haben, und für sein Aussehen gibt es trotz des aufgefundenen Schädels immer noch keine Anhaltspunkte.
Wer das Bildprogramm für die Kapelle entworfen hat, weiß man nicht. Es ist aber zu vermuten, daß Scrovegni ein Wort mitgeredet hat, wenn nicht die ganze Disposition von ihm stammt. Giotto aber hat es verstanden, dieses Programm so umzusetzen, daß Judas, eine Figur, an der dem Stifter aus erklärlichen Gründen sehr gelegen sein mußte, nicht nur an prominenter Stelle, sondern mehrfach als abschreckendes Beispiel für Habgier (Geiz und Wucher) zu sehen ist. Scrovegni als der Stifter der Fresken ist dessen guter Gegenpart.
In der Arenakapelle im allgemeinen und im Judaskuß im besonderen wird das Neue in der Kunst greifbar. Es handelt sich sowohl um eine neue Form als auch um einen neuen Inhalt. Die erzählten Geschichten spielen nicht mehr in der Unendlichkeit mit ihrem goldenen Hintergrund, sondern sie sind durch Körperlichkeit und Architekturdarstellung in Raum und Zeit angesiedelt. Tugenden und Laster werden zwar auch allegorisch - wie in den Personifikationen in der unteren Bildleiste -, vor allem aber szenisch wie im Jüngsten Gericht dargestellt.
Im Judaskuß fehlt die Architektur. Den «gebauten Raum» schaffen die zahlreichen Soldaten, die Christus und Judas von allen Seiten umstellen, und Judas selbst, der mit seinem Mantel einen Raum um Jesus und sich selbst bildet. Die Fackeln weisen realistisch auf die Tageszeit hin, in der sich die Szenerie ereignet. Hinzu kommt das psychologische Moment. Giotto ist es gelungen, die Beziehung von Christus und Judas, die Verletzlichkeit des einen und den Verrat des anderen, nur durch die Körpersprache und den Gesichtsausdruck der Protagonisten darzustellen. Diese neue Sichtweise, diese neue Malweise, prägt unsere Wahrnehmung der Kunst noch heute.
Im Zentrum von Hugo Wolfs kompositorischem CEuvre stehen seine zahlreichen Lieder und Gesänge; der vieraktigen Oper Der Corregidor und der Bühnenmusik zu IbsensFest auf Solhaug kommt nicht annähernd eine vergleichbare Bedeutung zu, und zu Wolfs Lebzeiten fand sein ohnehin schmales Instrumentalschaffen keinerlei Anerkennung. Von den vollendeten Jugendwerken ist gar vieles verschollen, wie etwa ein Klavierquintett (1876), eine Sinfonie in f-Moll (1879) und eine Klaviersonate in fis-Moll (1879). Anderes gelangte erst gar nicht zur Ausarbeitung und hat sich nur in Form von Skizzen erhalten. Was aber Wolf vollendete, blieb ungedruckt. Umso schneller erschienen die meisten dieser Werke bereits kurze Zeit nach seinem Ableben - und mußten sich mehr oder weniger starke Eingriffe gefallen lassen.
So wurde die Partitur der sinfonischen Dichtung Penthesilea von Josef Hellmesberger nicht nur revidiert, sondern auch gekürzt. Dennoch zeigte sich kein geringerer als Max Reger von dieser Komposition anläßlich ihrer Münchner Erstaufführung am 20. Januar 1904 begeistert: »Penthesilea ist wirklich eine Schöpfung allerersten Ranges, wie mir am Montag stattgehabte hiesige 1. Aufführung bewies; wer daran zweifeln sollte, ist ein Kamel ersten Ranges.« Mit dieser Einschätzung spielt Reger auf eine nur wenige Jahre zuvor vorherrschende Rezeptionshaltung gegenüber Hugo Wolf an (der »weltabgewandte, so tief verinnerlichte Tonpoet« stieß mit seinen Werken bei Kritik und Publikum auf nachhaltige Ablehnung), während er in seinen tragischen letzten, von Wahn und Apathie gezeichneten Lebensjahren zum unbestrittenen Liederfürsten der Jahrhundertwende avancierte.
Umso mehr zählt der Einsatz Max Regers (der selbst verschiedentliehen Anfeindungen ausgesetzt war) für das instrumentale Schaffen Hugo Wolfs. Angeregt durch den Verleger Lauterbach & Kuhn, der sich die begehrten Rechte am künstlerischen Vermächtnis sichern konnte, übernahm er einige Partituren und Bearbeitungen zur Revision. Wesentlicher erscheint heute jedoch Regers 1904 in den Süddeutschen Monatsheften publizierter Aufsatz Hugo Wolfs künstlerischer Nachlass, in dem er nicht nur mit den bis dahin unveröffentlichten Kompositionen bekannt macht, sondern auch noch heute aufschlußreiche kritische Kommentare hinzufügt. Dies betrifft besonders die Werke für Streichquartett - der ästhetisch wie kompositionstechnisch anspruchsvollsten Gattung, deren seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert tradierte Grenzen Reger selbst mit seinem sinfonische Dimensionen annehmenden Streichquartett op. 74 gerade zu sprengen gedroht hatte.
Schon 1876 schickte sich Wolf an, ein Streichquartett zu schreiben, das allerdings über eine 32 Takte umfassende Skizze nicht hinaus kam. Vielleicht wog für den jungen Komponisten der lastende Anspruch der Gattungstradition noch zu schwer. Darauf deutet auch die komplizierte Entstehungsgeschichte des viersätzigen Streichquartetts d-Moll hin, das Wolf insgesamt über sechs Jahre beschäftigte. Zunächst beendete er in der Nacht vom 30. auf den 31. Dezember 1878 die Skizze des ursprünglich noch an dritter Position vorgesehenen Scherzos; die Partitur war am 16. Januar 1879 abgeschlossen. Daraufhin begann die Arbeit am Kopfsatz, der »Wien, am 20. Januar 1879« überschrieben ist. Allerdings kam auch in diesem Fall die Ausarbeitung ins Stocken. Am 7. April gestand er seinem Vater ein: »Quartett aufgegeben, weil es mir noch nicht gut genug schien es zu vollenden.« Umso überraschender wirkt der plötzliche Abschluß am 25. Juni, doch setzte Wolf daraufhin die weitere Arbeit an dem Werk für über ein Jahr aus. Am 9. Juli 1880 begann er den langsamen Satz; das Finale entstand gar erst im September 1884 (vermutlich als Ersatz für einen verworfenen Satz).
Lassen bereits diese äußeren Daten erkennen, mit welchen technischen Schwierigkeiten der junge Komponist zu kämpfen hatte - Wolf bildete sich nach seinem erzwungenen Abgang vom Konservatorium autodidaktisch fort -, so schreckte Max Reger nicht davor zurück, auch jene Merkmale zu benennen, die auf der Folie der Gattungstradition problematisch erscheinen mußten: »Zunächst fällt eine nicht wegzuleugnende, gelegentlich zu bemerkende Unkenntnis des technischen Satzes für Streichquartett sehr ins Auge; sodann ist die Melodik an manchen Stellen noch etwas unfrei. Man fühlt, was der Komponist wollte und nicht erreichte, weil ihm das rein technische Können fehlte. Hier und da hapert es auch mit der Reinheit des Satzes. Dafür entschädigt aber eine herbe, tief gefühlte Leidenschaftlichkeit der Tonsprache, ein fortreissendes Temperament, das sich besonders in den Ecksätzen stürmisch Bahn bricht; und auf Schritt und Tritt begegnet man auch schon dem echten Wolf in Stellen, die eben nur er zu schaffen vermochte.«
Damit sind auch ganz allgemein zwei charakteristische Momente eines »Jugendwerkes« beschrieben, die allerdings nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten, da sie sich oftmals einander bedingen: das noch nicht vollständig erlangte kompositionstechnische Vermögen und ein glühend bekennender, ungestümer Gestus. In Wolfs Streichquartett werden diese Aspekte in unvergleichlicher Weise im Kopfsatz offenbar. Vom ersten Takt an wird eine hohe Gefühlstemperatur angeschlagen, die sich im weiteren Satzverlauf auch in den charakteristischen Tempo- und Charakteranweisungen widerspiegelt: nach und nach belebter !, leidenschaftlich bewegt, wütend !, entschlossen ! und so rasch als möglich. Diese radikale Expressivität verdeckt nahezu vollständig die formale Struktur des Satzes, obwohl sie kongruent verlaufen. So bezeichnet der Punkt höchster Erregung zugleich den Kulminationspunkt der kontrapunktisch gearbeiteten Durchführung, dem ein ausgedehnter Rekurs auf die Grave-Einleitung folgt. Mit den taktmetrischen Verschiebungen knüpft Wolf im vorwärtsstürmenden Scherzo an vergleichbare Sätze bei Haydn und Beethoven an, während die ätherische Gefilde berührende, ausgedehnte (und nachkomponierte) Introduktion zum langsamen Satz unüberhörbar von Wagnerschen Klängen, dem Lohengrin-Vorspiel, inspiriert wurde. Nur oberflächlich mutet der Tonfall des Finales vergleichsweise leichter an.
Nicht nur wegen der teilweise recht orchestralen Satztechnik und dem forcierten Ausdruck, sondern auch wegen der eigenen, mit spitzer Feder betriebenen Tätigkeit als Musikkritiker für das Wiener Salonblatt gelang es Wolf nicht, eine Quartettvereinigung für die Komposition zu gewinnen. Ganz im Gegenteil, wie ein Brief des angesehenen Rosé-Quartetts vom Oktober 1885 beweist: »Geehrter Herr Wolf! Wir haben Ihr d-moll-Quartett aufmerksam durchgespielt und einstimmig den Entschluß gefaßt, dieses Werk für Sie beim - Portier der k. k. Hofoper (Operngasse) zu hinterlegen. Wollen Sie die Liebenswürdigkeit haben, es baldmöglichst abholen zu lassen, er könnte es leicht verlegen.« (Man achte auf den gezielt gesetzten Gedankenstrich!) Erst am 3. Februar 1903, kurz vor Wolfs Tod, fand die Uraufführung endlich in Wien statt. Somit sollte sich gleich mehrfach das (früh gewählte) Motto des Werkes »Entbehren sollst du, sollst entbehren« erfüllen, mit dem Wolf auf einen Brief des Vaters vom 5. Dezember 1880 Bezug nimmt: »Die Capricen und schlechten Gewohnheiten des Beethoven hast Dir bereits alle angewöhnt […] Wenn Du einen Funken Gefühl für Eltern hast, so raffe Dich auf, arbeite und entbehre, sonst bist verloren !!!!«
Ob Hugo Wolf zwei Jahre später mit den Skizzen zu einem Scherzo in Es-Dur die Arbeit an einem weiteren Quartett aufzunehmen gedachte, muß Spekulation bleiben. Jedenfalls dauerte es über vier Jahre, bis er den Intermezzoüberschriebenen Satz endgültig abschloß. (In der Partitur ist der 1. Oktober 1886 vermerkt.) Auch in diesem Fall blieb es Wolf verwehrt, das von ihm gelegentlich in einem Brief »Humoristisches Intermezzo« genannte Stück zur Aufführung zu bringen; allein das Prill-Quartett nahm es am 28. Februar 1907 in das Programm eines Konzerts im Wiener Akademischen Wagner-Verein auf. Der weitere Dornröschenschlaf währte bis zur Publikation der Komposition im Jahre 1960, denn den Bearbeitern des musikalischen Nachlasses schienen am Anfang des Jahrhunderts das insgesamt 505 Takte umfassende Stück nicht ganz den ästhetischen Anspruch der Gattung zu erfüllen.
So bemerkte Max Reger in einem Brief vom 14. Februar 1904 an den Verlag Lauterbach & Kuhn: »betr. des Intermezzo kann ich nur das wiederholen, was ich Ihnen schon darüber gesagt habe. Ich hab's nochmals genau angesehen: zweifellos enthält es wieder fast Geniales; aber wie gesagt, eine gewisse Stilunreinheit, eine gelegentliche nicht wegzuleugnende Trivialität der Melodik, das sind Sachen, die bei Wolf nicht vorkommen sollten! Meine Ansicht ist: daß es nicht absolut notwendig ist, das Stück für sich allein herauszugeben!« Dabei näherte sich Wolf mit diesem Satz offensichtlich einem bestimmten Typus von Charakterstücken; auch die jeweils ganz unterschiedlich gestalteten Einsätze des Hauptgedankens sind als Zeichen einer gediegenen Arbeit zu verstehen.
Hingegen hinterließ die Anfang Mai 1887 binnen weniger Tage entstandene Italienische Serenade (trotz oder gerade wegen ihrer unbeschwerten Leichtigkeit) einen ungetrübten Eindruck (wobei Reger in seinem Aufsatz über Hugo Wolfs Nachlass die vom Komponisten stammende, spätere Bearbeitung für Orchester noch als originale Fassung ansah): »Dieses reizende Werk, das zu dem Entzückendsten gehört, was wir überhaupt auf dem Gebiet der Serenade besitzen, wird wohl bald Repertoirestück aller besseren Orchester sein. Dieser eine Satz […] ist von solch bezauberndem Klangreiz, von solch bestrickendem, hochoriginellem Kolorit, dass er sicherlich bei entsprechend feinsinniger Ausführung hellste Begeisterung entfachen wird.« Dies gilt nicht minder für die Quartettpartitur, mit der Wolf in gleicher Weise eine mediterrane Atmosphäre zu schaffen vermag. Allerdings sollte die als freies Rondo gestaltete Serenade, deren Sujet etwa dem des Capriccio Italien op. 45 von Tschaikowsky entspricht, den Auftakt zu einem mindestens drei Sätze umfassenden Werk bilden. Doch scheiterte Wolf gleich mehrfach daran, diese Konzeption auch kompositarisch zu realisieren. Zwei erhaltene, mit Zweiter Satz. Langsam und Dritter Satzüberschriebenen Blätter weisen außer einer Takt- und Tonart-Vorzeichnung keine weiteren Eintragungen auf.
Recording: March 1998, Festeburgkirche Frankfurt/Main Recording Producer: Andreas Spreer Editing: Andreas Spreer, Roland Kistner Executive Producer: Burkhard Schmilgun Cover Painting: Franz von Stuck, "Der Tanz", Munich, Stuck-Villa DDD (P) 1999
Werner von Koppenfels stellt seiner Donne-Auswahl Alchimie der Liebe (1992, 2.Aufl.) die schöne Widmung voran: »Für Wolfgang Clemen, der mir das Buch Donne geöffnet hat.« Der Verfasser dieser Übersetzung der Songs and Sonnets müßte diese Widmung eigentlich wiederholen. Es mag 1955 oder 1956 gewesen sein, daß er als Student in München in den Vorlesungen Clemens einer Interpretation von Literatur begegnete, die ihm vertraute traditionelle Vorstellungen außer Kraft setzte. Clemen zeichnete ein Shakespearebild, das mit dem aus Sturm-und-Drang-Zeiten überlieferten Bild von Shakespeare als dem regelverachtenden Naturgenie nichts mehr zu tun hatte. In seinen Büchern wies Clemen die stilbildenden Einflüsse der Seneca-Tragödie und der Redeformen und Redefiguren der klassischen und mittelalterlichen Rhetorik nach. Die berühmte Rede des Antonius nach der Ermordung Cäsars ist ein Schulbeispiel für die Anwendung aller rhetorischen Mittel der Überzeugung und der Überredung.
Wie in der Dramatik, so auch in der Lyrik. Auch hier konfrontierte Clemen der geläufigen Definition von Lyrik, die vom klassisch-romantischen Lied abgeleitet war, die andere gegensätzliche Tradition, für die Namen wie Petrarca und Gongora und eben auch Donne stehen. Clemen, der ebenso kompetent über Chaucer wie Keats schrieb, machte in einer Überblicksvorlesung seine Studenten mit dieser antiklassischen Tradition bekannt. Es war in diesem Kolleg, daß mir Donne zum ersten Mal begegnete. Eine kleine hektographierte Sammlung von Gedichten enthielt, wohl aus didaktischen Gründen, auch den Floh. Das war nun alles andere als Gefühlsdichtung, alles andere als die Konfession einer schönen Seele. Es war Dichtung als Kunstübung, keine romantische Herzensergießung. Es kostete den in der deutschen Tradition erzogenen Lyrikfreund einige Mühe, die Reize und das Eigenrecht dieser Art Dichtung zu erkennen und richtig einzuschätzen.
Dichtung als Kunstübung - ja, aber eben nicht nur. Das Faszinierende an Donnes Liebesgedichten ist, daß sie auch im Abstand von 400 Jahren den Leser durch ihre Frische, ihre spontane Leidenschaft, ihren Witz und, ja, auch ihre Derbheit und Anzüglichkeit und ihre unverhohlene sexuelle Direktheit verblüffen.
Der Floh
Mark but this flea, and mark in this, How little that which thou deny'st me is; It sucked me first, and now sucks thee, And in this flea, our two bloods mingled be; Thou know'st that this cannot be said A sin, or shame, or loss of maidenhead, Yet this enjoys before it woo, And pampered swells with one blood made of two, And this, alas, is more than we would do.
Oh stay, three lives in one flea spare, Where we almost, nay more than married are. This flea is you and I, and this Our marriage bed, and marriage temple is; Though parents grudge, and you, we'are met, And cloistered in these living walls of jet. Though use make you apt to kill me, Let not to this self murder added be, And sacrilege, three sins in killing three.
Cruel and sudden, hast thou since Purpled thy nail, in blood of innocence? In what could this flea guilty be, Except in that drop which it sucked from thee? Yet thou triumph'st, and say'st that thou Find'st not thyself, nor me the weaker now; 'Tis true, then learn how false fears be; Just so much honour, when thou yield'st to me, Will waste, as this flea's death took life from thee.
Sieh an den Floh und du erfährst, Wie wenig das ist, was du mir verwehrst. Er saugte mich aus und nun dich, Und unser Blut, im Floh vermischt es sich. Dies kann man nicht als ein Vergehn Und den Verlust der Jungfernschaft ansehn. Der Floh genießt, bevor er freit, Und wird von einem Blut aus zweien breit, Und wir, herrje, sind nicht zu mehr bereit!
Halt, schone drei in einem Floh, Vermählt beinah, ja mehr noch sind wir so. Der Floh ist Du-und-Ich. Du siehst, Daß Brautbett er und Traukapelle ist. Ists dir und deinen Eltern auch ein Graus, Uns zwei umschließt aus Jett lebendiges Haus. Zu töten mich, das steht dir frei, Doch füg dem nicht noch einen Selbstmord bei, Dreifache Sünde, tötest du uns drei.
Jähzornig, grausam hast du jetzt Mit Unschuldsblut den Nagel dir benetzt! Was wäre in dem Floh denn Schuld Als jener Tropfen Blut, aus dir gezullt? Doch triumphierst du, sagst zu Recht, Du fändest weder dich noch mich geschwächt. So lern, ganz falsch sind Furcht und Scham; Nur so viel Ehre stirbt, gibst du dich zahm, Als Leben dir der Tod des Flohs wegnahm.
An einem Gedicht wie Der Floh lassen sich einige Eigentümlichkeiten der Gedichte John Donnes ablesen. Das Thema ist nicht neu. Neu ist die Art der Behandlung des an sich poesieunwürdigen Gegenstandes. Der Floh, der die Liebenden gebissen hat, wird zum »lebendigen Haus aus Jett«, in dem die symbolische, nach damaliger Ansicht aber durch Vermischung des Blutes auch reale Vereinigung der Liebenden stattfindet. Donne zieht aus dieser dem Gedicht zugrundeliegenden Vorstellung alle nur denkbaren Folgerungen. Frivol der Schluß, daß in einem solchen Fall nicht von Verlust der Jungfräulichkeit oder der weiblichen Ehre die Rede sein könne, juristisch-rabulistisch die Überlegung, daß, wer den Floh erschlüge, nicht nur einen Doppelmord, sondern auch noch einen Selbstmord beginge, eine Behauptung, die nur gilt, wenn man die Übertreibung akzeptiert, daß der Floh durch Blutmischung für drei Leben stehe - »Der Floh ist Du-und-Ich« und er selbst. Übertreibungen dieser Art sind einer der markantesten Stilzüge Donnescher Dichtung.
Wie viele Gedichte Donnes beginnt auch Der Floh mit einem einprägsamen schlagkräftigen Reimpaar, das in diesem Fall schon den Grundgedanken des Gedichts, der auch in der Schlußpointe wiederkehrt, anspricht. Diese lehrhafte imperative Geste findet sich bei Donne öfters. Doch trockene Schulmeisterei ist seine Sache nicht. Das Lehrhafte wird durch Ironie und Witz aufgehoben. Der Floh, der seit 1635 die Songs and Sonnets eröffnet, hat Donne auch heftige Kritik eingetragen. Es ist der forsche, fast zynische Ton eines Weiberhelden, der den Zorn der Kritiker erregte. Zusammen mit einigen anderen Gedichten wie Der Indifferente oder Liebeswucher scheint das Gedicht auf einen jungen rücksichtslosen Lebemann hinzuweisen, wenn man die Texte als autobiographische Belege liest, was man jedoch nicht tun sollte.
Zwar gehören die Songs and Sonnets alle der frühesten Schaffensperiode an, in der der Autor in der Tat das Leben eines einigermaßen vermögenden jungen Kavaliers führte; wir erinnern uns, daß er eifriger Theatergänger und Damenbesucher gewesen sein soll. Doch sind Themen, Motive und Bilder einem Autor zu Beginn des 17.Jahrhunderts in vielem vorgegeben, und auch seine Haltungen, seine Einstellungen sind nur im ideologischen Kontext seiner Epoche verständlich. So sollte man Zeilen über die generelle Treulosigkeit der Frau (»Nirgends fandst du Schöne treu«) nicht als persönliche Erfahrung oder als satirisches Urteil lesen. Es ist gängige Zeitmeinung, die man cum grano salis nehmen muß; wie auch die sophistische Unterscheidung von Männer- und Frauenliebe in Analogie zu Engel- und Luftreinheit (Luft und Engel) m. E. ironisch verstanden sein will: Der minimale, fast nicht wahrnehmbare oder erkennbare Unterschied führt sich durch Unerheblichkeit selbst ad absurdum.
Die Erscheinung
When by thy scorn, o murderess, I am dead, And that thou think'st thee free From all solicitation from me, Then shall my ghost come to thy bed, And thee, feigned vestal, in worse arms shall see; Then thy sick taper will begin to wink, And he, whose thou art then, being tired before, Will, if thou stir, or pinch to wake him, think Thou call'st for more, And in false sleep will from thee shrink, And then poor aspen wretch, neglected thou Bathed in a cold quicksilver sweat wilt lie A verier ghost than I; What I will say, I will not tell thee now, Lest that preserve thee; and since my love is spent, I had rather thou shouldst painfully repent, Than by my threatenings rest still innocent.
Starb ich, o Mörderin, an deinem Hohn Und glaubst du, du befreist Dich so von meinem Werben, schleicht mein Geist Sich an dein Bett: In schlechtren Armen schon Wird er dich, heuchelnde Vestalin, sehn. Siech flackert deine Kerze dann, und er, Der dich dann hat, der müde eingenickt, Glaubt, hast du aufzuwecken ihn gezwickt, Du riefst nach mehr. Er wird sich Schlaf vortäuschend von dir drehn. Dann, zittrigs Bündel Elend, so versetzt Wirst du, quecksilbrig schwitzend, sicherlich Gespenstiger als ich. Was ich dann sage, nicht verrat ichs jetzt, Du könntest dich retten! Mein Liebe wich. Drum will ich, daß du schmerzlich Buße tust Und nicht, gewarnt, in Unschuld weiter ruhst.
Auch andere Gedichte Donnes folgen Vorbildern oder tradierten Formen, z. B. des Abschiedsgedichts oder des Tagelieds. Für den Typ Tagelied gibt es drei Beispiele, die mit zu den schönsten Gedichten Donnes zählen: Tagesanbruch, Sonnenaufgang und Das Gutmorgen. Tagesanbruch führt das Motiv liedhaft, leichtfüßig und sentenzhaft aus. Es ist hier übrigens die Frau, die als lyrisches Ich auftritt. Das Gutmorgen ist - wie Der Jahrestag - die jubelnde Feier eines glückseligen Augenblicks, einer Totalitätserfahrung, die die Welt verwirft und die Liebenden als Welt, »die jeder ist und jeder hat«, an ihre Stelle setzt. Daß die Liebenden einander die Welt, das All, das Universum sind und es repräsentieren, ist ein Gedanke, den Donne mehrmals ausspricht, kurz statuierend etwa in Die Heiligsprechung, wo die Liebenden die Menschenwelt (»Stadt, Land und Hof«) im Auge wie in einem Spiegel konzentrieren, oder breiter ausgeführt wie in dem dritten der Tagelieder, Sonnenaufgang. Oft treten bei Donne Concetti, Denkbilder, metaphorische Vergleiche wie die Gleichsetzung Welt = Ich unverbunden oder zusammen mit anderen Bildern heterogener Art auf; im Sonnenaufgang haben wir in den Strophen zwei und drei ein durchgehendes, im Detail ausgeführtes Concetto, das Bild von den Liebenden als einem Konzentrat der Welt:
Die Fürsten ich! Die Staaten sie! Nichts sonst ist echt. [...] Doch ist dirs Pflicht, Die Welt zu wärmen - wärm uns, so ists bestellt. (Die Sonne ist angesprochen.)
Der Gedanke, daß die Geliebte die Welt des Liebenden ist, sie in seinen Augen alle Reichtümer und Würden der Welt umfaßt und übertrifft, ist ein altüberlieferter Gedanke, wie auch die komplementäre Vorstellung, daß jede frühere Erfahrung nur eine unreife Vorbereitung und jede frühere Neigung und Bindung nur eine partielle Vorwegnahme der jetzigen sei. Was Donne von den älteren Dichtern unterscheidet, ist, daß er eine von den Liebenden geteilte Erfahrung voraussetzt. Die Geliebte ist nicht mehr nur Objekt der Bewunderung, der Lobpreisung und Verherrlichung aus der Ferne wie Petrarcas Laura; einseitige Liebe ist falsche Liebe. Bei Donne geht es, schlicht gesagt, um Liebe unter wirklichen Menschen, um Wechselseitigkeit. Liebe braucht, um in Erscheinung zu treten, den Leib (Luft und Engel) der Geliebten, deren Liebe durch den Mann wohl geweckt wird, aber doch auch aus sich selbst existiert. Selten schließt bei Donne ein Gedicht so ungebrochen, ja triumphal wie Sonnenaufgang, das in den Schlußzeilen der Sonne befiehlt:
Schein' uns und du bist überall. Dies Kabinett Sei deine Sphäre, Brennpunkt dieses Bett.
Sonnenaufgang
Busy old fool, unruly sun, Why dost thou thus, Through windows and through curtains call on us? Must to thy motions lovers' seasons run? Saucy pedantic wretch, go chide Late schoolboys, and sour prentices, Go tell court-huntsmen, that the King will ride, Call country ants to harvest offices; Love, all alike, no season knows, nor clime, Nor hours, days, months, which are the rags of time.
Thy beams, so reverend, and strong Why shouldst thou think? I could edipse and doud them with a wink, But that I would not lose her sight so long: If her eyes have not blinded thine, Look, and tomorrow late, tell me, Whether both th'Indias of spice and mine Be where thou left'st them, or lie here with me. Ask for those kings whom thou saw'st yesterday, And thou shalt hear, All here in one bed lay.
She'is all states, and all princes I, Nothing else is. Princes do but play us; compared to this, All honour's mimic; all wealth alchemy. Thou, sun, art half as happy as we, In that the world's contraeted thus; Thine age asks ease, and since thy duties be To warm the world, that's done in warming us. Shine here to us, and thou art everywhere; This bed thy centre is, these walls thy sphere.
Umtriebige Sonne, bist nicht gescheit! Was nur behext Dich, daß du uns durch Glas und Vorhang weckst? Bestimmt dein Lauf die Liebesjahreszeit? Pedantische Vettel, sag »Es tagt!« Verdrossnem Stift, verschlafnem Schülerwicht; Hofjägern sag, der König will zur Jagd; Mahn Bauernlümmel an die Erntepflicht; Liebe, vom Wittrungswechselzwang befreit, Kennt Tag, Stund, Mond nicht, diese Fetzen Zeit.
Und deine Strahlen müßt man ehrn? Das glaubst nur du. Mein Lidschlag, er verfinstert sie im Nu, Könnt ihren Anblick ich so lang entbehrn. Schau, macht dich nicht ihr Auge blind, Und morgen Abend sage mir, Wo beider Indien Gold und Myrrhen sind: Wo du vorbeikamst, oder aber hier. Frag, wo die Könige, die du sahest, warn. »Alle in diesem Bett!« wirst du erfahrn.
Die Fürsten ich! Die Staaten sie! Nichts sonst ist echt. Die Fürsten spieln uns nur. Vergleicht man recht, Ist Ruhm Theater, Reichtum Alchemie. Du, Sonne, bist halb so glücklich nicht Wie wir, das Konzentrat der Welt. Dein Alter will die Ruh. Doch ist dirs Pflicht, Die Welt zu wärmen - wärm uns, so ists bestellt. Schein' uns und du bist überall. Dies Kabinett Sei deine Sphäre, Brennpunkt dieses Bett.
Das zweite Herzwort der Songs and Sonnets neben der Liebe ist der Begriff des Todes. T. S. Eliot, der Wiederentdecker Donnes für das 20.Jahrhundert, sagt in seinem Gedicht Whispers of Immortalityüber Donnes Zeitgenossen John Webster(1580-1625):
Webster was much possessed by Death And saw the skull beneath the skin; And breastless creatures under ground Leaned backward with a lipless grin.
Webster sah, todbesessen, unter Der Haut den Totenkopf der bleckt Mit lippenlosem Grinsen, Wesen Brustlos im Erdreich ausgestreckt.
Und er fährt in der dritten Strophe fort:
Donne, I suppose, was such another
Donne war also auch einer, der vom Todesgedanken besessen war. Der Tod ist allgegenwärtig und immer wieder stoßen wir auf die Gleichung Abschied = Trennung = Tod.
Starb ich, o Mörderin, an deinem Hohn (Die Erscheinung) Sterb ich zum letzten Mal, und sieh, Ich sterb, sooft ich von dir geh (Das Vermächtnis) Wenn wieder man mein Grab aufsprengt (Die Reliquie) Wer mich ins Bahrtuch hüllt (Das Begräbnis)
Oder der Beginn des Gedichts Der Fieberhauch:
Sterb ich und Ärzte wissen nicht, woran
All dies sind Anfangszeilen, die Tod und Sterben als Ausgangssituation für liebevolle, aber auch kalt abrechnende Spekulationen über das Verhältnis der Liebenden zueinander nach dem Tod konstituieren. Dabei ist immer mitzudenken, daß ja die bloße Trennung, daß der Abschied (auch kurze Zeit) schon Tod ist, so daß die Gedichte nicht nur einen hypothetischen Zustand beschreiben, sondern auch das jeweils gegenwärtige durch Abschied unterbrochene, aber anhaltende Liebesverhältnis meinen. Auch die Abschied-Gedichte (Über das Buch, Über das Weinen, Auf meinen Namen im Fenster) setzen im Grunde alle diesen in Gedanken vorweggenommenen Tod voraus. In der Verkürzung auf eine einzige Zeile in dem Gedicht Das Verhauchen:
O Doppeltod: Ich geh und sage »Geh!«
Selbst das so scheinbar unbeschwerte Lied (»Schönste, Liebste, hör, ich geh«) wird von dem Todesgedanken beherrscht: jeder Abschied ist ein simulierter Tod. Der Schluß des ausdrücklich als Lied bezeichneten Gedichts enthält eine Engführung der Abschied-Todes-Entsprechung:
Im Schlafe zwar Liegen wir uns abgewandt: Wahrn das Leben doch einand, Nichts trennt ein solches Paar.
Die Abwendung im Schlaf ist eigentlich Tod, deshalb folgt die unvermutete, paradoxe Versicherung, daß die Liebenden einander doch am Leben erhalten. Sie müßten es nicht, wäre Abwendung nicht Abschied, also Tod.
Luft und Engel
Twice or thrice had I loved thee, Before I knew thy face or name; So in a voice, so in a shapeless flame Angels affect us oft, and worshipped be; Still when, to where thou wert, I came, Some lovely glorious nothing I did see. But since my soul, whose child love is, Takes limbs of flesh, and else could nothing do, More subtle than the parent is Love must not be, but take a body too, And therefore what thou wert, and who I bid love ask, and now That it assume thy body, I allow, And fix itself in thy lip, eye, and brow.
Whilst thus to ballast love I thought, And so more steadily to have gone, With wares which would sink admiration, I saw, I had love's pinnace overfraught, Every thy hair for love to work upon Is much too much, some fitter must be sought; For, nor in nothing, nor in things Extreme, and scatt'ring bright, can love inhere; Then as an angel, face and wings Of air, not pure as it, yet pure doth wear, So thy love may be my love's sphere; Just such disparity As is 'twixt air and angels' purity, 'Twixt women's love, and men's will ever be.
Zwei-, dreimal liebte ich dich schon, Als fremd mir noch dein Name und Gesicht, Verzückt wie wenn ein Engel zu uns spricht Als körperlose Flamme oder Ton. Noch als ich bei ihr, sah ich lohn So etwas wie ein lieblich strahlndes Nicht. Da aber meine Seele nun, Auf daß sie wirke, Fleisch annimmt und Bein, Kann Liebe, ihr Kind, nichts Feinres tun Als einen Leib zu haben (nicht zu sein). Drum ließ dein Wesen Liebe ich haarklein Erkunden und entwirrn, Und laß sie nun in deinen Leib sich schirrn Und festigen in Auge, Mund und Stirn.
Dem Liebesboot lud auf ich Last Schwerer als der Bewundrung leichte Fracht, Daß stetigere, ruhige Fahrt es macht, Doch hätte ich es überladen fast, Dein Haar ist nicht für Liebeslast gedacht Und ihrer Wirkung ists nicht angepaßt. Nicht prächtigen Dingen, nicht dem Nichts, Nicht den Extremen fügt sich Liebe ein. Wie Engel Schwingen und Gesicht Von Luft hat, zwar nicht engelrein, doch rein, Kann deine meiner Liebe Sphäre sein. Grad solche Ungleichheit, Die Luft- und Engelreinheit unterscheidt, Trennt Fraun- und Männerliebe in Ewigkeit.
Die Songs and Sonnets haben nur ein Thema: Liebe. Selbst wenn Donne einen überlieferten Gedichttyp wie das Testament aufgreift, nimmt jede Strophe in der Kadenz die Wendung zu der in immer neuen Abwandlungen angesprochenen Liebe, die auch schon in der zweiten Zeile als Adressat genannt wird. Die Strophen mögen noch so viele Berufe oder Gesellschaftsschichten mit satirisch widersinnigen Legaten bedenken, es ist in Donnes Sicht doch immer nur die Liebe, die die Verbindung zu den Bedachten herstellt.
Von den Liedern der eher niederen Minne, also denen der herrischen oder frivolen Art, war schon die Rede. Donne liebte den Widerspruch und die Extreme, und so wundert es nicht, daß er auch Liebeslieder von höchster Spiritualität geschrieben hat. In der eingangs zitierten Heiligsprechung wird die Liebe zu einer Religion erhoben, die ihre Anhänger als bürgerliche Existenzen auslöscht, um sie als bessere Menschen, ja Heilige neu zu erschaffen. Liebe ist das die Existenz immer wieder neu begründende Wunder. Sie ist das Inkommensurable, über alle Begriffe Hinausgehende, das Ein Abschied: Über das Buch durch ins Übermenschliche, ja Universale gesteigerte Bilder beschreibt. Der Briefwechsel der Liebenden umfaßt eine Myriade von Briefen, die »Regel und Beispiel« der wahren Liebe enthalten, und mehr noch, die Liebenden sind und schreiben die Annalen der Liebe, die künftigen Generationen als »Enzyklopädie« dienen, die selbst noch den Sphären Musik und den Engeln Poesie lehren kann und offenbar auch muß, denn ohne diese Liebe wären Weltall und Himmel stumm.
In dem in manchen Details vielleicht etwas zu verklausulierten Ein Abschied: Auf meinen Namen im Fenster wird das Verhältnis der Liebenden in eine ganz körperlose magische Sphäre gehoben. Der ins Glas geritzte Name hat die magische Kraft, den liebenden Mann zu repräsentieren, ja, in geheimnisvoller Präsenz er selbst zu sein. Die geliebte Frau kann nichts tun, dessen der abwesende Geliebte nicht durch seine symbolische Gegenwärtigkeit inne würde. Dies hat zwar in einem Teilaspekt etwas von eifersüchtiger Überwachung an sich, ist im ganzen aber doch eher der Ausdruck einer ununterbrochenen und unzerreißbaren Verbundenheit auch in der Trennung. Eine andere Grundidee des Gedichts, daß die scholastisch in drei Seelen (Wachstum, Gefühl, Verstand) aufgeteilte Seele des Liebenden in der Seele der Geliebten vereint und mit dieser verschmolzen ist, weist auf dieselbe unlösbare Verbindung. Auch ein Gedicht wie Hexerei durch ein Bild geht auf eine magische Vorstellung zurück, auf die Praxis des Bildtötungszaubers, wie er auch heute noch in Voodoo-Kulten betrieben wird: Eine Puppe wird durchstochen, und durch magische Fernwirkung wird die durch die Puppe dargestellte Person getötet. Ich weiß nicht, ob Donne an diese Schwarze Magie geglaubt hat; der konjunktivische Schluß des Gedichts scheint auf Zweifel hinzudeuten. Donne konnte jedoch bei seinen Zeitgenossen mit einer Kenntnis dieses Aberglaubens rechnen.
Hexerei durch ein Bild
I fix mine eye on thine, and there Pity my picture burning in thine eye, My picture drowned in a transparent tear, When I look lower I espy; Hadst thou the wicked skill By pictures made and marred, to kill, How many ways mightst thou perform thy will?
But now I have drunk thy sweet salt tears, And though thou pour more, I'll depart; My picture vanished, vanish fears, That I can be endamaged by that art; Though thou retain of me One picture more, yet that will be, Being in thine own heart, from all malice free.
Ich richt mein Aug auf deins und bin Voll Mitleid für mein Bild, das dort verbrennt, Und tieferschaund seh ichs ertränkt darin, Im klaren Tränenelement. Besäßt du Künste jetzt, Im Bild zu töten, vielfach hättst Du deinen Willen wohl schon durchgesetzt.
Ich trank dein süßes Tränensalz. Weinst du auch mehr, ich scheide nun; Mit meinem Bilde schwindet meine Angst, Es könnt Magie mir Schaden tun. Behältst du auch dabei Von mir ein weitres Konterfei - In deinem Herzen ists von Arglist frei.
In rein spirituelle Höhen entrückt das Gedicht Die Ekstase, das das Unmögliche versucht: dem Augenblick höchster Lust Dauer zu verleihen. In reizvollem Kontrast zum Gehalt, der Darstellung einer Seelenhochzeit, steht die Bildersprache dieses zugleich kurzzeitig liedhaften wie meditativ elegischen Textes. Keine Tristan-Klänge, kein Gestammel am Rand des Verstummens, sondern beinahe nüchterne, sperrige Bilder, die das eigentlich Unbeschreibliche andeuten und keine sentimentale Schwelgerei aufkommen lassen. So vergleicht Donne die Liebenden im flüchtigen Zustande der Vereinigung mit Statuen auf Grabmälern und gibt so dem entgleisenden Moment etwas Statisches, dehnt den Augenblick zur kleinen Ewigkeit. Daß der Ekstase auch ein gewisses Maß an Aggressivität innewohnt, kommt zum Ausdruck im Vergleich der ekstatischen, im Wortsinn aus dem Leib, aus sich herausgetretenen Seelen mit Parlamentären zweier gegnerischer Heere, die Verhandlungen über einen Friedensvertrag führen. Donne, der in diesem Gedicht Liebe als einen geistigen, seelenhaften Akt darstellt, bleibt jedoch auch hier Realist. Trotz aller ekstatischen Hingerissenheit weiß der Liebende, daß zur vollkommenen Liebe Seele und Leib, Geist und Fleisch gehören. Die Seelen gehen deshalb in ihre Körper zurück,
Daß Menschen Liebe sich beschreib: Der Lieb Geheimnis wächst in Seeln, Doch ihre Bibel ist der Leib.
Daß Menschen Liebe sich beschreibe, das ist das Vorhaben der Songs and Sonnets. Sie verhandeln das alte und ewig neue Thema Liebe in gewohnten wie unerhörten Tönen. Wie der Canzoniere Petrarcas, wie Shakespeares Sonette, wie Goethes Buch der Liebe im Divan zählen sie zu den kostbarsten Beständen des »Hauptarchivs« der Liebe.
»Hier lieg ich von der Lieb erschlagen« - so hatte sich der englische Dichter John Donne seine eigene Grabinschrift vorgestellt. Die 55 Liebesgedichte der Sammlung Songs and Sonnets stammen aus der Zeit kurz vor 1600 und zählen zum Jugendwerk des Lyrikers. Ob unverhohlen erotisch oder weltentrückt, ob frivol oder zärtlich, ob lebensfroh oder todessehnsüchtig - John Donne führt souverän alle Spielarten und Tonlagen der Liebeslyrik vor.
John Donne (1572-1631) kam in London als Sohn eines vermögenden Eisenhändlers zur Welt und genoß eine hervorragende Ausbildung in Oxford und Cambridge. Das juristische Abschlußexamen wurde ihm aber wegen seines katholischen Glaubens verwehrt. Daraufhin konvertierte er zum Anglikanismus, bekam eine Stelle im Staatsdienst, verlor diese jedoch kurz darauf wegen geheimer Heirat und kam für einige Zeit ins Gefängnis. Finanzielle Probleme, Krankheit und der frühe Tod seiner geliebten Frau führten zu tiefer Niedergeschlagenheit. Auf Drängen des Königs wurde er 1615 Geistlicher, ab 1621 war er Prediger in St. Paul. John Donne starb 1631 vereinsamt in London.
»Umwerfend« ist kein Ausdruck, den man von Desmond Shawe-Taylor erwartet. Dem genauesten und sorgfältigsten aller britischen Musikkritiker hätte man kaum zugetraut, dass er diese Formulierung beruflich verwendet, ganz besonders wenn es sich um solch verfeinerte Kompositionen handelt wie die Lieder von Hugo Wolf. In diesem Fall muss er wohl seine Reserve aufgegeben haben. Vor ihm lag eine neue Aufnahme von Hugo Wolfs Italienisches Liederbuch, bereit für seine Kritik in der Aprilnummer von Gramophone (1969). Während er mit der Arbeit begann, hatte er (wie er eingestand) Gefühle, die vielleicht ein wenig »überkritisch und eine Spur widerspenstig« waren. Die drei Künstler, so eminent und damals so oft auf Schallplatten von Liedern vertreten, schienen beinahe unvermeidbar, und Abwechslung war sehr erwünscht. Als er jedoch zuhörte, verstummten solche rebellischen Überlegungen schnell: »der gute Geschmack und die Schönheit der Interpretation« überwanden alles. Bei beiden Sängern fand er trotzdem, dass ihnen manche Lieder mehr lagen als andere, aber Schwarzkopf»beherrschte ihre Stimme noch immer wunderbar und entzückte uns immer wieder mit der Zartheit und Präzision ihrer Auffassung« und Fischer-Dieskau»erreicht oft überragende Höhen«. Gerald Moore, offenbar erhaben über jede Kritik, fand Shawe-Taylor, wie er sich ausdrückte, einfach »umwerfend«.
Was sogar einem so gut informierten Beobachter wie Shawe-Taylor nicht ganz klar geworden war, ist bis zu welchem Grad diese Aufnahme einen Höhepunkt darstellte. Es dauerte lange bis er erreicht wurde und er konnte nicht mehr länger aufgeschoben werden. Moore hatte sich bereits von Konzertauftritten zurückgezogen, und der Vierte in diesem Team, der Produzent Walter Legge, hatte EMI verlassen und kehrte nur dann in die Studios zurück, wenn er mit seiner Frau Schallplatten machte. Diese, Elisabeth Schwarzkopf (beinahe 52), wusste dass sich ihr Alter von dem der jungen Frau im Italienischen Liederbuch zunehmend entfernte. Sie hatte sich mit den Liedern regelmäßig befasst, sie 1954 in der Wigmore Hall (London) gesungen und damals auch einige Aufnahmen auf Tonträgern mit Moore gemacht. Nach weiteren Aufnahmeterminen 1958 und 1959 erschien eine Soloeinspielung. Danach, im September 1965, im April 1966 und im Herbst 1967, folgten die Termine aus denen die vorliegende Einspielung entstand.
Fischer-Dieskaus Verbindung mit den Liedern lag noch ein wenig weiter zurück. 1945 war er kurze Zeit in amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Italien gewesen. Dort sah ein Freund, der auch Musiker war, zufällig die Noten des Werks; und da der junge Bariton die Lieder nicht kannte, gab er dem Verkäufer zwei Päckchen Zigaretten dafür. Später studierte Fischer-Dieskau beide Liederbücher, das Spanische und das Italienische, mit seiner Lehrerin und Pianistin, Hertha Klust, und nahm sie bald in seine Lieder-Programme auf. Gewöhnlich war Irmgard Seefried seine Sopran-Partnerin. Mit Elisabeth Schwarzkopf debütierte er jedoch im November 1964 mit dem Italienischen Liederbuch in der Carnegie Hall (New York). In seinen Memoiren, Nachklang (1987), erinnert er sich an seine Erfahrungen mit der Arbeit im Team: »Ich glaube, dass Elisabeth und ich unseren Teil zur Erhaltung der weltweiten Anerkennung von Liedern beitrugen« und er fügte hinzu: »Ich bin ihrem Gatten ewig dankbar dafür, dass er mich mit Gerald Moore zusammenbrachte.«
Aufnahmen mit Legge waren besondere Anlässe bei denen Großartiges geleistet wurde, und es war nicht beabsichtigt, dass sie einfach sein sollten. Es gab jedoch keinen Komponisten dessen Werken er lieber seine Zeit widmete als Hugo Wolf. Er kannte ihn genau und verstand ihn zutiefst. Das Italienische Liederbuch beschrieb er in einem Begleitartikel zur ersten Ausgabe dieser Schallplatte als »feurig, verzweifelt, ironisch, böswillig, eifersüchtig und gelegentlich anbetend und einmalig zärtlich«. Anderswo (in On and Off the Record, 1982) schrieb er: »(Wolf) verstand Worte wie kein Komponist vor ihm, und in seinen Liedern verbindet er auf vollendete Weise ein Maximum an emotionalem Ausdruck mit der größten Präzision in Form und musikalischer Schönheit«. Zur Rolle des Pianisten erklärte er, dass Wolf seine Lieder als für Stimme und Klavier bezeichnete, nicht für Stimme mit Klavier. Zusammen mit Ernest Newman war Legge der einflussreichste Befürworter Wolfs im zwanzigsten Jahrhundert. Sein Einfluss erwies sich in der Praxis nicht nur im Organisieren von Konzerten und Schallplatten, sondern auch hinter den Kulissen als ein Mitarbeiter, der die Kenntnis eines Lehrers mit dem Eifer des ewig Lernenden verband.
Das Italienische Liederbuch ist für einen solchen Ansatz hervorragend geeignet. Den 46 Liedern, entstanden 1891 und 1896 in zwei Ausbrüchen kreativer Energie, könnte man in Marlowes Ausdrucksweise»unendlichen Reichtum auf engstem Raum« zuschreiben. Mit einem von ihnen, »Wer rief dich denn?« (Nr. 6), beschäftigten sich Legge und Schwarzkopf zwei Stunden lang und bewiesen damit ihre Fähigkeit, gemeinsam zu arbeiten und zu lernen. In der vorliegenden Aufnahme dauert das Lied etwas weniger als 75 Sekunden.
Dies mag auch ein Hinweis darauf sein was das Hören in diesem Fall einschließt. Legge war ein Realist und wusste, dass Wolf außerhalb Deutschlands und Österreichs kaum ein zahlreiches Publikum finden würde, das ihn rein sprachlich ganz verstand, besonders angesichts der verwirrenden Eile, mit der die Lieder einander folgen. Man sagte, es sei einer der glücklichsten und stolzesten Tage Legges gewesen als die Royal Festival Hall in London mit ihren beinahe 3000 Sitzplätzen bei einer Aufführung des kompletten Italienischen Liederbuchs völlig ausverkauft war. Aber schließlich ist das Italienische Liederbuch einmalig unter den Meisterwerken der Musik. Mit der Ausnahme von zehn dauern alle Lieder weniger als zwei Minuten, man muss sich dauernd neu konzentrieren. Doch Interpreten und Hörer werden dann reich belohnt, ganz besonders wenn die Aufführung der Höhepunkt jener Ausdauer und Hingabe ist, die in der Herstellung dieser besonderen Aufnahme zum Ausdruck kommen.
Quelle: John Steane, im Booklet (Übersetzung: Helga Ratcliff)
Track 1: Auch kleine Dinge (Dietrich Fischer-Dieskau)
Auch kleine Dinge können uns entzücken, auch kleine Dinge können teuer sein. Bedenkt, wie gern wir uns mit Perlen schmücken; sie werden schwer bezahlt und sind nur klein. Bedenkt wie klein ist die Olivenfrucht, und wird um ihre Güte doch gesucht. Denkt an die Rose nur, wie klein sie ist, und duftet doch so lieblich, wie ihr wißt.
1 1 Auch kleine Dinge b 2.08 2 2 Mir ward gesagt, du reisest in die Ferne s 2.05 3 3 Ihr seid die Allerschönste b 1.34 4 4 Gesegnet sei, durch den die Welt entstund b 1.36 5 5 Selig ihr Blinden b 1.34 6 6 Wer rief dich denn? s 1.12 7 7 Der Mond hat eine schwere Klag' erhoben b 2.04 8 8 Nun laß uns Frieden schließen b 1.52 9 9 Daß doch gemalt all' deine Reize wären b 1.37 10 10 Du denkst mit einem Fädchen s 1.07 11 11 Wie lange schon war immer mein Verlangen s 2.32 12 12 Nein, junger Herr s 0.49 13 13 Hoffärtig seid Ihr, schönes Kind b 0.44 14 14 Geselle, woll'n wir uns in Kutten hüllen b 2.11 15 15 Mein Liebster ist so klein s 1.31 16 16 Ihr jungen Leute s 1.09 17 17 Und willst du deinen Liebsten sterben sehen b 2.23 18 18 Heb' auf dein blondes Haupt b 1.58 19 19 Wir haben beide s 2.24 20 20 Mein Liebster singt s 1.26 21 21 Man sagt mir, deine Mutter woll' es nicht s 1.03 22 22 Ein Ständchen Euch zu bringen b 1.13
Band (Part/Partie) II (1896)
23 23 Was für ein Lied soll dir gesungen werden b 1.53 24 24 Ich esse nun mein Brot nicht trocken mehr s 1.55 25 25 Mein Liebster hat zu Tische mich geladen s 0.58 26 26 Ich ließ mir sagen s 1.56 27 27 Schon streckt' ich aus im Bett die müden Glieder b 1.48 28 28 Du sagst mir, daß ich keine Fürstin sei s 1.21 29 29 Wohl kenn' ich Euren Stand s 1.50 30 30 Laß sie nur geh'n b 1.29 31 31 Wie soll ich fröhlich sein s 1.49 32 32 Was soll der Zorn s 1.46 33 33 Sterb' ich, so hüllt in Blumen meine Glieder b 2.58 34 34 Und steht Ihr früh am Morgen auf b 2.38 35 35 Benedeit die sel'ge Mutter b 4.18 36 36 Wenn du, mein Liebster, steigst zum Himmel auf s 1.44 37 37 Wie viele Zeit verlor' ich b 1.27 38 38 Wenn du mich mit den Augen streifst b 1.38 39 39 Gesegnet sei das Grün s 1.29 40 40 o wär' dein Haus durchsichtig wie ein Glas s 1.32 41 41 Heut' Nacht erhob ich mich um Mitternacht b 1.29 42 42 Nicht länger kann ich singen b 1.04 43 43 Schweig' einmal still s 1.02 44 44 o wüßtest du, wie viel ich deinetwegen b 1.27 45 45 Verschling' der Abgrund s 1.27 46 46 Ich hab' in Penna einen Liebsten wohnen s 1.03 78.31
Track 11: Wie lange schon war immer mein Verlangen (Elisabeth Schwarzkopf)
Wie lange schon war immer mein Verlangen: ach, wäre doch ein Musikus mir gut! Nun ließ der Herr mich meinen Wunsch erlangen und schickt mir einen, ganz wie Milch und Blut. Da kommt er eben her mit sanfter Miene, und senkt den Kopf - und spielt die Violine.
Masaccios mathematische Malerei
Das Fresko der Dreifaltigkeit in Santa Maria Novella in Florenz
Die Domkuppel gilt unverändert als Meisterleistung der Architektur. Sie scheint über dem Dom zu schweben und dominiert bis heute die Silhouette von Florenz. Der David Michelangelos hat dem kleinen Vorläufer Donatellos allerdings längst den Rang abgelaufen, und perspektivisches Zeichnen ist uns heute eine Selbstverständlichkeit. So kann es gut passieren, daß wir in Santa Maria Novella, der Florentiner Dominikanerkirche, achtlos an dem Fresko der Hl. Dreifaltigkeit vorbeigehen, das weder durch spektakuläre Farbigkeit noch durch einen sensationellen Bildgegenstand die Blicke auf sich zieht - und dennoch die Malerei revolutioniert hat. Denn ohne die Entdeckung der Zentralperspektive wäre es nie zur Darstellung eines mathematisch genau berechneten Raumes oder eines ebenso konstruierten Gegenstandes gekommen. Beides läßt sich nur mit Hilfe der perspektivischen Zeichnung exakt darstellen.
Natürlich ist diese Revolution nicht voraussetzungslos. Die Künstler der Antike kannten bereits perspektivische Verkürzungen, doch haben sie mit Erfahrungswerten gearbeitet und nicht mathematisch exakte Berechnungen angestellt. Das Mittelalter interessierte sich nicht für perspektivisch richtige Darstellungen. Entscheidend war, die Größe Gottes ins Bild zu setzen. Deshalb spricht man bei mittelalterlichen Bildern auch oft von «Bedeutungsperspektive». Das heißt - wie der Name schon besagt -, der bedeutendste Gegenstand wird am größten dargestellt.
Erst als der Mensch wieder stärker ins Interesse rückte, wurden perspektivische Darstellungen wichtig. Giotto, der als einer der Überwinder mittelalterlicher Malerei gilt, versuchte sich darin ebenso wie etliche Maler in den Niederlanden, doch die mathematische Berechnung gelang erst dem Meister der Florentiner Domkuppel, dem Architekten Filippo Brunelleschi. Er teilte sein Wissen dem jungen Freund, dem Maler Tommaso di Ser Giovanni di Monte Cassai, genannt Masaccio, mit. Und wahrscheinlich hat Brunelleschi für das eine, das berühmte Fresko der Hl. Dreifaltigkeit in Santa Maria Novella selbst die Berechnungen geliefert.
Seine Biographen haben Brunelleschi nicht nur die Bezeichnungen Architekt, Bildhauer und Goldschmied beigelegt, sondern auch die des «inventore», des Erfinders. Und als solcher entwickelte er ein Verfahren, zentralperspektivisch zu konstruieren. Die Zeichnungen, die seine derartigen Experimente belegen, sind zwar nicht erhalten, doch beschreibt sein Biograph Antonio Manetti, dem wir bei dem Wettbewerb um die Florentiner Baptisteriumstüren bereits als einem gewissenhaften Chronisten begegneten, Brunelleschis Bemühungen.
Wohl kurz nach Ausgang des Wettbewerbs um die Tür des Baptisteriums, etwa um 1404, hielt Brunelleschi das Baptisterium und seine Umgebung fest, gesehen vom Inneren des Domes aus. Wahrscheinlich benutzte er dabei als Konstruktionshilfe das von Leon Battista Alberti beschriebene Fadennetz. Dieses Fadennetz war vermutlich in das mittlere Domportal gespannt, sodann in einigem Abstand eine Platte mit einem Loch in Augenhöhe angebracht. Durch dieses schaute der Zeichner durch und zeichnete Quadrat für Quadrat den darin sichtbaren Teil des Baptisteriums ab. So erhielt er eine verkleinerte, perspektivisch genaue Darstellung der freistehenden achteckigen Taufkapelle.
Man weiß, daß Brunelleschi mit Paolo dal Pozzo Toscanelli, dem bedeutendsten Florentiner Mathematiker, Kontakt hatte, ebenso mit den herausragenden Humanisten, also Niccolò Niccoli, Giannozzo Manetti und wahrscheinlich auch Leonardo Bruni, sowie mit den Künstlerkollegen Donatello, Alberti und Masaccio. Diesen Masaccio würden wir heute einen Frühvollendeten nennen.
Am 21. Dezember 1401 in San Giovanni di Valdarno, einem kleinen toskanischen Städtchen in der Nähe von Arezzo, als Sohn eines Notars geboren, läßt sich der Lebenslauf nur teilweise rekonstruieren. Bei wem Tommaso di Monte Cassai das Malerhandwerk erlernte, ist nicht bekannt. Das hat zu zahlreichen Spekulationen geführt ebenso wie die Frage nach der Bedeutung seines Spitznamens. «Masaccio» heißt soviel wie «plumper Thomas». Bezog sich das auf sein Aussehen, auf die Art seiner Malerei oder auf sein Verhalten, wie sein erster Biograph Vasari meint? Doch sind dies nicht die einzigen Fragen, die im Zusammenhang mit dem Maler bislang unbeantwortet geblieben sind. Die Biographie Masaccios bleibt in vielen Punkten dunkel.
1422 wird sein Name in den Büchern der Zunft der Medici e Speciali (Ärzte und Apotheker) erwähnt. In dieser Zunft waren auch die Maler organisiert, da sie als Farbenreiber mit ähnlichen Materialien umgingen wie die Apotheker. Zu dem genannten Zeitpunkt war Masaccio also in Florenz bereits als Maler tätig. 1427 erfahren wir durch eine Steuererklärung, daß Masaccio im Viertel von Santa Croce zusammen mit seiner verwitweten Mutter und dem Bruder Giovanni ein kleines Haus bewohnte. Außerdem besaß er eine Werkstatt - aber auch Schulden. Sie mögen mit seinem Auftrag der Ausmalung der Brancacci-Kapelle zu tun gehabt haben. Denn 1427 wurde eine Vermögenssteuer eingeführt, die etliche reiche Florentiner Familien hart traf. Aufgrund der hohen Steuern konnten sie ihren übrigen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen. Einer der Betroffenen war Felice Brancacci, der die Ausmalung seiner Familienkapelle in Santa Maria delle Carmine nicht mehr bezahlen konnte. Leidtragender war Masaccio, der ausführende Maler.
Vier Jahre lang hatte er, wahrscheinlich gemeinsam mit dem achzehn Jahre älteren Masolino, an den Fresken gemalt. Die Zusammenarbeit war vermutlich nicht - wie so oft behauptet wird - aus einem Lehrer-Schüler-Verhältnis entstanden, sondern hatte sich durch den gemeinsamen Herkunftsort ergeben. Zwei Maler aus dem kleinen San Giovanni Valdarno, die beide in Florenz lebten, kannten sich natürlich, auch wenn der Altersunterschied groß war. Und wenn der eine einen Auftrag erhielt, bei dem er Hilfe brauchte, so lag es nahe, sich an den anderen zu wenden.
Masolino ist noch stark dem weichen Stil der Internationalen Gotik verpflichtet, während Masaccio diesen Stil bereits zu überwinden sucht. Kann man sich die Zusammenarbeit dergestalt vorstellen, daß sich in der Brancacci-Kapelle der Ältere dem Jüngeren angepaßt hat, um später wieder zu seinem alten Stil zurückzukehren? Nach menschlichem Ermessen wohl kaum. Die Anteile der beiden Maler sind trotz Restaurierung und genauer Analyse der Fresken immer noch nicht genau geklärt, doch dürfte Masaccio eine größere Rolle gespielt haben als Masolino, der zwischen 1425 und 1428 nach Rom übersiedelte. Masaccio ist dem Malerkollegen dorthin gefolgt. Das Gerücht, er sei in Rom vergiftet worden, gehört wie so vieles in seiner Biographie in den Bereich der nicht mehr nachprüfbaren Spekulation. Anders ist es mit dem Todesdatum selbst. Überliefert ist, daß er mit 27 Jahren starb. Deshalb kann man überall das Todesdatum 1428 lesen. Doch da Masaccio im Dezember Geburtstag hatte, kann er ebensogut im Jahr 1429 gestorben sein. Und da nach neueren Erkenntnissen unser Fresko 1429 vollendet wurde, wird der Maler wohl erst 1429 nach Rom abgereist und dort verstorben sein.
Die Datierung des Freskos in der Dominikanerkirche Santa Maria Novella mit der Darstellung der Hl. Dreifaltigkeit erschließt sich durch eine Inschrift. Wir kommen darauf zurück. Doch bevor wir hierauf eingehen, sollten wir das Bild selbst betrachten. Wenn der Betrachter auf einem im Fußboden genau bezeichneten Punkt etwa fünf Meter vom Bild entfernt steht, sieht er folgendes: Unter einem von Säulen getragenen Wandvorsprung steht auf einer Steinplatte ein Sarkophag, auf dem ein Skelett liegt. In der Nische, in die der Sarkophag ein Stück eingerückt ist, kann man über dem Skelett die Worte «Io Fv Ga Qvel Che Voi Sete E Qvel Chi Son Voi Aco Sarete» lesen, die übersetzt «Ich war einst, was ihr seid; und was ich bin, werdet ihr einmal sein» bedeuten.
Auf dem Wandvorsprung über dem Sarkophag knien links ein Mann, der einen roten Mantel trägt, rechts eine Frau in einem blauen Mantel. Beide haben die Hände zum Gebet gefaltet und blicken sich an, sind also vom Betrachter aus im Profil zu sehen. Hinter ihnen erheben sich kannelierte Pilaster (das heißt mit Eintiefungen versehene Wandvorlagen), deren rote Kapitelle ein Gebälk tragen. Diese Architektur bildet den Rahmen für einen tonnengewölbten Raum, der sich mit einem von Säulen getragenen Rundbogen zum Kirchenraum hin öffnet. Am anderen Ende des Raumes wird ein weiterer von Säulen getragener Rundbogen sichtbar. Die Bögen stützen die mit Kassetten versehene Tonne.
In der Mitte dieser Kapelle sieht man den Gekreuzigten. Obwohl das Kreuz realiter auf einem großen Fuß steht, der als Bergspitze ausgebildet ist, werden die Querbalken des Kreuzes und die Arme Christi von Gottvater umfangen, der auf einem Podest steht. Unter einem blauen Mantel trägt er ein rotes Gewand. Zwischen seinem Kopf und dem Kopf des Gottessohns schwebt die Taube des Hl. Geistes. Gerahmt wird diese Gruppe von der Muttergottes und Johannes dem Evangelisten. Johannes im roten Gewand hat die Hände gefaltet und betet die Hl. Dreifaltigkeit an. Die blau gekleidete Maria hingegen blickt hinaus aus der Kapelle zum Betrachter und weist ihn mit ihrer rechten Hand auf die Dreifaltigkeit hin.
Lange Zeit wurde die Bedeutung des Freskos nicht erkannt. Das war nicht weiter erstaunlich, da es seit dem 16.Jahrhundert durch ein Bild verdeckt und im 19. Jahrhundert - allerdings nur zu Teilen - abgenommen und an der Innenseite der Fassade angebracht worden war. Die rahmende Scheinarchitektur und das Skelett hatte man übermalt. Sie wurden erst 1952 wiederentdeckt. Damals versetzte man das Fresko wieder an seinen alten Standort im dritten Joch an der linken Langhauswand. Und erst jetzt wurde wirklich klar, mit welch bedeutendem Werk man es hier zu tun hatte, denn nun konnte man wieder den Standpunkt bestimmen, von dem aus die gemalte Kapelle ein realer Ort zu sein scheint. Eine Datierung zwischen 1426 und 1428 galt die folgenden Jahrzehnte als sicher, bis die Inschrift über dem Skelett als Krypto- und Chronogramm erkannt wurde.
Ein Kryptogramm ist eine Inschrift, bei der fehlende oder besonders gekennzeichnete Buchstaben zusätzliche Informationen bieten. Handelt es sich dabei um eine Datierung, spricht man von einem Chronogramm.
Ergänzt man die fehlenden Buchstaben, wird der Inhalt der Inschrift leichter erfaßbar: «lo Fv Gia Qvel Che Voi Siete E Qvel Chi Sono Voi Ancora Sarete.» In anderer Reihenfolge gelesen, ergeben diese Buchstaben «INRI» und «A» sowie «O», also einmal die Inschrift, die normalerweise über dem Kreuz Christi angebracht ist und die Abkürzung für «Jesus von Nazareth, König der Juden» ist, zum anderen die lateinische Umschreibung für die griechischen Buchstaben Alpha und Omega. Sie symbolisieren im Christentum Anfang und Ende und betonen so die Bedeutung der Inschrift noch einmal. Beide, «INRI» wie «A» und «O», sind wichtig für die Bedeutung des Bildes, die Ausgangspunkt für die zentralperspektivische Konstruktion war.
Doch bevor wir das klären, sollte noch das Chronogramm entziffert werden. Addiert man alle in der Inschrift vorkommenden römischen Zahlenbuchstaben (IVVLCVIVLCIVIC), so ergibt sich die Zahl (1)429. 1429 ist insofern ein bemerkenswertes Datum, als Brunelleschi zu diesem Zeitpunkt mit der Planung der Pazzi-Kapelle im Kreuzgang von Santa Croce begann. Die von ihm konzipierte Alte Sakristei in der Kirche San Lorenzo war damals schon vollendet. Beide Bauten zeigen einen ähnlichen Aufbau wie die in dem Fresko gemalte Kapelle, mit der Ausnahme, daß sie überkuppelt sind. Doch in der Pazzi-Kapelle gibt es ebenfalls die kleinen tonnengewölbten Seitenarme, die wie die Kapelle des Freskos eine Kassettendecke besitzen.
Längst wurde erkannt, daß Masaccios Fresko die gebaute Architektur Brunelleschis vorwegnimmt, allerdings ohne zu sehen, daß beide Konzepte denselben Urheber haben. Unter der Malschicht des Freskos, das wir soeben wie einen realen Raum beschrieben haben, befindet sich ein Liniennetz, mit dessen Hilfe Masaccio die perspektivische Konstruktion gelang. Dieses Liniennetz aber lieferte ihm sehr wahrscheinlich Brunelleschi, erinnert es doch exakt an das beschriebene Quadratraster für seine Zeichnung des Baptisteriums.
Abgesehen von der Konstruktion scheint Brunelleschi dem so viel jüngeren Maler aber noch weitere Anregungen geliefert zu haben. Vielleicht hat Brunelleschi dem jungen Masaccio beim Entwurf der Kapelle geholfen, vielleicht sogar die Skizzen geliefert, die Masaccio dann ausführte. Wie sehr Brunelleschi auf den jungen Maler eingewirkt hat, ist schließlich daran zu ermessen, daß nicht nur die gemalte Architektur, sondern auch das Bild des Gekreuzigten Parallelen zu einem Werk Brunelleschis aufweist. Um 1410/15 entstand der hölzerne Kruzifix des späteren Dombaumeisters. Dieser Kruzifix befand sich bereits in der Kirche Santa Maria Novella, als Masaccio das Fresko mit der Hl. Dreifaltigkeit malte. Und der gemalte Kruzifix ist - mit Ausnahme des Lendenschurzes - ein Doppelgänger des plastischen.
Warum aber wählten Masaccio und Brunelleschi ausgerechnet diesen Bildgegenstand, um daran die Konstruktion der Zentralperspektive auszuprobieren? Mit dieser Frage kommen wir noch einmal auf die Darstellung selbst zurück. Denn mit dem Titel der Hl. Dreifaltigkeit ist nur die mittlere Personengruppe bestimmt, nämlich Gottvater, Sohn und Heiliger Geist. Doch sind noch weitaus mehr Personen zu sehen, und es gibt die berechtigte Annahme, daß der Inhalt des Bildes Anlaß für den Versuch der perspektivischen Konstruktion war.
Unterhalb des gemalten Raums befindet sich das Skelett mit der Inschrift. Ein Skelett in Verbindung mit dem Gekreuzigten kann nur Adam sein. Denn die Legende berichtet, daß Christus über dem Grab Adams gekreuzigt wurde. Das Kreuz innerhalb der Kapelle steht auf einer Bergspitze, die in den Raum hineinragt. Damit kann nur die Golgota-Kapelle in Jerusalem gemeint sein, unter der sich die Adamskapelle befindet. Vom Kircheninnenraum blickt der Betrachter in die Kapelle und in den darunter liegenden Raum. Diesen realen Raum teilt er sich mit den gemalten Stifterfiguren, die sich dort zu befinden scheinen, wenn auch erhöht.
Die beiden Assistenzfiguren Maria und Johannes, die zu jeder Kreuzigungsgruppe dazu gehören, stehen höher als die Stifter. Außerdem befinden sie sich bereits in der Kapelle. Sie sind die Vermittler zwischen Christus und den Menschen, in diesem Fall den Stiftern respektive dem Betrachter. Interessant sind aber auch die Beziehungen, die in den farbgleichen Gewändern anklingen. Der Stifter im roten Mantel kniet rechts von Christus, befindet sich also mit der blau gekleideten Maria und nicht dem rot gewandeten Johannes auf derselben Seite. Ihn jedoch betet der Stifter an, damit er seine Bitte an den Gekreuzigten weiterleite, ebenso wie sich die blau gekleidete Frau quer über das Bild hin an Maria wendet. Rot und blau gemeinsam trägt allein Gottvater, und zwar erneut die Seiten verkehrend, so daß beide Farben mehrfach im Wechsel zu sehen sind.
Die Gruppe der Dreifaltigkeit bildet über diese Beziehungen farblich also eine Einheit mit der Kreuzigungsgruppe. In der Kreuzigung offenbart sich die menschliche Natur Christi, in der Dreifaltigkeit hingegen seine göttliche Natur. In dem Bild insgesamt wird also auf die beiden Naturen Christi verwiesen und damit auf das speziell in Santa Maria Novella gefeierte Corpus-Domini-Fest, das 1425 gerade durch ein neues Stadtgesetz erneuert worden war. Vielleicht hing mit diesem Gesetz sogar der Auftrag für das Fresko zusammen. Die verschiedenen Ebenen hat Masaccio jedenfalls durch die Architektur, durch die himmlische Kapelle, meisterlich verschränkt.
Maria und Johannes als Vertreter der Menschen im Himmel sind zwar schon aus der realen Welt entrückt, aber nicht ganz so weit entfernt, nicht ganz so weit oben, nicht ganz so groß wie die Hl. Dreifaltigkeit. Es ist deshalb anzunehmen, daß die Aufgabenstellung zu der perspektivischen Darstellung führte, daß Masaccio und Brunelleschi die dem Maler gestellte Aufgabe zum Anlaß nahmen, die neuen Erkenntnisse des Architekten in Malerei umzusetzen. Dies ist ihnen auf hervorragende Weise gelungen und zeigt einmal mehr, daß die Aufgabenstellung dazu animiert, neue Wege zu beschreiten.
Sieben Jahre nach Masaccios Tod, 1436, widmete der Architekt und Theoretiker Leon Battista Alberti sein Malereitraktat, in dem er die Konstruktion der Zentralperspektive beschrieb, nicht etwa Masaccio, den Maler der Hl. Dreifaltigkeit, sondern Filippo Brunelleschi. Damit hat er dem Urheber der Zentralperspektive auch ein literarisches Denkmal gesetzt.
Die CD Info enthält als Bonus den Aufsatz von Bernhard Siegert: (Nicht) Am Ort. Zum Raster als Kulturtechnik. Sonderdruck aus: Thesis, Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar, (2003) Heft 3
In der gebotenen Kürze etwas Allgemeines über die Dichtung Paul Celans zu sagen, scheint mir kaum möglich. Dazu fehlt es an einer einschlägigen literaturkritischen Terminologie, deren die Verallgemeinerung sich bedienen könnte. Ich benutze deshalb im folgenden als Leitfaden ein bestimmtes Gedicht Celans, eines der wenigen aus dem bisher vorliegenden Gesamtwerk, die sich im Sinn einer unmittelbaren poetologisch-programmatischen Selbstanweisung auffassen lassen. Es ist das Gedicht Sprich auch du aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle, der im Jahr 1955 erschienen ist.
Sprich auch du, sprich als letzter, sag deinen Spruch.
Sprich - Doch scheide das Nein nicht vom Ja. Gib deinem Spruch auch den Sinn: gib ihm den Schatten.
Gib ihm Schatten genug, gib ihm so viel, als du um dich verteilt weißt zwischen Mittnacht und Mittag und Mittnacht.
Blicke umher: sieh, wie's lebendig wird rings - Beim Tode! Lebendig! Wahr spricht, wer Schatten spricht.
Nun aber schrumpft der Ort, wo du stehst: Wohin jetzt, Schattenentblößter, wohin? Steige. Taste empor. Dünner wirst du, unkenntlicher, feiner! Feiner: ein Faden,
an dem er herabwill, der Stern: um unten zu schwimmen, unten, wo er sich schimmern sieht: in der Dünung wandernder Worte.
In der zweiten Strophe dieses Gedichtes wird ein Sprechen ins Auge gefaßt, das vor der Scheidung in Affirmation und Negation halt macht, das nicht auf den glatten Aussagesatz hinauswill, sondern sich das volle Spektrum der Unentschiedenheit vor den Gegensätzen zu bewahren sucht. Da eine solche Art der Unentschiedenheit nicht mit einem einfachen Zögern oder gar mit der Scheu vor dem klaren Aussprechen des Gegensatzes verwechselt werden darf, drängt sich ein präziserer Ausdruck auf. Könnte man die vom Dichter geforderte Sprechweise als die einer Noch-nicht-Entschiedenheit bezeichnen? Die Celansche Dichtung ist reich an Gegensätzen im ganz handgreiflichen Sinn von Umschlägen ins Gegenteil und paradoxen Wendungen. Sie setzt sich ihnen bewußt aus. Sie geht in ihrem konkreten sprachlichen Vollzug durch sie hindurch. Dieser Durchgang durch die Widersprüche und durch nicht mehr nachvollziehbare »Bilder« ist eine den Gedichten Celans besonders eigentümliche Bewegungsweise.
Deshalb muß der Sachverhalt einer spezifischen Unentschiedenheit, den ich hier zu umschreiben suche, auch von der anderen Seite gesehen werden. Der Noch-nicht-Entschiedenheit, die vor der Grundentscheidung zwischen Ja und Nein innehält, entspricht eine Nicht-mehr-Entschiedenheit, die jeden denkbaren Gegensatz hinter sich hat, ohne ihn zu verleugnen. So kann sich das Celansche Gedicht den Paradoxien des in ihm Gesagten ganz ohne Vorbehalt öffnen. Es scheitert an ihnen nicht, denn es kennt mitten durch seine Unentschiedenheit im Hinblick auf eindeutige (affirmative oder negierende) »Aussagen« hindurch seine eigene Form der rein poetischen Entschiedenheit. Sie behauptet sich zwischen dem Noch-nicht und dem Nicht-mehr als jenes »Immer-noch« des Gedichts, von dem Celan in der Büchner-Preis-Rede spricht. Die Weite der Unentschiedenheit zwischen Nein und Ja enthält offensichtlich den Ort einer im Mitgehen erfahrbaren Prägnanz und Entschiedenheit des dichterischen Sprechens. So jedenfalls lehrt es uns die einfache Tatsache der Existenz dieser Gedichte und der Faszination, die sie auf den genauen Leser ausüben.
Ein anderes ist es, das Zustandekommen einer solchen eigentümlichen Sprach-Prägnanz außerhalb der Eindeutigkeiten des ohne weiteres Verständlichen zu erklären. In einer wenig bekannt gewordenen Äußerung hielt Celan vor zehn Jahren fest: »Dieser Sprache geht es, bei aller unabdingbaren Vielstelligkeit des Ausdrucks, um Präzision. Sie verklärt nicht, »poetisiert« nicht, sie nennt und setzt, sie versucht, den Bereich des Gegebenen und des Möglichen auszumessen« (Almanach 1958, Librairie Flinker, Paris, S. 45). Das ist ein schon fast rigoroses Bekenntnis zur arabeskenfreien Bestandsaufnahme, zur lyrischen Landesvermessung, in der Celan damals mit Recht einen Grundzug nicht nur seiner, sondern der zeitgenössischen deutschen Lyrik im ganzen wahrnahm. Er fügte allerdings auch bei, und traf damit die spezielle Komplikation, die sich für ihn aus einem solchen Programm ergab: »Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein.« Der Vorsatz, mit Präzision zu nennen und zu setzen, erhält von dieser Einsicht her seine zusätzliche Schwierigkeit. Er wird in den Dienst der Wirklichkeitssuche und des Wirklichkeitsgewinns gestellt, was etwas anderes ist als Wiedergabe der Wirklichkeit im Gedicht.
Die Präzision des Setzens und Nennens läßt sich stilkritisch nachweisen. Man darf auf den strengen, zuweilen pochenden Rhythmus Celanscher Gedichte vor allem aus der frühen Phase aufmerksam machen. Dieser sprachrhythmische Gestus bewirkt eine Insistenz des Sagens, die sich als ungewöhnlicher Nachdruck im Gesagten niederschlägt. Selbst ein langzeiliges Gedicht wie Das Gastmahl verfließt an keiner Stelle ins Parlando, der Daktylus als sein metrisches Grundmuster ergibt hier nicht, wie es bei diesem Versfuß sonst fast unausweichlich ist, eine tänzerische dahingleitende Bewegung. Die rhythmischen Akzente, zumal am Versschluß, sind so kräftig gesetzt und vorzugsweise auf sinnschwere Substantive gesetzt, daß die Bewegung des Sprachflusses sich staut und in dieser Stauung als gezügelte Bewegung um so deutlicher zum Vorschein kommt. Die Abweichungen vom metrischen Grundmuster sind gezielt und stehen im Dienst derselben Wirkung.
Im frühesten Gedichtband Celans (Der Sand aus den Urnen, Wien 1948), dessen Bestand später teilweise in Mohn und Gedächtnisübernommen wurde (Stuttgart 1952), findet sich denn auch bereits die Tendenz zur Verknappung der Verszeile. Ein besonders klares Beispiel dafür bietet das Gedicht Corona, dessen Strophenanfänge die metrisch-rhythmische Struktur des Gastmahl-Gedichts, aufweisen. Gegen sein Ende aber zieht es sich immer mehr zur lapidaren Fügung zusammen bis zur Schlußzeile »Es ist Zeit.«
An diesem Beispiel läßt sich im weitern auch die Rolle der Wortwiederholung, speziell der Anapher, studieren. Auch sie gehört in den Zusammenhang des insistierenden Sprachgestus, der sich nicht auf rhythmische Erscheinungen im engem Sinn beschränkt. Er bestimmt schließlich auch den Satzbau und damit in letzter Konsequenz die »Aussage« des Gedichts (»Es ist Zeit, daß es Zeit wird.«). Die bekannte Todesfuge zeigt die strukturierende Kraft des Prinzips der Wiederholung beim frühen Celan im hellsten Licht. Das Prinzip differenziert sich auf dem Weg über die Engführungund tritt allmählich, ohne ganz zu verschwinden, hinter den komplizierteren syntaktischen Verhältnissen der späteren Gedichte zurück. Aber auch da, wo es sparsamer wörtlich eingesetzt wird, bleibt das erhalten, worauf das Prinzip der Wiederholung hinarbeitete. Es bleibt, abstrakter geworden, der Gestus des Insistierens erhalten, der allen Celanschen Gedichten die eigentümliche Grundbewegung des In-sich-Kreisens mitteilt, auch in den Fällen, wo keine ausdrückliche thematische Rückwendung innerhalb des Wortbestands erfolgt.
Damit ist der Horizont wenigstens angedeutet, in den der scheinbar einfache programmatische Entschluß zum lyrischen Setzen und Nennen bei Celan sogleich hineinführt. Da dem Gegebenen von vornherein das Mögliche als poetischer Vermessungsbereich zugeordnet ist und die Wirklichkeit als Ziel einer Suche, nicht einer bloßen Vergewisserung erkannt und angesetzt wird, scheiden alle lyrischen Verfahrensweisen aus, die die Wortsetzung im Gedicht als einen einfachen Ausdrucks-Vorgang behandeln. Unbeschadet der angestrebten und erreichten Präzision kann auf die »Vielstelligkeit des Ausdrucks« nicht verzichtet werden. Die Präzision muß sich gerade in dieser Vielstelligkeit behaupten, wenn sie nicht zur Schein-Präzision absinken soll, die zwar unbefangen mit Ja und Nein zu hantieren wüßte, aber unter den hier herrschenden Bedingungen nur um den Preis einer nicht wiedergutzumachenden Voreiligkeit.
Die Aufforderung zum Sprechen aus der zweiten Strophe des Gedichts Sprich auch du will den Sprechenden und seinen Spruch vor solcher Voreiligkeit bewahren, bürdet ihm dafür aber die volle Paradoxie eines vielstelligen, unentschieden-entschiedenen Sprechens auf. Sie belastet den, der dieses Sprechen vernimmt, mit einer radikalen Verständnisschwierigkeit. Paradoxien, auch im modernen Gedicht, sind unbequem, sobald man sie wirklich verstehen will - vorausgesetzt, daß Verstehen auch heißt, dem Gesagten (in diesem Fall paradox Gesagten) mit nochmals anderen Worten in den Rücken zu gelangen. Paradoxes Sprechen ist eine Art von ultima ratio: es schöpft die Möglichkeiten und Spannweiten des überhaupt Sagbaren bis an die letzte Grenze aus. Ist es eine mögliche Aufgabe, »dahinter« zu kommen, was im vielstellig-paradoxen Sprechen gesagt wird? Eine mögliche Aufgabe scheint es mir immerhin zu sein, die Bedingungen und Intentionen solchen Sprechens abzuklären.
Es ist gewiß nicht nur ein Zufall, daß in der ersten Phase der Auseinandersetzung mit der Dichtung Celans in der literarischen Öffentlichkeit sich unversehens die Frage nach den historischen Abhängigkeiten in den Vordergrund schob, in denen eine lyrisch-paradoxe Sprechweise steht. Es schien die natürliche Ratlosigkeit ihr gegenüber zu mildern, wenn man auf ähnliche Erscheinungen aus dem Bereich der schwerverständlichen Metaphern in der Tradition des Manierismus verweisen konnte oder auf den vermeintlich damit eng verwandten Bilderschatz des modernen Surrealismus. Als Folge dieser Tendenz, zu einer Erklärung auf dem Weg über die historische Einordnung zu gelangen, muß allerdings in dem Fall, wo eine Dichtung von starker individueller Eigenart vorliegt, auch das Bedürfnis sich wieder steigern, eben dieser Eigenart auf die Spur zu kommen. Von einem Punkt aus, wo sich gut zwei Jahrzehnte kontinuierlicher lyrischer Produktion Celans überblicken lassen, ist ein solches Vorhaben nicht mehr utopisch.
Wer sich darauf einläßt, muß sich darüber im klaren sein, daß diese Dichtung und die ihr eigentümliche Entschiedenheit letztlich nicht aus den formalen Mitteln zu erklären ist, deren sie sich bedient. Ihre Eigenart wird nur voll sichtbar, wo das Gedicht als Vorstoß und Versuch, eine noch nicht begriffene Wirklichkeit zu gewinnen, verstanden wird. Man darf sich angesichts der Celanschen Gedichte ohne weiteres an das Diktum Kafkas erinnern, wonach die Dichtung eine Expedition nach der Wahrheit ist. Nur in diesem vorausgreifenden Sinn läßt ihre paradoxale Sprechweise sich begründen. Zu dieser Art von Expedition nach der Wahrheit gehört auch das Bewußtsein, daß »die« Wahrheit sich niemals in einen Satz bannen lassen wird. Damit ist nichts gegen die kaum zu widerlegende Überzeugung gesagt, daß die Wahrheit etwas Einfaches sein muß. Vermutlich ist es eben ihre alles Sagen übertreffende Einfachheit, die die Vielstelligkeit der Sprechweise fordert. Wer die Wahrheit zu besitzen wähnt, kann sich zu Ja und Nein entscheiden. Wer sie als Ziel einer unablässigen Suche begreift, muß Ja und Nein mischen, und dies auf die Gefahr hin, daß sein Sprechen dem an den Aussagesatz und den schlichten lyrischen Ausdruck gewöhnten Ohr wie Trug klingt. Wir stoßen auf die alte, von Nietzsche pointiert formulierte Frage, ob die Dichter nicht zuviel lügen. Wie kann eine Dichtung vor dieser Frage bestehen, wenn sie sich selbst so offen zur paradoxalen Sprechweise bekennt? Sie kann es tatsächlich nur, indem sie sich mitten durch die Nicht-Scheidung von Ja und Nein ihre eigene Entschiedenheit aufbaut. Von dieser conditio sine qua non her muß die zweite Hälfte der Strophe gesehen werden:
Gib deinem Spruch auch den Sinn: gib ihm den Schatten.
Aus dem Sprachgebrauch Celans läßt es sich belegen, daß das vieldeutige Wort »Sinn« vorzugsweise in der konkreten Bedeutung von »Richtung, die etwas einhält«, also geradezu als »Richtungssinn« zu verstehen ist. So wird in den Gedichten vom »Lichtsinn« der Seele gesprochen oder von der Bewegung »im Herzsinn« (Die Niemandsrose). Die Bremer wie die Büchner-Preis-Rede verweisen an zentralen Stellen auf den Richtungssinn des Gedichts. Er bewirkt, daß Dichtung vorauseilt und auf das »Andere« zuhält.
Aus diesen Zusammenhängen gesehen, besagt die Verszeile mit der Aufforderung, dem Spruch den Sinn zu geben: ihn auf die Expeditionsreise zu schicken. Wir dürfen von einer Gedichtstrophe Celans freilich nicht erwarten, selbst wenn es sich um eine vergleichsweise »programmatische« Strophe handelt, daß sie eine solche Anweisung nach Art einer theoretischen Darlegung aus buchstabiert. Sie präzisiert die Aufforderung zur Sinngebung durch die weitere Verszeile:
gib ihm den Schatten.
Auch das ist Präzisierung durch das Paradoxon. Die Nennung des Schattens läßt an die Dunkelheit der hier vorliegenden Sprechweise denken. Das Gedicht scheint sich damit seiner eigenen Dunkelheit förmlich zu versichern. Die Forderung nach dem Schatten widerspräche dann zunächst der Forderung nach klar erkennbarem Sinn. Eben dadurch wird aber auch sichtbar, in welcher Weise die Entschiedenheit des Richtungssinnes durch die Unentschiedenheit zwischen Ja und Nein hindurch gewonnen sein will. Der Sinn des Spruches und damit seine Lebendigkeit kann sich unter den Bedingungen der paradoxen Sprechweise nur manifestieren, indem er auf das »ganz Andere« und den »Schatten« zuhält - im Celanschen Sprachgebrauch stehen beide Namen in enger Berührung mit der Sphäre des Todes. Die volle Verschränkung des Gegensatzes tritt an der späteren Stelle des Gedichtes hervor:
Beim Tode! Lebendig! Wahr spricht, wer Schatten spricht.
Die Symbiose von Leben und Tod bleibt eine der großen Voraussetzungen der Dichtung Celans. Wer Schatten spricht, gibt sie ans Gedicht weg. Die Schatten erscheinen hier als die nächstliegende Substanz, über die der Dichter verfügt, um das Gedicht zu nähren. Das sich selbst ansprechende lyrische Du erkennt sich deshalb in der folgenden und letzten Strophe als ein »Schattenentblößter«, der mit noch gesteigerter Dringlichkeit nach dem Wohin, dem Richtungssinn seiner dichterischen Bewegung zu fragen hat. Diese Bewegung treibt den, der spricht, immer weiter über sich hinaus. Sein eigener Standort schrumpft im Vollzug des Gedichts. Er wird zum geometrischen Ort, der nur noch durch die Beziehungen definiert ist, die sich in ihm vermitteln.
Dem entspricht es, daß in dieser letzten Strophe eine jener rapiden Transformationen durchgeführt wird, die der Anschauung den Atem verschlagen. Das lyrische Du selbst wandelt sich zum »Faden«. Als Vorstellungsinhalt genommen, wirkt das grotesk oder traumhaft. Jenseits solcher Hilfsvorstellungen zielt es ganz offensichtlich auf den Gewinn eines Gegenübers, nämlich des bis zur viertletzten Verszeile verschwiegenen »Sterns«. Das lyrische Du als Sprecher des Spruchs verschwindet aus dem Gedicht. Es ist aufgegangen in der Funktion, die weitgespannte Beziehung zwischen dem »Stern« und der »Dünung / wandernder Worte« herzustellen.
Auch auf der Seite des »Spruchs« hat sich damit eine weniger auffallende, aber nicht weniger radikale Verwandlung vollzogen. An die Stelle des einzelnen, vom Du gesprochenen Spruches ist die Weite der als Dünung gesehenen Wortbewegung getreten. Aber nicht nur um Ausweitung geht es dabei, sondern um eine wirkliche Umsetzung, wie sie mir für die Celansche Lyrik im Laufe der Jahre immer charakteristischer zu werden scheint. Der Wortbestand des im Gedicht Gesprochenen wird sozusagen unmittelbar verdinglicht, das heißt die Worte werden nicht mehr nur als Bezeichnungen der Dinge aufgefaßt, sondern erscheinen als selbständige Wesen gleichrangig und ohne kategoriale Differenz neben und zwischen den Erscheinungen der im Gedicht ausgesprochenen Welt.
Die »Dünung / wandernder Worte« ist keine Metapher im hergebrachten Sinn mehr. Die Wendung will wörtlich genommen werden, als es einer Metapher zukäme. In dieser Dünung kann sich wirklich ein Stern spiegeln. Wenn man die Metapher traditionellerweise als verkürzten Vergleich definiert, so könnte man hier von einer verkürzten Metapher sprechen. Die Verkürzung beseitigt den üblichen Abstand zwischen den Worten und den mit Worten bezeichneten Sachen.
Was sich an diesem frühen Beispiel ablesen läßt, verdeutlicht sich an einer Passage aus dem zuletzt erschienenen Gedichtband Atemwende:
Das Geschriebene höhlt sich, das Gesprochene, meergrün, brennt in den Buchten, in den verflüssigten Namen schnellen die Tümmler, ...
Die Atemwende-Gedichte bieten insgesamt eine Fülle von Beispielen dieser Verschränkung zwischen »verdinglichter« Sprache und sprachlich evozierten Dingen. Aber auch schon die Engführung, von andern Gedichten des Sprachgitter-Bandes abgesehen, enthält an exponierter Stelle eine demselben Prinzip gehorchende Wendung wie »Gras, auseinandergeschrieben«. Es geht dabei nicht um eine naive Gleichsetzung von Bezeichnung und Bezeichnetem. Der Vorgang der Verkürzung und seine Kühnheit bleiben jederzeit sichtbar. Um so mehr Gewicht kommt ihm innerhalb der Struktur der hier vorliegenden Sprechweise zu. Es ist eine Sprechweise, die sich ihrer eigenen Sprachlichkeit bewußt ist, die ihr Gesprochensein immer wieder thematisiert, nicht um sich in einen selbstgeschaffenen Sprachkosmos zurückzuziehen, sondern vielmehr in der Absicht, den sprachlichen mit dem natürlichen Kosmos ausdrücklich zu verschwistern.
Auf dem Hintergrund dieses Verfahrens muß die Ausweitung des »Spruchs« in die »Dünung / wandernder Worte« gesehen werden. Die Anweisung vom Beginn des Gedichts:
Sprich auch du, sprich als letzter, sag deinen Spruch ...
führt zuletzt mit Folgerichtigkeit auf die Nennung einer großen Wort-Dünung, in die auch noch der Stern als das fernste wahrnehmbare Gegenüber des dichterischen Spruchs eintauchen kann.
Das Herstellen dieser weitesten Verbindung erfolgt indes nicht in der Weise einer einfachen Entgrenzung. Die Transformationen der letzten Strophe sind gegenstrebig. Die Expansion ins Kosmische gründet in einer Kontraktion des Standorts. Die Schrumpfung ist es, die ihn zu einem Ort der Entschiedenheit macht. Diese Reduktion gilt es noch genauer zu beschreiben, um ein geläufiges Mißverständnis auszuschließen. Vom Prinzip des einfachen lyrischen Ausdrucks her betrachtet, erscheint die Schrumpfung als Verlust von Welt. Der sich selbst ansprechende Sprecher des Gedichts wird »unkenntlicher«. Er verflüchtigt sich - jedenfalls für ein Bewußtsein, das mit dem Begriff des dichterischen Standorts die Vorstellung einer festgefügten Plattform verbindet, von der herab gesprochen wird. Da es in der Dichtung Celans diese Plattform nicht gibt, kennt sie auch nicht ein feststehendes Welt-Panorama. Das ist aber noch nicht gleichbedeutend mit Weltverlust. Es bedeutet vielmehr den unausweichlichen Auftrag zum Weltgewinn. Die von jedem einzelnen Gedicht gesuchte, zu gewinnende Welt ist esoterischer Natur, das wird auch der mit dem Celanschen Werk vertraute Betrachter zugeben. Aber es gibt keinen Anlass, diese Esoterik mit purer Irrealität zu verwechseln. Wer einer solchen Verwechslung verfiele, würde sich den Zugang von vornherein abschneiden. Der »Faden«, auf den der dichterische Ort sich reduziert, steht für das Strukturprinzip des unablässigen Aufspürens von Beziehungen, durch das die Gedichte sich Welt heranholen. Die Reduktion, das »ferner«-Werden der Bezugsbasis, wie es sich in der Setzung des »Fadens« ausspricht, verleiht der dichterischen Wahrnehmung das höhere Auflösungsvermögen, die Verfeinerung im Sinn der Präzisierung.
Der lyrische Begriff des »Fadens« steht keineswegs isoliert im Werke Celans. Er kehrt wieder und gehört zu einem wichtigen Komplex verwandter Nennungen wie »Garn«, »Spur«, »Strahl«, »Netz«, »Gespinst«, »Schleier«, »Schliere« (die welt-vermittelnde Funktion ist besonders deutlich ablesbar an dem Gedicht Schliere). Die ernsthafte Celan-Kritik hat die Bedeutung solcher Wortfelder schon früh erkannt. Sie ergeben ihrerseits eine Art von Beziehungsgeflecht, das sich über das Gesamtwerk erstreckt. Das beschränkt sich keineswegs auf den hier angesprochenen Namen-Komplex. Auffallender noch treten Leitworte wie Auge, Hand, Stein, Baum, Wolke, Wasser, Wind, Träne aus dem Gesamtzusammenhang hervor. Aus dieser Tatsache ergibt sich zweifellos eine wichtige Verständnishilfe. Allerdings muß beigefügt werden, daß man sich von der Analyse dieser Beziehungen wiederum kein panoramisches Weltbild der Celanschen Dichtung versprechen darf. Die Beziehungen sind zu beweglich, um sich mit Hilfe einer einfachen Wortstatistik katalogisieren zu lassen. Worauf es ankommt, ist der Beziehungs-Charakter als solcher, der diese Dichtung bestimmt.
Auf ihn verweist auch der Titel, den Celan seiner umfangreichsten und wichtigsten poetologischen Äußerung gegeben hat: Der Meridian. Er, versteht darunter »etwas - wie die Sprache - Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes ...« Der solchermaßen als Gleichnis der Sprache aufgefaßte Meridian ist im selben Sinn ein geometrischer Ort wie der »Faden« des »Sprich auch du«-Gedichts. In ihm trifft sich das Auseinanderliegende. Er ist kein Standort im üblichen Sinn, wohl aber das bewegliche Ordnungsprinzip einer poetischen Erfahrung. Im gliedert sich ausdrücklich auch noch des Dichters eigene Herkunft ein.
Es ist nicht müßig, zum Schluß auf den im weitesten Sinn autobiographischen Aspekt der Dichtung Celans hinzuweisen. Ihre spezifische Form der Wirklichkeitssuche, die, aus dem Gewohnten und der vertrauten Formulierung aufbricht, den plausiblen Vergleich und das geschlossene Bild hinter sich läßt, um in einer paradoxalen Sprache neue, fundamentalere Beziehungen zu setzen und Welt zu gewinnen - sie wird verständlicher auf dem Hintergrund eines Weges, der vom Sprachverlust bedroht war. Die Bremer Rede gibt einige Hinweise auf diesen Vorgang. Die Sprache »blieb unverloren«, heißt es dort. Zugleich wird deutlich, daß sie nur mit Hilfe von Transformationen zu bewahren war, wie wir sie am Modell eines einzelnen Gedichts zu skizzieren versuchten. Dieselbe Rede macht auf die frühe Vertrautheit mit der mystischen Tradition der Chassidim aufmerksam. Hier liegt die stichhaltigste historische Erklärung für die surrealistisch anmutenden Züge der Celanschen Lyrik. Aber eben diese Tradition konnte, wenn sie von neuem in einer Dichtung produktiv werden sollte, nicht ohne Verwandlung aus dem Untergang gerettet werden. Die innere Spannweite einer Dichtung ist identisch mit dem von ihr zurückgelegten Weg. Wie bewußt diese Spannung durch Celan aufrechterhalten wird, läßt sich an seinen übersetzungen russischer, englischer, französischer Lyrik ablesen, die Übertragungen ins eigene Idiom sind. Auch in ihnen manifestiert sich der den Osten und Westen umgreifende Beziehungscharakter einer Lyrik, die der Sprache und dem, der sie spricht, unentwegt zumutet, sich selbst zu übersteigen. Es läßt sich heute schon erkennen, welche Dimensionen dem Gedicht in deutscher Sprache durch diesen Vorstoß hinzugewonnen worden sind.
01. Ansage [00:09] 02. Todesfuge [02:49] 03. Drüben [01:46] 04. Der Reisekamerad [00:55] 05. Das ganze Leben [01:37] 06. Corona [01:19] 07. In Ägypten [01:18] 08. Die Krüge [00:39] 09. Wasser und Feuer [01:43] 10. Zähle die Mandeln [01:23] 11. Ich hörte sagen [01:18] 12. Nächtlich geschürt [01:40] 13. Aufs Auge gepfropft [01:09] 14. Assisi [01:50] 15. Die Winzer [01:42] 16. Tenebrae [01:35] 17. Engführung [05:15] 18. Es war Erde in ihnen [01:33] 19. Tübingen, Jänner [01:09] 20. Chymisch [01:36] 21. Radix, Matrix [01:28] 22. Mandorla [01:16] 23. Sibirisch [01:15] 24. Was geschah ? [00:58] 25. In eins [01:24] 26. Die Silbe Schmerz [01:50] 27. Und mit dem Buch aus Tarussa [03:37] 28. Psalm [01:05] 29. Du darfst [00:24] 30. Von Ungeträumtem [00:43] 31. In die Rillen [00:39] 32. In den Flüssen [00:24] 33. Vor dein spätes Gesicht [00:29] 34. Die Schwermutsschnellen hindurch [00:31] 35. Wege im Schatten-Gebräch [00:25] 36. Weißgrau [00:39] 37. Mit erdwärts gesungenen Masten [00:27] 38. Beim Hagelkorn [00:34] 39. Dein vom Wachen [00:40] 40. Mit den Verfolgten [00:35] 41. Fadensonnen [00:34] 42. Hafen [02:40]
CD 2: [46:00]
01. Stimmen [02:37] 02. Zuversicht [00:50] 03. Schliere [01:13] 04. Matière de Bretagne [01:31] 05. Entwurf einer Landschaft [00:58] 06. Ein Auge, offen [00:51] 07. Niedrigwasser [01:14] 08. Sommerbericht [00:46] 09. Bahndämme, Wegränder, Ödplätze, Schutt [01:07] 10. Wer herrscht ? [01:42] 11. In der ewigen Teufe [00:36] 12. Umwegkarten [01:08] 13. Deine Augen im Arm [01:00] 14. Pau, nachts [00:24] 15. Der Hengst [00:39] 16. In den Geräuschen [00:26] 17. Lyon, Les Archers [01:03] 18. Wo bin ich [01:09] 19. All deine Siegel erbrochen ? Nie. [00:46] 20. Aus den nahen [00:43] 21. Weißgeräusche [00:49] 22. Die teuflischen [00:38] 23. Die Dunkel-Impflinge [00:45] 24. Die fleißigen [01:04] 25. Gespräch im Gebirg I [04:13] 26. Gespräch im Gebirg II [03:40] 27. Gespräch im Gebirg III [05:10] 28. Sprachgitter [01:06] 29. In Prag [01:11] 30. Stehen [00:32] 31. Vom großen [00:38] 32. Singbarer Rest [00:58] 33. Frihed [01:38] 34. Die Zahlen [00:30] 35. Schläfenzange [00:52] 36. Wortaufschüttung [00:39] 37. Weggebeizt [00:58]
Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde. Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn: die Zeit kehrt zurück in die Schale.
Im Spiegel ist Sonntag, im Traum wird geschlafen, der Mund redet wahr.
Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten: wir sehen uns an, wir sagen uns Dunkles, wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis, wir schlafen wie Wein in den Muscheln, wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.
Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße: es ist Zeit, daß man weiß! Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt, daß der Unrast ein Herz schlägt. Es ist Zeit, daß es Zeit wird.
Es ist Zeit
Todesfuge
Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts wir trinken und trinken wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends wir trinken und trinken Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends wir trinken und trinken ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen
Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland
dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith
Ich hörte sagen
Ich hörte sagen, es sei im Wasser ein Stein und ein Kreis und über dem Wasser ein Wort, das den Kreis um den Stein legt.
Ich sah meine Pappel hinabgehn zum Wasser, ich sah, wie ihr Arm hinuntergriff in die Tiefe, ich sah ihre Wurzeln gen Himmel um Nacht flehn.
Ich eilt ihr nicht nach, ich las nur vom Boden auf jene Krume, die deines Auges Gestalt hat und Adel, ich nahm dir die Kette der Sprüche vom Hals und säumte mit ihr den Tisch, wo die Krume nun lag.
Und sah meine Pappel nicht mehr.
Schliere
Schliere im Aug: von den Blicken auf halbem Weg erschautes Verloren. Wirklichgesponnenes Niemals, wiedergekehrt.
Wege, halb - und die längsten.
Seelenbeschrittene Fäden, Glasspur, rückwärtsgerollt und nun vom Augen-Du auf dem steten Stern über dir weiß überschleiert.
Schliere im Aug: daß bewahrt sei ein durchs Dunkel getragenes Zeichen, vom Sand (oder Eis?) einer fremden Zeit für ein fremderes Immer belebt und als stumm vibrierender Mitlaut gestimmt.
FADENSONNEN über der grauschwarzen Ödnis. Ein baum- hoher Gedanke greift sich den Lichtton: es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs im Mai 1945 war für Richard Strauss auch eine persönliche Tragödie. Deutschland lag in Schutt und Asche, seine Heimatstadt München war schwer zerstört. Noch härter traf ihn allerdings, dass auch die zentralen Stätten seines kompositorischen Wirkens nicht mehr existierten. »… ich bin in verzweifelter Stimmung! Das Götehaus, der Welt größtes Heiligtum, zerstört! Mein schönes Dresden - Weimar - München, Alles dahin!«, so schrieb er am 02. März 1945 an Joseph Gregor.
Doch es war nicht nur die Zerstörung seiner Wirkungsstätten, die Strauss zu schaffen machte. Schließlich war er in der Zeit des Nationalsozialismus fast zwei Jahre lang Präsident der Reichsmusikkammer gewesen und hatte so das System nicht unwesentlich gestützt. Jetzt, wo das nahende Ende Hitlerdeutschlands absehbar war, sah er sich dem Vorwurf ausgesetzt, mit den Nationalsozialisten gemeinsame Sache gemacht zu haben. Strauss, nicht selten als der größte lebende deutsche Komponist bezeichnet, hatte alles verloren: seinen guten Ruf, seine Ideale und Wertvorstellungen, seine Wirkungsmöglichkeiten.
In dieser für ihn schweren Phase begann er mit einer äußerst ungewöhnlichen Komposition, die er in ersten Skizzen »Trauer um München« überschreiben wollte. Am 12. April 1945 schloss er nach nur vier Wochen die Arbeit an diesem Werk ab, das er schließlich »Metamorphosen« nannte und bescheiden als »Studie für 23 Solo-Streicher« deklarierte.
Die »Metamorphosen« (AV 142), nach außen hin für den Schweizer Dirigenten Paul Sacher, der das Werk in Auftrag gegeben hatte, geschrieben, sind ein Abgesang der Trauer auf eine in Trümmer versunkene Kultur, als deren letzter Repräsentant Richard Strauss sich verstand, ein düsteres Zeugnis aus einer düsteren Zeit. Mit seiner ungeheuren Ausdrucksintensität trotz des Verzichts auf ein breites Spektrum an Klangfarben ist dieses Stück ein Spätwerk im emphatischen Sinne, über das der französische Kritiker Roland Manuel, der dem Schaffen von Strauss keineswegs nur positiv gegenüber stand, einmal bemerkte: »Vielleicht lebte Strauss einfach nur 85 Jahre, um dieses herrliche Werk zu schaffen. Vielleicht waren seine Exzesse, seine Beleidigungen des guten Geschmacks nur Stationen auf einem Weg, der diesen alten Mann zur Entdeckung der Weisheit führte.«
Auch Strauss selbst war offensichtlich bewusst, dass er mit den »Metamorphosen« gegen Ende seines Lebens noch einmal einen neuen Weg eingeschlagen hatte. Er sah in dieser halbstündigen Streicher-Studie eine Art Resümee seines künstlerischen Daseins, oder, wie er sich ausdrückte, einen »Widerschein meines ganzen vergangenen Lebens«.
Im Sinne der Programmatik nähert die Komposition mit dem Untertitel »Studie für 23 Solostreicher« sich der symphonischen Dichtung, ohne aber wie dort einem wirklichen Programm, einem Handlungsverlauf zu folgen. Vielmehr handelt es sich um ein Stimmungsbild, um den Versuch, eine herrschende Grundstimmung wiederzugeben, zu interpretieren, zu verarbeiten. Ursprünglich war das Werk als Septett geplant. Im Verlauf des Komponierens wandte Strauss sich dann aber einer größeren Besetzung zu, um die Klangfarbenspektren zu intensivieren und zu erweitern:
Metamorphosen wie Klagemotive in beständiger Verwandlung, aufgefächert auf die Stimmen der 23 Solostreicher. Ein Wechselspiel zwischen Verdunkeln und Aufhellen. Es gleicht einem Ausloten feiner Zwischentöne, Graustufen, denn auf das üppig schillernde Farbspiel des großen Orchesters hatte Strauss verzichtet. Musik, die die Aufmerksamkeit des Hörers fordert wie sonst nur ein Streichquartett, das ausgeklügelten Kontrapunkt zelebriert. Jede noch so kleine Note ist bedeutend, kein Motiv kehrt in identischer Weise wieder. Die Musik fließt einfach nur dahin, doch scheint es immer so, als ob da auf etwas verwiesen wird, das einem irgendwie bekannt vorkommt.
Formal dreiteilig, besteht das Werk aus einem Andante-Abschnitt, auf den ein Agitato-Mittelteil folgt, worauf sich eine Reprise des Beginns anschließt. Wohl nicht zufällig bricht dieser Mittelteil auf seinem Höhepunkt plötzlich ab, um den Trauergesang des Beginns wiederaufzunehmen - ein Akzent, den Strauss setzte, um die tragischen Geschehnisse aus seiner Sicht zu kommentieren. Ein weiterer Akzent ist das Zitat des Beginns des Trauermarsches aus Beethovens III. Symphonie »Eroica«. Strauss behauptete übrigens später, es handle sich um einen unbewußten Anklang.
»In Memoriam« notierte Richard Strauss auf der letzten Seite der Partitur unter der Kontrabass-Stimme im März 1945. »Trauer um München« stand über der ersten Skizze, die im Herbst 1944 entstand. Da hatte Strauss noch Kraft zur Ironie, als er an den Wiener Kulturreferenten Walter Thomas schrieb:
»Noch ein solcher Angriff und das bayerische Pompeji wird eine große Sensation! Ich danke Ihnen herzlich für Ihre teilnahmsvollen Worte zur Zerstörung des lieben alten Hoftheaters, in dem ich mit sechs Jahren zuerst den Freischütz hörte, wo mein Vater 49 Jahre am ersten Hornpult saß und in dem zuletzt die Freude meines Alters, die vorbildlichen Aufführungen meiner Werke unter Clemens Krauss, für mich wenigstens auf immer in Schutt und Asche gesunken sind.«
Das Ausmaß der seelischen Verletzung hat noch einen weiteren Niederschlag gefunden: In den Skizzen zu den »Metamorphosen« notierte Strauss ein Gedicht von Goethe, »Niemand wird sich selber kennen«, mit den auf seine Situation bezogenen ergreifenden Schlußzeilen:
»Denk´ immer: Ist´s gegangen bis jetzt, So wird es auch wohl gehen zuletzt.«
Die Uraufführung der "Metamorphosen" fand am 25. Jänner 1946 in der Tonhalle Zürich mit dem Collegium Musicum Zürich unter Paul Sacher statt.
Für die in den USA entstandenen »Symphonic Metamorphosis of Themes by Carl Maria von Weber« griff Hindemith auf bereits bestehendes Material zurück. Im Kontext einer Zusammenarbeit mit dem Choreographen Léonide Massine hatte Hindemith 1940 begonnen, einige der vierhändigen Klavierstücke Webers für ein Ballett einzurichten. Aufgrund verschiedener Vorstellungen des angestrebten Resultats wurde dieses Projekt jedoch nicht vollendet; Hindemith führte die Arbeit an den gewählten Stücken auch im Alleingang nicht weiter. Drei Jahre später griff Hindemith diese Idee jedoch wieder auf und vollendete die »Sinfonischen Metamorphosen nach Themen von Carl Maria von Weber« im Sommer 1943. Die Uraufführung fand am 20. Januar 1944 in New York mit dem Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Artur Rodzinski statt.
Das Werk erweist sich als ausgesprochen brillantes Orchesterstück, mit dem er in den USA Popularität gewinnt. Die Satzfolge der Metamorphosen – Allegro, Scherzo, Andantino, Marsch – entspricht im Prinzip dem Aufbau einer klassischen Sinfonie. Hindemith unterwirft weniger Themen als vielmehr ganze Stücke Webers eingreifenden Metamorphosen (Verwandlungen): Der 1.Satz basiert auf dem vierten, der Schlusssatz auf dem siebten der 8 Stücke für Klavier zu 4 Händen op.60; der 2.Satz geht auf Webers Ouvertüre zu Turandot zurück; der dritte Satz benutzt das zweite der 6 Stücke für Klavier zu 4 Händen op.10.
Seine „Metamorphosen“ erfolgen auf mehreren musikalischen Ebenen: Er weitet die Form der Vorlagen aus durch variierte Wiederholungen, er verändert die Tonartenverhältnisse, er schärft und pointiert die Rhythmik und Harmonik und fügt neue Stimmen hinzu.
Im lebhaften ersten Satz durchläuft das Thema spielerisch die einzelnen Klanggruppen. Es wird von den Violinen vorgetragen, von den Holzbläsern aufgenommen, vom Blech abgelöst und durchwandert so die Höhen und Tiefen des Klangraumes.
Das romantische Scherzo des zweiten Satzes wird bestimmt von den Weberschen „Turandot“-Motiven. Ein Arsenal von Schlaginstrumenten, flirrende Streicher-Flageoletts und ein übermütiges Treiben der 111 Holzbläser erzeugen die charakteristische Stimmung, in die Hindemith im Trio ein eigenes Thema einbindet. Die Pauke beendet das Stück auf verblüffende Weise.
Der kleine langsame Satz (Andantino) bringt das Thema in der Klarinette, gibt es dann an die Streicher weiter und lässt es in der Wiederholung, wo es ebenfalls die Klarinette bläst, von einer unruhigen Flöte umspielen. Im Schlussteil des Satzes entwickelt sich ein kleines Flötenkonzert über das kantable Andantino-Thema.
Als Finale erklingt ein Marsch, allerdings ein Marsch mit einem gehörigen Schuss Parodie. Die Rührtrommel schlägt dumpf dazu, die Hörner nehmen das Thema auf, die Holzbläser kichern darüber, übermütig geht er zu Ende. Das Werk zeugt von einem liebenswerten Hindemith, der hier unbeschwert von Mystik lustig und heiter musiziert.
Uns ist kein Sein vergönnt. Wir sind nur Strom, Wir fließen willig allen Formen ein: Dem Tag, der Nacht, der Höhle und dem Dom, Wir gehn hindurch, uns treibt der Durst nach Sein.
So füllen Form um Form wir ohne Rast, Und keine wird zur Heimat uns, zum Glück, zur Not, Stets sind wir unterwegs, stets sind wir zu Gast, Uns ruft nicht Feld noch Pflug, uns wächst kein Brot.
Wir wissen nicht, wie Gott es mit uns meint, Er spielt mit uns, dem Ton in seiner Hand, Der stumm und bildsam ist, nicht lacht noch weint, Der wohl geknetet wir, doch nie gebrannt.
Einmal zu Stein erstarren! Einmal dauern! Danach ist unsre Sehnsucht ewig rege, Und bleibt doch ewig nur ein banges Schauen, Und wird doch nie zur Rast auf unsrem Wege.
Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden. Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein; wo jetzund Städte stehn, wird eine Wiese sein, auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden.
Was jetzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden; was jetzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch' und Bein. Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein; jetzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.
Der hohen Taten Ruhm muß wie ein Traum vergehn: soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch bestehn? Ach! was ist alles dies, was wir für köstlich achten,
als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind; als eine Wiesenblum, die man nicht wieder find't? Noch will, was ewig ist, kein einig Mensch betrachten!
Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde nichts. Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der Gesunde nichts! Und wäre nicht das Leben kurz, das stets der Mensch vom Menschen erbt, so gäb's Beklagenswerteres auf diesem weiten Runde nichts! Einförmig stellt Natur sich her, doch tausendförmig ist ihr Tod, es fragt die Welt nach meinem Ziel, nach meiner letzten Stunde nichts; und wer sich willig nicht ergibt dem ehrnen Lose, das ihm dräut, der zürnt ins Grab sich rettungslos und fühlt in dessen Schlunde nichts; dies wissen alle, doch vergißt es jeder gerne jeden Tag, so komme denn in diesem Sinn hinfort aus meinem Munde nichts: Vergeßt, daß euch die Welt betrügt, und daß ihr Wunsch nur Wünsche zeugt, laßt eurer Liebe nichts entgehn, entschlüpfen eurer Kunde nichts! Es hoffe jeder, daß die Zeit ihm gebe, was sie keinem gab, denn jeder sucht ein All zu sein, und jeder ist im Grunde Nichts.
Sonett
Wer wußte je das Leben recht zu fassen, wer hat die Hälfte nicht davon verloren im Traum, im Fieber, im Gespräch mit Toren, in Liebesqual, in leerem Zeitverprassen?
Ja, der sogar, der ruhig und gelassen, mit dem Bewußtsein, was er soll, geboren, frühzeitig einen Lebensgang erkoren, muß vor des Lebens Widerspruch erblassen.
Denn jeder hofft, daß doch das Glück ihm lache. Allein das Glück, wenn's wirklich kommt, ertragen, ist keines Menschen, wäre Gottes Sache.
Auch kommt es nie, wir wünschen bloß und wagen: dem Schläfer fällt es nimmermehr vom Dache, und auch der Läufer wird es nicht erjagen.
Wir Toten, wir Toten sind größere Heere als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere! Wir pflügten das Feld mit geduldigen Taten, ihr schwinget die Sicheln und schneidet die Saaten, und was wir vollendet und was wir begonnen, das füllt noch dort oben die rauschenden Bronnen, und all unser Lieben und Hassen und Hadern, das klopft noch dort oben in sterblichen Adern, und was wir an gültigen Sätzen gefunden, dran bleibt aller irdische Wandel gebunden, und unsere Töne, Gebilde, Gedichte erkämpfen den Lorbeer im strahlenden Lichte, wir suchen noch immer die menschlichen Ziele - drum ehret und opfert! Denn unser sind viele!
Manche freilich müssen drunten sterben, wo die schweren Ruder der Schiffe streifen, andre wohnen bei dem Steuer droben, kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.
Manche liegen immer mit schweren Gliedern bei den Wurzeln des verworrenen Lebens. Andern sind die Stühle gerichtet bei den Sibyllen, den Königinnen, und da sitzen sie wie zu Hause, leichten Hauptes und leichter Hände.
Doch ein Schatten fällt von jenen Leben in die anderen Leben hinüber, und die leichten sind an die schweren wie an Luft und Erde gebunden:
Ganz vergessener Völker Müdigkeiten kann ich nicht abtun von meinen Lidern, noch weghalten von der erschrockenen Seele stummes Niederfallen ferner Sterne.
Viele Geschicke weben neben dem meinen, durcheinander spielt sie alle das Dasein, und mein Teil ist mehr als dieses Lebens schlanke Flamme oder schmale Leier.
Ballade des äußeren Lebens
Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen, die von nichts wissen, wachsen auf und sterben, und alle Menschen gehen ihre Wege.
Und süße Früchte werden aus den herben und fallen nachts wie tote Vögel nieder und liegen wenig Tage und verderben.
Und immer weht der Wind, und immer wieder vernehmen wir und reden viele Worte und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.
Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen, und drohende, und totenhaft verdorrte ...
Wozu sind diese aufgebaut? und gleichen einander nie? und sind unzählig viele? Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?
Was frommt das alles uns und diese Spiele, die wir doch groß und ewig einsam sind und wandernd immer suchen irgend Ziele?
Was frommt's, dergleichen viel gesehen haben? Und dennoch sagt der viel, der »Abend« sagt, ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt
Sei dennoch unverzagt. Gib dennoch unverloren. Weich keinem Glücke nicht. Steh' höher als der Neid. Vergnüge dich an dir, und acht es für kein Leid, hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.
Was dich betrübt und labt, halt alles für erkoren. Nimm dein Verhängnis an. Laß alles unbereut. Tu, was getan muß sein, und eh' man dir's gebeut. Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren.
Was klagt, was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke ist ihm ein jeder selbst. Schau alle Sachen an. Dies alles ist in dir, laß deinen eiteln Wahn,
und eh' du förder gehst, so geh' in dich zurücke. Wer sein selbst Meister ist, und sich beherrschen kann, dem ist die weite Welt und alles untertan.
Im Infopaket finden Sie auch einen Artikel von Hartmut Flechsig: Paul Hindemith, Sinfonische Metamorphosen über Themen von Carl Maria von Weber. Gedanken zu Komponist, Werk und Umfeld
Am 31. März 1881 veröffentlichte die »Grazer Tagespost« die folgenden emphatischen Zeilen des Dirigenten und Musikpädagogen Wilhelm Mayer, als Komponist besser bekannt unter seinem Pseudonym W. A. Remy:
»Endgefertigter bestätigt hiermit, dass Ferruccio Busoni, aus Empoli bei Florenz gebürtig, bei ihm während der Zeit vom 1. Jänner 1880 bis 19. März (1881) den vollständigen Kurs der musikalischen Komposition, insbesondere die Tonlehre, Rhythmik, Melodik, die gesamte Harmonielehre einschließlich des Generalbasses, der Modulation und der Begleitung gegebener Choral- und weltlicher Melodien, ferner die Lehre von den homophonen und polyphonen (kontrapunktischen) und gemischten Kunstformen, endlich die Organik und die angewandte Vokal- und Instrumentalkomposition mit ausgezeichnetem Erfolge absolviert und während des ganzen Lehrganges nicht nur das vollkommene Verständnis der so genannten Theorien, sondern auch deren praktische Verwertung in mannigfachen häuslichen Arbeiten mit vorzüglichem Fleiße an den Tag gelegt hat.«
Diese Charakterisierung legt nicht nur Zeugnis für die enorme Bedeutung seiner Grazer Zeit für den jungen Busoni ab - noch Jahre hindurch sollte Ferruccio mit seiner Familie die Sommermonate in Frohnleiten verbringen -, sondern präjudiziert hellsichtig die Karriere Busonis als ein ständig in kritischer Auseinandersetzung mit der musikalischen Tradition arbeitender Komponist. Unmittelbar nach Abschluss seiner Studien in Graz legte der 15jährige Busoni ein eigenes Werkverzeichnis an, das mit dem Opus 1, einem »Ave Maria« für Singstimme und Klavierbegleitung, beginnt.
Mehrere Jahre später war Busoni in Bezug auf seine künstlerische Selbsteinschätzung freilich reifer und einsichtiger geworden, wie folgendes Zitat veranschaulicht: »Im ideellen Sinn fand ich meinen eigenen Weg als Komponist erst mit der zweiten Violinsonate, op. 36a, die ich unter Freunden auch mein Opus eins nenne.«
Auch in dieser CD-Einspielung steht die 1898 abgeschlossene Violinsonate in e-Moll an erster Stelle, und in der Tat erweckt dieses 40 Minuten lang dauernde Werk bis heute den Eindruck früher kompositorischer Souveränität und expressiver Meisterschaft.
Dabei ist die formale Disposition der »Sonate« ungewöhnlich genug! Einem Zyklus von sechs Choral-Variationen und einer Coda geht eine in sich in drei Teile zerfallende »Einleitung« voraus, die mit ihrer Dauer von nicht weniger als einer Viertelstunde jedoch als völlig autonomer Formteil anzusehen sein dürfte. »Langsam«, mit dieser einzigen deutschsprachigen Tempoangabe, setzt das Werk ein, »Presto« im 6/8-Takt folgt eine aufgewühlte e-Moll-Passage, an die sich eine in cis-Moll beginnende rhapsodische Musik anschließt, die sich unendlich diskret zum Einsatz des Choral-Themas vortastet. Busoni entnahm dieses Variationsthema dem zweiten Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach, in dem diese selbst den Kirchengesang »Wie wohl ist mir, o Freund der Seelen, wenn ich in deiner Liebe ruh'«(BWV 517) notiert hatte. Nebenbei bemerkt sollte Busoni auf diesen Choral in seinen »Variationen über das Bachsche ChoralliedWie wohl ist mir O Freund der Seele« für zwei Klaviere aus dem Jahr 1916 zurückkommen.
Auf diesen introvertiert-schlichten Choral, dessen originale Textworte Busoni unter den jeweiligen Takten minutiös in sein Autograph eintrug, folgen sechs »Charakter«-Variationen, deren zweite etwa einen parodistischen Geschwindmarsch darstellt. Die fünfte Variation - ein zu glühender Intensität gesteigertes Fugato - ist für Alexandra Goloubitskaia, die Pianistin dieser Aufnahme, das emotional-geistige Zentrum des gesamten Werkes.
In geradezu verklärt-transzendentale Sphären führt schließlich die Coda, die, im Piano verklingend, in einer Geste scheuer Melancholie die Anfangstakte und mit ihnen die versunkene Stimmung des Werkes zum Abschluss im vollen Wortsinn in Er-Innerung ruft.
Ausdruck von Busonis tiefer Kenntnis der deutschen Kultur, der er mit seiner Übersiedlung nach Berlin auch biographischen Tribut zollte, sind die beiden Vertonungen von Gedichten von Johann Wolfgang von Goethe, mit dem Busoni vor allem die lebenslange Faszination für den Faust-Stoff - dieser sollte beide Künstler zu deren summa opera inspirieren - verband. Die beiden hier eingespielten Lieder stammen hingegen aus dem hochesoterischen »West-östlichen Divan«, den Goethe im Umkreis seiner Freundschaft mit Marianne von Willemer um 1814/15 mit deren dichterischer Beteiligung verfasst hatte. Das Gedicht »Schlechter Trost« aus dem »Buch der Liebe« handelt vom nächtlich-visionären Versuch der Selbstdistanzierung des Liebeskranken von seinen Gefühlen, wobei »der Klang der schwunglosen und pausenreichen Freien Rhythmen das trostlose Sprechen ins Leere« symbolisiert (Erich Trunz).
Schlechter Trost
Mitternachts weint' und schluchzt' ich, Weil ich dein entbehrte. Da kamen Nachtgespenster, Und ich schämte mich. »Nachgespenster«, sagt' ich, »Schluchzend und weinend Findet ihr mich, dem ihr sonst Schlafendem vorüberzogt.
Große Güter vermiss' ich. Denkt nicht schlimmer von mir, Den ihr sonst weise nanntet, Großes Übel betrifft ihn!« - Und die Nachtgespenster Mit langen Gesichtern Zogen vorbei, Ob ich weise oder törig, Völlig unbekümmert.
Aus dem »Buch des Unmuts«, einer Sammlung scharfsinniger Konstatierungen und hellsichtig-prophetischer Invektiven, stammt das folgende Lied, eine ironisch gebrochene Warnung vor egozentrischer Enge, besonders in Dichtung und Kunst. Die Wendung »grobes Selbstempfinden« in der letzten Strophe hat hier freilich noch keinen abschätzigen Beigeschmack, sondern meint ganz einfach »unmittelbares Selbstbewusstsein«, durchaus analog zum Gebrauch dieser Wendung in der früh romantischen HermeneutikSchleiermachers oder vergleichbar mit der positiven Konnotierung des Begriffs »naiv« bei Schiller.
Lied des Unmuts
Keinen Reimer wird man finden, Der sich nicht den besten hielte, Keinen Fiedler, der nicht lieber Eigne Melodien spielte.
Und ich konnte sie nicht tadeln; Wenn wir andern Ehre geben, Müssen wir uns selbst entadeln; Lebt man denn, wenn andre leben?
Und so fand ich's denn auch juste In gewissen Antichambern, Wo man nicht zu sondern wußte Mäusedreck von Koriandern.
Das Gewesne wollte hassen Solche rüstige neue Besen, Diese dann nicht gelten lassen, Was sonst Besen war gewesen.
Und wo sich die Völker trennen Gegenseitig im Verachten, Keins von beiden wird bekennen, Daß sie nach demselben trachten.
Und das grobe Selbstempfinden Haben Leute hart gescholten, Die am wenigsten verwinden, Wenn die andern was gegolten.
Busonis berühmtestes Orchesterwerk ist die »Berceuse élégiaque« op. 42, ein vom französischen Wort für Wiege hergeleitetes Wiegenlied, und zwar dasjenige eines Mannes am Sarge seiner Mutter. Bereits Goethe in seinem berühmten »Venezianischen Epigramm«über die Gondel und Franz Schubert im Schlussgesang seiner »Schönen Müllerin« hatten die tiefenpsychologische bzw. ontologische Einheit von Wiege und Sarg künstlerisch singulär gestaltet, ein Verfahren, dem hier auch Busoni folgt. Im Juni 1909 hatte er die hier eingespielte »Berceuse« (BV 252) für Soloklavier komponiert, am 3. Oktober desselben Jahres verstarb seine geliebte Mutter Anna Weiß-Busoni. Der Sohn gestaltete seine Trauer durch die Orchesterinstrumentierung des vorahnungsvollen Klavierstückes sowie durch eine berührende Zeichnung, die den Sohn über seine eigene Wiege gebeugt zeigt, während draußen der Sarg der Mutter im Kondukt vorbei getragen wird. - Die a-Moll-Klavieretüde entstammt einem sechsteiligen Etüden-Zyklus aus dem Jahr 1883, komponiert noch vor der Übersiedlung der Familie Busanis von Triest, der Heimatstadt der Mutter, nach Wien.
Im Jahr 1920 eskalierte die bereits zuvor mit unverhohlener Animosität geführte ästhetische Debatte zwischen Paul Bekker, Ferruccio Busoni und Hans Pfitzner, der in diesem Jahr ein Pamphlet mit dem Titel »Die Neue Ästhetik der musikalischen Impotenz. Ein Verwesungssymptom?« veröffentlichte. Der angegriffene Busoni reagierte darauf mit einem offenen Brief an Paul Bekker, der den Titel »Junge Klassizität« trug und folgende berühmte Passage enthält: »Unter einer Jungen Klassizität verstehe ich die Meisterung, die Sichtung und Ausbeutung aller Errungenschaften vorausgegangener Experimente: ihre Hineintragung in feste und schöne Formen. Diese Kunst wird alt und neu zugleich sein – zuerst.«
Auf kaum ein anderes Werk Busonis scheint dieses Diktum besser anwendbar zu sein als auf das 1918 komponierte »Concertino für Klarinette und kleines Orchester« op. 48. Nach seinen drei Fixsternen Bach, Beethoven und Liszt entdeckte Busoni während seines kriegsbedingten Züricher Exils von 1916-1920 immer mehr die beglückende Luzidität der Musik Mozarts, deren mildes Licht auch dieses Werk für Klarinette und Kammerorchester überstrahlt. Gewiss nahm Busoni an der Behandlung des Tons der Klarinette beim späten Mozart Maß (Konzert, Quintett, Requiem, Titus etc.) und gestattete sich überdies ein ironisch gebrochenes »Tempo di Minuetto« am Schluss des Werkes - trotzdem aber ist das Werk niemals Ausdruck von schlaffem Eklektizismus oder akademisch-restaurativem Klassizismus, sondern in seiner burschikosen Frische und diskretem Empfindungsreichtum eben eines der erfrischendsten musikalischen Dokumente »junger Klassizität«, ganz im Sinne des Ästhetikers Busoni.
Diese CD entstammt der Reihe »Klangdebüts«, die ausschließlich Aufnahmen von Studierenden der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz (»Kunstuni Graz«) in einem breitgestreuten stilistischen Spektrum veröffentlicht. Die Reihe verfolgt das Ziel, den jungen Musikerinnen und Musikern den technisch-künstlerischen Hergang eines Aufnahmevorgangs zu vermitteln und ihnen gleichzeitig »Gesellenstücke« für den Einstieg ins Berufsleben in die Hand zu geben. Die Reihe ist nicht im allgemeinen Musikhandel erhältlich, sondern kann direkt bei der Universität bestellt werden.
Sonate für Klavier und Violine Nr. 2 e-Moll, op. 36a 01. Langsam 8.17 02. Presto 3.10 03. Andante piuttosto grave 3.37 04. Andante con moto (Choral von J. S. Bach) 3.12 05. Alla marcia, vivace - Andante - Tranquillo assai - 13.29 Allegro deciso, un poco maestoso Albana Laci - Violine Alexandra Goloubitskaia - Klavier
Aus Fünf Goethe-Lieder für Bariton und Klavier, BV 278/281 (J. W. v. Goethe, West-östlicher Divan) 06. Schlechter Trost 2.44 07. Lied des Unmuts 2.49 Tomaz Kovacic - Bariton Alexandra Goloubitskaia - Klavier
08. Berceuse für Klavier, BV 252 4.41
09. Etüde für Klavier a-Moll, op. 16 Nr. 2 4.50 Ryoko Ohashi - Klavier
Concertino für Klarinette und kleines Orchester, op. 48 10. Allegretto sostenuto 3.28 11. Andantino 2.44 12. Quasi Recitativo (sostenuto, quasi Adagio) - Allegro sostenuto - Tempo di Minuetto, sostenuto e pomposo 4.51 Mátyás Firtl - Klarinette Opernorchester KlangImPuls, Dirigent: Wolfgang Schmid
CD total: 58.00
Violine: Albana Laci, Hsamik Danielyan, Tamara Bakardzieva, Felix Korsch, Andreas Homoki, Michael Leitner, Szilard Szigeti, Katrin Lenzenweger
Viola: Daniel Grosza, Lászlo Abraham, Nikolai Demerdzhiev
Cello: Penelopi Papavasileiou, Gergely Koloszvari, Tibor Szábo
Kontrabass: Darko Ziopasa, Yuan-Chuan Pan
Oboe: Doris Hopf
Soloklarinette: Mátyás Firtl
Fagott: Adrienn Kerekes, Monika Toth
Horn: Petur Paszternak, Tai Chia Lee
Triangel: Franz Hofferer
Aufnahme: 17. / 18.10., 6.12.2003, Aula der KUG Aufnahmeleitung: Heinz Dieter Sibitz Tontechnik und Schnitt: Rudolf Aigner, Heimo Knopper DDD
Track 11: Concertino für Klarinette und kleines Orchester op. 48, II. Andantino
Ein schwarzes Quadrat ist ein schwarzes Quadrat ist ...
Von abstrakter und gegenstandsloser Kunst
«Das schwarze Quadrat von Malewitsch gilt als eine Wendemarke in der Entwicklung der Kunst. Es ist in unser aller Kopf, obwohl wir es nicht kennen. Wir haben von ihm Nachrichten - Beschreibungen und Abbildungen -, die ungenau sind und die voneinander abweichen, je nachdem auf welche Fassung des Schwarzen Quadrates sie sich beziehen. Die erste Fassung des Bildes soll sich im Depot des Russischen Museums in Leningrad befinden, sie wird nicht öffentlich gezeigt. Allererst in der Ausstellung Paris - Moskau im Centre Pompidou in Paris 1979 hat man uns eine spätere Ausführung des Bildes zugänglich gemacht.»
So schrieb der Hamburger Künstler Dietrich Helms 1979, nachdem seine Zeichenaktion auf der Spur von Malewitschs schwarzem Quadrat beendet und als kleine Publikation veröffentlicht worden war. 1974 hatte er begonnen, befreundete Künstler zu fragen, wie sie sich das Schwarze Quadrat vorstellten. Sie zeichneten auf Streichholzschachteln, Rechnungen, kleinen Zetteln, wie man sie in der Tasche findet, auf Bierdeckeln. Nachdem die spätere Ausführung des Bildes, das Schwarze Quadrat von 1929, in Paris zu sehen war, beendete Helms die Aktion, wählte aus, ordnete, publizierte, es wurde eine kleine Ausstellung daraus, gezeigt in Berlin, Düsseldorf, Ludwigshafen.
Überzeugend war der Beitrag der Künstlerin Lili Fischer. Aus einem alten Buch übernahm sie das (Hexen-)Rezept: «Schwefel, Teufelsdreck, Bibergeil, Rauten. Diese Stücke untereinander gestoßen, und einen Rauch damit gemacht.» Und mit eigener Schrift fügte sie hinzu: «und es erscheint das schwarze Quadrat.»
Damit ist der Mythos, der um das Schwarze Quadrat entstanden ist, hervorragend ausgedrückt. Schon bei seiner ersten Präsentation 1915 wurde es als «Ikone der Kunst» bezeichnet und entsprechend installiert, wie noch zu zeigen ist. Später verschwand es in einem Depot, keiner wußte, wo es sich befand. Heute kennen wir die ruinöse erste Fassung, durchzogen von Rissen und Krakeluren wie ein altes Meisterwerk. Dabei ist das Gemälde mit den bescheidenen Maßen 79,2 mal 79,5 Zentimeter keine hundert Jahre alt.
Um die Aura, die dieses Werk umgibt, zu verstehen, müssen wir einen kurzen Blick auf die Situation in Rußland um die Wende zum 20. Jahrhundert werfen. Bereits seit dem 18. Jahrhundert hatte sich das Zarenreich europäischen Einflüssen geöffnet. Doch die Orientierung nach Westeuropa betraf nur die Oberschichten und insbesondere den Adel. Die für damalige europäische Verhältnisse unvorstellbaren Mißstände wie die Armut, unter der ein Großteil der Bevölkerung litt, riefen nicht nur Kritiker auf den Plan, sondern beförderten auch Utopien, die weiter reichten als die Forderungen der Französischen Revolution nach «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit». Der Gedanke, eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen, die im 19.Jahrhundert von Schriftstellern wie Nikolaj Tschernyschewskij beschworen wurde, fand Anfang des 20.Jahrhunderts auch Eingang in die Kreise bildender Künstler und verband sich mit dem Wunsch, russische Traditionen wiederaufleben zu lassen, ohne jedoch die europäischen Einflüsse ganz abzulehnen. So entwickelte sich aus dem französischen Kubismus, dem italienischen Futurismus und russischer Volkskunst eine Stilrichtung, die als Kubofuturismus bezeichnet wird.
Eine wichtige Rolle in diesem Prozeß kam den Ikonen zu, die als Abbilder der Heiligen und der göttlichen Wesen keine Realität, sondern deren göttliche Kraft darstellten. Damit machten sie Unsichtbares sichtbar. Die wichtige transzendente Funktion der Ikone für die moderne Kunst, wie sie den Russen vorschwebte, formulierte einer von ihnen - Iwan Puni - 1913 sehr präzise: «Wir glauben daran, daß die Ikone in ihrer großartigen und lebendigen Schönheit die zeitgenössische Kunst zu Errungenschaften führt, die sich von denen unterscheiden, von denen die europäische Kunst in den letzten Jahrzehnten lebte.»
In demselben Jahr 1913 entwarf Kasimir Malewitsch in St. Petersburg für die futuristische Oper Sieg über die Sonne Bühnenbild und Kostüme. Die Oper war ein Gemeinschaftswerk des Dichters Alexei Krutschonych, der für Libretto und Regie verantwortlich zeichnete, des Komponisten Michail Matjuschin und des bildenden Künstlers Malewitsch. Darin besiegt ein «futuristischer Kraftmensch» die Kräfte des Kosmos. Zunächst wird die Sonne gefangen genommen, dann ein Zukunftsland ohne Sonne entworfen. Als Vorhang für den ersten Akt hatte Malewitsch das Schwarze Quadrat geplant, doch wurde es aufgrund der «Ignoranz» eines Verantwortlichen für die Aufführung nicht verwirklicht.
Im darauffolgenden Jahr entwickelte Malewitsch aus den Erfahrungen mit dem Bühnenbild und seinen virulenten Vorstellungen eine neue Kunst, die er «Suprematismus» nannte. Noch vor Preisgabe dieses Namens schrieb er im Mai 1915 an Matjuschin: «Die Arbeiten, die ich 1913 für ihre Oper Sieg über die Sonne ausführte, haben mir sehr viel Neues gebracht, es hat nur niemand bemerkt.» Und als Erklärung fügte er hinzu: «Ich schicke Ihnen ... die Zeichnung für den Vorhang des ersten Aktes. Der Vorhang stellt ein schwarzes Quadrat dar, den Keim aller Möglichkeiten, der in seiner Entwicklung zu fürchterlicher Kraft anwächst. Er ist der Urahn des Würfels und der Kugel; seine Spaltung bringt in der Malerei eine erstaunliche Kultur hervor. In der Oper bezeichnet er den Beginn des Sieges.»
Als Malewitsch diese Sätze schrieb, dürfte die erste Fassung des Schwarzen Quadrats vollendet gewesen sein, die er 1915 in der Letzten Futuristischen Bilderausstellung 0,10 in St. Petersburg dem staunenden Publikum als Ikone präsentierte. In einem Ausstellungsraum hingen 39 seiner Bilder, auf keinem einzigen waren Gegenstände zu erkennen. Rechtecke, Balken, sich teilweise überkreuzend, und andere geometrische Formen bevölkerten die Leinwände. Und in einer Ecke des Raumes, direkt unter der Zimmerdecke mit stuckierter Hohlkehle, hing das Schwarze Quadrat. Seine Position - übereck, direkt unter der Decke - ist der angestammte Platz der Ikone in russischen Wohnungen. Malewitsch nannte das Bild folgerichtig die «nackte, ungerahmte Ikone meiner Zeit».
Anläßlich der Ausstellung veröffentlichte der Künstler auch sein Credo, das Suprematistische Manifest. Kurz gesagt, ist Suprematismus die absolute Herrschaft des rein bildnerischen Ausdrucks ohne jede Beziehung zum Gegenstand. In dieser Gegenstandslosigkeit unterscheidet sich der Suprematismus von dem Prinzip der Abstraktion eines Wassily Kandinsky, auch wenn die Bezeichnungen «abstrakt» und «gegenstandslos» landläufig als Synonyma gebraucht werden. Dennoch ist die Geschichte der abstrakten Kunst eine andere als die der gegenstandslosen. An beiden Geschichten aber sind merkwürdigerweise vornehmlich Russen beteiligt, die Orte, an denen sie spielen, sind jedoch weit voneinander entfernt: Es sind Moskau, München und Paris. Wir wenden uns jetzt zuerst München zu, weil die Geschichte der abstrakten Kunst dort bereits 1910 begonnen haben soll.
1910 malt Wassily Kandinsky sein Erstes abstraktes Aquarell und damit das erste Bild, auf dem keine Gegenstände mehr zu erkennen sind. Das jedenfalls hat er so überzeugend behauptet, daß man es noch immer so lesen kann. Inzwischen wissen wir jedoch, daß Kandinsky diese Studie zu Komposition VII, die sich heute in Paris befindet, 1913 in München gemalt hat, aber in späteren Jahren auf 1910 rückdatierte und ihr den oben genannten programmatischen Titel gab. Wahrscheinlich wollte er nicht in Wettbewerb zum Malerehepaar Sonia und Robert Delaunay treten, die in Paris mit den Simultankontrasten der Farben experimentierten und einen eigenständigen Stil entwickelten, dem der Kunstkritiker Guillaume Apollinaire den Namen Orphismus gab. 1913 malte Robert Delaunay dann seine ersten abstrakten Kreisformen. Seine aus Rußland stammende Frau Sonia hatte mit Bildern wie Simultan-Kontraste von 1912 und mit Werken der angewandten Kunst die Vorarbeiten geleistet.
Indem der Gegenstand immer stärker abstrahiert wurde, entstanden sowohl bei den Delaunays als auch bei Kandinsky Bilder, in denen die Farbformen dominierten. Für Delaunay war dabei die Farbe Form und Inhalt zugleich, vergleichbar einer musikalischen Komposition. Ebenso hatte Kandinsky den Gegenstand immer stärker abstrahiert. Sieht man seine frühen abstrakten Bilder, stellen sich schnell Assoziationen ein, können Kandinsky-Spezialisten sogar Metaphern finden, die sie gegenständlich interpretieren und die meist auf einen religiösen Inhalt schließen lassen. Und so wird Kandinskys berühmte Komposition VII von 1913 heute als eine Verbindung der Themen Auferstehung, Jüngstes Gericht, Sintflut und Garten der Liebe interpretiert.
Malewitsch hingegen begann gleichsam bei Null. Er entwickelte aus seinen noch gegenständlichen Bildern kein schon fast gegenstandsloses, sondern setzte eine geometrische - ungegenständlicheForm, ein schwarzes Quadrat, auf einen Bildgrund. Schon bald hieß die gegenstandslose Kunst «konkrete Kunst». Der niederländische Maler, Graphiker, Architekt und Kunsttheoretiker Theo van Doesburg lieferte 1930 die wohl griffigste Definition: «Konkrete Malerei also, keine abstrakte, weil nichts konkreter, nichts wirklicher ist als eine Linie, eine Farbe, eine Fläche.»
Der noch jüngst erhobene Vorwurf, Malewitsch habe mit dem Schwarzen Quadrat den Mythos genährt, «die absolute Kunst habe in dieser Erstgeburt das Licht der Welt erblickt, als hätte es die abstrakten Bilder Kandinskys nie gegeben», erweist sich nach dem zuvor Gesagten und aufgrund der Gleichzeitigkeit von Kandinskys erster abstrakter Komposition, Delaunays erstem Kreisbild und Malewitschs Bühnenbildern zum Sieg über die Sonne als Fehlurteil.
Aber auch wenn Abstraktion und Gegenstandslosigkeit zwei unterschiedliche Kunstäußerungen sind, die nicht einfach über einen Kamm zu scheren sind, wie dies bis heute viel zu oft getan wird, so besaßen Kandinsky und Malewitsch doch ein gemeinsames Ziel: Sie wollten eine radikal neue Kunst schaffen. Allerdings stand Kandinsky dabei stärker in der europäischen Tradition als Malewitsch. Und deshalb gelingt es auch nicht, das Schwarze Quadrat mit tradierten europäischen Vorstellungen in Einklang zu bringen, obwohl auch Malewitsch danach suchte, «das absolut Vollkommene radikal einfach zu formulieren».
Zwar ist die Vorstellung seit der Antike geläufig, der Mensch habe durch Kreis- und Quadratform an der kosmischen Harmonie teil, doch für Malewitsch war nicht das menschliche Maß entscheidend. Und so lehnte er auch die Annahme ab, Michelangelo habe die Figur des David aus dem Marmorblock herausgearbeitet. Für ihn hatte Michelangelo dem Marmor damit Gewalt angetan, ein herrliches Stück Stein verunstaltet, denn «aus Marmor soll man solche Formen herleiten, die gleichsam aus seinem eigenen Körper stammen, und ein herausgehauener Würfel oder eine andere Form sind wertvoller als jeglicher David».
Dieser Argumentation entspricht das suprematistische Zeichensystem. Dessen Grundelemente hatte Malewitsch aus dem Quadrat entwickelt: Durch Drehung entsteht aus dem Quadrat der Kreis, durch Teilung das Rechteck oder das Dreieck, durch Verlängerung der Balken, durch Überschneidung zweier Balken das Kreuz. Hinzu kommt eine reduzierte Farbigkeit: Neben reinem Schwarz und Weiß sind Rot, Smaragdgrün, Kobaltblau und Gelb zugelassen.
Das Schwarze Quadrat war also Ausgangspunkt für eine Malerei, die zwar noch andere geometrische Formen, aber keinen abbildbaren Gegenstand erlaubte. Ebenso war die Vorstellung von einem Oben und einem Unten aufgehoben, vergleichbar der fehlenden Schwerkraft im Weltall. Später dann hat sich Malewitsch für diese Überlegungen auf die Relativitätstheorie Albert Einsteins berufen, doch als er das Schwarze Quadrat malte, konnte er sie noch gar nicht gekannt haben.
Weil wir Probleme mit dem Nichts haben, lassen wir es (unbewußt) nicht zu und sprechen bei diesem Bild beharrlich vom Schwarzen Quadrat auf weißem Grund. Diese Bezeichnung suggeriert Räumlichkeit, wo keine ist. Auf das annähernd quadratische Bildfeld ist in der Mitte ohne Lineal, sondern frei Hand das schwarze Quadrat aufgetragen. Darum herum und anschließend(!) hat Malewitsch das Weiß gemalt. Das Schwarz des Quadrats sitzt also nicht auf dem Weiß des Grundes, sondern beide Farben befinden sich nebeneinander auf einem Feld.
Nun wäre natürlich einzuwenden, diese Unterscheidung sei Haarspalterei und bei den Farben sei es doch egal, ob sie nebenoder übereinander gemalt worden seien. Aber der Unterschied ist vor allem dann entscheidend, wenn es sich bei den Bildgegenständen einzig um Farbe und Form handelt. «Wenn die Denkgewohnheit verschwunden sein wird, in Bildern das Abbild von Winkelchen der Natur, von Madonnen und schamhaften Venus-Geschöpfen zu sehen, dann werden wir ein reines Produkt der Malerei erblicken. Ich habe mich in das Nichts der Formen verwandelt und habe mich aus dem stinkenden Morast der akademischen Kunst herausgefischt», schrieb Malewitsch 1915 in seinem Suprematistischen Manifest.
Jeannot Simmen formulierte es 1998 ähnlich: «Ein schwarzes Quadrat auf Weiß wird Zeichen in der Leere. Figur und Grund sind in konsequenter Reduktion verhandelt, das Schwarz ist bindungslos im Weißen. Keine Identifikation mit der Bildfigur, keine körperassoziative Annäherung oder sinnliche Entsprechung will sich einstellen. Figur und Grund, erweitert: Materie und Raum sind ästhetisch proportioniert. Die Form wird zum Mittel, Materie und Raum in ihrer vernichtend-bedrohlichen Unbestimmtheit zu bändigen. Durch Formen werden die endlosen Stoffe, wird der unendliche Raum (das Nichts) erst wahrnehmbar, wird diesen das Bedrohliche und Vernichtende genommen. Position von Schwarz im weißen Nichts.»
Und auch wenn nicht der Suprematismus, sondern der sozialistische Realismus die Staatskunst der UdSSR wurde, auch wenn man Malewitsch spätestens seit Ende der zwanziger Jahre im eigenen Land diffamierte und im Westen der Holländer Piet Mondrian mit der Gruppe De Stijl die konkrete Kunst publik machte, so war es eben doch das Schwarze Quadrat von Malewitsch, «das sich ... zum Werk einer neuen Epoche, zum Jahrhundertbild und zur Vision einer anderen Welt entwickelt(e)» und damit «die unvergleichliche abbildlose Konzentration spiritueller Möglichkeiten», darstellt. Auch wenn es jahrzehntelang nur in Kunstkreisen bekannt war, so hat es in seiner Rezeption durch die Künstler auf unsere Sehgewohnheiten eingewirkt und vor allem das Nichts zugelassen. Nichts anderes wollte Malewitsch mit seiner «Ikone der Kunst» auch erreichen. Bereits 1915, im Suprematistischen Manifest, heißt es: «Ich habe den Ring des Horizonts zerbrochen und bin dem Kreis der Dinge entkommen, dem Ring des Horizonts, in welchem der Künstler und die Formen der Natur eingeschlossen sind. Dieser verdammte Ring, der immer Neues aufdeckt, führt den Künstler von seinem Ziel fort zum Untergang ... In der Kunst ist Wahrheit, nicht Aufrichtigkeit vonnöten.»
Das Infopaket enthält auch ein PDF mit dem Titel Räumliches Mobilisieren, eine Unterlage zu der Vorlesung vom 06.01.2011 am Institute of media und design der TU Braunschweig.
Ferruccio Busoni galt allgemein als einer der bemerkenswertesten Klaviervirtuosen der Spätromantik und war zweifellos einer der faszinierendsten Komponisten jener Ära, selbst wenn viele seiner Werke aufgrund ihres tiefen Intellektualismus nur langsam ihr Publikum fanden. Trotz des selbstbewussten Strebens nach kompositorischer Originalität war sich Busoni der Größe der westlichen Musiktradition durchaus bewusst, und sein Einsatz für Johann Sebastian Bach resultierte nicht nur in einigen der besten Klavierarrangements, die dessen Musik je erlebt hat, sondern sie regte Busonis eigene schöpferische Vorstellungen auch in vieler anderer Hinsicht an.
Ebenso stimulierend und einflussreich war der Schriftsteller Busoni. Abhandluugen wie sein Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907) leisteten nicht nur einen Beitrag zur Definition seines eigenen kreativen Ansatzes, sondern bedeuteten auch eine philosophische Herausforderung für die Zeitgenossen. Bei seiner Vorliebe für verbale Selbstanalyse nimmt es kaum Wunder, dass der Komponist den Inhalt dieser CD mit Werken für zwei Klaviere praktisch selbst vorgeschlagen hat. Allen Stücken liegen Werke von Wolfgang Amadeus Mozart oder Johann Sebastian Bach zugrunde, wobei die Spannweite von bescheidenen Veränderungen bei jenem bis zur Entstehung völlig neuer Werke bei diesem reicht.
Im Jahre 1922 richtete Busoni Mozarts erstaunlich düstere und gewichtige Fantasie für eine Orgelwalze KV 608 ein. Danach sprach er sich dahingehend aus, dieses Werk in den Zusammenhang mit andern seiner Kreationen für zwei Klaviere zu stellen: Obwohl die Fantasie im Endeffekt eine italienische Ouvertüre mit den Abschnitten schnell-langsam-schnell darstellt, war Busoni der Ansicht, sie sollte gemeinsam mit dem köstlich lebendigen Finale aus Mozarts Klavierkonzert F-dur KV 459, das er bereits als Duettino Concertante bearbeitet hatte, den Mittelteil einer größeren, recht ungewöhnlichen »Sonate« bilden. Den ersten Satz dieser Sonate sollte seine 1916 vollendete Improvisation über den Bach-Choral»Wie wohl ist mir, o Freund der Seele« darstellen. Dieses Stück geht auf die Variationen zurück, die Busoni im Jahre 1900 ursprünglich als Finale seiner zweiten Violinsonate komponiert hatte. Wie er selbst in einem Vorwort des Werkes erläuterte, hatte er schon lange vorgehabt, diesen Satz für zwei Klaviere einzurichten, doch als er schließlich nach 16 Jahren diese Aufgabe in Angriff nahm, hatten sich seine Empfindungen für diese Musik geändert. Die neuen Möglichkeiten und Einschränkungen, die sich aus der Ersetzung der Violinstimme durch ein zweites Klavier ergaben, zogen praktisch eine selbständige Komposition nach sich, in der sich der zunehmende Wunsch nach kompositorischer Klarheit spiegelte.
Als Schluss-Satz der imaginären Sonate empfahl Busoni die Zwei-Klaviere-Fassung seiner gewichtigen Fantasia Contrappuntistica. Zweifellos hatte er dabei das gewaltige kontrapunktische Finale aus Beethovens Hammerklavier-Sonate op. 106 im Sinn. Die Fantasia Contrappuntistica ist Busonis ehrgeizigstes und hermetischstes Klavierwerk, das dazu neigt, die voraufgegangenen Stücke in den Schatten zu stellen und das, obwohl es eine offensichtliche Verbindung zu der »Improvisation« des ersten Satzes gibt, da auch sie auf Bach zurückgeht und zunächst in einem andern Format erschien.
Busoni war schon lange von Bachs letztem, unvollendeten Meisterwerk, der Kunst der Fuge, fasziniert gewesen, als er 1910 an Bord des Dampfers Barbarossa, der ihn nach Amerika brachte, mit der Vollendung der letzten, fragmentarischen Fuge begann, die er schließlich in New Orleans inmitten einer amerikanischen Konzerttournee vollendete. Er wollte nicht Bachs eigenen Stil imitieren, sondern das Stück mittels der Technik des symmetrisch umkehrbaren Kontrapunkts abschließen, die sein Freund, der Theoretiker Bernhard Ziehn, entwickelt hatte. Damit ließen sich kontrapunktische Linien ohne harmonische Einschränkungen kombinieren, und der daraus resultierende, oft dissonante Klang ist völlig anders als Bachs genau gearbeitetes, harmonisch-kontrapunktisches Idiom. Das jetzt als Große Fuge betitelte Werk wurde in einer limitierten Edition von hundert Exemplaren gedruckt, wobei das Frontispiz eine alles andere als Barbarossa-artige Gallione mit fünf Segeln zeigt. Eingefasst ist diese von einem Zehneck, das für Busoni die Form des Stückes mit seinen fünf kontrapunktischen Subjekten in zehn Abschnitten symbolisierte.
Kurz nach der Vollendung der Fuge kam der Komponist jedoch auf den Gedanken, derselben ein Präludium in Gestalt von Choralvariationen über Allein Gott in der Höh' sei Ehr' voranzustellen. Auch diese erweiterte Fassung erschien noch im Jahre 1910, und zwar als Fantasia Contrappuntistica, Edizione definitiva für Soloklavier. Diese bestand nun aus zwölf Abschnitten: 1. Choral-Variationen 2. Fuga I 3. Fuga II 4. Fuga III 5. Intermezzo 6. Variatio I 7. Variatio II 8. Variatio III 9. Cadenza 10. Fuga IV 11. Choral und 12. Stretta.
Zwei Jahre später wurde unter dem Titel Edizione minore eine etwas vereinfachte Bearbeitung für Soloklavier veröffentlicht, die nun aber eine neue Einleitung enthielt - und zwar die revidierte Fassung der dritten Elegie für Klavier nach dem Choralvorspiel Meine Seele bangt und hofft zu Dir.
Nichtsdestoweniger war Busoni mit dem, was er inzwischen für sein pianistisches Meisterwerk hielt, noch nicht ans Ende gekommen. Als er 1920 seine Bach-Edition veröffentlichte, nahm er darin auch die Edizione definitiva und die Edizione minore der Fantasia Contrappuntistica auf, wobei er die erstere noch definitiver machte (oder auch weniger definitiv, je nachdem wie man das sieht), als er die letzten zwei Seiten aus pianistischen Gründen überarbeitete. Zudem wurde der Gedanke immer stärker, auch eine weitere Version für zwei Klaviere herzustellen, da der Komponist allmählich bemerkt hatte, dass die Fantasia für zehn Finger eine unverhältnismäßige Aufgabe darstellte, während sie bei der Verteilung auf deren zwanzig sowohl für die Ausführenden als auch für die Hörer einfacher und transparenter würde.
1921 verwirklichte er diese Idee, doch das Resultat stellt - obwohl es auf der Edizione definitiva basiert und dem oben ausgeführten Grundriss gehorcht - auch so etwas wie ein Amalgam beider Ausgaben dar. Eine neue Einleitung verwendet nun beide Choralvorspiele, und das neue Frontispiz zeigt nicht mehr die Gallione, sondern vielmehr den Westeingang des päpstlichen Palastes von Avignon. Ohne Zweifel ist diese Fassung die gelungenste und verständlichste von allen, selbst für die überwiegende Mehrheit der Hörer, die nichts von der Architektur päpstlicher Paläste wissen - denn der Satz für zwei Klaviere erzeugt eine bewundernswerte Klarheit und Balance der Stimmführung, die Busanis zerebralen und doch erstaunlich spannenden Kontrapunkt in aller Plastizität hervortreten lässt.
Quelle: Kenneth Hamilton (Deutsche Fassung: Cris Posslac), im Booklet
Track 3: Fantasie für eine Orgelwalze (Mozart/Busoni)
1 Fantasia Contrappuntistica (1922) 27:40 2 Improvisation on the Bach Chorale 'Wie wohl ist mir, o Freund der Seele' 14:41 3 Fantasie für eine Orgelwalze (Mozart/Busoni) 8:19 4 Duettino Concertante nach Mozart 7:23
This recording was made possible through a research grant from Birmingham Conservatoire (U.C.E.) Recorded at the Royal Northern College of Music, Manchester, from 6th to 8th September. 2003 Producer: Chris Whines * Engineer: Steve Portnoi * Associate editor: Chris Steward
Boccioni und die Italienische Malerei im 20. Jahrhundert
Eine Darstellung der bildenden Kunst, vor allem aber der Malerei unseres Jahrhunderts, läßt sich nicht durch nationale oder gar regionale Unterscheidungen einschränken. Metropolen der Kunst wie Paris oder in jüngerer Zeit New York erweitern den Schauplatz des kulturellen Lebens ganz erheblich. Wenn auch insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg die kulturellen Grenzen hinfällig geworden sind, so zeichnet sich doch schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine "Globalisierung" der Kunst ab. In diesem Sinne ist eine Unterscheidung nach der nationalen Identität bei Künstlern wie dem Spanier Picasso, dem Russen Chagall und dem Italiener Modigliani, die alle zur selben Zeit in Paris lebten, nicht mehr sinnvoll.
Abgesehen hiervon läßt sich dennoch eine italienische Kunstentwicklung feststellen. Der Anfang des Jahrhunderts steht noch ganz im Zeichen des Divisionismus, symbolistischer Themen und der spätromantischen, bürgerlichen Ästhetik des 19. Jahrhunderts. Am Ende des ersten Jahrzehnts des Novecento endete diese Kontinuität jedoch. Mit seinem agressiven und frechen Auftreten schuf der Literat Filippo Tommaso Marinetti in Mailand die Basis für eine revolutionäre künstlerische Bewegung: den Futurismus. Von der Tradition gelangweilt, fasziniert vom technischen Fortschritt und neuen urbanen Lebenswelten war Marinetti Initiator und treibende Kraft einer außerordentlich lebendigen Bewegung, die für viele Bereiche des künstlerischen Ausdrucks offen war. Vor allem von Boccioni, einer der herausragenden künstlerischen Persönlichkeiten dieser Zeit, wurden die Impulse des Futurismus in der Malerei aufgenommen und in Bilder umgesetzt, die bahnbrechend waren.
Das Konzept der futuristischen Malerei basierte auf einigen grundlegenden Elementen: Dazu gehört die Suche nach einem dynamischen Ausdruck, die simultane Vervielfältigung der Ansichten, die Verherrlichung der bewegten und modernen Stadt, die Verwendung ungewöhnlicher Materialien sowie der Versuch, Seelenzustände, Gegenstände und Figuren miteinander zu verbinden. Zwar existierte über einen distanzierten künstlerischen Dialog eine Verbindung zum Pariser Kubismus und einigen anderen abstrakten Strömungen der internationalen Kunst, doch der Futurismus blieb eine italienische und ganz figürliche Bewegung. Viele der bedeutendsten Maler wie Carrà, Sironi und Morandi waren für eine bestimmte Zeit dem Futurismus verbunden.
Der Beginn des ersten Weltkrieges fällt mit dem Ende des Futurismus zusammen, und nicht allein durch das Schicksal einiger seiner wichtigsten Vertreter (Boccioni, der freiwillig am Krieg teilnahm, starb 1916; der Architekt Sant'Elia fiel im Schützengraben). Bereits 1917 nahm eine völlig neue künstlerische Bewegung Gestalt an: Die Pittura Metafisica, für die sich ein präziser Entstehungsort angeben läßt. In einem Lazarett in Ferrara trafen Giorgio de Chirico, sein Bruder mit dem Pseudonym Alberto Savinio,Carlo Carrà und De Pisis zusammen. Dem Schwung des Futurismus stellte die Pittura Metafisica stille, subtil beunruhigende Bilder gegenüber, die auf Traumbilder und auf das Imaginäre verweisen und Bezüge zur Antike herstellen. Die immer wieder für ihre geisterhafte Szenen herangezogene Symbolfigur der Pittura Metafisica ist der manichino, eine Art Gliederpuppe ohne Gesicht, die starr auf leeren Plätzen oder in Innenräumen, die in umgekehrter Perspektive wiedergegeben sind, steht.
Boccioni porträtiert Busoni Foto scattata dal Marchese di Casanova sul terrazzo di Villa San Remigio a Pallanza. Busoni osserva il lavoro sul ritratto fatto da Boccioni. Il pittore futurista ha dipinto anche dei paesaggi lacustri con, in primo piano, dei settori del magnifico parco concepito dalla moglie del Marchese, la Marchesa Sofia.
De Chiriocos griechische Herkunft regte ihn dazu an, häufig auf die Suggestionskraft der antiken Mythen zurückzugreifen, die er mit großer Intensität evozierte. Wie der Futurismus fand auch die Pittura Metafisica unmittelbar eine breite Resonanz. Innerhalb nur eines Jahrzehnts hatte die italienische Kunst zwei Bewegungen von internationalem Rang hervorgebracht, die die Aufmerksamkeit erstmals nach etwa 150 Jahren wieder auf die aktuelle Kunstproduktion in Italien lenkten.
Am Ende des Ersten Weltkrieges befand sich Italien in einer sozial, ökonomisch und politisch äußerst schwierigen Situation. Sironi gab mit seinen düsteren Stadtlandschaften ein hartes Bild der industriellen Vorstädte. Carlo Carrà, der die "Valori plastici", die Plastizität in der Malerei Giottos, Masaccios und Piero della Francescas neu entdeckte, propagierte die Rückkehr zu einer entschieden figurativen Malerei, in der Volumen und Beschaffenheit der Objekte durch die Schattengebung und Perspektive genau herausgearbeitet werden.
In den zwanziger Jahren rief Carrà die Künstlerbewegung "Novecento" ins Leben, die große Bedeutung im italienischen Kunstleben erlangte und verschiedene klassische Kunstgattungen wie das Stilleben, das Porträt, die Interieurdarstellung und die Landschaft in neuem Licht erscheinen ließ. Unter den Vertretern der Gruppe nahm Sironi eine entschiedene Sonderstellung ein. Er versuchte, dem Konstruktivismus eine konkrete, gegenständliche Form zu geben, und wirkte an dem Entwurf und der Dekoration großer Gebäudekomplexe mit. Da die Malerei der Gruppe "Novecento" effektiv der Ästhetik des faschistischen Regimes entsprach, unterstützte dieses die Bewegung mit Aufträgen zu imposanten öffentlichen Arbeiten. Die Entwicklung der italienischen Malerei vollzog sich jedoch in dieser Zeit völlig außerhalb des europäischen Kontextes. Während de Chirico nach Paris übersiedelte, um nicht den Kontakt zur internationalen Avantgarde zu verlieren, und Morandi, zurückgezogen in seinem Atelier in Bologna, beharrlich seine künstlerischen Zielsetzungen weiter verfolgte, lief die italienische Kunst Gefahr, sich vollends zu isolieren.
Am Ende der dreißiger Jahre formierte sich mit Rückhalt in der politischen Opposition die Gruppe "Corrente", die in Zusammenhang mit dem internationalen Expressionismus zu sehen ist und sich durch einen freien, kräftigen Umgang mit der Farbe auszeichnete. Unter den jüngeren antifaschistischen Künstlern trat der Sizilianer Guttuso hervor. Ausgehend vom Kubismus Picassos gelangte er zu einer stark sozialkritisch geprägten Kunst. Am Ende des Zweiten Weltkriegs, praktisch auf den physischen und moralischen Trümmern Italiens, rief er die Bewegung "Fronte Nuovo delle Arti" (Neue Kunstfront) ins Leben, mit der er auch einen internationalen Dialog fördern wollte.
Der Futurismus kann als der wichtigste italienische Beitrag zur Kunst des 20. Jahrhunderts gesehen werden. Sein Begründer und überzeugtester, bedeutendster Vertreter war Umberto Boccioni. Für kurze Zeit war die von Boccioni und Marinetti angeführte Gruppe von Malern, Literaten und Musikern eine der aktivsten und interessantesten Avantgardebewegungen Europas.
Boccionis Ausbildung im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts führte ihn in das Atelier von Giacomo Balla nach Rom, später unternahm er ausgedehnte Reisen nach Venedig, Rußland und Paris, auf denen er Gelegenheit hatte, die Malerei des Divisionismus mit anderen zeitgenössischen Ausdrucksweisen zu vergleichen. Nach seiner Übersiedlung nach Mailand im Jahr 1907 beschäftigten ihn soziale Themenstellungen, wie sie die lombardischen Maler in Zusammenhang mit der Entstehung neuer Arbeiterbezirke in der Industriestadt entwickelten. Die Verbindung Boccionis mit dem Literaten Filippo Tommaso Marinetti löste eine tiefgreifende Wende in der italienischen Kultur aus. Es entstand der Futurismus, dessen Ziel ein lebendiger und kraftvoller Ausdruck der Welt war und der die Ablehnung der Vergangenheit propagierte sowie die Begeisterung für Bewegung, Aktion, Lärm und Dynamik. In seinen Bildern und theoretischen Schriften schuf Boccioni die Grundlagen für diese Bewegung. Zu derselben Zeit wie der Kubismus strebte er eine Simultanvision der Dinge an, ebenso in seiner Malerei wie in seinen wenigen, aber äußerst interessanten Skulpturen. Die lebhafte Farbgebung seiner Bilder, der erregte Pinselduktus und die Themen selbst, die mit offensichtlich symbolischer und demonstrativer Absicht gewählt sind, sind Ausdruck einer großen, positiven Schaffenskraft, die gegenüber den neuesten Impulsen aus dem Bereich der Technik, des Sports und des Fortschritts völlig unvoreingenommen war. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges (an dem Boccioni als Freiwilliger teilnahm) gab seiner Malerei eine Wendung, wodurch sie durchdachter wurde und weniger von stürmischer Dynamik beherrscht war. Der Tod des Künstlers 1916 nach einem Sturz vom Pferd unterbrach allzu früh diese sich abzeichnende Entwicklung.
Das als Hauptwerk des Futurismus geltende Bild hat die mitreißende Kraft eines wahren "Manifestes" dieser neuen Kunstrichtung. Das ausgiebig durch Studien und Skizzen vorbereitete, imposante Gemälde stellt den Aufbau einer Industrievorstadt realistisch und symbolisch zugleich dar. Der Vordergrund wird von den gigantischen Farbwogen zweier scheuender Pferde beherrscht. Menschliche Gestalten versuchen vergeblich, die Pferde im Zaum zu halten, wirken wie fortgerissen durch eine Explosion von unbezwingbarer Kraft. Die Pferde - ein wiederkehrendes, fast obsessiv gebrauchtes Motiv in der Kunst Boccionis - sind ein dynamisches und positives Symbol für das Wachstum der industrialisierten Vorstädte. Diese Orte eines urbanen und ökonomischen Entwicklungsprozesses, den Boccioni sehr begrüßte, sollten für Sironi wenige Jahre später zum Schauplatz düsterer, menschenleerer Visionen werden. Im Hintergrund, wo neue Fabriken entstehen, sind die Gerüste der Baustellen erkennbar; noch weiter in der Ferne tauchen rauchende Schornsteine auf. Boccioni entwickelte ausgehend vom Divisionismus eine neue Maltechnik mit einzelnen, unverbundenen Pinselstrichen, die zum Teil langgezogen, dann wieder punktförmig strukturiert sind und große rhythmische Wirkung besitzen.
Das gesamte Werk Boccionis wird von wenigen symbolischen Motiven beherrscht: von Pferden, Baustellengerüsten und weiblichen Figuren. Mit besonderer Intensität beobachtete Boccioni die Frauen seiner Familie, seine Schwester und vor allem seine Mutter, die er wiederholt porträtierte. Ein Prozeß der fortschreitenden Deformation des weiblichen Bildes, vom Realismus im Stil des späten 19. Jahrhunderts bis hin zum "antigraziösen" Futurismus, der das Hübsche, Anmutige ablehnte, kennzeichnet die Stilentwicklung des Malers.
Umberto Boccioni: Fabrikbetriebe an der Porta Romana, 1908, Leinwand, Mailand, Kunstsammlung der Banca Commerciale Italiana
Dieses wichtige prä-futuristische Werk ist in der charakteristischen Maltechnik der "getrennten Farben" ausgeführt. Die Stadtlandschaft der Arbeiterviertel ist in einer neuartigen Perspektive wiedergegeben und mit großer Anteilnahme an der historischen und sozialen Situation beobachtet, im Bewußtsein des Anbruchs einer neuen Epoche.
Umberto Boccioni: Drei Frauen, 1910-1911, Leinwand, Mailand, Kunstsammlung der Banca Commerciale Italiana
Innerhalb der Malerei Boccionis bezeichnet dieses faszinierende Gemälde einen Wendepunkt und steht sogar für eine entscheidende Entwicklung in der italienischen Malerei unseres Jahrhunderts. Vom rein technischen Standpunkt aus gesehen ist das große Gemälde auf die Malerei des Divisionismus zurückzuführen und setzt das Erbe Pellizza da Volpedos fort. Doch die Zerlegung der Farben verwandelt die drei Frauenporträts in eine äußerst dynamische Vision aus flirrenden Partikeln und vibrierenden Lichtreflexen. Auch das Thema verweist in gewisser Art und Weise auf das späte 19.Jahrhundert, da es das Motiv der "drei Lebensalter der Frau" wiederaufnimmt, das im Symbolismus recht beliebt war und auch von Gustav Klimt bearbeitet wurde. Aber auch in dieser Hinsicht transformiert Boccioni die der Tradition verhafteten Elemente in ein faszinierendes Spannungsfeld von expressiven und psychologischen Energien.
Nur wenige Jahre trennen die "bürgerlichen" Stadtansichten des späten 19. Jahrhunderts in Italien und Frankreich von diesem charakteristischen futuristischen Bild im Lichte der hellen elektrischen Kugellampen, das Boccioni mit einem offensichtlich polemischen Unterton präsentiert. Vor dem Eingang eines Cafés sind zwei Frauen aneinandergeraten und ziehen damit um sich herum einen wahren Wirbel von herbeiströmenden Neugierigen an. In dem leuchtenden Farb- und Lichtgeflimmer zersplittert und vervielfältigt sich die Szenerie und beschwört eine entfesselte Dynamik herauf. Ein satirisches Element zeigt sich darin, daß hier die soziale Schicht, die ablehnend auf das Spektakel der Futuristen reagierte, zum Hauptdarsteller eines chaotischen Balletts wird, das der Maler amüsiert aus der Distanz beobachtet.
Sie sind einmalig. Jedes Symphonie-Orchester hat zwar seine Cellogruppe, aber daß sich die tiefen, großen Streicher als eigenständige Formation, als Orchester im Orchester zusammengetan und von einem Erfolg zum andern gespielt haben, das gibt es weltweit nur dieses eine Mal. Deshalb weiß jeder Musikkenner, wohin die Zwölf Cellisten gehören, selbst wenn der Name ihres Orchesters nicht fällt. Sie sind eine Institution. Seit 1972 musizieren sie nun zusammen und treten als Ensemble auf, manchmal in Berlin, öfter auswärts, ganz oft in weiter Ferne. Selbst die Premiere mit einem abendfüllenden Programm fand nicht in Berlin, sondern in Tokio statt; in die japanische Hauptstadt führen bis heute die besten Verbindungen.
Pablo Casals soll von einem Orchester geträumt haben, das nur aus Violoncelli besteht - eine ungewöhnliche Idee, aber auch wieder nicht ganz so neu. Sie beweist ein gutes historisches Gedächtnis. Denn zur Zeit der Musik, die man heute die »Alte« nennt, also vor drei- bis vierhundert Jahren, gab es sogenannte Gambenkonsorts, kleine Ensembles, die nur mit den zarter klingenden Cousinen des Violoncello besetzt wurden, den Viole da gamba, den Violen, die man zwischen den Beinen und nicht mit dem Arm hielt. Gut: Man baute diese Mehrsaiter mit dem leicht nasalen Klang und den Bünden am Griffbrett damals in verschiedenen Größen und in diversen Tonlagen. Ein Gambenkonsort verfügte also über hohe und tiefe Stimmgruppen. Das unterscheidet sie von einem reinen Celloensemble. Doch die Klangfarbe war in ihrer Grundform ähnlich einheitlich.
Pablo Casals unternahm einige Vorstöße, um seinen Traum vom reinen Kniegeigen-Ensemble Wirklichkeit werden zu lassen. Der große spanische Cellist kannte sein Instrument und dessen Möglichkeiten genau, und er wußte wohl: nur mit der tiefen Abteilung der Streicher würde sich ein monoinstrumentales Orchester erfolgreich verwirklichen lassen. Ernsthafte Konkurrenz ist nicht zu befürchten. Stellen Sie sich eine Bühne voller Violinisten vor, kein einziges anderes Instrument wäre dabei. Die Musiker könnten vieles bieten, ihre Geige könnte jubilieren und brillieren, sie könnten ihre Virtuosität bis in die höchsten Höhen an den Rand der Hörbarkeit führen oder sich zu zart gewobenen Klangteppichen beruhigen - sie könnten durch Zupfen, Schlagen, Klopfen, Dämpfen und Forcieren ihrem Teufelsgerät ein wahres Kaleidoskop an Klangbildern entlocken - irgendwann würde man bei diesem Treiben das Fundament vermissen, es würde nur noch Sehnsucht wecken: den dringenden Wunsch nach der musikalischen Tragkraft der Tiefe. Den aber könnten selbst die Bratschen nicht erfüllen - allenfalls die Kontrabässe noch, aber denen fehlte dann in der Höhe die nötige Durchsetzungskraft, das kleine Quentchen Schärfe, das die Celli immer noch besitzen, auch wenn sie sich in den Klangbezirken der Flöten und Geigen bewegen. Unsere Umgangssprache hat zwar für ihre Bilderwelt bisher nur die scharfen, hohen und lauten Instrumente entdeckt. Den Himmel läßt sie voller Geigen hängen, doch dieses operettige Sphärenerlebnis wurde für Menschen ausgedacht, die mit beiden Füßen auf dem festen Boden der Tatsachen stehen.
Für die Erdung des Kunstgenusses selbst aber ist hauptsächlich das Violoncello zuständig, denn es steht sogar mit drei Beinen auf solidem Grund: mit einem eigenen und zwei menschlichen, die es stützen. Kein Zweifel: Das Violoncello ist das eigentlich universale unter den Orchesterinstrumenten. Es ist in allen Bereichen des weiten Klang- und Hörspektrums von den sonoren Tiefen bis in die schrillen Höhen zu Hause. Seine Kantilenen zeichnen sich durch einen eigenen Reiz aus, wenn sie im großen Orchester ansetzen, wird man immer Zeuge eines besonderen Ereignisses. Im Drama einer musikalischen Partitur setzen die Celli nicht selten die Ausrufezeichen. Vom schönen Klang bis zum dumpfen Schlag, vom edlen Gesang bis zu irritierenden Geräuschnebeln ist alles möglich, und ein wohlgeformter Körper sorgt bei der Riesenvielfalt musikalischer Aktionen immer für gute Resonanz. Pablo Casals war sich über die verborgenen Talente des Violoncellos völlig im Klaren. Er förderte sie mit einer eigenen Komposition, sinnigerweise einem Tanzstück, einer »Sardana«, deren Heimat Katalanien ist. Er setzte sie für ein Cello-Orchester, das über mindestens 32 Leute verfügen muß. Das war 1927.
Ein anderer Meister seines Fachs hatte sieben Jahre zuvor schon kammermusikalische Vorarbeit geleistet. Julius Klengel, Cellovirtuose, -pädagoge und -komponist, schrieb 1920 einen »Hymnus für zwölf Violoncelli«; zusammen mit elf auserwählten Studenten soll er ihn seinem Freund Arthur Nikisch (1895-1922 Chefdirigent des Berliner Philharmonischen Orchesters) als Ständchen zum 65. Geburtstag dargebracht haben. Zwei Jahre später erlebte das Werk seine für lange Zeit letzte Aufführung: das getragene Stück mit dem tonal mutigen Anfang wurde Ende Januar 1922 zu Nikischs Begräbnis gespielt.
Fünfzig Jahre danach aber sorgte die Kuriosität des Leipziger Virtuosen und Komponisten für ein historisches Ereignis. Mit Klengels Werk begann die Geschichte der Zwölf Cellisten. Das kam so: Kenntnisreiche und findige Salzburger Redakteure hatten die musikgeschichtliche Einmaligkeit in Archiven aufgespürt. Sie fragten beim wichtigsten Festivalorchester ihrer Stadt, den Berliner Philharmonikern, an, ob deren Cellogruppe zu einer öffentlichen Rundfunkaufnahme des hymnischen Widmungsstücks bereit wäre. Die Musiker bejahten. Das Unternehmen wurde ein durchschlagender Erfolg. Er verlangte nach Fortsetzung. Dazu aber mußten zwei wichtige Voraussetzungen geschaffen werden: Stücke für ein Repertoire und ein Management für Auftritte.
Für das erste sorgte unter anderem jene Art von Zufall, der gern mit den Erfolgreichen und Tatkräftigen ist. Wer die Geschichte der Zwölf Cellisten ein wenig mitverfolgt hat, kennt gewiß die wahre Anekdote von der fünfzehnjährigen Komponistentochter, die sich bei Regenwetter per Autostopp durch Berlin bewegte und von einem, der die Adresse und die dahinter wohnende Prominenz gut kannte, bis vor die Haustüre gebracht wurde. Zum Dank brachte sie ihren Vater dazu, eine Komposition für die Cellogruppe des Philharmonischen Orchesters zu schreiben: So entstand in drei Lieferungen eines der Werke, die zum festen Repertoire der Zwölf und zu den beliebtesten Arbeiten ihres »Erfinders« wurde: »Blues, Espanola und Rumba philharmonica für zwölf Violoncelli soli« von Boris Blacher, eine dreiteilige Tanzsuite, die drei Zentren des leidenschaftlichen Tanzes einen avantgardistischen Besuch abstattet: den Afro-Amerikanem in den USA, Spanien und Südamerika.
Die Erweiterung des Repertoires kam durch Aufträge zustande. Berlin machte den Anfang. Die Festspiele GmbH orderte bei Jean Françaix, dem originellen, eigenwilligen Neoklassizisten, der ästhetische Schulen und Stilzwänge ablehnt. Zu seinem viertelstündigen »Morgenständchen« ließ er sich durch Reisebriefe der George Sand inspirieren. Er versprach viel: »Das Finale meiner Aubade läßt die Instrumente dröhnen - wie die Automobile beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans, meiner Geburtsstadt, so laut, daß selbst taube Zuhörer klatschen werden, angefeuert noch durch die blitzschnellen Striche der Cellobögen und die dämonischen Gesichter der zwölf Virtuosen.« Theater gehört eben zur Musik. Uraufführung der freundlich temperamentvollen Serenade: 30. September 1975, Neue Nationalgalerie Berlin - das erste abendfüllende Konzert vor heimischem Publikum.
Bonn verpflichtete Iannis Xenakis, den rationalistischen Klangzauberer, der, griechischer Abstammung, in Rumänien geboren, Paris zu seiner Wahlheimat machte. Der Architekt, Mathematiker und Komponist verlangt in seinem »8-Minuten-Thriller« (Wolfgang Stresemann) so ziemlich alles, was Cellisten tonlich und im Zusammenspiel geben können. Virtuosität ist auf allen Ebenen gefordert: technisch, im Erfassen des Ganzen, im Hören und Reagieren. Die Uraufführung fand am 20. November 1976 in Gegenwart des damaligen Bundespräsidenten Walter Scheel in Bonn statt.
Weitere Werke kamen hinzu. Michael Braunfels, der Kölner Komponist, schrieb 1975 ein »Symposium« für die Zwölf, Marcel Rubin komponierte 1976 im Auftrag der Wiener Festwochen ein »Concertino«, Helmut Eder für Salzburg seine »Melodia-Ritmica«. Die Schwetzinger Schloßfestspiele gaben bei Günter Bialas die »Assonanzen« in Auftrag, für die Luzerner Festwochen entwickelte Rudolf Kelterborn eine »Scene für 12 Cellisten«, Wolfgang Fortner griff 1983 auf das alte Genre des Madrigals zurück, mit Udo Zimmermanns»Canticum Marianum« verband sich der erste Auftritt der Zwölf in der DDR, bei den Dresdener Musikfestspielen. Jedes Jubiläum der Zwölf aber bringt eine Neuheit. 1992 schenkte Wolfgang Rihm sich zum Vierzigsten und den Cellisten zum Zwanzigsten einen »Augenblick«. 1997 kam der Glückwunsch in Partitur von Brett Dean mit dem Stück: »Twelve angry men«.
Die Zwölf ist eine mythische Zahl, sie steht für Vollkommenheit. Zwölf Monate machen ein Jahr komplett und zwölf (Halb-)Töne eine Oktav, in zwei Mal zwölf Stunden haben Tag und Nacht je einmal ihre Runde gemacht. Zwölf Stämme bildeten das alte Volk Israel, zwölf Vertraute begleiteten den Gründer der hier landläufigen Religion und trugen seine Lehre durch die Lande, zwölf Tore führen in das himmlische Jerusalem, die erträumte Stadt einer freien Menschheit.
Zwölf Cellisten beschäftigen die Berliner Philharmoniker - die Zahl birgt Hintersinn, die bloße, mythenfreie Tatsache aber wirft mancherlei praktische Schwierigkeiten auf. Sie fordert Findigkeit und Witz heraus. Denn wenn die Zwölf in eigener Sache unterwegs sind, kann der Rest des Orchesters einpacken, es wäre denn Blasmusik angesagt, und das ist selten der Fall. Es gibt zwar symphonische Literatur ohne Geigen, aber (fast) keine ohne Celli. Ihnen kommt eben im Orchester doch eine Schlüsselfunktion zu, man mag es drehen und wenden, wie man will: Sie sind unverzichtbar.
Ihre Auftritte können demnach nur in der dienstfreien Zeit liegen, dann, wenn weder Konzerte, noch Aufnahmen, noch Proben auf dem Terminplan stehen. Konzerttage liegen zwar weit im Voraus fest, auch die Produktionstermine für Platten und andere Medien; Probenpläne aber können sich kurzfristig ändern, und so müssen die Zwölf in ihre Verträge immer eine Sonderklausel einbauen, die sonst nur für den Fall höherer Gewalt gilt: Sie sind nur unter gesamtphilharmonischem Vorbehalt zu haben, denn Orchesterdienst geht vor Nebentätigkeit, wie exklusiv und imagebildend diese auch immer sein möge.
(4) Aubade für 12 Violoncelli soli / for 12 solo violoncellos 14:42
Total Time: 47:41
Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker: Eberhard Finke, Ottomar Borwitzky, Wolfgang Böttcher, Peter Steiner, Heinrich Majowski, Gerhard Woschny, Rudolf Weinsheimer, Christoph Kapler, Alexander Wedow, Klaus Häussler, Jörg Baumann, Götz-Wolfgang Teutsch
Eines der wichtigsten Ereignisse dieser Jahre - und meines Lebens überhaupt - war der Beginn meiner Freundschaft mit Adolfo Bioy-Casares. Wir begegneten uns 1930 oder 1931, als er etwa siebzehn Jahre alt war und ich gerade dreißig überschritten hatte. Es ist in solchen Fällen die Regel, daß der Ältere der Lehrer, der Jüngere der Schüler ist. Dies mag anfangs so gewesen sein, aber als wir ein paar Jahre darauf gemeinsam zu arbeiten begannen, war wirklich und insgeheim Bioy der Lehrer. Er und ich unternahmen viele literarische Abenteuer. Wir stellten Anthologien argentinischer Dichtung zusammen, phantastischer Erzählungen und Kriminalgeschichten; wir schrieben Artikel und Vorwörter; wir kommentierten Sir Thomas Browne und Gracián; wir übersetzten Kurzgeschichten von Schriftstellern wie Beerbohm, Kipling, Wells und Lord Dunsany; wir gründeten eine Zeitschrift, Destiempo, die drei Nummern erreichte; wir schrieben Filmscripts, die ausnahmslos zurückgewiesen wurden. Im Gegensatz zu meinem Geschmack für das Pathetische, Gefühlvolle, Barocke, überzeugte mich Bioy davon, daß Beherrschtheit und Mäßigung erstrebenswerter seien. Wenn ich es verallgemeinert formulieren darf: so brachte mich Bioy allmählich zum Klassizismus.
Irgendwann in den frühen vierziger Jahren begannen wir zusammen zu schreiben - ein Kunststück, das ich bis dahin für undurchführbar gehalten hatte. Ich hatte mir, wie wir fanden, eine recht gute Handlung für eine Kriminalerzählung ausgedacht. An einem regnerischen Morgen meinte Bioy, wir sollten es versuchen. Zögernd stimmte ich ein, und etwas später an diesem selben Vormittag passierte es. Ein Dritter, Honorio Bustos Domecq, trat auf den Plan und übernahm die Führung. Allmählich und zu unserem Vergnügen herrschte er über uns mit eisernem Stab, aber später wurde er zu unserem Mißbehagen ganz anders als wir selbst, mit eigenen Einfällen, eigenen Wortspielen und einem eigenen auserlesenem Stil. Domecq war der Name eines Urgroßvaters von Bioy, und Bustos der Name eines meiner Urgroßväter aus Córdoba. Bustos Domecqs erstes Buch hieß: Sechs Aufgaben für Don Isidro Parodi (1942), und während es geschrieben wurde, entglitt er nie unserer Kontrolle. Max Carrados hatte einen blinden Detektiv erfunden; Bioy und ich gingen noch einen Schritt weiter und sperrten unseren Detektiv in eine Gefängniszelle. Das Buch wurde gleichzeitig eine Satire auf Argentinien. Jahrelang kam Bustos Domecqs doppelte Identität nicht ans Licht. Als es dann doch geschah, meinten die Leute, da Bustos ein Scherz war, seien auch seine Schriften nicht ernst zu nehmen.
Unsere nächste Zusammenarbeit ergab einen weiteren Detektiv-Roman, Ein Muster für den Tod. Er geriet so persönlich und voller privater Späße, daß wir ihn in einer nicht für den Handel bestimmten Ausgabe veröffentlichten. Den Autor dieses Buches nannten wir B. Suárez Lynch. Das »B.« bedeutete glaube ich Bioy und Borges, »Suárez« war mein anderer Urgroßvater und »Lynch« ein weiterer Urgroßvater von Bioy. Bustos Domecq meldete sich 1946 wieder, in einem diesmal zwei Erzählungen enthaltenden Privatdruck, betitelt Zwei denkwürdige Phantasien. Nach langer Pause nahm Bustos 1967 die Feder wieder auf und brachte seine »Chroniken« heraus. Sie bestehen aus Aufsätzen über erdachte, übertrieben moderne Künstler - Architekten, Bildhauer, Maler, Chefköche, Dichter, Romanschriftsteller, Couturiers - geschrieben von einem hingebungsvoll modernen Kritiker. Aber alle, der Autor wie seine Personen, sind Narren, und es ist schwer zu unterscheiden, wer wen auf den Arm nimmt. Das Buch trägt die Widmung: »Den drei vergessenen Großen - Picasso, Joyce, Le Corbusier«. Selbst der Stil ist parodistisch. Bustos schreibt literarischen Journalismus, wimmelnd von Neologismen, latinisiertem Vokabular, Klischees, zweifelhaften Metaphern, Fehlschlüssen und Schwulst.
Ich bin oft gefragt worden, wie solch eine Zusammenarbeit möglich ist. Ich glaube, sie erfordert die gemeinsame Aufgabe des Ich, der Eitelkeit und wohl auch der allgemeinen Höflichkeit. Die Zusammenarbeitenden sollten sich vergessen und nur im Rahmen der Aufgabe denken. Tatsächlich, wenn jemand mich fragte, ob dieser oder jener Scherz oder ein Epitheton von meiner Seite des Tisches oder von Bioy stammt, so kann ich es ihm wahrhaftig nicht sagen. Ich habe versucht, mit anderen Freunden zusammenzuarbeiten - darunter mit sehr nahestehenden -, aber ihr Unvermögen, einerseits freimütig zu sein und andererseits dickhäutig, ließ diese Methode scheitern. Was die Chroniken des Bustos Domecq angeht, so halte ich sie für gelungener als alles, was ich unter eigenem Namen veröffentlicht habe, und fast so gut wie alles, was Bioy selbst geschrieben hat.
Im Klappentext von Obras completas en colaboración stellt Borges fest, die Kunst der literarischen Zusammenarbeit sei eine Umkehr des Falles von Doktor Jekyll und Mister Hyde: nicht aus einer Person zwei, sondern aus zwei Personen eine machen. Dieser »aristotelische Dritte« pflege dann von seinen Komponenten abzuweichen und werde von ihnen geschmäht. So liege auch der traurige Fall des Erzählers Bustos Domecq, den Bioy und Borges verleumdeten und dem sie seine barocke Vulgarität vorwürfen.
Sicher hätten Borges und Bioy Casares bissige, sprühende Satiren über alle möglichen Verirrungen der modernen Kunst abfassen können; statt dessen haben sie Bustos Domecq, der alles liebt, solange es nur ausreichend modern und unsinnig ist, tumbe Lobreden absondern lassen. So sind die Chroniken von Bustos Domecq nicht nur maskierte Satiren auf gewisse »moderne Phänomene«, sondern gleichzeitig hämische Spiele: mit den Autoren, Köchen, Malern, Architekten, Dichtern, die Unsinn produzieren, mit dem Publikum, das den Unsinn schluckt, mit den Kritikern, die für jeden Unsinn noch eine hochtrabende Begründung erfinden. Vor allem mit dem (nicht nur argentinischen) Provinzler, der all das großartig findet.
Das Spiel geht bis in die letzten Einzelheiten der »barock vulgären« Sprache, der Bustos Domecq sich angestrengt befleißigt. Sätze wie »Der erste Name, der uns ... die Hand reicht, ist der von Lambkin Formento« oder »... der heute an der Schwelle zur Namhaftigkeit steht, war 1938 nahezu unbekannt« (in Naturalismus à la mode), »Ich schlüpfte in meine Brille« (in Auf der Suche nach dem Absoluten) und jener Mensch, der »von der kleinsten Übelkeit betrunken« wird (in Der Sohn seines Freundes) stehen so im Original und sind keine Übersetzungs-Blüten.
Manche Passagen muß man wohl mehrfach lesen, um Bustos Domecqs Verdrehungen und niederträchtige Sinnlosigkeiten zu sehen. »... daß erstere der obengenannten Vokabeln ihre angemessenste Anwendung im Bereich des Romans findet, wogegen die zweite sich auf eine ganze Reihe verschiedener Gebiete zu beschränken hat« (in Naturalismus à la mode) oder zwei Stellen aus Der Gremialist, wo es heißt, etwas sei »der Fels, der sich der Lava der Anarchie in den Weg stellt«, und wo Bustos Domecq einen Autor namens Cattaneo bezichtigt, ein Buch nicht gelesen zu haben und den Verfasser Baralt mit einem Pornographen namens Cottone zu verwechseln, während tatsächlich Bustos Domecq keines der betreffenden Bücher (außer vielleicht dem pornographischen Kurzroman) gelesen hat und Cattaneo mit Cottone verwechselt - dies alles sind glänzende Fehlleistungen, die die Weltliteraten Borges und Bioy dem Provinzliteraten Bustos unterschieben.
Das Echo, das ein gewisser, von der S.A.D.A. (Sociedad Argentina de Arquitectos[Argentinische Architektenvereinigung]) mit Trommeln und Fanfaren geführter Nervenkrieg, verschärft durch finstere Machenschaften des technischen Direktors der Plaza Garay, in der Boulevardpresse fand, wirft ein übergrelles Licht, ohne Schirm und chinesischen Paravent, auf die übergangene Arbeit und die geschätzte Persönlichkeit des unbestechlichsten unserer Bildhauer: Antártido A. Garay.
Das weckt im Gedächtnis, welches so sehr der Amnesie zuneigt, bedeutende Erinnerungen an jenen unvergeßlichen Königsfisch mit Kartoffeln, benetzt von einem Rheinwein, den wir um 1929 in einem Hinterzimmer bei Loomis genossen. Alles, was in der damaligen, nunmehr verwichenen Generation - literarischen Aspekts, versteht sich - Rang und Namen hatte, war an jenem Abend zur Beschwörung des Schmauses und der Musen in die Calle Parera geeilt. Der letzte Trinkspruch mittels Champagner ging zu Lasten der behandschuhten Rechten des Doktors Gervasio Montenegro. Allenthalben sprühten Epigramme auf. Mein Nachbar am Tisch - an einer Ecke desselben, wo dieser befrackte Tantalus von einem ausländischen Kellner uns bei der Nachspeise überging - war ein junger Mann aus der Provinz, ganz Bescheidenheit und Klugheit, der mir nicht ein einziges Mal ins Wort fiel, während ich mich ausführlichst über die darstellenden Künste verbreitete. Man muß also zumindest anerkennen, daß mein Tischgenosse voll und ganz auf der Höhe meiner reichlich strömenden Rede war; beim Milchkaffee, den wir in der Kneipe Zu Den Fünf Straßenecken zu uns nahmen, teilte er mir gewissermaßen am Ende meines analytischen Dithyrambus über den Brunnen von Lola Mora mit, er sei Bildhauer, und lud mich mittels einer Karte zu der Ausstellung seiner Werke ein, die für seine Freunde und andere geneigte Personen im Salon der Freunde der Kunst, vormals Van Riel, stattfinden sollte. Bevor ich ihm mein Kommen zusagte, gestattete ich ihm, die Rechnung zu begleichen - eine Handlung, zu der er sich erst entschließen konnte, als die Straßenbahn 38 die ersten Arbeiter zur Frühschicht gebracht hatte.
Am Tag der Vernissage war ich persönlich anwesend. Am ersten Nachmittag herrschte Hochbetrieb in der Ausstellung; danach beruhigte sich der Markt, ohne daß jedoch ein einziges Stück verkauft worden wäre. Die Kärtchen, auf denen »Verkauft« stand, konnten niemanden täuschen. Allerdings versüßte die Zeitungskritik die Pille, so gut es ging; man spielte auf Henry Moore an und gab sich redliche Mühe, Lob zu äußern. Ich selbst veröffentlichte, um mich für den Kaffee zu revanchieren, in der Revue de l'Amérique Latine eine kleine lobende Notiz, wenn auch camouflé unter dem Pseudonym »Kürzel«.
Die Ausstellung zerbrach keine alten Gußformen; sie bestand im Gegenteil aus Gipsabgüssen der Sorte, wie Kunstlehrerinnen in der Grundschule sie vorführen; sie standen zu zweit oder zu dritt einander gegenüber und stellten Blätter, Füße und Früchte dar. Antártido A. Garay erschloß uns den Zugang, indem er erläuterte, man solle sich nicht um die Blätter kümmern noch um die Füße oder Früchte; wichtig sei vielmehr der Raum bzw. die Luft zwischen den Abgüssen; es handle sich nämlich um etwas, das er - wie mir viel später dank der französischen Ausgabe seiner Erläuterungen klar wurde - Konkavskulptur nannte.
Der Erfolg, den die erste Ausstellung erreichte, sollte sich später mit der zweiten wiederholen. Diese fand in einem Lokal des malerischen Viertels Caballito statt und bestand schlicht aus ambiente, wobei nichts zu erblicken war als vier nackte Wände, einige Simse oder Leisten an der Decke sowie ein halbes Dutzend Schutthäufchen, verteilt auf den Fliesen des Parketts. »All das«, so erleuchtete ich am Schalter, wo ich mit Eintrittskarten zu nullfünfundvierzig meinen Rebbach machte, die Unwissenden, »hat nicht den geringsten Wert; für den verfeinerten Geschmack zählt nur der Wandelraum zwischen den Leisten und dem Schutt.« Die Kritik, die nicht über ihre eigene Nasenspitze hinauszuschauen vermag, begriff die überzeugende Evolution nicht, die sich im Zwischenraum abspielte, und beschränkte sich darauf, das Fehlen von Blättern, Früchten und Füßen zu beklagen. Die Ergebnisse dieser Kampagne, die als unklug zu bezeichnen ich nicht zögere, ließen nicht lange auf sich warten. Das anfänglich zu Scherzen aufgelegte, gutmütige Publikum wurde nach und nach übellaunig, und schließlich steckte man die Ausstellung in Brand, ausgerechnet am Vorabend des Geburtstags des Bildhauers, und dieser erlitt durch das Auftreffen der Schuttbrocken in jener Region, die man vulgär die Hintere heißt, erhebliche Quetschungen. Was den Kartenverkäufer betrifft - Ihren Diener -, so hatte dieser die kommenden Ereignisse gewittert, und um nicht auch noch im Wespennest herumzustochern, zog er sich beizeiten zurück, wobei er den eingenommenen Betrag in einem Pappkoffer rettete.
Mein Weg war vorgezeichnet: Einen Unterschlupf, ein Nest, ein schwierig aufzufindendes Refugium suchen, um im Dunkel zu verweilen, während die Kurpfuscher vom Hospital Durand sich des Gequetschten annahmen. Auf Anraten eines schwarzen Kochs ließ ich mich im Neuen Unparteiischen nieder, einem Hotel in der Nähe des Once-Bahnhofs, wo ich das Material für meine detektivische Studie Das Opfer des Tadeo Limardo* sammelte, und wo ich mir auch einige nähere Begegnungen mit Juana Musante nicht verkniff.
Viele Jahre später, in der Western Bar, wo ich vor einem Milchkaffee und Croissants saß, überraschte mich Antártido. Er hatte sich längst von seinen Verletzungen erholt, und indem er keine Anspielung auf das Pappköfferchen machte, bewies er Feingefühl. Wir erneuerten alsbald unsere alte Freundschaft mittels der Wärme eines zweiten Milchkaffees, den er, wie jenen ersten, aus seiner Tasche bezahlte.
Aber wozu ist es gut, der Vergangenheit nachzusinnen, wenn die Gegenwart in Kraft tritt? Wie auch der Begriffsstutzigste kapiert haben sollte, spreche ich von der prächtigen Ausstellung an der Plaza Garay, die die besessene Arbeit und das schöpferische Genie unseres so arg gebeutelten champions gekrönt hat. Alles wurde sotto voce in der Western Bar geplant. Bier und Kaffee wechselten sich ab; ohne uns der Vertilgung dieser Flüssigkeiten bewußt zu werden, plauderten wir freundschaftlich weiter. Dabei flüsterte er mir Genaueres über sein neues Projekt zu, das bei Licht besehen nur aus einem Plakat mit der Aufschrift Ausstellung von Skulpturen von Antártido A. Garay bestand, das wir, wenn wir es an zwei Holzstangen befestigt hätten, an einer gut einsehbaren Stelle anbringen wollten, so daß die aus der Avenida Entre Rios kommenden Passanten es sehen müßten. Zu Beginn focht ich für Frakturschrift, doch einigten wir uns schließlich auf weiße Lettern auf rotem Grund. Da uns jegliche städtische Erlaubnis fehlte, nutzten wir die tiefe Nacht, in der der Nachtwächter schläft, um bei strömendem Regen, der unser beider Köpfe netzte, das Plakat anzubringen. Nach vollzogener Tat brachen wir in verschiedene Richtungen auf, um nicht den Sbirren in die Hände zu fallen. Mein derzeitiges Domizil ist ganz in der Nähe, Calle Pozos; der Künstler mußte zu Fuß bis zum Wohnviertel an der Plaza de Flores gelangen.
Am folgenden Morgen tauchte ich - getrieben von lauterer Habgier, und um dem Freund zuvorzukommen - auf dem grünen Geviert der Plaza auf, mit der rosenfingrigen Morgenröte, als der Regen über dem Plakat bereits aufgehört hatte und die Vögelchen mich begrüßten. Eine schlichte Kappe mit Wachstuchschirm und ein Bäckerkittel mit Perlmuttknöpfen verliehen mir Autorität. Was Eintrittskarten angeht, so hatte ich die Voraussicht gehabt, in meinem Archiv die vom letzten Mal übriggebliebenen aufzubewahren. Welch ein Unterschied zwischen den schlichten, wenn man so will zufälligen Passanten, die ohne zu murren den sonst für ihr Exemplar von La Nación bestimmten halben Peso entrichteten, und dem Haufen eingetragener Architekten, die uns drei Tage später den Prozeß machten! Trotz allem, was die Rechtsverdreher sagen mögen, ist die Sache doch eindeutig klar. Dies hat schließlich sogar in seiner inzwischen historischen Kanzlei in der Calle Pasteur unser Anwalt, Doktor Savigny, begriffen. Der Richter, den wir in letzter Instanz mit einem Bruchteil der eingenommenen Eintrittsgelder bestechen werden, hat das letzte Wort. Ich bin darauf vorbereitet, am Schluß als Letzter zu lachen. Hiermit sei allen kundgetan, daß das bildhauerische Werk von Garay, ausgestellt auf dem gleichnamigen Platz, aus dem Raum besteht, der zwischen den Gebäuden an der Kreuzung Solis und Pavón liegt und bis in den Himmel reicht, ohne natürlich die Bäume, die Bänke, den Bach und die Bewohner, die vorbeikommen, zu vergessen. Das selektive Auge setzt sich durch!
PS: Garays Pläne werden immer gewaltiger. Der Ausgang des Prozesses läßt ihn kalt; er träumt heute von einer Ausstellung, Nummer Vier, die das ganze Núñez-Viertel einschließen soll. Vielleicht wird schon morgen, wer weiß, sein meisterhaftes und und so argentinisches Werk allen Luftraum annektieren, den es zwischen den Pyramiden und der Sphinx gibt.
* Wichtige Mitteilung. Wir wollen die Gelegenheit nutzen, den Käufern den sofortigen Erwerb von Sechs Probleme für Don Isidro Parodi von H. Bustos Domecq nahezulegen. (Anmerkung von H. B. D.)
Quelle: Seite 61-65
Eine Kunst blüht auf
Es ist nicht zu glauben, aber die Formel »funktionale Architektur«, die die Leute vom Fach nicht ohne ein mitleidiges Lächeln aussprechen, betört die breite Öffentlichkeit noch immer. In der Hoffnung, den Begriff zu erklären, wollen wir in groben Umrissen ein knappes Panorama der zur Zeit en vogue befindlichen architektonischen Strömungen entwerfen.
Die Ursprünge liegen zwar noch sehr nahe, doch verschwimmen sie in polemischen Wolken. Zwei Namen machen einander den Vortritt streitig: Adam Quincey, der 1937 in Edinburgh eine seltsame Broschüre drucken ließ, auf deren Titelblatt man Für eine Architektur ohne Zugeständnisse lesen konnte, und Alessandro Piranesi aus Pisa, der nur wenige Jahre später auf eigene Kosten das erste Chaotikum der Geschichte errichtete, das erst kürzlich wieder aufgebaut wurde. Unwissende Massen, getrieben von der unsinnigen Lust, in das Gebäude einzudringen, steckten es mehrmals in Brand, bis in der Nacht von Sankt Johannes auf Sankt Peter nichts als ein wenig Asche übrigblieb. Inzwischen war Piranesi gestorben, doch machten Photographien und ein Entwurf den Wiederaufbau möglich, dessen Ergebnis - man kann es heute bewundern - allem Anschein nach den ursprünglichen Richtlinien gehorcht.
Im kalten Licht der augenblicklichen Perspektiven abermals gelesen bietet die kurze und schlecht gedruckte Broschüre von Adam Quincey dem Neuheitssüchtigen nur karge Kost. Wir wollen dennoch einen bestimmten Absatz hervorheben. Im betreffenden Abschnitt heißt es: »Emerson, dessen Gedächtnis erfindungsreich zu sein pflegte, weist Goethe die Formulierung zu, Architektur sei erstarrte Musik. Diese Sentenz und unsere persönliche Unzufriedenheit angesichts der Werke brachten uns gelegentlich dazu, von einer Architektur zu träumen, die wie die Musik unmittelbarer Ausdruck des Empfindens wäre, den Anforderungen an eine Behausung oder einen Versammlungsort nicht unterworfen.« Weiter unten lesen wir: »Le Corbusier hält das Haus für eine Lebensmaschine - eine Definition, die sich weniger auf das Taj Mahal als auf eine Eiche oder einen Fisch anwenden ließe.« Solche Behauptungen, die heute Axiome oder Binsenweisheiten sind, provozierten damals zerschmetternde Blitze von Gropius und Wright, die sich im tiefsten Kern ihrer Arbeit getroffen fühlten; außerdem verblüfften sie viele Leute. Der Rest der Broschüre attackiert Die sieben Leuchter der Baukunst von Ruskin - eine Debatte, die uns heute langweilt.
Es ist von geringer oder gar keiner Bedeutung, ob Piranesi die erwähnte Broschüre kannte oder nicht; unbestreitbar ist jedoch, daß er auf bis dahin sumpfigem Gelände an der Via Pestifera, mit Hilfe von Maurern und fanatischen Greisen, das Große Chaotikum von Rom errichtete. Dies edle Bauwerk, das einige für eine Kugel, andere für eine Art Ei und die Reaktionäre für eine formlose Masse halten, und dessen Materialien die ganze Breite zwischen Marmor und Mist umfassen, Guano eingeschlossen, bestand im wesentlichen aus Wendeltreppen, die den Zugang zu undurchdringlichen Wänden ermöglichten, außerdem aus abgeschnittenen Brücken, aus Balkonen, die man nicht betreten konnte, aus Türen, die sich zu Brunnen oder gar zu engen, hohen Wohnräumen öffneten, von deren Decken umgedreht bequeme Betten oder Sessel herabhingen. Auch der Konkavspiegel glänzte mitnichten durch Abwesenheit. In einem Anflug von Begeisterung begrüßte die Zeitschrift The Tatler das Werk als erstes konkretes Beispiel des neuen architektonischen Bewußtseins. Wer hätte damals wohl geglaubt, daß man in einer nicht allzu fernen Zukunft das Chaotikum zaghafter Rückschrittlichkeit zeihen würde!
Wir denken nicht daran, auch nur einen Tropfen Tinte und eine Minute Zeit zu vergeuden, indem wir beschreiben (und schmähen), was da an plumpen Imitationen dem Publikum (!) dargeboten wurde, sei es im Luna-Park der Ewigen Stadt oder auf den angesehensten Ausstellungen der Stadt des Lichts.
Unserer Aufmerksamkeit würdig, wiewohl eklektisch, ist der Synkretismus von Otto Julius Manntoifel, dessen Sanktuarium der Vielen Musen zu Postdam Wohnhaus, Drehbühne, Wanderbibliothek, Wintergarten, makellose Skulpturengruppe, evangelische Kapelle, buddhistisches Tempelchen, Eislaufbahn, Wandfresko, polyphone Orgel, Wechselstube, Pissoir, türkisches Bad und Sahnetorte vereinigte. Die kostspielige Unterhaltung dieses vielgestaltigen Bauwerks führte zur Zwangsversteigerung und zum Abriß, der die Feierlichkeiten, die den Tag seiner Eröffnung gekrönt hatten, unmittelbar fortsetzte. Wir wollen das Datum nicht vergessen! 23. oder 24. April 1941!
Es ist nicht zu vermeiden, daß wir nun auf eine Figur von noch größerer Gewichtigkeit zu sprechen kommen, den Maestro Verdussen aus Utrecht. Dieser Mann des konsularischen Corps schrieb und machte Geschichte; 1949 veröffentlichte er das Buch, das er Organum Architecturae Recentis betitelte; 1952 eröffnete er unter der Schirmherrschaft des Prinzen Bernhardt sein Haus Der Türen Und Fenster, wie die ganze niederländische Nation es liebevoll taufte. Fassen wir seine These zusammen: Wand, Fenster, Tür, Boden und Dach stellen zweifellos die grundlegenden Elemente des habitat des modernen Menschen dar. Nicht die frivolste Comtesse in ihrem boudoir noch der traurigste Zeitgenosse, der in seiner Zelle des Tageslichts harrt, nach dessen Erstrahlen man ihm seinen Platz auf dem elektrischen Stuhl zuweisen wird, entgehen diesem Gesetz. Die petite histoire flüstert uns ins Ohr, ein Vorschlag Seiner Königlichen Hoheit habe genügt, um Verdussen zur Einbeziehung zweier weiterer Elemente zu bewegen: Schwelle und Treppe. Das Bauwerk, darin diese Gesetze illustriert sind, bedeckt eine rechteckige Bodenfläche, die sechs Meter breit und etwas weniger als achtzehn Meter tief ist. Jede der sechs Türen, die die Fassade des Erdgeschosses ausmachen, führt nach neunzig Zentimetern zu einer weiteren gleichen, einflügeligen Tür und so immer fort, bis man nach siebzehn Türen zur rückwärtigen Wand gelangt. Schlichte Zwischenwände trennen die sechs parallelen Systeme, in denen sich insgesamt einhundertundzwei Türen finden. Von den Balkonen des gegenüberliegenden Hauses kann der Wißbegierige feststellen, daß im ersten Stockwerk ein Überfluß an sechsstufigen Treppen herrscht, die im Zickzack auf- und absteigen; das zweite Stockwerk besteht ausschließlich aus Fenstern; das dritte aus Schwellen; das vierte und letzte aus Fußböden und Dächern. Das Bauwerk ist aus Glas; diese Eigenschaft erleichtert entschieden eine Untersuchung von den Nachbarhäusern aus. Dies Juwel ist von einer solchen Vollkommenheit, daß niemand gewagt hat, es zu imitieren.
Bis hierher haben wir grosso modo die morphologische Entwicklung der Unbewohnbaren nachgezeichnet, heftiger und erfrischender Böen der Kunst, die dem Utilitarismus auch nicht den kleinsten Tribut zollen: niemand betritt sie, niemand verläßt sie, niemand sitzt in ihnen; niemand verbirgt sich in den Höhlungen, niemand grüßt mit der Hand vom unzugänglichen Balkon, niemand winkt mit dem Taschentuch, niemand stürzt sich aus dem Fenster. Le tout n'est qu'ordre et beauté.
PS: Die Fahnen des vorstehenden Panoramas sind bereits korrigiert, und nun informiert man uns durch ein Kabeltelegramm, daß ausgerechnet in Tasmanien eine neue Knospe aufgegangen ist. Hotchkis de Estephano, der bis zum heutigen Tage mit den orthodoxesten Strömungen der nichtbewohnbaren Architektonik schwamm, hat ein Ich klage an ausgestoßen, das selbst dem bislang verehrten Verdussen den Boden unter den Füßen wegziehen soll. Hotchkis führt an, Wände, Böden, Dächer, Türen, Bullaugen, Fenster, wie unbenutzbar auch immer, seien doch nur veraltete, fossile Elemente eines funktionalen Traditionalismus, den man glaube, verworfen zu haben, und der sich durch die Hintertür wieder einschleiche. Mit Pauken und Trompeten kündigt er ein neues Unbewohnbares an, das auf derlei Antiquiertheiten verzichtet, ohne jedoch zur schieren Masse zu verkommen. Mit dem lebhaftesten Interesse harren wir der Modelle, Pläne und Photographien dieser neuesten Expression.
Das von Interpreten und Publikum weitgehend vernachlässigte Genre des Klavierquartetts mit seiner überraschenden, ein wenig sprunghaften und immer überraschenden Entwicklungsgeschichte, die - wenn man sich auf wirklich »lebendige« Musik bezieht - erst von den beiden Mozartschen Werken der Jahre 1785/86 ihren Ausgang nimmt, hat in Paul Juon (1872-1940) und Max Reger (1873-1916) die bisher letzten bedeutenden Komponisten gefunden, die es nicht nur mit einem verirrten Einzelwerk, sondern gleich mit einem gewichtigen Werkpaar bedacht haben. Daß alle vier Quartette dieser beiden Werkpaare der letzten Abendröte der »alten Welt« angehören - sie umspannen die Jahre 1906 (Juons op. 37) bis 1914 (Regers op. 133) -, bringt sie in noch engeren Zusammenhang zueinander. Trotzdem unterscheidet sich die künstlerische Physiognomie Paul Juons, wie sie uns in seinen beiden hier vorgelegten Klavierquartetten entgegentritt, ganz unverkennbar von der seines fast auf den Tag genau um ein Jahr jüngeren Kollegen, der zwar unbestreitbar »prominenter« ist, dessen Schwesterwerke aber bisher auch weder im Konzertsaal noch im Aufnahmestudio besondere Fortune hatten.
Paul Juon, am 8. März 1872 als Enkel eines aus Graubünden nach Rußland ausgewanderten Zuckerbäckers in Moskau geboren, wächst in einem hochkultivierten, von sprachlicher Polyphonie und künstlerischer Kreativität geprägten bürgerlichen Ambiente auf. In seiner Heimatstadt besucht er die deutsche Realschule und tritt danach mit siebzehn Jahren in das Konservatorium ein. Sergej Taneev und Anton Arenskij sind hier für seine kompositorische, der tschechische Virtuose Jan Hřímalý für seine geigerische Ausbildung verantwortlich, und Sergei Rachmaninov ist sein Studienkollege und Freund. Mit seinem brillanten Konservatoriumsdiplom wendet er sich 1894 nach Berlin, um bei Clara Schumanns Halbbruder Woldemar Bargiel zu weiterzustudieren. Mit 24 Jahren wird er mit dem Mendelssohn-Preis ausgezeichnet und heiratet Ekaterina Sachalova. Mit ihr zieht er auf ein Jahr ins aserbaidschanische Baku, wo er als Geigenlehrer am Konservatorium und als Primarius eines Streichquartetts wirkt. 1898 kehrt das junge Ehepaar nach Berlin zurück, das für dreieinhalb Jahrzehnte Paul Juons Wahlheimat bleiben sollte. Schon in diesem Jahr erscheinen im Berliner Verlag Schlesinger Juons erste Kompositionen, drei Jahre später eine sehr qualitätvolle »Praktische Harmonielehre« und die Übersetzung von Modest Tschaikovskijs Biographie seines Bruders. Im selben Jahr 1901 wird Juon ein Stipendium der Franz-Liszt-Stiftung zuerkannt. Der auf diese Weise bestens in das Berliner Musikleben eingeführte Gast erwirbt sich bald auch einen hervorragenden Ruf als Pädagoge: 1906 wird eine der letzten Amtshandlungen des durchaus wählerischen Joseph Joachim Juons Berufung als ordentlicher Professor an die Berliner Musikhochschule sein.
Aus dem Jahr dieser Berufung stammt auch das erste, 1907 unter dem Titel »Rhapsodie« als Opus 37 veröffentliche und der jungen Freundin Marie Bender gewidmete Klavierquartett, dem - wie einer ganzen Reihe von Juons Werken dieser Zeit - Anregungen und Bilder aus Selma Lagerlöfs phantasievollem Roman »Gösta Berling« zugrundeliegen. Dieser Umstand, der durch entsprechende Vermerke in Juons eigenhändigem Werkverzeichnis dokumentiert ist, findet zwar im Druck keine Erwähnung, teilt sich aber dem Hörer durch den erzählenden Ton des Stückes sowie durch eine auffällige Anhäufung »nordischer« (und uns etwa aus dem Werk Edvard Griegs wohlvertrauter) Wendungen ganz zwanglos mit. Der Werktitel ist durch die überaus freie und unkonventionelle Form dieses ersten Juonschen Klavierquartetts, das sich übrigens wie auch sein Autor einer eindeutigen Zuordnung zu entziehen weiß (denn das auf dem Titelblatt angegebene D-Moll ist weder Ausgangs- noch Zieltonart), mehr als gerechtfertigt.
Dem eröffnenden Moderato, einem vielgliedrigen und assoziativ frei schweifenden Satz, der sich zu seiner Heimattonart F-Dur eigentlich nur an Anfangs- und Endpunkt bekennt, folgt mit dem D-moll-Allegretto, das in einer von Juon autorisierten Bearbeitung den genrehaften Titel »Spuk in der Schmiede« bekam, ein höchst effektvolles, überwiegend im folkloristischen Fünfvierteltakt stehendes Stück. Der auf den ersten Satz zurückgreifende, ihn aber an Vielgestaltigkeit noch bei weitem übertreffende Schlußsatz (Sostenuto - Allegretto, f-moll) gehört zu den eigenwilligsten und verblüffendsten Schöpfungen Juons: Innere Widersprüchlichkeit und emotionale Vielschichtigkeit sind hier auf die Spitze getrieben und schaffen ein Gebilde von ganz eigenartigem, zwischen Mutwillen und Melancholie, Weltschmerz und Willkür schwankendem Gepräge - ein irisierendes Kaleidoskop von nicht alltäglichem Zauber.
War in der Rhapsodie op. 37 vielleicht der seine drei kleinen Kinder mit launigen und spannenden Erzählungen fesselnde glückliche Familienvater Paul Juon am Wort, so spricht in dem fünf Jahre später, im Todesjahr seiner Frau Ekaterina, entstandenen Schwesterwerk Opus 50 (G-Dur) ein seine Lebensgefährtin durch ihre letzten Wochen und auf dem letzten Weg begleitender Ehemann: Seine Stimme ist tröstlich und zärtlich, zuversichtlich und mutig, und sie verschönt und adelt diese schwersten Stunden mit aller Suggestion der Erinnerung. Das so entstandene Werk wurde schon von Wilhelm Altmann als der Höhepunkt des Juonschen Schaffens gepriesen, und es hat auch nach fast einem Jahrhundert nur wenig von seiner unmittelbar berührenden Wirkung verloren. Es soll freilich nicht verschwiegen werden, daß - ganz wie etwa im Falle des in völlig analoger Lebenssituation zwei Jahrzehnte früher entstandenen ersten Klavierquartetts (e-moll, op. 75) des Brahms-Freundes Heinrich von Herzogenberg - eine ganze Ebene der musikalischen Botschaft dem Zuhörer unzugänglich bleiben muß: Wir sind hier Zeugen einer intimen, mit verborgenen Anspielungen und unentschlüsselbaren Hinweisen durchsetzten Zwiesprache, deren durchaus nicht wehleidige Wehmut aber so beredt ist, daß wir den Schlüssel zu den Geheimfächern erst gar nicht vermissen.
Im Gegensatz zu dem älteren Vorgängerwerk folgt Juons zweites Klavierquartett dem seit Schumanns Opus 47 für das Genre Klavierquartett nahezu obligat gewordenen viersätzigem Formschema mit dem Scherzo an zweiter Stelle (diese Dramaturgie findet sich nach Brahms` op. 25 und op. 60 auch in allen Klavierquartetten Faurés und Regers). So vergleichsweise konventionell aber auch der formale Rahmen erscheinen mag, so persönlich und eigenwillig sind die darin dargebotenen Inhalte. Im Kopfsatz (Moderato) spielt ein sich wie ein warnendes Vorzeichen immer wieder in Erinnerung bringendes Motiv aus zwei kurzen, erregt pochenden Akkorden eine zentrale Rolle - es ist dieses unscheinbare Detail, das auch über die unbeschwertesten Momente dieses Sonatensatzes seinen beunruhigenden Schatten wirft. Das diese Bangigkeit fortspinnende Scherzo (Presto non troppo, a-moll) trägt den für heutige Hörer nicht unproblematischen Titel »Zitternde Herzen«, balanciert aber diese Verletzlichkeit mit einem robusten, geradtaktigen Trio (D-Dur), das fraglose ländliche Geborgenheit ausstrahlt. In eben diese heile D-Dur-Welt will uns auch das pastorale Albumblatt für Klavier solo entführen, das sich in die C-Dur-Klage des dritten Satzes (Adagio lamentoso) eingenistet hat und das dann vom ganzen Ensemble auf abenteuerlichen Wegen wieder in die Ausgangslandschaft zurückgeführt wird. Der Schlußsatz (Allegro non troppo) hat schon in seinem alle zwölf Töne der chromatischen Skala berührenden Incipit eine unüberhörbare Neigung nach G-moll, gegen die sich die Dur-Grundtonart erst im allerletzten Takt dieses weiträumigen Finales endgültig durchzusetzen vermag. Eine zweite Konfliktebene eröffnet sich hier zwischen dem (wieder gleichermaßen auf slawische und skandinavische Vorbilder verweisenden) rustikalen Fünfvierteltakt und der urbaneren und westlicheren Geradtaktigkeit.
Das ein Jahr nach dem Tod der geliebten Widmungsträgerin im Rahmen des Tonkünstlerfestes des Allgemeinen Deutschen Musiker-Verbandes in Danzig am 30. Mai 1912 uraufgeführte Werk ist eine nahezu tränenlose, aber in ihrem erinnerungsschweren Reichtum umso berührendere Totenklage - und in diesem Sinne vielleicht ein Unicum in der gesamten Kammermusikliteratur.
Noch im Jahre dieser Uraufführung heiratet Juon die aus Vevey stammende Witwe seines Freundes Otto Hegner, Marie (genannt Armande) Hegner-Günthert. Mit ihr verläßt er im Jahr nach der nationalsozialistischen Machtübernahme Berlin und läßt sich in der Heimat seiner Vorfahren nieder; er stirbt am 21 August 1940 in Vevey und wird in Langenbruck (Basel) begraben. Seine in jüngster Vergangenheit, vor allem aufgrund des Wirkens der von Thomas Badrutt (1934-1999) gegründeten Internationalen Paul-Juon-Gesellschaft allmählich voranschreitende Wiederentdeckung bereichert das vielstimmige Panorama der Musik aus dem ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts um eine nicht unverzichtbare, aber sehr kostbare und eigenständige Facette.
Track 6: Klavierquartet op. 37 "Rhapsodie", II. Allegretto
Russische Komponisten und Pianisten. 11 e. Notenzitate m. U., o. O. u. D. (um 1930), eine Seite 4°. Eine Sammlung von Autographen bedeutender Musiker. Hier haben sich zwölf Musiker mit Notenzitaten auf 1 – 2 Systemen aus ihren eigenen Werken verewigt: Paul Juon (1872-1940), Nicolai Medtner (1880-1951), Sergei Prokofjew (1891-1953), aus seiner II. Symphonie, Sergei Rachmaninow (1873-1943), aus seiner II. Symphonie, Leonid Nikolaiew, Sergei Wassilenko, Reinhold Glière (1875-1956), Alexander Goedicke (1877-1957), Alexander Karzew (1883-1953) und anderen. Am Kopf die Bleistiftzeichnung des Porträts von Sergei Iwan Tanejew von M. Wutzer. (Quelle: KotteAutographs)
Die hier versammelten Gedichte stammen aus sieben Büchern und rund fünfunddreißig Jahren. Ihr Ablauf entspricht der Reihenfolge, in welcher diese Bücher erschienen sind; die sieben römischen Ziffern im Text geben einen Hinweis darauf, aus welchem Buch ich die der Zahl zugeordneten Gedichte entnommen habe. Was eint diese erstmals im Schnelldurchlauf vorgestellte Produktion?
Die hilfreichste Schublade für mein Dichten und Trachten war über Jahre mit K wie Komik beschriftet. Zu recht. Nicht, daß alle Produkte nun auch wirklich komisch gewesen wären oder es immer noch sind. Doch ist den frühen und mittleren Gedichten durchaus und fast durchgehend die Absicht anzumerken, komische Wirkungen zu erzielen. Gilt das auch noch für die späteren?
Nein, hörte ich hin und wieder nach Erscheinen des letzten Gedichtbandes, und bei einigen dieser Stimmen war ein enttäuschter, ja besorgter Unterton nicht zu überhören: »Jetzt geht also auch er den Weg aller alternden Komiker, wird weise, wertvoll und weinerlich - eigentlich schade…«
Nein - keine Rechtfertigungen! Auf die nämlich kann verzichten, wer eine These zur Hand hat, die den wehleidigen Gegensatz Komik - Ernst wenigstens so weit aufzuheben in der Lage ist, daß der ganze Diskurs auf einem ganz anderen Niveau weitergeführt werden kann. Die These aber lautet, daß alle Gedichte komisch sind, da das Gedicht die Komik vom ersten Tag an mit der Muttersprache eingesogen hat und bis auf den heutigen Tag von ihr durchtränkt ist, wenn auch manchmal in kaum mehr nachweisbarer Verdünnung bzw. Vergeistigung. Dazu ein paar Erläuterungen und Einschränkungen:
Den Begriff »Gedicht« verwende ich im verbreitetsten und plattesten Sinne: als sprachliche Mitteilung, die sich am Ende reimt. Ich weiß natürlich, daß es auch reimlose Gedichte gibt und andere Reime als den Endreim, doch zumindest in unserem Sprachraum ist er seit gut tausend Jahren das vorherrschende, manchmal sogar alleinherrschende Prinzip, nach welchem sich Worte dergestalt organisieren lassen, daß jeder Erwachsene »Ein Gedicht!« sagt und jedes Kind begreift, wie es gemacht wird: »Der Reim entspricht einer Neigung des Menschen, mit seiner Sprache zu spielen; genauer: Worte mit gleichklingenden Bestandteilen zusammenzustellen«, schreibt Karl Martin Schiller in seiner Einleitung des Steputat - so nämlich heißt der Verfasser des seit 1891 meistgenutzten deutschen Reimlexikons und wie beim Duden steht auch hier der Name fürs Werk -, und Schiller fährt fort: »Schon die Kinder tun das, wenn sie einander mit ihren Namen necken: Paul, Paul - Lügenmaul!« Das sei zwar »nichts weiter als hübsch gereimter Unsinn - und doch beginnt mit alledem der Reim bereits ein Mittel dessen zu werden, was wir Dichtung nennen.« So weit, so richtig - doch gilt das auch noch für Schillers Folgerung: »Ein magischer Vorgang im Rahmen der Sprache vollzieht sich, wenn wir reimen« -? Müßte es nicht heißen: »windiger Vorgang«?
Solange das Gedicht nur hübschen Unsinn mitteilt, ist es noch ganz und gar ehrlich. Die Worte Denker, Henker, Lenker und Schenker beispielsweise eint nichts als der Reim und die Tatsache, daß sie in dieser Reihenfolge im Steputat stehen; und solcher Beliebtheit müßte eigentlich auch das Werk Rechnung tragen, das sich ihr verdankt:
Ein Denker traf mal einen Henker und sagte: Gib mir deinen Lenker, dann bist du ein prima Schenker
- so oder ähnlich unschuldig würde wahrscheinlich das aufgeweckte Kind reimen und sich des offenkundigen Unsinns oder des zutage geförderten Nichtsinns freuen. Nicht so der Erwachsene in seinem unstillbaren Sinnbedarf und Sinnbedürfnis:
Einst Land der Dichter und der Denker, Dann Land der Richter und der Henker, Heut' Land der Schlichter und der Lenker -: Wann Land der Lichter? Wann der Schenker?
Kein gutes Gedicht, zugegeben, aber doch eines, das sich nicht sogleich und so einfach als Unsinn begreifen, belachen und abtun läßt. Allzu zwingend suggerieren Endreim, Binnenrein, Anfangsreim (Dann-Wann) und Stabreim (Land der Lichter), daß in diesen vier Zeilen irgend etwas zusammengewachsen ist, das irgendwie zutiefst zueinandergehört. Und wenn das Bankert der Vereinigung von Reimlexikon und Alphabet dann noch auf den Namen »Mein Land« getauft würde oder »Fragen an mein Land« oder gar »Denk ich an ... « - so müßte der Leser schon sehr gewitzt oder äußerst dickfellig sein, um den Vierzeiler als ganz und gar sinnlos zu entlarven bzw. zu empfinden -: Mach einer was gegen die Dichter.
»Wer schreibt, bleibt. Wer spricht, nicht« - nicht gerade ein richtiges Gedicht, doch ein weiteres gutes Beispiel dafür, mit welch simplen rhetorischen Reimtricks sich selbst relativ wache Köpfe einlullen lassen. Beispielsweise meiner. Jahrelang hatte ich diesen Merksatz immer dann mit viel Erfolg ins Feld geführt, wenn es galt, mein Dichtertum gegenüber anderen Tätigkeiten herauszustreichen und zu erhöhen, da plötzlich wagte jemand Einwände: Von vielen der weltweit berühmtesten Menschen sei doch keine geschriebene Zeile überliefert, nicht von Homer und nicht von Sokrates, nicht von Jesus und nicht von Dschingis Khan, nicht von Nofretete und nicht von Johanna von Orleans - und plötzlich war er gebrochen: der Reimzauber, welcher bis dahin so zuverlässig gewirkt hatte.
»Was bleibet aber stiften die Dichter« - wirklich? Ist es nicht vielmehr die Sprache selber, die das Dichterwort schamlos gängelt, indem sie hier Zusammenhänge verwehrt, dort in geradezu unsinniger Menge stiftet? 129 Reimwörter führt der Steputat für die Endsilbe »-at« an, von »Achat, Advokat, Aggregat« über »Rat (Titel), Rat (Hinweis), Rat (Körperschaft)« bis hin zu »ich lad, ich schad, ich verrat«. Dementsprechend breit kann der Dichter nichtsnutzige Vorgänge wie den folgenden ausmalen: Der Advokat aß grad Salat, als ihm ein Schrat die Saat zertrat. Nichts aber fiele dem gleichen Dichter ein, äße da nicht ein windiger Rechtsverdreher, sondern ein schlichter, dabei aber doch so unendlich viel wichtigerer »Mensch« seinen - ja, was eigentlich? Bekanntlich wissen weder der Steputat noch die deutsche Sprache einen Reim auf Mensch, und selbst ein so gewitzter Wortsucher wie Peter Rühmkorf wurde erst im Plural fündig:
Die schönsten Verse des Menschen - Nun finden Sie schon einen Reim! - Sind die Gottfried Bennschen: Hirn, lernäischer Leim.
Das Dichten gilt als Kunst, und ich bin der letzte, der da widerspräche. Nur besteht die Kunst des Dichters nicht darin, seine Empfindungen oder Gedanken in Reime zu kleiden, sondern in seiner Fähigkeit, Sätze, Worte und Reimwörter so zu reihen, daß sie Gedanken oder Empfindungen suggerieren, im Glücksfall sogar produzieren. Als Meister aber erweist der sich, der uns vergessen läßt, daß da überhaupt gereimt wird. Das kann beim Lesen, häufiger noch beim Hören der Gedichte von, beispielsweise, Goethe, Mörike oder Brecht geschehen, und bezaubert fragen wir nicht lange, wieso uns das Mitgeteilte eigentlich dermaßen einleuchtet: Wir wollen ja auch nicht wissen, was die Kugeln wiegen und wieso sie dem Jongleur nicht runterfallen, sondern uns der schönen Täuschung hingeben, daß die Schwerkraft augenscheinlich doch zu überlisten oder gar ganz außer Kraft zu setzen ist.
Wo ein Vorhaben gelingen soll, kann es auch scheitern. Immer wieder unterlaufen selbst erfahrenen Dichtern Gedichte, in welchen die zutiefst komische Qualität aller vom Reim gelenkten Sinn- und Beziehungsstiftung bloßgelegt wird. Wenn ein formstrenger Dichter wie August von Platen sich und der Sprache den Kraftakt zumutet, acht plausible Reime auf »Wunde nichts« zu finden, ohne daß sein Gedicht in blanke Beliebigkeit oder puren Nichtsinn abrutscht -:
Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde nichts, Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der Gesunde nichts;
- dann kann der Leser das angestrengte Ergebnis ehrfürchtig bestaunen; er mag einwenden, daß man sich nicht »nichts« an etwas kehren kann, sondern lediglich »nicht«; er darf das Mißverhältnis von Aufwand und Ertrag jedoch auch innig belächeln:
Und wer sich willig nicht ergibt dem ehrnen Lose, das ihm dräut, Der zürnt ins Grab sich rettungslos und fühlt in dessen Schlunde nichts;
- als ob es so schrecklich erstrebenswert wäre, auch noch als Toter und noch im Grabe etwas zu fühlen.
Lächeln, ja lachen darf der Leser jedoch auch dann, wenn Clemens Brentano den Reim nicht wie Platen in die Zucht des Gedankens nimmt, sondern im Gegenteil dermaßen die Zügel schleifen läßt, daß sein Gedicht jedweden Sinn in Grund und Boden reimt:
- und wenn das so ist, dann folgt daraus natürlich auch:
Träumt das blinde Huhn, es zähl die Kerne, Und der drei je zählte kaum, die Sterne,
- und nach der achten Zeile schließlich glaubt uns der Dichter reif für die nun völlig rätselhaften, dafür zur Sicherheit gleich durch dreifachen Reim verklammerten Zeilen:
Träumt die taube Nüchternheit, sie lausche, Wie der Traube Schüchternheit berausche;
- ein Gedicht, das in keiner Anthologie deutscher Unsinnsdichtung fehlen dürfte, von den zuständigen Stellen jedoch hartnäckig dem literarischen Tiefsinn zugerechnet und dementsprechend interpretiert, hofiert und glorifiziert wird.
Um Komik und Ernst war es zu Beginn dieser Überlegungen gegangen, einigermaßen folgerichtig sind wir bei den Grenzen gelandet, die Sinn und Unsinn scheiden, derart undeutlichen Markierungen, daß auch der gewitzteste Kartograph nicht weiterhelfen kann: Immer wieder nämlich finden sich Gedichte, die keinem der Bereiche eindeutig zuzuordnen sind; Gebilde, in welchen der Sinn langsam, fast unmerklich in Nichtsinn oder Unsinn übergeht. In anderen aber kippt er urplötzlich, und das gerade dann, wenn der Dichter ein Übermaß an Sinn produzieren, suggerieren oder schlicht ergaunern wollte, siehe Platens »Wunde nichts«-Variationen, aber auch mein Gedicht »Deutung eines allegorischen Gemäldes« -: alles Sinn-Implosionen, die teils unfreiwillig, teils beabsichtigt Komik freisetzen.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen, niemand ist gerne ungeschützt jener Kritik und Lächerlichkeit ausgesetzt, die bei jedermann erkennbaren Stör- und Unglücksfällen sich zuverlässig einstellt -: Kein Wunder, daß die Ernst-Dichter im Laufe dieses Jahrhunderts immer entschlossener immer mehr Regelsysteme über Bord warfen, nicht nur den Reim, auch den Vers, das Metrum, den Takt und den Rhythmus. Als ich zu dichten begann, Anfang der 60er, war das Gedicht eine relativ kurze reimlose Mitteilung, die aus meist unerfindlichen Gründen nicht in durchlaufenden, sondern vielfach zerstückelten Zeilen abgesetzt wurde, von Leerzeilen unterbrochen und auf möglichst viel umgebendem Weiß, ganz so, wie es bereits Lewis Carroll in Alice im Wunderland dem Dichter geraten hatte:
Wir schreiben eine Zeile Dann hacken wir sie klein Dann würfeln wir die Teile In bunt gemischte Reih'n Der Wörter Reihenfolge muß Nicht unsre Sorge sein.
Da nun konnte nichts so richtig schiefgehen, aber auch nichts so recht gelingen. Künstler, die Regeln verwerfen, gleichen Jongleuren, die sich von ihren Kugeln befreien: Kein Dichter mußte fortan mehr befürchten, an der Regel gemessen oder von ihr gefressen zu werden, doch bezahlte er diese Sicherheit mit dem Verzicht auf jene glorreichen Augenblicke, in welchen die Regel nicht an dem zuschanden wird, der sie auftrumpfend zerbricht, sondern an dem, der sie lachhaft mühelos meistert.
Reim oder Nichtreim - für mich war das schon damals keine Frage. Ich brauchte die Regel, solange ich eindeutig auf Komik oder Nonsens aus war - Komik lebt von der Regelverletzung, und Nonsens ist nicht etwa jener hausbackene Unsinn, der ungeregelt in launigen Lautgedichten, krausen Collagen und absurden Verbalautomatismen wuchert, sondern konsequent, also regelmäßig, verweigerter Sinn -, und ich liebe die Regel nach wie vor, weil sie beides ist, Widerstand und Wegweiser: Da geht's lang, nicht aufgeben, hier mußt du durch.
Sich heute noch ernsthaft auf das uralte Reim- und Regelspiel einzulassen, ist, meine ich, schon mal per se komisch. Einfach war es nie, doch in Jahrhunderten gebundener Dichtung hat sich sein Schwierigkeitsgrad erheblich gesteigert. Daraus haben Verzagte wie Arno Holz gefolgert, daß nichts mehr gehe: »Der Erste, der - vor Jahrhunderten! - auf Sonne Wonne reimte, auf Herz Schmerz und auf Brust Lust, war ein Genie; der Tausendste, vorausgesetzt, daß die Folge ihn nicht bereits genierte, ein Kretin.«
Falsch, ganz falsch: Der Erste, der Brust auf Lust reimte, war ein braver Mann, der Einmillionste aber, dem es gelingt, die beiden Begriffe einleuchtend, einschmeichelnd oder auch nur eingängig zu paaren, ist ein Genie, zumindest ein achtenswerter Artist.
Das Knebellied
Der zweite Teil ist wie mit geknebeltem Munde zu sprechen
»Gib mir den Säbel, liebes Kind, Und sag mir, wo die Knebel sind. Denn heute, heute gehts drauf und dran, Die Türken, die Türken greifen an!«
So sprach der Bursch und zog aus mit Hurrah. Erst nach siebzehn Stunden war er wieder da:
Ich leide an Versagensangst, besonders, wenn ich dichte. Die Angst, die machte mir bereits manch schönen Reim zuschanden.
(II)
Paris ojaja
Oja! Auch ich war in Parih Oja! Ich sah den Luver Oja! Ich hörte an der Sehn die Wifdegohle-Rufer
Oja! Ich kenn' die Tüllerien Oja! Das Schöhdepohme Oja! Ich ging von Notterdam a pjeh zum Plahs Wangdohme
Oja! Ich war in Sackerköhr Oja! Auf dem Mongmatter Oja! Ich traf am Mongpahnass den Dichter Schang Poll Satter
Oja! Ich kenne mein Parih. Mäh wih!
(III)
Dreißigwortegedicht
Siebzehn Worte schreibe ich auf dies leere Blatt, acht hab' ich bereits vertan, jetzt schon sechzehn und es hat alles längst mehr keinen Sinn, ich schreibe lieber dreißig hin: Dreißig.
(III)
Schöpfer und Geschöpfe
Am siebenten Tage aber legte Gott die Hände in den Schoß und sprach:
Ich hab vielleicht was durchgemacht, ich hab den Mensch, den Lurch gemacht, sind beide schwer mißraten.
Ich hab den Storch, den Hecht gemacht, hab sie mehr schlecht als recht gemacht, man sollte sie gleich braten.
Ich hab die Nacht, das Licht gemacht, hab beide schlicht um schlicht gemacht, mehr konnte ich nicht geben.
Ich hab das All, das Nichts gemacht, ich fürchte, es hat nichts gebracht. Na ja. Man wird's erleben.
(IV)
Schön, schöner, am schönsten
Schön ist es, Champagner bis zum Anschlag zu trinken und dabei den süßen Mädels zuzuwinken: Das ist schön.
Schöner ist es, andere Menschen davor zu bewahren, allzusehr auf weltliche Werte abzufahren: Das ist schöner.
Noch schöner ist es, speziell der Jugend aller Rassen eine Ahnung von geistigen Gütern zukommen zu lassen: Das ist noch schöner.
Am schönsten ist es, mit so geretteten süßen Geschöpfen einige gute Flaschen Schampus zu köpfen: Das ist am allerschönsten.
(IV)
Gespräch mit dem Engel
Ein Geräusch in der Luft, wie von großen Maschinen: »Sagn Sie mal - läßt sich das nicht abstellen?« »Damit kann ich leider nicht dienen.
Das ist das Stöhnen Gottes beim Betrachten seiner Welten. Das heißt: Manchmal lacht er auch über sie. Aber selten.«
Als aber in der finsteren Nacht die junge Frau das Kind zur Welt gebracht, da haben das nur zwei Tiere gesehn, die taten grad um die Krippen stehn.
Es waren ein Ochs und ein Eselein, die dauerte das Kindlein so klein, das da lag ganz ohne Schutz und Haar zwischen dem frierenden Elternpaar.
Da sprach der Ochs: »Ich geb dir mein Horn. So bist du wenigstens sicher vorn.« Da sprach der Esel: »Nimm meinen Schwanz, auf daß du dich hinten wehren kannst.«
Da dankte die junge Frau, und das Kind empfing Hörner vorn und ein Schwänzlein hint. Und ein Hund hat es in den Schlaf gebellt. So kam der Teufel auf die Welt.
(VI)
Sonntag in Lübeck
Wie sie kauend durch die Straßen schieben! - Du mußt diese Menschen nicht lieben.
Wie sie gekleidet sind, die Ungeschlachten! - Du mußt diese Menschen nicht achten.
Wie erfreulich es wär, wenn sie weniger wögen! - Du mußt diese Menschen nicht mögen.
Wie sie durch ihre Stumpfheit entsetzen! - Du mußt diese Menschen nicht schätzen.
Wie schafft man es nur, sie nicht zu hassen? - Da mußt du dir etwas einfallen lassen.
O daß doch die Armen es niemals erführen, wie gut es tut, etwas reich zu sein. Zumindest so reich, daß man sich die Armen, so gut es geht, vom Leib halten kann.
O daß doch die Armen es niemals erahnten, wie schön es sich lebt, wenn die Kohlen stimmen. Dann stimmt auch die Lage der Villa am Waldsee und der Abstand zu jenen, bei denen's nicht stimmt.
O daß doch die Armen es niemals erlebten, wie lang es noch licht ist des Abends am Wasser, wenn schweigend der Wald steht und Gäste laut rühmen: »Direkt wie jemalt!« - »Unbezahlbar die Ruhe!«
O daß doch die Armen es niemals ersehnten, wie jene zu sein, die auf Terrassen, vom Flieder umstanden, beschirmt von Kastanien, die scheidende Sonne mit goldnem Glas grüßen.
O daß es doch niemand den Armen erzählte, sie müßten sich nicht mal durch Brei hindurchfressen. Das Schlaraffenland läge direkt um die Ecke: »Es liegt nur an euch, euch dort breitzumachen.«
Die Texte wurden ursprünglich in folgenden Bänden veröffentlicht: (I) Die Wahrheit über Arnold Hau. Frankfurt a. M.: Bärmeier & Nikel, 1966. (II) Besternte Ernte. Gedichte aus fünfzehn Jahren. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins, 1976. (III) Wörtersee. Gedichte und Bildgedichte. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins, 1981. (IV) Körper in Cafes. Gedichte. Zürich: Haffmans, 1987. (V) Weiche Ziele. Gedichte 1984-1994. Zürich: Haffmans, 1994. (VI) Lichte Gedichte. Zürich: Haffmans, 1997. (VII) Klappaltar. Drei Hommagen. Zürich: Haffmans, 1998. (VIII) Berliner Zehner. Hauptstadtgedichte. Zürich: Haffmans, 2001. (IX) Im Glück und anderswo. Gedichte. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2002.
Bis heute changieren die Wertungen der historischen Position Max Regers, der den einen als später Erbe der klassisch-romantischen Tradition, den anderen als Wegbereiter in der Vorgeschichte der Moderne scheint. Als Reger um die Jahrhundertwende erste öffentliche Beachtung fand, hatte er bereits 50 Werke geschrieben: Kammermusik, Lieder, Orgelwerke, Klavierstücke - tradierte Gattungen der absoluten Musik in der Nachfolge des Dreigestirns Bach - Beethoven - Brahms. Nach welchen Kategorien man sie beurteilen sollte, war unklar; eindeutig war allein, daß sie nicht mit den Vorstellungen der musikalischen Moderne zu vereinen waren, die sich auf Musikdramen und Sinfonische Dichtungen konzentrierte. Wie Reger jedoch innerhalb der tradierten Gattungen und Formen das musikalische Material komplizierte und bis zu den Grenzen des Erlaubten erprobte, setzte ihn, bei allem anerkannten satztechnischen Können, dem Verdacht aus, ein Umstürzler im Schafspelz zu sein. […]
Die Kammermusik war in der Zeit üppiger Besetzungen, monumentaler Großformen und programmatischer Inhalte eine wenig aktuelle Gattung, die ihren Aufschwung erst zwei Jahrzehnte später in der Neuen Musik finden sollte. Den zeitgenössischen Tendenzen zum Trotz schrieb Reger zeitlebens - von der Violinsonate op. 1 bis zum Klarinetten-Quintett op. 146 - Werke diverser kammermusikalischer Besetzung: vom Solostück für Streicher bis zum Streichsextett, von der Violin-Klaviersonate bis zum Klavierquintett, von der Flötenserenade bis zum Klarinettenquintett.
[…] Es war ausgerechnet Regers Kompositionslehrer Hugo Riemann, der zu Beginn dieses Jahrhunderts die Formenlehre zu einem strengen Wertesystem ausbaute. Nach dem Vorstellungsmodell eines organischen Kunstwerks verlangte er vom Streichquartett als hierarchisch höchster Gattung Konsequenz, innere Notwendigkeit, ja Zwangsläufigkeit der Entwicklung. Alle Musik, die anderen Entwicklungsprinzipien als den von Beethoven und Brahms abgeleiteten folgte, geriet in den Verdacht der Willkür, eine theoretisierende Voraussetzung, die bis heute Regers Werk überschattet.
Der Zwiespalt, der Regers historische und ästhetische Position bestimmen sollte, war in seiner kompositorischen Entwicklung quasi vorprogrammiert. Im Sommer 1888 hatte der 15-jährige unter einem überwältigenden Bayreuther Parzifal-Erlebnis den Entschluß gefaßt, Musiker zu werden, und ganz im Banne dieses Erlebnisses eine 120-seitige Ouvertüre komponiert, die noch im November des Jahres der Autorität Riemann zur Beurteilung vorgelegt wurde. Dieser erkannte Regers großes_Talent, warnte jedoch vor dem »Bayreuther Gift«und empfahl zur Entwicklung des melodischen Sinnes die Komposition von Streichquartetten. Während Reger sich autodidaktisch weiterbildete, entstand sein erstes dreisätziges Streichquartett in d moll, das der 16-jährige im Juni 1889 wiederum Riemann vorlegte, mit der Bitte, seine Eignung zum Komponisten zu beurteilen. Riemanns Urteil fiel positiv aus und auch eine weitere Kapazität, der konservative Komponist Joseph Rheinberger, entdeckte in dem Quartett trotz Unreife genügendes Talent, um eine musikalische Laufbahn zu wagen.
Reger hat diesem Werk keine Opuszahl gegeben und wollte es als blosses Studienwerk nicht veröffentlicht wissen. Doch gerade weil es vor Beginn des eigentlichen Kompositionsstudiums bei Riemann entstand, verdient es Beachtung. Stärker als die unter dessen Aufsicht entstandenen Kammermusikwerke op. 1 bis 5 trägt es keimhafte persönliche Züge, die auf den späteren Reger hinweisen. Während er in jenen mit fast musterschülerhaftem Eifer seine Fertigkeit in neu erlernten Kompositionsverfahren beweist, an deren Spitze die Brahmssche entwickelnde Variation und durchbrochene Arbeit stehen, tritt hier bei aller Beethoven-Abhängigkeit eine Regersehe Besonderheit zutage - mag sie als Schwäche oder Eigenart gedeutet werden: Sein Denken in knappen Motiven von einer gewissen Kurzatmigkeit, die in oft unvermitteltem Nebeneinander stehen.
Wiederholung und Kontrast sind ihm wichtigste Baumittel, ganz im Gegensatz zur postulierten Zwangsläufigkeit motivischer Arbeit. Reger hat dem Werk drei Sätze gegeben und im programmatisch titulierten Finale Aufschwung den vier Instrumenten einen Kontrabaß zugesellt. Deutlich wird schon in diesem satztechnisch noch unerfahrenen Jugendwerk, daß die nuancierte Dynamik, die in großangelegten Steigerungsbögen wie in aprupten Gegensätzen zwischen den Extremen ppp und fff verläuft, ein wesentliches Gestaltungsmoment ist.
Was Reger in jugendlich naiver Beethoven-Begeisterung geschaffen hatte, sollte ihm im Bewußtsein des kompositorischen Anspruchs so bald nicht wieder gelingen. Zwar plante er während der Ausbildung bei Riemann ein Streichquartett, dessen Schlußfuge eine »Hölle von Kontrapunkt« sein sollte. Doch erst nach 12 Jahren und mit den kompositorischen Erfahrungen seiner großen Orgelwerke, in denen er zu seiner persönlichen Sprache gefunden hatte, wagte Reger den Schritt erneut und komponierte im November 1900 sein erstes einer Opuszahl würdig gefundenes Quartett g-moll op. 54, Nr. l. Obwohl ihn die Komposition »stark in Anspruch« nahm, war er schon bald »über dem letzten Satz; einer urfidelen Schlußfuge freiesten Stils natürlich.« (14.11.1900). Das nach Aussage des Komponisten »im ersten und 3. Satz (Largo) sehr schwer verständliche Werk« hätte noch im selben Winter aufgeführt werden sollen, »wenn sich nicht ein Herr des betr. Quartetts so sehr geweigert hätte, solch 'verrücktes' Zeug zu spielen« (Reger an Kroyer, 29.12.1900 und 14.3.1901).
CD 1 Track 6 - Streichquartett op. 54 Nr 1 in g moll - III. Largo mesto
Was ist nun so verrückt und verwirrend, daß das Werk erst 10 Jahre später uraufgeführt wurde? (26.10.1910 durch das Münchner Hösl-Quartett). […] Schon die Satzbezeichnungen geben einen Hinweis auf die drängende Vitalität und expressive Eindringlichkeit des Werkes. Vor allem der Kopfsatz, der mit instabiler Tonalität in weiter Intervallspannung und stürmischer Bewegung zu dynamischen Eskalationen drängt, denen abrupter Stillstand folgt, verlangt eine hitzige, dem Siedepunkt nahe Interpretation. So zielt der Vorwurf der wirren Konfusion und verrückten Ziellosigkeit zum einen auf die gegenüber traditioneller motivischer Arbeit rudimentär erscheinende Entwicklung, deren Grundlage weniger das Thema als dessen rhythmische, harmonische oder melodische Teilmomente bilden, die in eine kaum realisierbare Fülle von Nuancen und Einzelheiten zerfallen. Zum anderen widerspricht die aufgewühlte »Nervenmusik« mit ihren nie zur Lösung kommenden Ausbrüchen dem Postulat esoterischer, hochgeistiger Quartettkomposition. Den Nachweis »folgerichtiger«, d.h. einzig möglicher Entwicklung verweigert Reger in jeder Beziehung - ihm ist das Werk nicht Notwendigkeit, sondern Summe der Möglichkeiten, für deren eine er sich notgedrungen entscheiden muß.
Das Quartett in A dur op. 54, Nr. 2 entstand als letztes Weidener Werk nicht unmittelbar nach dem g moll Quartett, sondern erst Ende April bis Mitte Juni 1901. Zuvor komponierte Reger das Klavierquintett op. 64, ein wildes Werk voll massiver Klangeruptionen, von dichtester Faktur und größter Komplexität, das selbst dem Komponisten derart revolutionär erschien, daß er die Veröffentlichung zurückstellte. Die nach dieser Großtat erklärliche Sehnsucht nach Entspannung mag Ursache dafür sein, daß das A dur Quartett neben seinem Schwesterwerk zurückgenommen wirkt. Doch trotz der lichten Tonartenwahl, der Dreisätzigkeit und der Konzentrierung auf den »freundlichen« ausgedehnten Variations-Mittelsatz ist die Harmlosigkeit nur relativ. Schon der Eröffnungssatz Allegro assai e bizzaro widerspricht der Absicht: bizzar ist der Wechsel zwischen Spiel, Meditation und Ausbrüchen, bizzar manche rhythmische Komplikation oder die auf jedem Taktteil wechselnde Harmonik, bizarr auch die Auflösung des Themas in eine Vielfalt von Einzelereignissen und ihre variative Ausarbeitung. Dem Variationssatz liegt der Satzbezeichnung Andante semplice zum Trotze ein asymmetrisches 13-taktiges Thema zugrunde, dessen harmonische und melodische Gliederungspunkte einander widersprechen. Und auch das Finale Allegro vivace con spirito macht dem verlangten con spirito mit überraschenden Wendungen alle Ehre.
Die Uraufführung 1904 durch das Hösl-Quartett entsetzte Reger: »Da ist nicht ein Accord rein; keiner weiß, was u. wie er zu spielen hat! Ich hab' es in den ersten Proben versucht, 'rettend' einzugreifen - allein ich bin so 'angegrobst' worden, daß ich nach der 2. Probe nicht mehr hinging. D.h. Hösl [Josef Hösl (1869-1942)] gibt sich die größte Mühe - aber die 3 anderen Herren wollen nicht; in Folge dessen klingt mein Quartett, als wenn es ein absolut betrunkener Faun komponiert hätte.« (25.4.1904 an Kroyer). Dies zeigt nur die Hilflosigkeit angesichts eines Werkes, demgegenüber »Beethovens letzte Quartette… sowohl in geistiger wie technischer Hinsicht« als »reines Kinderspiel« erschienen und bei dem man »die Grenzen der edlen und schönen Musik überschritten« sah (Wilhelm Altmann in: Die Musik, 2. Jg, 1903/04, Heft 7, S. 42).
So bedurfte es einer Reihe von Jahren und der langsam auflebenden Ensemble-Kultur, daß Reger sich erneut zur Quartett-Korpposition ermuntert sah. Der Gedanke daran wurde im März 1903 durch ein Konzert geweckt: »Heute abend Brüsseler Streichquartett; die Herren spielen ganz wundervoll! Ich gedenke balde Streichquartett zu schreiben - in meinem Kopfe spukt hie u. da so was.« (29.3.1903 an seine Verleger Lauterbach & Kuhn). Doch zunächst traten andere Kompositionen in den Vordergrund - das erste große Orchesterchorwerk Gesang der Verklärten op. 71, die Violinsonate in C dur op. 72 und die Orgelvariationen op. 73. Daneben nahm ihn die Arbeit am Nachlaß des jüngst verstorbenen Hugo Wolf - darunter auch die Herausgabe von dessen Streichquartett d moll - stark in Anspruch. So konnte Reger sich erst in den ersten Oktobertagen 1903 der Quartettkomposition zuwenden, die unter großer Anspannung vorangetrieben wurde und mit Einreichen des Manuskripts noch im November abgeschlossen wurde.
Dieses Quartett sinfonischen Ausmaßes zählt zum Avanciertesten, was vor Schönbergs Bruch mit der Tonalität geschrieben wurde. Vor dem Hintergrund der vertrauten Quartett-Tradition muß es ungeheuer provokativ gewirkt haben. Erneut widersprechen zwei Momente eklatant den Erwartungen an die Gattung - der tief erregte Ausdruck und die chaotisch wirkenden permanenten Veränderungen jedes musikalischen Parameters. Die Uraufführung war für das Frankfurter Tonkünstlerfest geplant, dem wichtigsten Forum der damaligen Moderne; wegen Erkrankung eines Quartettmitglieds wurde sie jedoch kurzfristig abgesetzt und durch die berüchtigte Violinsonate C dur op. 72 ersetzt, die die Grundtonart konsequent und raffiniert vermeidet und den Philistern die Themen s c h a f e und a f f e ins Gesicht schleudert. Ihre vielbeachtete Aufführung wurde zu einem Markstein der Reger-Rezeption: Sie machte Reger zum enfant terrible der deutschen Kammermusik, um den sich Groß- und Kleinstädte rissen, da jeder Auftritt eine Sensation versprach.
CD 2 Track 2 - Streichquartett op. 74 in d moll - II. Vivace
Als Kuriosum sei erwähnt, daß mehrere Zeitungen Verrisse des nicht gespielten Quartetts brachten - in die Irre geleitet durch eine Analyse, die Reger in der zum Tonkünstlerfest erschienenen Zeitung Die Musik veröffentlicht hatte. Regers Erläuterungen sind aufschlußreich. Er hebt die Ausdrucksqualität hervor, die leidenschaftlichen Steigerungsbögen ebenso wie die schroffen Wechsel und scharfen Dissonanzen. Er spricht vom stürmisch erregten 1. Satz, dem »Spuk des 2. Satzes« mit »kreuzfidelem Thema«, »wohl auch ironisch gemeinten« Wendungen, und einem kurzen schwermütigen Zwischensatz. Der 3. Satz wird als »einfaches Thema mit 11 Variationen« kaum erwähnt, das rondoförmige Finale als »übermütiges Streifen auf verbotenen Wegen« mit der »gestrengen Maske eines scheinbaren Fugatos« beschrieben.
Kleine Seitenhiebe gelten den Philistern, die hinter jedem Vorzeichen »eine perverse musikalische Ader« wittern. Nachdrücklich betont Reger, das Werk fuße auf keinem versteckten Programm: »Das Werk will nur Musik sein. Es steht jederman frei, sich dabei etwas zu denken oder nicht.« Daß es dabei mehr als »tönend bewegte Form« ist, zeigt ein Hinweis, den er seinen Verlegern gibt: »Op 74 ist nicht technisch, sondern musikalisch u. seelisch schwer; die Tragik des 1. Satzes herauszuholen, ist das Schwere; der 3. Satz (Variationensatz, vgl. Böcklin »der geigende Eremit«) ist musikalisch schwer; der 4. Satz mit seinem befreiten Humor ist nicht schwer. Das Scherzo (2. Satz) klingt 'urputzig'«! (30.12.1904). […]
Der schwierigen Aufgabe einer ebenso eindringlichen wie rasanten Interpretation nahmen sich nun langsam auch die renommierten Quartette an, zuletzt auch Regers Traumensemble - das Böhmische Streichquartett, dessen internationale Karriere 1893 mit einem auch von Brahms besuchten Wiener Konzert begonnen hatte und das seither das Quartettspiel revolutioniert hatte. Der Geiger Carl Flesch scheibt in seinen Erinnerungen eines Geigers:»Sein Erscheinen bedeutete einen Wendepunkt in der Geschichte des Quartettspiels. War man bis dahin daran gewöhnt, in einer solchen Vereinigung hauptsächlich eine Folie für den dominierenden Primarius zu sehen, wie dies vor allem im Joachim-Quartett der Fall war. […] Urplötzlich erschienen nun zu Anfang der neunziger Jahre drei junge und ein älterer Musiker aus Prag auf dem Wiener Konzertpodium, die vollkommen gleichwertig, mit unerhörter Intensität, Frische und technischer Vollkommenheit das Blaue vom Himmel heruntergeigten […] Hier hörte man zum erstenmal Zusammenspiel von vier gleichberechtigten Instrumenten, von vier gleich tief empfindenden, technisch auf gleicher Höhe stehenden Individualisten« (Zürich 1960, S. 121).
Möglicherweise inspiriert durch ein gemeinsames Konzert, bei dem sich Reger und die »Böhmen« zum Brahmsschen Klavier-Quintett zusammenfanden, wandte sich Reger nach mehrjähriger Pause im März 1909 erneut dem Streichquartett zu. Schon im Mai 1909 vollendet, wurde das vierte Quartett Es-dur op. 109 direkt nach seinem Erscheinen in Frankfurt durch das Museumsquartett uraufgeführt (30.9.1909); kurz darauf nahm das Böhmische Streichquartett das neue Werk auf eine triumphale Tournee noch Berlin, Prag, München und Leipzig und trug viel zu seiner Akzeptanz bei: »Was soll man mehr bewundern, das elfengleiche Vorbeihuschen des Prestos oder die wie Orgelsatz klingende Einleitung des dritten Satzes? Eine außerordentliche Glanzleistung war die Ausführung der Fuge, die mit einer Durchsichtigkeit und Klarheit erfolgte, die billig in Erstaunen setzte« (Dortmunder Zeitung vom 10.5.1910).
Reger widmete das Es dur QuartettAdolf Wach, dem Schwiegersohn Felix Mendelssohn-Bartholdys, der als angesehener Jurist und Mitglied der Gewandhaus-Direktion zwei Jahre zuvor einer der wichtigsten Befürworter gewesen war, den katholischen Neutöner ins konservative, erzprotestantische Leipzig zu holen. Mit ihm entwickelte sich eine enge Freundschaft, die auch Regers Umzug nach Meiningen und Jena überdauern sollte. Vielleicht ist es eine Hommage an den Widmungsträger und seinen Onkel, daß dieses Quartett nicht zu den radikalen Kompositionen Regers zählt. Gegenüber seinen wilden Vorgängern ist der Ausdruck gemäßigter, die Stimmführung kantabler und die Harmonik stabiler. Nicht nur das Fugen-Finale gibt den Musikern so recht die Gelegenheit, die Kunst des gleichberechtigten Zusammenspiels - Inbegriff aller Quartett-Kunst - zu demonstrieren.
Im Februar 1911 nahm Reger zum 1. Dezember 1911 die Berufung an die Spitze des traditionsreichen Meininger Hoforchesters an, das schon Hans von Bülow, Fritz Steinbach und Richard Strauss zu großen Erfolgen geführt hatten. Von nun an trat die Orchesterkomposition in den Vordergrund des schöpferischen Interesses. Doch zuvor noch begann er die Komposition seines letzten Streichquartetts, das die Freundschaft mit dem Böhmischen Streichquartett besiegeln und bleibend dokumentieren sollte: Sein Streichquartett fis-moll op. 121 ist »Dem Böhmischen Streichquartett freundschaftliehst zugeeignet«. Die Ausarbeitung und Vollendung zog sich von März bis Anfang Juli hin, fiel also in eine Zeit der Vorfreude auf die bevorstehende Tätigkeit. In den Sommermonaten gedruckt, konnte es sogleich zu Saisonbeginn am 11. Oktober 1911 von den Widmungsträgern in Dresden uraufgeführt werden.
[…] Es handelt sich also um ein Werk von höchstem kompositorischen Anspruch, wovon selbstkritische Streichungen im Manuskript zumal des ersten Satzes auch optisches Zeugnis geben. Seine formale Gliederung ist klar in den Umrissen, die motivische Arbeit jedoch vage und skizzenhaft. Gegenüber dem gemäßigteren Es-dur-Quartett op. 109 ist es kühner im Ausdruck; bis an die Grenze der Tonalität erweitert ist die taktweise changierende, durchchromatisierte Harmonik, die die Tonart oftmals in der Schwebe läßt und impressionistischen Farbzauber hervorruft; ein Schwebezustand herrscht oft auch in der Metrik, deren asymmetrische Bildungen den Taktschwerpunkt verschleiern. Im Schlußsatz Allegro con spirito demonstriert wiederum kontrapunktische Finesse Regers Vorstellung von »geistvoller« kompositorischer Arbeit.
Dieser Schwebezustand, das Verschwimmende, der »Nebel eigentümlichsten Schaffens«, wie es ein Kritiker ausdrückte, bereitete den Zeitgenossen größte Verständnisprobleme; sie deuteten das farbenreich Hingeworfene nicht als fortschrittlich, sondern als unausgereift: »Max Reger ist Hofrat geworden: das ist der Hintergrund des Quartetts. Aber der Hofrat steht im wilden Wirbel hastigen Ruhmes. Und das merkt man dem neuen Quartett ebenso an wie der Mehrzahl der jüngeren Werke des Komponisten Reger. Das Hingeworfene, das Übereilte, das Ungeklärte, das Ungereifte drängt wieder stark in den Vordergrund. Man muß es sagen, daß von eigentlicher 'kompositorischer Arbeit' in dem neuen Quartett blutwenig zu hören ist… Hart im Raum stoßen sich die gegnerischen Tonarten. Gelegentlich wird zwischen zwei tonal vollkommen fremden Partien eine Floskel von zwei, drei Tönen, die eines der Instrumente solo spielt, eingeschoben, und das markiert dann eine Brücke« (Kritik der Dresdner Uraufführung).
[…] Wesentlich für die Rezeption der Regerschen Quartette ist es, sie nicht als Produkt der Willkür, sondern als Ergebnis einer überbordenden Kreativität zu begreifen, bei der die Intensivierung des Ausdrucks das leitende Kompositionsprinzip ist, die an den Höhepunkten bis zur Aufgabe der tradierten motivischen Arbeit führen kann. Bei einer inspirierten und den nuancierten Anweisungen des Komponisten folgenden Interpretation kann die hochexpressive Wirkung seiner Streichquartette nicht verloren gehen.
Quartet in D minor (1888/89) 24'53 (1) Allegro energico 10'42 (2) Adagio 7'20 (3) Finale »Aufschwung« * 6'51
Quartet op. 54 No. 1 in G minor 27'25 (4) Allegro agitato 11'31 (5) Vivace assai 3'04 (6) Largo mesto 6'51 (7) Prestissimo assai 5'59
Quartett op. 54 No. 2 in A major 20'29 (8) Allegro assai e bizarro 7'26 (9) Andante semplice con Variazioni 5'50 (10) Allegro vivace con spirito 7'13
CD 2 53'15
Quartet op. 74 in D minor (1) Allegro agitato e vivace 20'33 (2) Vivace 4'03 (3) Andante sostenuto con Variazioni 18'15 (4) Allegro con spirito e vivace 10'17
CD 3 74'17
Quartet op. 109 in E f1at major 35'44 (1) Allegro moderato 12'40 (2) Quasi presto 4'33 (3) Larghetto 9'40 (4) Allegro con grazia 8'51
Quartet op. 121 in F sharp minor 38'02 (5) Allegro espressivo 12'04 (6) Vivace 4'55 (7) Adagio 11'16 (8) Allegro con spirito 9'47
Berner Streichquartett: Alexander van Wijnkoop, Violin Christine Ragaz, Violin Henrik Crafoord, Viola Angela Schwartz, Violoncello
Kupkas frühe Arbeiten offenbaren seine Suche nach einer transzendenten Wahrheit beziehungsweise einem metaphysischen, philosophischen und ästhetischen Sinn. Seine kulturellen, historischen und künstlerischen Bezugspunkte sind vielfältig: hinduistisch, ägyptisch (Der Weg der Stille), griechisch, und nahöstlich. Überdies führt er eine Bildsprache ein, die prähistorische oder suprakulturelle - kosmische oder organizistische - Assoziationen weckt. Die Vielfalt dieser Bezugspunkte ist typisch für Kupkas Denk- und Arbeitsweise. Sie befindet sich zudem im Einklang mit den zahlreichen synkretistischen utopischen Philosophiesystemen, die im Laufe des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts in Blüte standen und im Bemühen, eine einzige allumfassende Wahrheit aufzudecken, auf diverse Kosmologien, Mythologien, Religionen und historische Überlieferungen zurückgriffen.
Auf dem Bild Anfang des Lebens, Wasserlilien (1900-1903) vermeidet Kupka die direkten narrativen Details, und konzentriert sich statt dessen auf die Darstellung von Lotus und Wasserlilien, die Rhythmen der Kreisformen und die spiegelnde Wasseroberfläche. Der überirdische Charakter des Geschehens verwandelt sich hier in einen menschlichen Embryo in der Fruchtblase. Diese Hülle ihrerseits ist wiederum durch eine Art Nabelschnur mit einer »Blase« verbunden, die eine Knospe oder Blüte umschließt. Diese über dem leuchtenden Wasser des Teiches schwebenden Sphären lassen an die Kette der Evolution denken, die die menschliche mit der pflanzlichen Form verbindet. Sie setzen aber auch (nicht zuletzt durch ihre Sphärengestalt) den Mikrokosmos der ersten Lebensphasen und den Makrokosmos zueinander in Beziehung. Die formalen und thematischen Verbindungen mit Arbeiten wie Der erste Schritt (1910-1913), Die Scheiben von Newton (1911/12), und Amorpha, Fuge in zwei Farben (1912) sind unübersehbar.
Auf dem Bild Der erste Schritt schwebt ein Mond am oberen Rand der Leinwand, dessen Oberfläche von Linien überzogen und mit Lichtpunkten besetzt ist. Er überlappt eine weitere Kreisform mit einer dunkelgetönten, mattgrauen Oberfläche; möglicherweise handelt es sich dabei sogar um seinen eigenen Schatten. Diese beiden Figuren werden außerdem von einem Ring kleinerer Scheiben eingefaßt, die jeweils durch unterschiedliche geometrische Muster blauer und roter Strukturen charakterisiert und ihrerseits von einer blauen Aureole umgeben sind. Diese kleinen Kreisformen auf ihren »Umlaufbahnen« lassen sogleich an Mondzyklen denken, erinnern aber zugleich wegen ihrer Ähnlichkeit mit codierten Chips oder mikroskopischen Fotos von Zellstrukturen an winzige Perlenstränge genetischen Materials. Diese Interpretation setzt freilich einen abenteuerlichen Maßstabwechsel voraus, wie er aber auch in anderen Werken Kupkas durchaus üblich ist. So stellt Kupka etwa in Der Weg der Stille (ca. 1900) eine zwergenhaft erscheinende menschliche Gestalt neben eine scheinbar endlose Doppelreihe monumentaler Sphinxe, doch dies alles wird wiederum total miniaturisiert durch die Unendlichkeit des Kosmos, der durch einen endlosen Ozean von Lichtpunkten oben am Himmel symbolisiert wird.
In einer Pastell-Version aus der Reihe Der Weg der Stille wird Kupkas Sinnsuche noch deutlicher: Die Frage »Quod ad causam sumus?« - »Warum sind wir?« ist in die Flanke einer der riesigen Sphinxe eingeschrieben. Ganz ähnlich fragte auch Gauguin in seinem Bild Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? (1897), und man muß unwillkürlich an Odilon Redons Arbeiten denken. Der bizarre Maßstabwechsel und die protosurrealistische Verschmelzung menschlicher und pflanzlicher Formen sind von Redons Besessenheit nach Fragen der Zeugung, des Wachstums und der Metamorphose angeregt, von seinem Staunen über das Leben der Mikroorganismen, seinen Betrachtungen über jene vorweltlichen Kräfte, von denen der Kosmos erschaffen worden ist.
Die in dieser (zwischen 1901 und 1910 entstandenen) Gruppe von Arbeiten dargestellten weiblichen Figuren verströmen eine kraftvolle, ja fast zügellose sexuelle Energie. Balladenfreuden (Epona-Ballade) (1901) könnte man vielleicht sogar mit den zeitgenössischen erotischen Fabeln des Münchner Malers Franz von Stuck vergleichen. Es ist freilich hilfreicher zu untersuchen, wie diese Arbeit wichtige thematische und formale Aspekte von Kupkas eigenem reifen Werk vorwegnimmt. Die sich wiederholenden Schlangenlinien, die ans Ufer schwappen, kündigen bereits Kupkas Faszination für die rhythmischen Abfolgen und die stets wiederkehrenden Bewegungsabläufe und Töne in der Natur an. Diese wellenartigen Farbbänder, die sich auf dem Strand kräuseln, um sich vor unseren Füßen auszubreiten und die ganze Breite der Leinwand einnehmen, etablieren einen zwingenden Gleichklang, der sowohl sichtbar, als auch indirekt hörbar ist. Diese rhythmischen Wellen scheinen von einem unsichtbaren Ort herzukommen, jener sonnendurchfluteten Wasserfläche zur Linken jenseits der Grenzen der Komposition. Dort liegt der nicht ins Auge fallende Fluchtpunkt des Bildes, der Ausblick, der die Aufmerksamkeit der beiden nackten Frauen und ihrer Pferde magisch auf sich zieht. Vor den Pferden und den Frauen sind auf dem Strand zwei lange Schatten zu erkennen, die geheimnisvoll auf einige vertikale Strukturen im Wasser verweisen.
Die beiden weiblichen Figuren lassen sich aber auch mit Herbstsonne, Drei Göttinnen (1906) vergleichen, die vom orange-goldenen Licht der Herbstsonne bestrahlt werden. Auf beiden Bildern wird die Frau als ein robustes, gesundes, überfließendes Wesen gezeigt, das in heiterer Union mit der Natur vereinigt und sich der eigenen Wollust nicht bewußt ist. Die feurigen orangen, roten, grünen und rosa Pinselstriche und Farbblöcke, aus denen Kupka die üppigen weiblich Körper komponiert hat, dokumentieren sein Vertrauen in eine allumfassende, strahlende, kosmische Energie. Tatsächlich bringt Kupka in seiner AbhandlungLa Création dans les arts plastiques immer wieder ein erfrischendes, freudiges Staunen über die menschliche Gestalt und den menschlichen Organismus zum Ausdruck.
Auf diesen Bildern gelingt es Kupka, ein Gefühl der Harmonie zwischen Mensch, Tier und Landschaft zu evozieren. Die ekstatische Reaktion der Frauen der Balladenfreuden auf die Naturerscheinungen der Sonne und des Meeres ist ein Ausdruck dieser mystischen Einheit. Selbst kleine Details verweisen auf die fundamentale Beziehung zwischen den diversen Gestaltungen der Natur: So erinnert beispielsweise das marmorierte Fell des Ponys an den Rhythmus der auf den Strand rollenden Wellen. Die Behandlung seines gefleckten und gepunkteten Fells unterscheidet sich technisch kaum von den kleinen Pinselstrichen, aus denen Kupka den Himmel und das Meer hervorgehen läßt. All diese bildnerischen Details lassen sich als Ausdruck von Kupkas Auffassung interpretieren, daß alle Dinge wechselseitig zueinander in Beziehung stehen, daß alle Organismen sich gegenseitig beeinflussen und ihre Gestalt und ihre körperlichen Funktionen dem Wechselspiel mit den Kräften ihrer Umwelt verdanken.
Die Zeit zwischen 1906 und 1910 war für Kupka eine Zeit der kreativen Emanzipation. Obwohl auf seinen Bildern noch immer menschliche Figuren und figurative Elemente dargestellt sind, entdeckt Kupka zunehmend ein neues Vokabular, das es ihm erlaubt, seinen Ideen Gestalt zu geben. Er experimentiert mit neuen formalen Verfahren, die ihm helfen, sich der von ihm so genannten »anderen Wirklichkeit« allmählich immer mehr anzunähern.
In die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg fiel eine Reihe bahnbrechender wissenschaftlicher Entdeckungen und Theorien, von denen viele Avantgarde-Künstler stark beeinflußt wurden - ein Einfluß, den auch Kupka anerkannte: »Heutzutage haben wissenschaftliche Entdeckungen einen nicht zu leugnenden Einfluß auf die Künstler, die in vielerlei Hinsicht, ob bewußt oder unbewußt, die Schüler der modernsten Denker sind.« In seinem Bild Flächen durch Farben, Großer Akt (1909/10) macht Kupka sich Elemente der wissenschaftlichen Welt zunutze, darunter Erfindungen im Bereich der Optik, der Fotografie und der Radiologie; ferner experimentiert er mit Schatten- und Transparenz-Wirkungen, die auf den in den Röntgenbildern spürbaren Kontrast von innen und außen anspielen. Für die Darstellung des Frauenkörpers manipuliert der Künstler zwei malerische Verfahren: Das angewinkelte Bein und der gebeugte Arm der zurückgelehnten großen Figur erinnern an eine Röntgenaufnahme, wobei der Schwarzweiß-Kontrast des durchscheinenden Bildes hier in Farbstreifen übersetzt ist. Die leicht malvenfarbenen Konturen des Fleisches betonen die dunkelviolette innere Knochenstruktur, ein Eindruck, der noch durch das aus dem Hintergrund hervorleuchtende Licht verstärkt wird. Die neue Technik einer Röntgenaufnahme, die das Unsichtbare sichtbar zu machen vermag, hat Kupka in seiner Suche nach einer »anderen Wirklichkeit« offenbar bestärkt.
Das Werk Familienporträt, Zwei Mädchen mit Hund (1910), eine Übergangsarbeit, in der sich fauvistische und neoimpressionistische Stilelemente mischen, beeindruckt vor allem durch die Kühnheit der neuartigen prismatischen Verwendung der Farbe, eine Fragmentierung des Raumes durch Farbe, worin wir vielleicht Kupkas Alternative zum Kubismus zu sehen haben. Die große liegende Figur, die das Bild faktisch diagonal teilt, ist als - von leuchtendem Orange eingefaßte - flache blaue Fläche gemalt. Im Kontrast dazu wird die Komposition oben rechts und unten links durch feinere dunkelblaue, grüne und violette Pinselstriche belebt. Auch ist dem Bild anzusehen, daß Kupka sich intensiv mit der Farbtheorie von Chevreul, Signac, Newton, Blanc und Henry auseinandergesetzt hat. Die Farbe Rot erweckt normalerweise den Eindruck, in der Komposition gleichsam nach vorne zu springen, während Blau sich im Raum eher zurückzieht. Kupka experimentiert mit diesem illusionistischen »Mechanismus«, kehrt die erwartete Wirkung sogar um und zerstört so die Raum- und Tiefenempfindung.
Der deskriptive Titel von Der ovale Spiegel (1911) ist verräterisch. Das Bild schwebt gleichsam im Spannungsfeld zwischen der Sprache einer konventionellen bildnerischen Darstellung einerseits und der Sprache der reinen Form und Farbe andererseits, eine Spannung, die durch die Ambiguität der physischen Darstellung der Figur und dem in einem Spiegel reflektierten virtuellen Bild zum Tragen kommt. Eine Frau sitzt mit dem Rücken zum Betrachter, aber ihr Gesicht ist im Spiegel nirgends zu entdecken. Vielmehr wird dort immer wieder seine eigene Form reflektiert. Große konzentrische Ovale umgeben in verschwommenen Kreisrhythmen die ganze Figur und umfassen sie vollständig mit einer Farbpalette, die von Gelb bis Grün reicht, wobei sie durch die Verschmelzung von Vorder- und Hintergrund den Raum gewissermaßen verflachen.
Ein Großteil der frühen Kritiken zu Kupkas Amorpha-Bildern stand ganz im Bann von Apollinaires Begriff des »Orphismus«, obwohl nie ganz klar gewesen ist, welche von Kupkas Arbeiten eigentlich auf der Ausstellung der Section d'Or gezeigt worden sind, wo Apollinaire in einem berühmten Vortrag diesen Terminus eingeführt hat. Diese Betrachtungsweise ist auch weiterhin von großer Bedeutung gewesen, obwohl sich Kupka von Apollinaires »Orphismus« immer wieder distanziert hat wie er überhaupt sämtliche »Ismen« jener Zeit abgelehnt hat. Die im Salon d'Automne von 1912 gezeigten Bilder Amorpha, Fuge in zwei Farben und Amorpha, Warme Chromatik sind die ersten abstrakten Kompositionen, die Kupka ausgestellt hat, aber auch ganz unabhängig von diesem historischen Faktum sind diese Arbeiten und verwandte Kompositionen sowie zahlreiche Studien ein Schlüssel zu Kupkas ästhetischer Philosophie und seinem Schaffensprozeß. Die Amorpha-Bilder zeigen besonders deutlich die Komplexität von Kupkas Denken, die Vielfalt seiner Interessen und Inspirationsquellen: sein Ringen um eine malerische Analyse der Bewegung, seine Faszination durch Rhythmen, seine Vorliebe für Musik als nicht-figurative Kunstgattung, für die Bildsprache der Astronomie und für den »Kosmos«. Die Art und Weise wie diese vielfältigen Themen, Ideen und Bildvorstellungen in seiner Arbeit zum Ausdruck gelangen, belegt, daß Kupkas abstrakte Kunst ganz natürlich aus seinem Glauben an die wechselseitige Verbundenheit aller Dinge hervorgeht. Der Titel Amorpha in Verbindung mit dem Begriff des »Morphismus«, den Kupka in seinen Schriften verwendet, gibt Aufschluß über die Bedeutung seiner nicht-deskriptiven Formen.
Auf den Amorpha-Bildern spielt Kupka mit der fiktiven Flugbahn des - im Raum deplazierten - Balles. Er überträgt die Zeit und die Bewegung auf die flache Leinwand, und zwar mittels einer Sprache reiner Formen, die sich von dem ursprünglichen Sujet dramatisch abheben. Mit dem Untertitel - Fuge - verweist Kupka überdies auf die Musik, während er sich gleichzeitig von etwaigen symbolistischen »Korrespondenz«-Ideen distanziert. »Die Musik ist ebenfalls ein bemerkenswerter Stimulus für den Koloristen. Es wäre freilich im Hinblick auf angebliche Analogie zwischen Farben und Tönen ein wenig mehr Vorsicht als bisher geboten; auch sollte man nicht alle zu diesem Thema vorgetragenen Theorien für bare Münze nehmen... Tatsache ist, daß ein Musikstück in jedem von uns verschiedene Bilder weckt, eine Begleiterscheinung, die den Speichern des individuellen Bildgedächtnisses entstammt. Das heißt, daß Begriffe wie »Chromatik der Musik« und »Musikalität des Farbspiels« nichts als Metaphern sind. Zu schade... Wieder eine Illusion, die sich in Rauch auflöst.« (Kupka, La Création)
Allerdings entdeckt Kupka in der Musik ein nicht-mimetisches Paradigma, ein Prinzip, das er sich für seinen seriellen Schaffensprozeß zunutze macht. Die stets wiederkehrende Variation ein und desselben Themas und das kontrapunktische Nebeneinander der kompositorischen Elemente wie etwa das Nebeneinander großer schwarzer und weißer Formen und roter und blauer Elemente auf der Prager Amorpha bezeugen dies.
Studie zu Amorpha, Fuge in zwei Farben und Amorpha, Fuge in zwei Farben haben gewisse Kompositionselemente gemeinsam, die es uns erleichtern, ein ganzes Spektrum anderer Interessen und Bezugspunkte Kupkas zu beleuchten, und zwar die Astronomie und die Kosmologie. Jedes dieser Bilder wird - wie schon zuvor - von einem kontrapunktischen Rhythmus zwischen Elementen kontrastierender Formen und Farben beherrscht: den kleineren, festeren, beweglicheren, leuchtend kolorierten, roten und blauen Formen und - im Gegensatz dazu - den langsamer rotierenden, schwarzen und weißen, gedämpft grauen und ockerfarbenen Scheiben und Bögen. Die im Besitz des Museum of Modern Art befindliche wichtige Serie von Gouache-Studien zu Amorpha zeigt sehr schön die Verfeinerung dieser kontrastierenden Kompositionselemente. Sowohl die Farbgruppen als auch die großen Kreisformen im Hintergrund verweisen deutlich auf das etwas frühere oder gleichzeitige Werk Der erste Schritt. Der Nachhall der schwebenden Embryoform aus Kupkas früher Arbeit Der Beginn des Lebens, Wasserlilien in den Amorpha-Bildern zeigt die thematische und ikonographische Kohärenz von Kupkas Werk und Denken, die Art und Weise wie die winzigste Zelle und die größten kosmischen Räume durch dieselben kreativen Prinzipien in die Gesamtdarstellung integriert sind.
Wie bereits erwähnt, ist der Haupttitel dieser Bilder - also das Wort »Amorpha«, das sprachlich mit dem in Kupkas Schriften immer wieder erwähnten »Morphismus« eng verwandt ist - von grundlegender Bedeutung für das Verständnis von Kupkas Abstraktion. Kupka hatte viel Freude am Studium der Veränderungen belebter und unbelebter Formen in der natürlichen Welt und entdeckte so - als Resultat der Reaktionen der Organismen auf ihre Umwelt - einen unendlichen Prozeß des Wandels und der Entwicklung. Und in dieses kreative Geschehen ist der Künstler mit seiner Arbeit unvermeidlich involviert und somit unauflöslich an die große Kette der Bedeutungen und Beeinflussungen gebunden.
Weniger als sechs Monate nach der Präsentation der Amorpha-Bilder im Salon d'Automne 1912 stellte Kupka seine Vertikalen Flächen III im Salon des Indépendants aus. Tatsächlich war Kupka gleichzeitig damit beschäftigt, eine völlig andere abstrakte Bildsprache zu entwickeln: Kreisformen wie die elipsoiden Arabesken in den Amorpha-Kompositionen; lineare und flächige Strukturen wie in den Vertikale Flächen-Arbeiten und fließende Muster und unregelmäßige Formen wie in den Schöpfungs-Bildern. Obwohl hinsichtlich ihrer ästhetischen Wirkung und formalen Fragestellungen dramatisch differierend, gehören sämtliche dieser Arbeiten ein und derselben Entwicklung einer gegenstandslosen Kunstform an, für Kupka eine Sprache der metaphysischen Wahrheit.
Der Verzicht auf konkrete Sujets war das vorherrschende ästhetische Thema jener Dekade. Die Künstler, die sich sonntags bei Kupkas Nachbarn Jacques Villon trafen, waren alle irgendwie dem Kubismus verbunden und setzten sich mit der »Krise der Wirklichkeit« in der Malerei auseinander. Kupkas Suche nach einer neuen Wirklichkeit, sein Bemühen um eine neue Kunst-Bedeutung, hatte freilich mit der kubistischen Fragmentierung des Sujets so gut wie nichts zu tun. Tatsächlich war Kupka nie ein Kubist, und seine Entwicklung zur »Gegenstandslosigkeit« verlief völlig verschieden. Anders als die Kubisten, die sich bei der Zerstörung des Sujets ausschließlich von formalen Gesichtspunkten leiten ließen, beanspruchte Kupka für den Künstler eine höhere Verantwortung: Er sollte nämlich in der Malerei die Wirklichkeit transzendieren und im Verlauf des schöpferischen Prozesses metaphysische Wahrheiten aufdecken. Die Abstraktion war daher für ihn kein Selbstzweck, sondern ein Resultat der künstlerischen Analyse des Gestaltungsprinzips in allen Erscheinungsformen der Natur einschließlich des künstlerischen Prozesses selbst, das Ergebnis der Einsicht in die Bedeutung und Wirkung der Form.
Auf etlichen frühen Bildern kann man sehr deutlich Kupkas zunehmendes Interesse an den Grundzügen der Landschaft erkennen: dem Rhythmus des Parallelismus zwischen nah und fern, und die Betonung der Figuren wie auch der Bäume als vertikale Markierungen in der Landschaft. Auf dem Bild Klaviertasten, Der See (1909) gehen die Streifen der Tastatur am untern Bildrand gleichsam in die Bäume über, die sich weiter oben im Wasser spiegeln. Auf dieser Arbeit sind aber auch bereits andere wesentliche Elemente der nachfolgenden künstlerischen Entwicklung Kupkas zu erkennen: das symbolisch geladene Bild der Spiegelung, die Analogie zwischen Malerei und Musik, die Schwarzweiß-Kontraste und die Bedeutung des fast quadratischen Formats der Leinwand für die Komposition. Obwohl Kupka sein vertikales Vokabular immer mehr vereinfacht hat, sind die entsprechenden Kompositionen ausgesprochen abwechslungsreich und durch ganz unterschiedliche Brechungen und Raumgliederungen charakterisiert. In der Arbeit Vertikale Flächen III sind die gleichmäßig kolorierten Farbstreifen parallel zueinander und zur Bildebene gesetzt, so daß eine ätherische Wirkung entsteht und die Formen an der Oberfläche in einer Leere dahinzutreiben scheinen. Das Bild Ordnung von Vertikalen hat insbesondere wegen der pulsierenden blauen und roten Elemente die Wirkung einer eindeutigen Abwärtsdynamik und erinnert an das nach unten gerichtete Stalaktitenwachstum. In späteren Kompositionen arbeitet Kupka dann mit einer rigideren, systematischeren Formensprache, die den Bildern eine fühlbarere physische Präsenz verleiht, ihre sinnliche Wirkung jedoch abschwächt.
Kupka hat sich von jeher von dem konstruktiven, nicht-deskriptiven, nicht-figurativen Wesensgehalt der Architektur inspirieren lassen: »Die Kunst des Architekten besteht in der Erhebung des Betrachters durch Verwendung unbelebter und unbeweglicher Materialien. Das Bauwerk, durch das er seine Idee ausdrückt, besteht aus einer schwerfälligen Masse, der er Leben einhaucht. Das einzige Element, das er der organischen Natur entlehnt, indem er sie entsprechend ihrer eigenen dynamischen Kraft umgestaltet, ist der Baumstamm, aus dem die Säule hervorgegangen ist.«
Die Forschung hat sich in den letzten Jahren deutlich von einer rein formalistischen Auffassung des Ursprungs der modernen Kunst distanziert und in diesem Zusammenhang nachdrücklich auf die Einflüsse nicht nur der Naturwissenschaften, sondern auch der okkulten und mystischen Philosophien der Avantgarde verwiesen. Der Einfluß esoterischer Spekulationen auf zahlreiche Künstler der damaligen Zeit tritt nicht nur in der symbolistischen Vorstellung einer Korrespondenz zwischen Musik und Farben zutage, sondern auch der visionären Ästhetik der Nabis, die sich nach dem hebrälschen Wort »Prophet« benannt, der Theorie des »goldenen Schnitts«, wie sie die Kubisten vertraten und dem Spiritismus eines Kandinsky, den Purifikationen eines Mondrians und dem Mystizismus eines Malewitsch bedienten.
Kupka stand diesen Tendenzen nicht ablehnend gegenüber, denn er war seit seiner Jugend selbst praktizierender Spiritist. Er bewunderte nicht nur Goethes ästhetische Theorien, sondern war auch von Studnickas Lehren und durch die Freundschaft mit Karl Diefenbach beeinflußt. Wie viele Künstler seiner Generation fühlte er sich von den Vorstellungen der Theosophie angezogen, einer Synthese aus Wissenschaft, Religion und Philosophie. Kupka hatte eine Schwäche für synkretistische Denkweisen und Visionen, die darauf abzielen, das zerrissene Band zwischen Natur und Geist wiederherzustellen und den einzelnen in die geheimen Gesetze der Natur einzuweihen. Sein Buch befaßt sich unter anderem auch mit der Aufgabe des Künstlers, die Bedeutung der »subjektiven Wirklichkeiten« aufzuzeigen. Und so heißt es dort: »Große Kunst heißt, aus dem rein und schlicht empfundenen Unsichtbaren und Unberührbaren eine sichtbare und faßbare Wirklichkeit zu schaffen; eine Wirklichkeit, die nicht einfach eine Kopie oder ein Abbild ist..., sondern die, sofern das geschaffene Werk eine Seele und ein Eigenleben hat, sich den Sinnen des Betrachters einprägt.«
Genau wie Kupkas abstraktes Frühwerk 1910-1915 auf ein ausgesprochen vielfältiges Vokabular, d.h. orthogonale, kurvilineare, amorphische Stilelemente zurückgreift, lassen sich auch seine späteren Arbeiten nicht schlichtweg als »organisch« oder »geometrisch« kategorisieren. Zu Kupkas Bildwelt gehört vielmehr das Mikroskopische genausogut wie das Kosmische, Vertikalität und Kurvilinearität und namentlich unregelmäßige Formen, die sich gerade durch ihren Prozeßcharakter jeder Beschreibung entziehen. Die monumentalen Bilder wie Die Schöpfung sind ausdrucksstarke Arbeiten mit Anspielungen auf die Naturelemente, Wolken, Felsen, Sonnenstrahlen und Kristalle, die allesamt zu abstrakten Kompositionen und einer einzigen Bewegung verschmolzen sind. »...Die Wolken, Ansammlungen von Wasserdampf, die von vorwärtsdrängenden oder wirbelnden Luftströmen getragen und angetrieben werden. Klar umgrenzte Gestalten aus elastischen, länglichen gebogenen Linien oder mit Konturen, die verschwimmen, während wir das Zusammentreffen beider Elemente beobachten, die aufeinanderstoßen oder sich wechselseitig durchdringen«, hat Kupka einmal im Hinblick auf ein Vokabular der Gestaltungen geschrieben, das sowohl seine Amorpha- als auch die Vertikalen-Bilder heraufbeschwört und die ganze Komplexität seiner »kosmischen Abstraktionen« bestimmt.
In zahlreichen vorbereitenden Studien, aber auch in durchnummerierten, voll ausgearbeiteten Variationen ein und desselben Themas, beschäftigt sich Kupka immer wieder mit demselben »Sujet« und strebt dabei offenbar nicht eine immer größere Perfektion an, sondern versucht sich gleichsam kreativ auf jene Kräfte des Wachstums, der Veränderung und der Wiederholung »einzuschwingen«, durch die das Dasein aller Dinge charakterisiert ist. So gesehen reflektiert Rund um einen Punkt (1911/1927-1930) einen langen Reifungsprozeß, der bis auf Die Scheiben von Newton (1911/12) zurückgeht, aber selbst die vor 1908 entstandenen Zeichnungen einbezieht. Die Geometrie der konzentrischen Kreise und das strahlend weiße Licht, das auf diesem Bild aus den Zwischenräumen hervorleuchtet, erinnern auch an Kupkas große Holzschnitt-ReiheQuatres Histoires de blanc et noir (1926), in der er sein Basisvokabular konsolidiert und verfeinert.
Kupka hört niemals gänzlich auf, Geschichten zu erzählen, doch die Erzählung verlagert sich auf eine andere Bedeutungsebene. Sein eigentliches Anliegen kreist um die Frage, »wie die Materie Form annimmt«. »Die objektive Welt, das große Schauspiel der Natur, ist die dramatische Aufführung der Konstituierung der organisierten Materie.«
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Für Rachmaninow war das Komponieren eine Leidenschaft, eine Notwendigkeit. Es war nicht seine Art, sich zu rechtfertigen, aber in vorgerücktem Alter bezog er sehr klar Stellung: »In der Musik eines Komponisten sollte das Land seiner Herkunft zu spüren sein, seine Liebesgeschichten, seine Religion, die Bücher, die ihn beeindruckt haben, die Bilder, die er liebt. Sie sollte die Summe der Erfahrungen eines Komponisten sein.« Das wird nirgendwo deutlicher als in den 82 Liedern, die er zwischen 1890 und 1916 komponiert hat, Lieder, die auch ein sehr brauchbarer Gradmesser seiner Stilentwicklung in dieser Zeit sind, von den Moskauer Studienjahren bis zu seiner dramatischen Flucht im Jahr 1917, als er aus dem von der Oktoberrevolution erschütterten Rußland in die Vereinigten Staaten floh.
Die ersten drei Lieder des op.4 sind in dem idyllischen Sommer 1892 entstanden, den Rachmaninow auf dem Landsitz eines reichen Kaufmanns in Charkov verbrachte. Er arbeitete in einem kleinen pagodenartigen Turm, der eigens für ihn gebaut worden war, und berichtete begeistert einer seiner zahlreichen Verehrerinnen: »Ich komponiere von 9 bis 12 und spiele dann drei Stunden Klavier. Ich achte auch sehr auf meine Gesundheit: kalte Abreibungen und vier Gläser Milch jeden Tag!« Es ist typisch für den Komponisten, daß trotz seiner ausnehmend guten Stimmung alle sechs Lieder einen introvertierten Charakter haben.
Im Herbst des gleichen Jahres komponierte Rachmaninow einen weiteren Zyklus von sechs Liedern, sein op.8, auf deutsche und ukrainische Texte in Übersetzungen des russischen Dichters Alexei Pleschtschejew. Hier dominiert das dem Komponisten eigene melodische Gespür, das ein breiteres Spektrum des Stimmungsgehalts hervorbringt als in den Liedern des op.4 mit ihrer eher einförmig tristen Farblosigkeit, dies insbesondere in Traum (Nr.19 dieser CD), einem Meisterwerk im kleinen, das er für seine Cousine Natalia Skalon geschrieben hat, eine seiner besten Freundinnen, die sehr an ihm hing.
Die zwölf Lieder op.14 (1896) kehren zurück zu dem Tonfall sehnsuchtsvoller Hoffnungslosigkeit des op.4. In der gesteigerten Expressivität der Musik und dem leidenschaftlich erregten Klaviersatz spiegelt sich die Gemütslage Rachmaninows in dieser Zeit wider, das Auf und Ab heftiger Gefühle, denn er hatte sich unglücklich in eine verheiratete Frau verliebt, eine bemerkenswerte Frau aus einer Zigeunerfamilie. Vor diesem Hintergrund wirken die vereinzelt verwendeten fremdartigen Harmonien und das Kolorit der Melodie von In meiner Seele (Nr.17) wie ein persönliches Bekenntnis. Ein anderer Satz, in dem in besonderer Weise die Gefühle Rachmaninows mitschwingen, ist Nacht (1899; Nr.8): als er dieses Lied komponierte, waren seine Gedanken bei Vera Skalon (der jüngeren Schwester Natalias), die er innig liebte, die sich aber gerade anschickte, einen anderen Mann zu heiraten. Es läßt tief blicken, daß Vera kurz vor der Hochzeit ihren gesamten Briefwechsel verbrannte.
Die Ehe ist auch ein zentrales Thema der zwölf Lieder op.21 (1902), nur handelt es sich diesmal um Rachmaninows eigene Vermählung mit Natalia Satin, einer anderen Cousine, die ihn bewunderte. Er komponierte die Lieder in einem atemberaubenden Tempo während der Flitterwochen in Luzern im Anschluß an Aufenthalte in Wien und Venedig. Die 3000 Rubel, die er dafür als Honorar erhielt, waren eine willkommene Einnahme, um einen Teil der Kosten dieser Reise quer durch Europa zu bestreiten, die sie vor der Rückkehr nach Rußland auch nach Bayreuth führte.
Seine fünfzehn Lieder op.26 (1906) tat Rachmaninow als "bloße Kleinigkeiten" ab, aber das kann eigentlich nur der Versuch gewesen sein, ihre wahre Qualität herunterzuspielen. Christ ist erstanden (Nr.9) ist ein Satz von schwelgender Melodik, beseelt von unbändiger Freude, noch eindrucksvoller aber ist das letzte Lied der Werkgruppe Alles muß vergehen (Nr.15), eine eindringliche Anklage gegen die revolutionären Umtriebe des vorausgegangenen Jahres.
Die Politik hatte auch erheblichen Anteil an der faszinierenden Schlichtkeit der Liederzyklen, die Schostakowitsch in der Zeit von Anfang bis Mitte der 1950er Jahre geschrieben hat und unter denen insbesondere die fünf Dolmatowski-Vertonungen op.98 (1954) und die sechs Spanischen Lieder Op.100 (1956) zu nennen sind.
Im Jahr 1948 hatte Andrei Schdanow, der Zuchtmeister Stalins, schwere Vorwürfe gegen mehrere Komponisten erhoben - u.a. gegen Schostakowitsch, Prokofjew, Chatschaturjan und Mjaskowski - und sie wegen ihres fortgesetzten Kokettierens mit einem »dekadenten Formalismus« (im Grunde jede Art von Musik, die es versäumte, den Parteiapparat zu verherrlichen) verwarnt. Schostakowitsch spulte pflichtschuldigst eine unterwürfige öffentliche Abbitte herunter, die von jedermann als beißender Hohn zu durchschauen gewesen sein muß, außer anscheinend von den Funktionären der Kommunistischen Partei: »Ich weiß, die Partei hat recht. Ich will immer wieder von neuem versuchen, sinfonische Werke zu schreiben, die dem Empfinden des Volkes entsprechen.«.
Nach Stalins Tod im Jahr 1953 widerrief die Prawda, das Organ der Kommunistischen Partei, den Erlaß von 1948 und räumte den Komponisten größere Freiheiten für eigene Stilexperimente ein. Vorerst blieb Schostakowitsch jedoch bei der einmal eingenommenen Haltung, er ließ sich stilistisch nicht in die Karten schauen und ließ sich darin auch nach dem Tod seiner Frau Nina im Jahr 1954 nicht beirren. Ungeachtet des sarkastischen Scherzos der Sinfonie Nr.10 (1953), das er sich insgeheim als ein giftiges Stalin-Porträt gedacht hatte, lassen die gleichzeitig entstandenen Lieder eine Wesensverwandtschaft mit den entzückenden Miniaturen erkennen, die in Schostakowitschs Filmmusik zu Die Hornisse (The Gadfly, 1955) eingestreut sind.
Die Lieder op.98 sind ein Glücksfall und dem Umstand zu verdanken, daß der Dichter Jewgeni Dolmatowski Schostakowitsch eine Reihe von Gedichten über kleine Begebenheiten einer Freundschaft schickte, die dieser kongenial vertont hat. Auf dem Papier mögen diese Texte einem kurzsichtigen, im Umgang mit Fremden notorisch argwöhnischen und unbeholfenen Kettenraucher zunächst wenig ergiebig erschienen sein, dann empfand Schostakowitsch die Unmittelbarkeit und Schlichtheit ihres Gefühlsgehalts aber als wohltuend und als eine willkommene Abwechslung, um Abstand von der verrätselten Doppelbödigkeit seiner großen sinfonischen und kammermusikalischen Kompositionen zu gewinnen - das ist deutlich spürbar in den unbeschwerten Walzerrhythmen von Tag der Liebeserklärung (Nr.22).
Die Spanischen Liederop.l00 sind großartige Konzentrate volkstümlicher Melodien, die sich auf eine eigens für den Komponisten angefertigte Tonaufnahme der berühmten Sängerin Sara Doluchanowa stützen. Schostakowitsch hatte offenbar großes Vergnügen daran, das schwierige Unterfangen zu wagen, diese Glanzstücke der spanischen Musik einem unverkennbar russischen Tonfall anzuverwandeln, wovon insbesondere Das erste Mal (Nr.3) zeugt.
Quelle: Julian Haylock (Übersetzung: Heidi Fritz), im Booklet.
07 My otdokhnyom Op. 26/3 (1906) A. CHEKHOV 2'20 (We shall find rest / Nous jouirons du repos / Wir werden aufatmen)
08 Noch (1899) D. RATHAUS 3'23 (Night / Nuit / Nacht)
09 Khristos voskres Op. 26/6 (1906) D. MERESHKOVSKY 2'29 (Christ is risen / Le Christ est ressuscité / Christ ist erstanden)
10 Koltso Op. 26/14 (1906) A. KOLTSOV 2'55 (The Ring / L'anneau / Der Ring)
11 Va zhdu tebya Op. 14/1 (1896) M. DAVIDOVA 1'39 (I await you / Je t'attends! / Ich warte auf dich!)
12 Duma Op. 8/3 (1893) A. PLESHCHEYEV, AFTER SHEVTCHENKO 3'12 (Brooding / Méditation / Trübe Gedanken)
13 O net, molyu, ne ukhodi! Op. 4/1 (1892) D. MERESHKOVSKY 1'50 (I beg you, stay, forsake me not! / Oh reste, je t'en prie, ne pars pas! O bleib, ich bitt dich, geh nicht fort!)
14 O ne grusti Op. 14/8 (1896) A.APUKHTIN 3'04 (O, do not grieve! / Oh, ne t'afflige pas! / O gräme dich nicht!)
15 Prokhodit vsyo Op. 26/15 (1906) D. RATHAUS 1'51 (All things depart / Tout passe / Alles muß vergehen)
16 Kak mne bolno Op. 21/12 (1902) G. GALINA 1'46 (How it pains me / Camme je souffre / Wie schmerzt es mich)
17 V moyei dushe Op. 14/10 (1896) N. MINSKY 2'23 (Within my soul / Dans mon Âme / In meiner Seele)
19 Son Op. 8/5 (1893) A. PLESHCHEYEV, AFTER HEINE 1'11 (A Dream / Rêve / Traum)
20 V molchanii nochi tainoi Op. 4/3 (1892) A. FET 2'44 (In the silence of the secret night / Dans le Secret de la nuit paisible In der Stille der heimlichen Nacht)
DMITRI SHOSTAKOVICH
Five Romances on poems by Yevgheny Dolmatovsky, Op. 98 (1954) 13'07 Cinq chansons sur des poèmes de E. Dolmatovski Fünf Lieder auf Gedichte von Jewgeni Dolmatowski
21 Den vstrechi 2'27 (The Day of Meeting / Jour de la rencontre / Tag der Begegnung)
22 Den priznanil 2'37 (The Day of Confessing / Jour des aveux / Tag der Liebeserklärung)
23 Den obid 3'05 (The Day of Hurt / Jour des affronts / Tag der üblen Nachrede)
24 Den radosti 1'46 (The Day of Rejoicing / Jour de joie / Tag der Freude)
25 Den vospominanil 3'04 (The Day of Reminiscing / Jour des souvenirs / Tag der Erinnerungen)
Recorded November 2006 at Air Lyndhurst Studios, London Producer: Robina G. Young Engineer & Editor: Brad Michel Cover picture: Mikhail Vroubel, The Swan Princess, 1900 Drawings of Rachmaninov and Shostakovich by Iris Oja (P) 2008
Ist es erlaubt, ein Porträt in jeder beliebigen Weise zu deuten, wenn es ein offener Spiegel ist? Wenn in einem einzigen Porträt wie im Falle Pablo Picassos eine Vielzahl von Gesichtern und Gesten, von Chiffren und Stilen enthalten ist - wie sollen wir es dann mit unserer persönlichen Erfahrung, mit unserem eigenen Vokabular in Einklang bringen?
Die Entwicklung des wohl vielseitigsten Porträtmalers des 20. Jahrhunderts verlief nicht linear, sondern räumlich. Jeder neue Stil, den er vorfand und in sein Werk integrierte, baute auf den vorangegangenen auf und bereicherte sie rückwirkend, brachte neue Stile hervor und vermischte sich mit ihnen. Wie ein Lumpensammler bewahrte Picasso auf, was ihm unter die Finger kam: Bleistiftstummel, Schachteln, Gerümpel aller Art. Ebenfalls wie ein Lumpensammler bewahrte er seine vielen unterschiedlichen Stilansätze in sich auf, so daß er im hohen Alter, lange nach den grellen Schreckensbildern von Avignon und den bukolischen Rundungen von Juan-les-Pins, zu den schwarzen Linien und blassen Farben seiner spanischen und frühen Pariser Anfänge zurückkehren konnte, in denen schon alles Spätere enthalten schien. Er war ein Paradox: ein Künstler, der eine klar erkennbare Entwicklung vollzog und für den die Zeit stillstand.
Auch seine Porträts - insbesondere die Frauenporträts - sind von diesem Paradox betroffen. Jacqueline, Marie-Thérèse, Olga, Dora haben mit ihren Nachnamen auch ihre eigene Identität verloren und statt dessen die Identität angenommen, die Picasso ihnen mit seinen künstlerischen Mitteln verlieh, als sie in sein fließendes und zugleich fest umrissenes Universum eintauchten und sich in eine Sitzende, eine Lesende, eine Frau mit Strandball verwandelten, manchmal in eine Jacqueline oder eine Marie-Thérèse - wobei ihre Namen nur noch fiktiv oder zufällig erscheinen. […] Picassos Frauen - weich oder in wütende Scherben zersplittert, mit leichter Hand skizziert oder in Säure geätzt - erscheinen nicht im Gestus ihrer eigenen Wahl, sondern als Reflexionen Picassos, ihres selbsternannten Meisters.
Was über alle Stilwechsel hinweg wahrscheinlich immer gleich blieb, war der Umgang mit seinen Modellen. Vielleicht war er, wie Freunde und Geliebte versicherten, tiefer Empfindungen gegenüber anderen Menschen unfähig und so dazu verurteilt, immer nur sich selbst zu porträtieren. »Niemand ist mir wirklich wichtig. Was mich betrifft, sind andere Leute wie Staubkörnchen, die in der Sonne tanzen«, gestand er einmal Françoise Gilot. Statt im menschlichen Kontakt lebte er seine Empfindungen auf der Leinwand aus und verlieh den Gebilden aus »Staubkörnchen« künstlerische Gestalt. John Berger bemerkte, Picassos Frauenporträts seien »oft seine Selbstporträts, die er in ihnen vorfand«. Picasso, schrieb er weiter, »kann sich nur dann in seiner Gänze sehen, wenn er sich in einer Frau spiegelt«. Es könnte sein, daß er alle seine Modelle in fast physischem Sinne als Leinwand benutzte und sie mit Schmeichelei, Einschüchterung, liebevoller Zuwendung, Geld oder Freundlichkeit auf ihre Bestimmung vorbereitete. Und es könnte sein, daß er in seinen Modellen die Emotionen provozierte, die er am eigenen Leib erleben wollte. […]
Eins der eindrucksvollsten Picasso-Porträts ist ohne Zweifel die Weinende Frau vom Oktober 1937, die der Kunstkritiker Ronald Penrose im selben Jahr von ihm erwarb (später verkaufte er das Gemälde an die Londoner Tate Gallery, wo es heute zu sehen ist). Das kleine Bild, nicht größer als ein menschliches Gesicht, brennt in allen Komplementärfarben: grün und rot, violett und gelb, orange und blau. Das scharfkantig geknüllte Taschentuch greift die Umrisse der Finger und der gebleckten Zähne auf. Vor dem Hintergrund aus goldbraunen und gelben Tönen (teils Blattgoldgrundierung wie auf Ikonen mit geheiligten Motiven, teils Pariser Bistro-Wand als Hintergrund profaner Leidenschaften) bewegt mich der rote Hut mit der tiefblauen Kornblume mehr als jedes andere Detail des Bildes. Die Frau hat sich zurechtgemacht, hat einen lustigen Hut aufgesetzt, um glückliche Stunden zu verleben, und nun sitzt sie da, für jeden sichtbar, heulend, mit verzerrtem Gesicht, der Hut ein Hohn auf ihren Kummer, neckisch und gänzlich unbekümmert. Wie können wir diesen grenzenlosen Jammer ertragen? Was fehlt in diesem Bild, daß wir als Außenstehende ohne weiteres in das Geschehen einzudringen vermögen, Mitleid und Bewunderung zugleich empfinden können? Bietet uns die Geschichte dieses Gemäldes eine Anleitung zu seinem Verständnis aus einem Abstand von mehr als sechzig Jahren? […]
An einem Herbstabend des Jahres 1935 sah sich der vierundfünfzigjährige Picasso im Café Les Deux Magots einer Frau gegenübersitzen. Sie hatte blaßblaue Augen, kräftige dunkle Augenbrauen, tiefschwarzes Haar und trug schwarze, mit Rosen bestickte Handschuhe. Die linke Hand lag mit gespreizten Fingern auf der Tischplatte, während sie mit einem Taschenmesser versuchte, möglichst tief in die Zwischenräume zu stechen, ohne sich zu verletzen. Manchmal mißlang ihr das, und ihre Handschuhe wurden allmählich feucht vom Blut. Picasso schaute ihr lange zu und sagte dann auf spanisch zu einem Freund, der neben ihm saß, daß er die junge Frau außerordentlich schön finde. Offenbar verstand sie ihn, denn sie hob den Kopf und lächelte. Ein paar Tage später machte ihn Paul Eluard mit ihr bekannt. Sie hieß Dora Maar und war Fotografin. Später erbat sich Picasso die blutigen Handschuhe von ihr und bewahrte sie zusammen mit anderen Erinnerungsstücken in einer Vitrine auf.
Dora Maar wurde seine Geliebte und war immer für ihn da, wenn er sie brauchte. Selten besuchte sie sein Atelier in der Rue des Grands-Augustins (das sie ihm besorgt hatte) ohne seine ausdrückliche Aufforderung, und sie wartete Tag für Tag in ihrer Wohnung, daß Picasso sie anrief, um mit ihr auszugehen. Eines Abends lud sie der Maler André Beaudin zum Essen ein, doch sie erwiderte ihm, sie könne sich nicht entscheiden - Picasso würde wütend werden, wenn er anrief und herausfand, daß sie sich anderweitig verabredet hatte. Sie war, wie sie sagte, seine »private Muse«.
Picassos Freunde erinnerten sich später an die häufigen Streitereien zwischen den beiden - wegen ihrer angeblichen Untreue, wegen kleiner Fehler, die er künstlich aufbauschte, um sie lächerlich zu machen. Picasso provozierte sie, bis sie in Tränen ausbrach. Dann nahm er Notizblock und Bleistift und skizzierte die weinende Frau. »Ich habe sie nie anders gesehen, konnte sie mir nie anders vorstellen als in Tränen«, äußerte er einmal. Irgendwann verwandelten sich die Skizzen, von denen es Dutzende gab, in Gemälde. Um diese Zeit war Picasso noch mit der russischen Tänzerin Olga Koklova verheiratet und schon seit langem mit Marie-Thérèse Walter liiert. Die Porträts dieser beiden Frauen sind meist von weichen Rundungen bestimmt. Die meisten Porträts von Dora Maar hingegen zeigen ein verzweifeltes, in Tränen aufgelöstes Gesicht, kantige Umrisse und harte Farben. »Das sind alles Picassos, kein einziges ist Dora Maar«, urteilte Dora Maar später.
Fast ein Jahr nach der ersten Begegnung mit Dora Maar, am 13. Juli 1936, wurde der spanische Monarchist José Calvo Sotelo ermordet, und in Spanien brach der Bürgerkrieg aus. Von Anfang an stand Picasso entschieden auf der Seite der rechtmäßigen republikanischen Regierung. Im Januar 1937 erhielt er von der Regierung den Auftrag, ein großes Wandgemälde für den spanischen Pavillon der Pariser Weltausstellung zu schaffen. Das Thema wurde seiner Wahl überlassen. Picasso nahm den Auftrag an, ohne zu wissen, was er malen würde. Es wurde April, und er hatte noch immer nicht mit der Arbeit begonnen.
Am Morgen des 28. April 1937 bombardierten deutsche Kampfflieger die baskische Kleinstadt Guernica, töteten zweitausend Zivilisten und hinterließen noch mehr Verwundete. Picasso hatte sein Thema gefunden - vielmehr, das Thema hatte ihn gefunden. Im Mai war der erste Entwurf des Kolossalgemäldes von 7,62 mal 3,35 Metern Größe fertig. Er entschied sich, keine Farben zu verwenden: die von Panik erfüllten Tiere, die schreienden Frauen bäumen sich in Blauschwarz und Schmutzigweiß über dem Betrachter auf. Im linken Brennpunkt des Bildes sieht man eine Frau, die ihr totes Kind umklammert, ihr Gesicht ist schmerzverzerrt. Es ist das Gesicht der tränenlos weinenden Dora Maar. […]
Die Verbindung von Dora Maar und Guernica läßt ein neues Paradox zutage treten, nämlich die offenbare Tatsache, daß ein Akt vorsätzlicher Grausamkeit in einen bildnerischen Ausdruck verwandelt werden kann, der dazu dient, die Grausamkeit zu verdammen. Wie ist es möglich, daß sich ein Symbol des Hasses (oder der Liebe) in einem Kunstwerk in sein Gegenteil verkehrt? Und wie hat dieses neue Symbol Eingang in unser ikonographisches Vokabular gefunden?
In der abendländischen Kultur sind Gefühlsroheit und Brutalität zu Attributen einer pervertierten Männlichkeit geworden. Theseus, der Sohn einer sterblichen Mutter und des Meergottes, gebraucht seine männliche Kraft, um eine Reihe schier unüberwindlicher Hindernisse zu bewältigen, aber er ist auf Ariadnes weibliche Intelligenz angewiesen, um aus dem Labyrinth herauszufinden und den Minotauros zu töten. Nachdem er sich ihrer bedient hat, läßt er sie schnöde im Stich; später wird er zum König von Athen gekrönt und als Held gefeiert. Der französische Romancier Andre Gide betrachtete die alte Sage mit neuzeitlichem Blick und sah in Theseus ein männliches Vorbild, weil es ihm gelang, sich aus der weiblichen Umgarnung Ariadnes zu befreien. Für Gide ist diese Tat gerechtfertigt, weil sie einem höheren sozialen Zweck gilt. Der Bezwinger des Minotauros muß sich der Ariadne bedienen und sie dann fallenlassen, um das Staatswesen zu retten (oder, wie im Fall Picasso, der Kunst zu dienen).
Wie in der Theseus-Legende werden auch in Picassos Werk beide Seiten dieses Konflikts erkennbar: Dora Maar, die Weinende Frau, wird in ihrem privaten Kummer vorgeführt; auf dem Gemälde Guernica wird sie zur Chiffre eines öffentlichen Leids. Picasso malte die Weinende Frau im Oktober 1937, nachdem er über ein Jahr lang das schmerzverzerrte Gesicht der Dora Maar studiert und skizziert hatte. Guernica war im Mai 1937 vollendet, aber er befaßte sich noch ein Jahr lang mit den verwendeten Motiven, mit Stieren, Pferden, Vögeln und massakrierten Menschen. Unser Blick auf die beiden Meisterwerke hängt davon ab, welche Chronologie wir ihnen zugrunde legen. Wenn wir davon ausgehen, daß die Weinende Frau vor der Entstehung von Guernica bereits vorhanden war (und das war der Fall), haben wir es mit einem Bild zu tun, dessen Ausdruck persönlichen und absichtlich zugefügten Leidens dazu diente, die Morde von Guernica anzuklagen. Setzen wir aber Guernica an die erste Stelle, ergibt sich der Eindruck, daß Picasso ein Motiv der Anklage gegen faschistische Gewalt dazu benutzte, um mit klinischer Grausamkeit Experimente an einer liebenden Frau vorzunehmen. In jedem Fall steht auf der einen Seite der Gleichung eine künstlerische Formulierung des Leidens, die in ihrer aufrüttelnden Kraft unvergeßlich ist, auf der anderen Seite jedoch die kalkulierte Zufügung von Schmerzen. Und nur beide Seiten zugleich machen die ganze Wahrheit des Gemäldes aus. […]
Über Picassos Verhältnis zu Frauen bemerkte Cocteau scharfsinnig: »Dieser Frauenliebhaber entpuppt sich in seinen Arbeiten als Frauenfeind. Dort rächt er sich für die Macht, die Frauen auf ihn ausüben, für die Zeit, die sie ihm rauben, dort verwüstet er ihre Gesichter und ihren Aufputz. Auf der anderen Seite schmeichelt er dem Mann, und da er ihm nichts vorzuwerfen hat, erweist er ihm mit Stift und Feder seine Reverenz.«
Die Geschichte der abendländischen Kunst hat uns gelehrt, das Bildnis einer weinenden Frau als ästhetisches Phänomen zu betrachten. Das klassische Vorbild ist die in der griechischen Plastik verbreitete Niobe, die neun Tage und neun Nächte den Tod ihrer Kinder beweinte (zwölf Tage sind es bei Homer, vierzehn bei Ovid): Sie waren von Apollo und Diana umgebracht worden, nachdem Niobe über deren Mutter Leto gespottet hatte, sie habe nur einen Sohn und eine Tochter zur Welt gebracht. Das klassische Vorbild der Niobe wurde auf andere Sujets übertragen: auf die trauernden Mütter beim Bethlehemitischen Kindermord, auf die trauernden Töchter in Historiendarstellungen wie Davids Die Liktoren bringen Brutus die Leichen seiner Söhne, auf die weinenden Frauen der Kreuzigungsszenen, auf Rachel (die Personifizierung Israels), die in den Weissagungen Jeremias um ihre Kinder weint. Im 18. Jahrhundert wurden Frauentränen, zuvor ein Zeichen der Schwäche, zu lobenswerten Beweisen gesteigerter Empfindsamkeit geadelt, und zeitweise war es sogar Männern erlaubt, Tränen zu vergießen. […]
Die meisten Männer in der abendländischen Kunst tragen ihr Leid jedoch mit Fassung. Laokoon, der trojanische Priester, der mitsamt seinen zwei Söhnen von den Schlangen der Athene erwürgt wird, legt in der berühmten Marmorgruppe aus der Zeit um 25 v. Chr. eine »beherrschte Agonie« an den Tag, während Heilige und Sünder einen gewissen Anspruch auf Tränen geltend machen dürfen. So Masaccios weinender Adam bei der Vertreibung aus dem Paradies; der weinende Lieblingsjünger Johannes unter dem Kreuz Jesu; der junge kastilische Edelmann El Cid, als er, fälschlich des Betrugs bezichtigt, aus dem Umkreis des geliebten Königs entfernt wird und unter Tränen fragt: »Warum lüftet Ihr den Vorhang meines Herzens?«; so Dante, den die ewige Höllenpein für seine Florentiner Mitbürger zu Tränen rührt; John Bunyans Christian, der weinend und zitternd ruft: »Was soll ich nur tun?«; oder Odysseus, der um seine von den Zyklopen verschlungenen Kameraden weint. Sie alle zeigen die erlaubten Formen männlichen Leids auf. Weinen darf man über die eigenen Verfehlungen (wirkliche oder eingebildete) oder um das Schicksal anderer Männer (selbst wenn es sich um Gottes Sohn handelt). Aber meistens galten männliche Tränen als unziemlich, und die »beherrschte Agonie« war die gegebene Art, männliche Gefühle zu beschreiben. […] Auf dem Gemälde Guernica gibt es keinen weinenden Mann. […]
1943 erkor sich Picasso die junge Françoise Gilot zur neuen Geliebten und versuchte sie zur Freundschaft mit Dora Maar zu bewegen. Deren Begegnung war zwar von Peinlichkeiten geprägt, aber sie endete nicht so gewaltsam wie die Dora Maars mit Marie-Thérèse - nämlich in einer Prügelei auf dem Fußboden von Picassos Atelier unter den Augen des belustigten Meisters. Kurz nach der Befreiung von Paris bat er Françoise zu sich, setzte sich zu ihr aufs Bett und gestand ihr seine tiefe Sorge um Dora Maar. Er hatte sie zu Hause aufgesucht, um mit ihr essen zu gehen, aber nicht vorgefunden. Als sie kam, waren ihre Kleider zerrissen, ihr Haar zerzaust, und sie berichtete ihm, sie sei von einem Mann überfallen worden, der ihr den Hund, ein Geschenk Picassos, gestohlen habe. Zwei Abende danach wurde sie in einem ähnlichen Zustand in der Nähe des Pont Neuf von einem Polizisten aufgegriffen und behauptete diesmal, ein anderer Mann habe sie überfallen und ihr das Fahrrad gestohlen. Das Fahrrad fand sich unversehrt an der Stelle, wo sie es hinterlassen hatte. Wieder ein paar Tage später bekam sie religiöse Visionen, die sie als »Offenbarungen der inneren Stimme« bezeichnete. Eines Nachmittags forderte sie Picasso und Eluard mit mystischer Inbrunst auf, vor ihr niederzuknien und ihre Sünden zu bereuen (beide waren Atheisten). Als sich Picasso weigerte, schrie sie ihn an: »Als Künstler bist du groß, aber moralisch bist du ein Nichts!« Das war nur die erste ihrer »Szenen« (so Picasso), die bald an Häufigkeit und Heftigkeit zunahmen.
Picasso und Eluard schickten Dora Maar zu ihrem Freund, dem Analytiker Jacques Lacan, der sich gerade den Ruf erwarb, »die Fragen beantworten zu können, die Freud offengelassen hatte«. Lacan behielt sie drei Wochen in seiner Klinik und überredete sie zu einer Analyse. Inzwischen schoben sich Picasso und Eluard gegenseitig die Schuld an Dora Maars Zustand zu. Eluard behauptete, Picasso habe sie unglücklich gemacht und zerstört, Picasso warf Eluard vor, er habe ihr den Kopf mit surrealistischem Unsinn vollgestopft. Zu Françoise Gilot sagte Picasso, er fühle sich »angewidert von Doras Verhalten«. Es ist seltsam, daß einem Mann, der das Leiden so eindrucksvoll gestalten konnte, jegliches Verständnis dafür abging, was zu dessen Linderung vonnöten war: die Gegenwart eines menschlichen Wesens, das ihren Schmerz erkannte, ihr Gehör und Trost schenkte - und nicht nur den geschulten Blick des Psychiaters.
Aus Lacans Sicht war Dora Maars Leiden eine Bestätigung der psychoanalytischen Identitätstheorie, die er in den Jahren davor entwickelt hatte und die davon ausgeht, daß sich unsere Identität aus den Spiegelbildern zusammensetzt, von denen wir umgeben sind. Das Selbstbild, das wir erwerben, besteht demzufolge aus unzähligen zufälligen und aufgesplitterten Fremdeindrücken wie ein kubistisches Gemälde. Unser Ich ist nach Lacans Worten eine »inauthentische Agentur«, die dazu da ist, das grundsätzliche Fehlen einer inneren Identität zu verbergen.
Manches davon muß Dora Maar plausibel vorgekommen sein, wenn sie an die vielen zerrissenen, splitterartigen Porträts dachte, die Picasso von ihr angefertigt hatte. Aber sie spürte auch etwas, was dem analytischen Blick Lacans wahrscheinlich entging. Wenn ihr Liebhaber Picasso das, was sie war, zerbrochen hatte, um sich aus den Scherben sein eigenes Bild von ihr zusammenzusetzen, wer war sie dann in Wirklichkeit? Als vernachlässigte Liebhaberin, als unfertige Künstlerin, wahrgenommen nur in ihrer Rolle als angeschlagene Muse, versuchte sie mit allen Kräften, diese Seiten ihrer Persönlichkeit - es waren die einzigen, die für Picasso zählten - zur Vollendung zu bringen. Seit ihr Selbstbild zerstört war, fühlte sie sich verlassen und schutzlos, aber auch von allen Schranken befreit. Sie wollte nicht mehr nur Picassos Gewaltopfer sein, sondern das Gewaltopfer jedes beliebigen Mannes, aller Männer, ein williges Opfer für Raub und Überfall auf offener Straße. Sie wollte nicht nur Picassos Muse sein, sondern auch seine Götterbotin, die Stimme der Offenbarung. Ihrer selbsterrichteten Identität beraubt, wollte sie, daß die übermächtige Identität des Männlichen und des Göttlichen von ihr Besitz ergriff und Gebrauch von ihr machte, so wie ihr Geliebter sie besessen und benutzt hatte.
Und wenn sie denn schon verloren war, sollte es ein eigener Willensakt sein, ihr letzter selbstbestimmter Schritt. Sie wollte sich aus jedem Porträt zurückziehen, aus jeder Skizze, jedem Abbild der Schmerzen, die Picasso ihr zugefügt und so raffiniert ausgebeutet hatte. Sie wollte zur Abwesenheit ihrer selbst werden. Sie wollte (wäre es möglich gewesen) ihre Seele von der Leinwand zurückrufen und nichts hinterlassen als ihre Hülse, ihren meisterhaft verfertigten Kokon. Und sie wollte nicht leise verschwinden, nein, so laut wie möglich wollte sie sich selbst verlieren. Es war ein Akt der Gewalt, aber das Gegenteil von Selbstmord. Wenn wir, vor Picassos Bildern stehend, die Frau anstarren, von der es heißt, sie sei Dora Maar, können wir uns durchaus vorstellen, daß sie ihr Ziel erreicht hat - jenseits der zufälligen Berühmtheit, die sie durch uns, die voyeuristischen Museumsbesucher, erlangte.
Dora Maar starb im Juli 1997 im Alter von neunundachtzig Jahren in Paris.
Niemand sollte, denke ich, Ingeborg Bachmanns fürchterliche Todesart allzu hurtig mit ihrem geplanten Romanzyklus »Todesarten« in Verbindung bringen und in ihrem Werk Anspielungen auf und Ahnungen über einen Feuertod suchen.
Man hat, wie es zur Grausamkeit der literarischen Szene zu gehören scheint, ohnehin den Schmerz und die ebenso hohe Abstraktheit wie Sinnlichkeit ihrer Poesie zu sehr literarisiert. Man hat aus der Anrufung den Ruf, der zum Schrei wurde, nicht hören wollen, man hat Ingeborg Bachmann selbst zu Literatur gemacht, zu einem Bild, einem Mythos, verloren in und an Rom, diese österreichische Protestantin, die als Mädchen auszog, die höchsten intellektuellen Abenteuer zu suchen, sie bestand und dann anfing, den Großen Bären und die Heiligen Leonhard, Antonius, Vitus, Rochus anzurufen (»weil du gelitten hast«).
Daß in der Ikonisierung einer lebenden Person eine schrittweise Tötung versteckt sein kann, müßte gerade an ihr deutlich werden. Ich mag die Art ihres Todes nicht symbolisieren, mythologisieren oder gar eine metaphysische Schleife draus winden. War Ingeborg Bachmann nicht gefangen in dem Bild, das andere sich und anderen aus ihr gemacht haben? Ich weiß nur, daß sie immer beides war: immer da und immer abwesend; da, wenn einer sie brauchte, und dann war der großen Dichterin ihre Zeit keineswegs zu kostbar, etwa ein Zimmer zu besorgen oder in halb Italien nach einem geeigneten Hotel zu telephonieren; mancher Versprengte und polizeilich Gesuchte aus der Berliner Studentenbewegung wird sich hoffentlich ihrer Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft erinnern.
Denn sie war eine Dichterin und damit beides: engagiert -- und das andere. Und sie war beides ganz: mit leiser Stimme und doch voller Energie, wie wenn sie Gedichte vorlas. Hinter ihrer habituellen Nervosität, einer Art ständiger Gebrochenheit, die immer den Zustand »kurz vor dem Zusammenbruch« signalisierte, verbargen sich Zähigkeit, Kraft, auch Direktheit, die spontan zu Freundschaft und Hilfsbereitschaft wurde, und sie selbst hat am wenigsten irgend etwas »literarisiert«, wenn ihr auch manches unglückselig geriet oder ausging. Wie jeder andere Mensch war auch sie auf Glück und Heil aus, nicht auf Unglück und Unheil, wie es ihr reichlich zuteil wurde.
Natürlich gibt es da auch genug Klatsch, und gewiß wird der eine oder andere bemerken, sie sei wohl gelegentlich unter ihr Niveau gegangen; ich möchte nur feststellen, daß man Niveau haben muß, um darunter oder darüber zu gehen. Ja, sie war Gott sei Dank nicht »gleichbleibend«, sie hatte Blößen, gab sie sich und zeigte sie. Gottes Segen über alle Gleichbleibenden, die ihres Niveaus so sicher sind, daß sie nie drunter und nie drüber geraten.
Das Erstaunlichste an Ingeborg Bachmann war ja, daß diese brillante Intellektuelle in ihrer Poesie weder Sinnlichkeit einbüßte noch Abstraktion vernachlässigte, und daß sie jenen immer mehr zum Aussatzmerkmal denunzierten großen Komplex, den man Emotion zu nennen pflegt, wieder in den höchsten Rang erhob. Wenn Emotion ungefähr mit Bewegung oder Bewegtheit, Emotionslosigkeit mit Unbewegtheit oder Bewegungslosigkeit übersetzt werden kann, darf ich feststellen: unbewegt war Ingeborg Bachmann nie. In manchen ihrer Gedichte verbirgt sich ein Element, das volksliedhaft hätte werden können, wäre das Volk beider Deutschland und Österreichs bereit gewesen, die liedhafte Bitterkeit anzunehmen.
Hoffentlich werden sich nicht zu viele Lesebuchautoren, Eltern, Erzieher und Nikotingegner dieser schrecklichen Begebenheit mit mahnendem Zeigefinger bedienen: Ingeborg Bachmann, die über einer glühenden Zigarette einschlief. Wir, die wir sie gekannt haben, wissen, daß es nicht Zufall und nicht bloß eine Unart war, und daß es doch nicht »ins Bild gesetzt« werden und noch weniger symbolhaft mit ihrem Leben und ihrem Werk verknüpft werden sollte. Sie war es, die den berüchtigten Spruch »Tapferkeit vor dem Feind« in »Tapferkeit vor dem Freund« umgeprägt hat.
Ich denke mit Schmerz an sie, mit Zärtlichkeit und in Freundschaft, und ich denke an die siebenundvierzigjährige Frau wie an ein Mädchen. Und ich wehre mich gegen etwas, das leicht gesagt ist: der Tod habe sie erlöst. Nein, diese Art der Erlösung suchte sie nicht; ich würde sie gern selber fragen, ob ich mich täusche.
"Mit Worten ein Einsehen lernen" Ingeborg Bachmann
Dankesrede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden am 17. März 1959
Der Schriftsteller - und das ist in seiner Natur - wünscht, sich Gehör zu verschaffen. Und doch erscheint es ihm eines Tages wunderbar, wenn er fühlt, dass er zu wirken vermag - um so mehr, wenn er wenig Tröstliches sagen kann vor Menschen, die des Trostes bedürftig sind, wie nur Menschen es sein können, verletzt, verwundet und voll von dem großen geheimen Schmerz, mit dem der Mensch vor allen anderen Geschöpfen ausgezeichnet ist. Es ist eine schreckliche und unbegreifliche Auszeichnung. Wenn das so ist, dass wir sie tragen und mit ihr leben müssen, wie soll dann der Trost aussehen und was soll er uns überhaupt? Dann ist es doch - meine ich - unangemessen, ihn durch Worte herstellen zu wollen. Er wäre ja, wie immer er aussähe, zu klein, zu billig, zu vorläufig.
So kann es auch nicht die Aufgabe des Schriftstellers sein, den Schmerz zu leugnen, seine Spuren zu verwischen, über ihn hinwegzutäuschen. Er muss ihn, im Gegenteil, wahrhaben und noch einmal, damit wir sehen können, wahr machen. Denn wir wollen alle sehend werden. Und jener geheime Schmerz macht uns erst für die Erfahrung empfindlich und insbesondere für die der Wahrheit. Wir sagen sehr einfach und richtig, wenn wir in diesen Zustand kommen, den hellen, wehen, in dem der Schmerz fruchtbar wird: Mir sind die Augen aufgegangen. Wir sagen das nicht, weil wir eine Sache oder einen Vorfall äußerlich wahrgenommen haben, sondern weil wir begreifen, was wir doch nicht sehen können. Und das sollte die Kunst zuwege bringen: dass uns, in diesem Sinne, die Augen aufgehen.
Der Schriftsteller - und das ist auch in seiner Natur - ist mit seinem ganzen Wesen auf ein Du gerichtet, auf den Menschen, dem er seine Erfahrung vom Menschen zukommen lassen möchte (oder seine Erfahrung der Dinge, der Welt und seiner Zeit, ja von all dem auch!), aber insbesondere vom Menschen, der er selber oder die anderen sein können und wo er selber und die anderen am meisten Mensch sind. Alle Fühler ausgestreckt, tastet er nach der Gestalt der Welt, nach den Zügen des Menschen in dieser Zeit. Wie wird gefühlt und was gedacht und wie gehandelt? Welche sind die Leidenschaften, die Verkümmerungen, die Hoffnungen...? Wenn in meinem Hörspiel »Der gute Gott von Manhattan« alle Fragen auf die nach der Liebe zwischen Mann und Frau und was sie ist, wie sie verläuft und wie wenig oder wie viel sie sein kann, hinauslaufen, so könnte man sagen: Aber das ist ein Grenzfall. Aber das geht zu weit …
Nun steckt aber in jedem Fall, auch im alltäglichsten von Liebe, der Grenzfall, den wir, bei näherem Zusehen, erblicken können und vielleicht uns bemühen sollten, zu erblicken. Denn bei allem, was wir tun, denken und fühlen, möchten wir manchmal bis zum Äußersten gehen. Der Wunsch wird in uns wach, die Grenzen zu überschreiten, die uns gesetzt sind. Nicht um mich zu widerrufen, sondern um es deutlicher zu ergänzen, möchte ich sagen: Es ist auch mir gewiss, dass wir in der Ordnung bleiben müssen, dass es den Austritt aus der Gesellschaft nicht gibt und wir uns an einander prüfen müssen. Innerhalb der Grenzen aber haben wir den Blick gerichtet auf das Vollkommene, das Unmögliche, Unerreichbare, sei es der Liebe, der Freiheit oder jeder reinen Größe. Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten. Dass wir es erzeugen, dieses Spannungsverhältnis, an dem wir wachsen, darauf, meine ich, kommt es an; dass wir uns orientieren an einem Ziel, das freilich, wenn wir uns nähern, sich noch einmal entfernt.
Wie der Schriftsteller die anderen zur Wahrheit zu ermutigen versucht durch Darstellung, so ermutigen ihn die anderen, wenn sie ihm, in Lob und Tadel, zu verstehen geben, dass sie die Wahrheit von ihm fordern und in den Stand kommen wollen, wo ihnen die Augen aufgehen. Die Wahrheit nämlich ist den Menschen zumutbar. Wer, wenn nicht diejenigen unter Ihnen, die ein schweres Los getroffen hat, könnte besser bezeugen, dass unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück, dass man, um vieles beraubt, sich zu erheben weiß, dass man enttäuscht, und das heißt: ohne Täuschung zu leben vermag. Ich glaube, dass dem Menschen eine Art des Stolzes erlaubt ist - der Stolz dessen, der in der Dunkelhaft der Welt nicht aufgibt und nicht aufhört, nach dem Rechten zu sehen.
Eine festliche Pause zwischen zwei Arbeiten, wie die heutige, ist zugleich eine Bedenkzeit; sofern sie meine Bedenkzeit ist, erbitte ich sie für die vielen Fragen, die Sie zu Recht noch stellen könnten und auf die erst immer neue Arbeiten und Bemühungen versuchen können, Antworten zu sein. So komme ich zum Dank für die Ehrung, die Sie mir heute widerfahren lassen. Weil man, wenn man seinen Dank sagt, es nicht nur im allgemeinen tun mag, will ich ihn richten an jene, die oft meine Arbeit und die so vieler Autoren erst ermöglicht oder erleichtert haben durch ihre Großzügigkeit an die deutschen Rundfunkanstalten; darüber hinaus an die Hörer, die ich gefunden habe, die unbekannten, deren Namen ich nicht kenne; vor allem aber und sehr besonders an die Kriegsblinden, die mehr noch als alle anderen Gehör schenken dem Wort und die, als eine würdige Instanz, diesen Preis vergeben. Ich danke Ihnen.
02. Entfremdung [00:45] 03. Dem Abend gesagt [00:42] 04. Vision [00:54] 05. Menschenlos [00:52] 06. Wie soll ich mich nennen? [01:06] 07. [Die Häfen waren geöffnet] [01:05] 08. [Die Welt ist weit] [01:55] 09. [Noch fürcht' ich] [00:54]
Die gestundene Zeit
10. Ausfahrt [02:46] 11. Abschied von England [01:20] 12. Fall ab, Herz [01:08] 13. Dunkles zu sagen [01:20] 14. Paris [01:06] 15. Die große Fracht [00:54] 16. Herbstmanöver [01:51] 17. Die gestundete Zeit [01:07] 18. Früher Mittag [02:09] 19. Alle Tage [01:02] 20. Die Brücken [01:12]
Anrufung des Großen Bären, 1956
21. Das Spiel ist aus [02:14] 22. Anrufung des Großen Bären [01:17] 23. Mein Vogel [01:50] 24. Landnahme [00:52] 25. Curriculum Vitae [03:44] 26. Heimweg [01:31] 27. Nebelland [01:44] 28. Die blaue Stunde [02:15] 29. Erklär mir, Liebe [02:15] 30. Scherbenhügel [01:03] 31. Tage in Weiß [01:25] 32. Harlem [00:44] 33. Toter Hafen [01:12] 34. Was wahr ist [01:51] 35. Das erstgeborene Land [01:13] 36. Lieder von einer Insel [04:04] 37. Nord und Süd [00:59] 38. Römisches Nachtbild [00:48] 39. Unter dem Weinstock [00:43] 40. Schwarzer Walzer [01:52] 41. Nach vielen Jahren [00:59] 42. Schatten Rosen Schatten [00:35] 43. Bleib [00:46] 44. An die Sonne [02:33]
Gedicht, 1957
45. Hôtel de la Paix [00:34] 46. Exil [01:17] 47. Nach dieser Sintflut [00:28] 48. Mirjam [01:17] 49. Strömung [00:41] 50. Geh, Gedanke [00:48] 51. Liebe: dunkler Erdteil [02:40] 52. Freies Geleit (Aria II) [01:40]
In den Bäumen kann ich keine Bäume mehr sehen. Die Äste haben nicht die Blätter, die sie in den Wind halten. Die Früchte sind süß, aber ohne Liebe. Sie sättigen nicht einmal. Was soll nur werden? Vor meinen Augen flieht der Wald, vor meinem Ohr schließen die Vögel den Mund, für mich wird keine Wiese zum Bett. Ich bin satt vor der Zeit und hungre nach ihr. Was soll nur werden?
Auf den Bergen werden nachts die Feuer brennen. Soll ich mich aufmachen, mich allem wieder nähern?
Ich kann in keinem Weg mehr einen Weg sehen.
Track 06 - Wie soll ich mich nennen? (Gedichte, 1948-1953)
Wie soll ich mich nennen?
Einmal war ich ein Baum und gebunden, dann entschlüpft ich als Vogel und war frei, in einem Graben gefesselt gefunden, entließ mich berstend ein schmutziges Ei.
Wie halt ich mich? Ich habe vergessen, woher ich komme und wohin ich geh, ich bin von vielen Leibern besessen, ein harter Dorn und ein flüchtendes Reh.
Freund bin ich heute den Ahornzweigen, morgen vergehe ich mich an ihrem Stamm ... Wann begann die Schuld ihren Reigen, mit dem ich von Samen zu Samen schwamm?
Aber in mir singt noch ein Beginnen - oder ein Enden - und wehrt meiner Flucht, ich will dem Pfeil dieser Schuld entrinnen, der mich in Sandkorn und Wildente sucht.
Vielleicht kann ich mich einmal erkennen, eine Taube einen rollenden Stein ... Ein Wort nur fehlt! Wie soll ich mich nennen, ohne in anderer Sprache zu sein.
Track 13 - Dunkles zu sagen (Die gestundete Zeit, 1952/53)
Dunkles zu sagen
Wie Orpheus spiel ich auf den Saiten des Lebens den Tod und in die Schönheit der Erde und deiner Augen, die den Himmel verwalten, weiß ich nur Dunkles zu sagen.
Vergiß nicht, daß auch du, plötzlich, an jenem Morgen, als dein Lager noch naß war von Tau und die Nelke an deinem Herzen schlief, den dunklen Fluß sahst, der an dir vorbeizog.
Die Saite des Schweigens gespannt auf die Welle von Blut, griff ich dein tönendes Herz. Verwandelt ward deine Locke ins Schattenhaar der Nacht, der Finsternis schwarze Flocken beschneiten dein Antlitz.
Und ich gehör dir nicht zu. Beide klagen wir nun.
Aber wie Orpheus weiß ich auf der Seite des Todes das Leben, und mir blaut dein für immer geschlossenes Aug.
Track 19 - Alle Tage (Die gestundete Zeit, 1952/53)
Alle Tage
Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt. Das Unerhörte ist alltäglich geworden. Der Held bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache ist in die Feuerzonen gerückt. Die Uniform des Tages ist die Geduld, die Auszeichnung der armselige Stern der Hoffnung über dem Herzen.
Er wird verliehen, wenn nichts mehr geschieht, wenn das Trommelfeuer verstummt, wenn der Feind unsichtbar geworden ist und der Schatten ewiger Rüstung den Himmel bedeckt.
Er wird verliehen für die Flucht von den Fahnen, für die Tapferkeit vor dem Freund, für den Verrat unwürdiger Geheimnisse und die Nichtachtung jeglichen Befehls.
Track 21 - Das Spiel ist aus (Anrufung des Großen Bären, 1956)
Das Spiel ist aus
Mein lieber Bruder, wann bauen wir uns ein Floß und fahren den Himmel hinunter? Mein lieber Bruder, bald ist die Fracht zu groß und wir gehen unter.
Mein lieber Bruder, wir zeichnen aufs Papier viele Länder und Schienen. Gib acht, vor den schwarzen Linien hier fliegst du hoch mit den Minen.
Mein lieber Bruder, dann will ich an den Pfahl gebunden sein und schreien. Doch du reitest schon aus dem Totental und wir fliehen zu zweien.
Wach im Zigeunerlager und wach im Wüstenzelt, es rinnt uns der Sand aus den Haaren, dein und mein Alter und das Alter der Welt mißt man nicht mit den Jahren.
Laß dich von listigen Raben, von klebriger Spinnenhand und der Feder im Strauch nicht betrügen, iß und trink auch nicht im Schlaraffenland, es schäumt Schein in den Pfannen und Krügen.
Nur wer an der goldenen Brücke für die Karfunkelfee das Wort noch weiß, hat gewonnen. Ich muß dir sagen, es ist mit dem letzten Schnee im Garten zerronnen.
Von vielen, vielen Steinen sind unsre Füße so wund. Einer heilt. Mit dem wollen wir springen, bis der Kinderkönig, mit dem Schlüssel zu seinem Reich im Mund, uns holt, und wir werden singen:
Es ist eine schöne Zeit, wenn der Dattelkern keimt! Jeder, der fällt, hat Flügel. Roter Fingerhut ist's, der den Armen das Leichentuch säumt, und dein Herzblatt sinkt auf mein Siegel.
Wir müssen schlafen gehn, Liebster, das Spiel ist aus. Auf Zehenspitzen. Die weißen Hemden bauschen. Vater und Mutter sagen, es geistert im Haus, wenn wir den Atem tauschen.
Track 23 - Mein Vogel (Anrufung des Großen Bären, 1956)
Mein Vogel
Was auch geschieht: die verheerte Welt sinkt in die Dämmrung zurück, einen Schlaftrunk halten ihr die Wälder bereit, und vom Turm, den der Wächter verließ, blicken ruhig und stet die Augen der Eule herab. Was auch geschieht: du weißt deine Zeit, mein Vogel, nimmst deinen Schleier und fliegst durch den Nebel zu mir. Wir äugen im Dunstkreis, den das Gelichter bewohnt. Du folgst meinem Wink, stößt hinaus und wirbelst Gefieder und Fell - Mein eisgrauer Schultergenoß, meine Waffe, mit jener Feder besteckt, meiner einzigen Waffe! Mein einziger Schmuck: Schleier und Feder von dir. Wenn auch im Nadeltanz unterm Baum die Haut mir brennt und der hüfthohe Strauch mich mit würzigen Blättern versucht, wenn meine Locke züngelt, sich wiegt und nach Feuchte verzehrt, stürzt mir der Sterne Schutt doch genau auf das Haar. Wenn ich vom Rauch behelmt wieder weiß, was geschieht, mein Vogel, mein Beistand des Nachts, wenn ich befeuert bin in der Nacht, knistert's im dunklen Bestand, und ich schlage den Funken aus mir. Wenn ich befeuert bleib wie ich bin und vom Feuer geliebt, bis das Harz aus den Stämmen tritt, auf die Wunden träufelt und warm die Erde verspinnt, (und wenn du mein Herz auch ausraubst des Nachts, mein Vogel auf Glauben und mein Vogel auf Treu!) rückt jene Warte ins Licht, die du, besänftigt, in herrlicher Ruhe erfliegst - was auch geschieht.
Track 29 - Erklär mir, Liebe (Anrufung des Großen Bären, 1956)
Erklär mir, Liebe
Dein Hut lüftet sich leis; grüßt, schwebt im Wind, dein unbedeckter Kopf hat's Wolken angetan, dein Herz hat anderswo zu tun, dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein, das Zittergras im Land nimmt überhand, Sternblumen bläst der Sommer an und aus, von Flocken blind erhebst du dein Gesicht, du lachst und weinst und gehst an dir zugrund, was soll dir noch geschehen -
Erklär mir, Liebe!
Der Pfau, in feierlichem Staunen, schlägt sein Rad, die Taube stellt den Federkragen hoch, vom Gurren überfüllt, dehnt sich die Luft, der Entrich schreit, vom wilden Honig nimmt das ganze Land, auch im gesetzten Park hat jedes Beet ein goldner Staub umsäumt. Der Fisch errötet, überholt den Schwarm und stürzt durch Grotten ins Korallenbett. Zur Silbersandmusik tanzt scheu der Skorpion. Der Käfer riecht die Herrlichste von weit; hätt ich nur seinen Sinn, ich fühlte auch, daß Flügel unter ihrem Panzer schimmern, und nähm den Weg zum fernen Erdbeerstrauch!
Erklär mir, Liebe!
Wasser weiß zu reden, die Welle nimmt die Welle an der Hand, im Weinberg schwillt die Traube, springt und fällt. So arglos tritt die Schnecke aus dem Haus!
Ein Stein weiß einen andern zu erweichen!
Erklär mir, Liebe, was ich nicht erklären kann: sollt ich die kurze schauerliche Zeit nur mit Gedanken Umgang haben und allein nichts Liebes kennen und nichts Liebes tun? Muß einer denken? Wird er nicht vermißt?
Du sagst: es zählt ein andrer Geist auf ihn... Erklär mir nichts. Ich seh den Salamander durch jedes Feuer gehen. Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.
Track 49 - Strömung (Gedichte, 1957)
Strömung
So weit im Leben und so nah am Tod, daß ich mit niemand darum rechten kann, reiß ich mir von der Erde meinen Teil;
dem stillen Ozean stoß ich den grünen Keil mitten ins Herz und schwemm mich selber an.
Zinnvögel steigen auf und Zimtgeruch! Mit meinem Mörder Zeit bin ich allein. In Rausch und Bläue puppen wir uns ein.
Arnold Schönberg wurde am 13. September 1874 in Wien geboren und starb am 13. Juli 1951 in Los Angeles.
Erste Kompositionsversuche im Alter von acht Jahren. Ab 1895 lernte er bei seinem Freund Alexander von Zemlinsky; sechs Jahre später heiratete er dessen Schwester Mathilde. Beginnend als Spätromantiker entwickelte er nach einem Zeitraum frei-atonalen Schaffens (»Harmonielehre«, 1911) zu Beginn der Zwanzigerjahre - neben Josef Matthias Hauer - seine Methode der »Komposition mit zwölf Tönen«.
Das Bläserquintett op. 26 ist das erste größere Werk, in dem Schönberg diese Technik konsequent anwendet. Die Hauptreihe lautet: es - g - a - h - cis - c - b - d - e - fis - gis – f. Aus dieser Reihe wählt er auf verschiedene Weise 3, 4 oder 6 Tongruppen aus, um damit die Melodik und Harmonik des Werkes zu formen. Das heißt, daß nicht alle Tonfolgen einer Stimme direkt denen der vier Reihengestalten Grundreihe, Umkehrung, Krebs und Krebsumkehrung entsprechen. Weiters leitet er aus dieser Gruppenbildung verschiedene Permutationsformen der Grundreihe ab, die vornehmlich im 3. und 4. Satz des Werkes - trotz größtmöglicher Organisation nach der Grundreihe - zusätzliche Strukturen bringen.
Die ausführliche Analyse des Bläserquintetts zeigt, daß Schönberg bereits zu Beginn der Dodekaphonie sehr viele konstruktive Elemente in die Musik einführt. So sind die Techniken der Tongruppenbildung, der Permutation solcher Gruppen und sogar der Permutationen innerhalb solcher Gruppen bereits voll ausgereift. Insgesamt also erweist sich Schönbergs Zwölftontechnik bereits in ihren Anfängen in erstaunlicher Nähe zur seriellen Kompositionsweise der Fünfzigerjahre und somit als Keim für zukünftige Musik, der alle Anlagen zur späteren Entwicklung enthält.
Arnold und Mathilde Schönberg, Mödling, 1922
Formal ist das Bläserquintett streng klassisch aufgebaut. Der 1. Satz (Schwungvoll) besteht aus Hauptsatz (Hauptthema - Überleitung - Seitenthema - Schlußgruppe) - Einleitung zur Durchführung - Durchführung - Reprise – Koda. Der 2. Satz entspricht einem erweiterten Scherzo (Anmutig und heiter): Scherzo (Hauptthema - 1.Seitensatzgruppe - Reprise des Hauptthemas) - Trio (2.Seitensatzgruppe) - Durchführung - Scherzoreprise und verkürztes Trio - Koda. Der 3. Satz (Etwas langsam) umfaßt Hauptthemengruppe (dreiteilige Liedform) - Seitensatzgruppe (zweigeteilt) - Reprise der Hauptthemengruppe - Koda. Der 4. Satz ist ein Rondo: Thema (Dreiteiliges Lied mit ausgeführten und variierten Wiederholungen) - Überleitungs- und Seitengedanke - Schlußgruppe - 1. Reprise des Themas - Trio (2. Seitensatz) und Durchführung – 2. Reprise des Themas - Reprise der Seiten- und Schlußgedanken – 3. Reprise des Themas (verkürzt) mit kurzer Durchführung und Koda.
Arnold Schönberg begann seine Arbeit am Bläserquintett am 14. April 1923. Die Widmung »Dem Bubi Arnold« dürfte nicht nur Schönbergs Bewußtsein widerspiegeln, für die Generation seiner Enkel zu komponieren, sondern auch einem ersten Anstoß zur Reihengestaltung des Quintetts entsprungen sein: »es - g - a - …« steht fur »S«chönberg - »G«ertrud oder »G«reissle (Schönbergs Tochter) - »A«rnold (das neugeborene Enkelkind). Bereits am 19. Mai sind die Hauptthemen aller Sätze entworfen, am 15. Juli die ersten beiden Sätze abgeschlossen. Im 1. Satz (Schwungvoll) versucht Schönberg neben der größtmöglichen Emanzipation der einzelnen Töne untereinander auch einen Ausgleich zwischen schweren und leichten Taktzeiten anzustreben, sodaß der Taktstrich als metrischer Anhaltspunkt seine Bedeutung zugunsten eines gleichmäßig schwebenden Klanges verliert. Der 2. Satz (Anmutig und heiter; scherzando) wird hingegen von einem rhythmisch akzentuierten Gestus beherrscht. Bewußte Betonungsverschiebungen sowie viele kleine Verzögerungen lassen den Eindruck eines stilisierten »Heurigenwalzers« oder »Schwipsliedes« entstehen. An den ersten Takten des 3. Satzes arbeitete Schönberg mehrere Wochen, bis er mit der Verwirklichung seiner musikalisch-konstruktiven Idee, die Reihe auf Horn und Fagott aufzuteilen, restlos zufrieden war.
Gertrud und Arnold Schönberg, 1924
Die schwere Erkrankung und der Tod seiner ersten Frau Mathilde (18. Oktober 1923) ließen die Arbeit am Bläserquintett ruhen. Als er nach fast einem Jahr die Komposition mit dem Seitensatz (Takt 34) fortsetzte, ließ er die Hauptstimme im Fagott mit einem - nach der Reihentechnik veränderten - Motiv aus »Tod und Verklärung« von Richard Strauss beginnen. Nach Richard Specht bezeichnete Strauss dieses als »wehmutsvolles Lächeln« beziehungsweise die »Glücksempfindung schöner Erinnerungen«. In der Wiederkehr des Motivs bei Schönberg (Klarinette, Takt 46) unterlegt er dieses mit dem - ebenso der Reihe angepaßten - Motiv des »Anstiegs« aus der »Alpensymphonie« von Richard Strauss. Diese musikalische Aussage läßt den Schluß zu, daß der 1898 getaufte Christ Arnold Schönberg an Auferstehung und an ein Leben nach dem Tod geglaubt hat (erst 1934 kehrte er aus Protest gegen den wachsenden Antisemitismus in die jüdische Glaubensgemeinschaft zurück). Im zweiten Teil dieses Seitensatzes erklingt ein grotesker Totentanz im Dreivierteltakt. In nur wenigen Tagen vollendete er nun auch den 4. Satz, von dem aus dem Jahre 1923 nur wenige Takte vorhanden waren. Der Satz ist charakterisiert durch drängende Lebensfreude; im 2. Seitensatz (Trio) erklingen sogar einige Takte eines Tangos.
Am 21. August 1924 teilte Schönberg seinem Freund Zemlinsky als erstem mit, daß er Gertrud Kolisch heiraten werde. Am 26. August vollendete er den letzten Satz des Bläserquintetts. Zwei Tage später fand die Trauung statt. Am 16. September 1924 dirigierte Felix Greissle (sein Schwiegersohn) anläßlich Schönbergs 50. Geburtstag die Uraufführung durch die Bläser der Wiener Philharmoniker.
Das Werk wurde vom Zemlinsky Quintett Wien in der vorliegenden Aufnahme zum ersten Mal durch ein österreichisches Ensemble auf CD eingespielt.
Schwiegersohn Felix Greissle, Tochter Gertrud, Arnold Schönberg, Ehefrau Mathilde, Sohn Georg - Traunkirchen 1922
Jean-René Françaix wurde am 23. Mai 1912 in Le Mans geboren, er starb 1997 in Paris. Die Mutter Jeanne Françaix war Sängerin und unterrichtete am Konservatorium von Le Mans Choral- und Sologesang sowie Opernmusik. Sie war auch die Gründerin eines bekannten Chors. Der Vater, Alfred Françaix, war Pianist und Komponist sowie der Leiter des Konservatoriums.
Studien beim Vater setzte Jean am Conservatoire in Paris fort, wo ihm J. S. Bach und Igor Strawinsky nahegebracht wurden. Seine erste Komposition schrieb er im Alter von sechs Jahren, mit seinem Jugendwerk, dem Concertino für Klavier von 1932, erzielte er sofort große Erfolge. Als Pianist unternahm Françaix zahlreiche Konzerttourneen, die ihn durch Europa und die USA führten. Françaix nahm an mehreren internationalen Festspielen, beispielsweise 1932 an den IGNM-Festspielen in Wien, teil. In Le Mans erhielt er bereits im Alter von 12 Jahren den Ehrenpreis, 1950 den Prix de Portique für sein Gesamtschaffen. Sein Klavier-Doppelkonzert führte er 1965 erstmals zusammen mit seiner Tochter auf.
Jean Françaix hat Sinn für Humor, in seinem Schaffen macht sich die Vorliebe für eine Reihe von Musikern und Schriftstellern bemerkbar (Mozart, Schubert, Chabrier, Ravel und Strawinsky sowie neben den französischen Dichtern des 16. Jahrhunderts, La Fontaine und Molière). Die Harmonik erinnert an Ravel, von der Zwölftonlehre blieb er unbeeinflußt. Die Dissonanz bei Françaix bietet Farbe, die kontrapunktischen Wendungen sind von der Beschäftigung mit J. S. Bach geprägt. Das kompositorische Schaffen umfaßt Opern, Ballette, eine Reihe von Orchesterwerken, Vokalwerke, Lieder und zahlreiche kammermusikalische Werke in verschiedenster Besetzung.
Karl Goldammer: Otto Wagners Schützenhaus. Österreichische Briefmarke
Das Quintett No.l für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott schrieb Françaix 1948 für Bläser des Orchestre National de Paris. Die Form und Thematik sind von einem Hornthema geprägt. In der Introduktion zum 1. Satz Andante tranquilla bildet es die Keimzelle für die weiteren Themen, etwa für einen in der Reprise auftretenden Gedanken, der wieder das Thema des 4. Satzes beeinflußt. Die Coda des 1. Satzes wird vom Hornthema beherrscht, kurz vor Schluß des Finales ertönt noch einmal der Beginn des Themas. Eingebettet ist die daraus abgeleitete motivische Arbeit in virtuose Passagen aus Skalen und Arpeggien. Kurze Motive, rhythmische Wendungen, Synkopen bilden den Hintergrund für die solistische Entfaltung der einzelnen Instrumente, die in einem marcia francese gipfelt.
Quelle: Karl Schütz, im Booklet
TRACKLIST
Arnold Schönberg / Jean-René Françaix: Bläserquintette
Quintette No. 1 pour flûte, hautbois, clarinette, basson et cor 20.05
[5] I Andante tranquillo 4.35 Allegro assai [6] II Presto 4.44 [7] III Tema Andante 6.38 Var. 1 Lístesso Tempo Var. 2 Andantino con moto Var. 3 Lento Var. 4 Vivo Var. 5 Andante [8] IV Tempo di marcia francese 4.08
Heidrun Wagner-Lanzendörfer Flöte, flute, flûte Andrea Krauk Oboe, oboe, hautbois Kurt Franz Schmid Klarinette, clarinet, clarinette Michel Gasciarino Horn, french horn, cor Gottfried Pokorny Fagott, bassoon, basson
Track 3: Arnold Schönberg: Bläserquintett op. 26 - III. Etwas langsam
Taschenatlas der abgelegenen Inseln.
Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde.
DIESER ATLAS ist wie jeder Atlas das Ergebnis einer Entdeckungsreise. Sie begann vor drei Jahren, als ich im Kartenlesesaal der Berliner Staatsbibliothek um den mannshohen Globus herumging, und die Namen jener winzigen Flecken Land las, die in den Weiten der Ozeane verloren gegangen zu sein schienen, und die auf mich gerade wegen ihrer Abgelegenheit besonders einladend wirkten. // Sie erschienen mir ähnlich verheißungsvoll wie die weißen Flecken jenseits der gestrichelten Linien, die auf alten Landkarten den Horizont der bekannten Welt abstecken. Wäre unsere Welt noch nicht rundherum entdeckt, hätte ich vielleicht auf einem Schiff angeheuert, in der Hoffnung, als Erste noch unbekanntes Land zu sichten oder gar zu betreten, und mich durch diese bloße Tatsache in zukünftige Atlanten zu schreiben. Doch die Zeiten, in der uns jede Weltumseglung neue Küstenlinien und Namen bescherte, sind endgültig vorbei. Mir blieb nur übrig, meine Entdeckungen in der Bibliothek zu machen, angetrieben von dem Wunsch, in seltenen Kartenwerken und entlegener Forschungsliteratur meine Insel zu finden, die ich nicht mit kolonialistischem Eifer, sondern mit meiner Sehnsucht in Besitz nehmen wollte. // Dabei entsprach meine Phantasie durchaus dem gängigen Inselbild von Idylle und Utopie, der viel versprechenden Vorstellung, alles noch einmal anders machen zu können, fände man nur den einen perfekten Ort, weit weg von den Zwängen des Festlandes, ein Platz, an dem man zur Ruhe, zu sich kommen und sich endlich mal auf das Wesentliche konzentrieren kann.
WAS MIR AUF MEINER FORSCHUNGSREISE begegnete, waren jedoch keine Schauplätze romantischer Gegenentwürfe, sondern Inseln, denen man wünschen würde, sie wären unentdeckt geblieben, verstörend karge Orte, deren Reichtum allein die Vielzahl furchtbarer Begebenheiten ausmacht, die sich auf ihnen zugetragen haben. Während ich also eine schreckliche Geschichte nach der anderen fand und anfing, literweise Orangensaft zu trinken, um der durch alle Berichte geisternden Vitaminmangelkrankheit Skorbut vorzubeugen, packte mich erst deprimiertes Entsetzen, dann wohliger Grusel. // Es war wie mit den Gemälden des Jüngsten Gerichts, auf denen die Hölle mit ihren furchterregenden Monstern und detailliert geschilderten Foltermethoden den Blick fesselt, und nicht der Garten Eden. Im Paradies mag es schön sein, aber interessant ist es nicht.
DIE FRAGE NACH DEM Wahrheitsgehalt dieser Texte ist irreführend. Es kann darauf keine eindeutige Antwort geben. Ich habe nichts erfunden. Aber ich habe alles gefunden, diese Geschichten entdeckt und sie mir so zu eigen gemacht wie die Seefahrer das von ihnen entdeckte Land. Alle Texte in diesem Buch sind recherchiert, jedes Detail aus Quellen geschöpft. Ob sich all jenes genauso zugetragen hat, ist schon allein deshalb nicht zu klären, weil lnseln jenseits ihrer tatsächlichen geographischen Koordinaten immer Projektionsflächen bleiben, derer wir nicht mit wissenschaftlichen Methoden, sondern nur mit literarischen Mitteln habhaft werden können. // Dieser Atlas ist somit vor allem ein poetisches Projekt. Wenn der Globus rundherum bereisbar ist, besteht die eigentliche Herausforderung darin, zu Hause zu bleiben und die Welt von dort aus zu entdecken.
DIE EINSAMKEIT liegt im Nordpolarmeer - mitten in der Karasee. Diese Insel macht ihrem Namen alle Ehre: Öde und kalt ist sie, im Winter vom Packeis eingepfercht; bei 16 Grad minus liegt die Temperatur im Jahresdurchschnitt, im hohen Sommer steigt sie auch mal knapp über null. // Hier wohnt niemand. Eine alte Station liegt im Schnee versunken, verlassene Gebäude schlafen im Bauch der Bucht, mit Blick auf die zarte Nehrung hinterm gefrorenen Moor. // Der Halswirbel eines urzeitlichen Drachen wird gefunden. Ein paar Jahre später feuert ein Unterseeboot der deutschen Kriegsmarine Granaten auf die Wetterstation, zerstört die Baracken, tötet die Besatzung - das Unternehmen Wunderland schießt auf die Einsamkeit: eine der letzten Aktionen dieses Kommandos. // Als eine der größten Polarstationen der sowjetischen Union wird sie im Kalten Krieg wiederaufgebaut. Vergessen ist der Taufname, den der Kapitän aus Tromsö diesem Flecken gab - aus der Insel der Einsamkeit wird im Russischen die Insel der Zurückgezogenheit. Ihr Besucher ist jetzt kein Gefangener mehr, sondern ein Eremit, der schweigend seine Eiswüstenjahre absitzt, bis er als Heiliger aufs Festland zurückkehren kann. // Der übrig gebliebene Proviant liegt tiefgefroren in der grünen Holzbaracke, vereist, wie die Geräte zum Messen des Luftdrucks, der Temperaturen, der Windrichtung, der Himmelsstrahlung und Wolkenhöhe. Der Auffangtrichter für den Niederschlag ist unter dem Schnee begraben. An der Wand mit Palmenmuster hängt ein Bild des kinnbärtigen Lenin. Im Logbuch sind die Wartungsarbeiten des Chefmechanikers akkurat vermerkt, der Öl- und Benzinstand der einzelnen Maschinen. // Der letzte Eintrag aber hält sich nicht an die Spalten, mit rotem Filzstift steht da: 23. November 1996. Heute kam der Befehl zur Evakuierung. Wasser abgelassen, Dieselgenerator abgestellt. Die Station ist ... Das letzte Wort ist nicht zu entziffern. Willkommen in der Einsamkeit.
SÜDLICH VOM KAPLAND dehnt sich ein weites Meer, ozeanografisch noch unerforscht. Gleich hinter der Agulhas-Bank brechen alle Lotungen ab. Mit weißem Tropenanstrich steuert die Valdivia nach Süden, nimmt einen Kurs, den seit mehr als 50 Jahren kein Schiff wählte. Auf den britischen Seekarten ist es eine unbeschriebene Fläche, mit nur einer einzigen unsicheren Angabe: ein kleiner Archipel unterhalb des 54. Breitengrades, von Bouvet gesichtet, der es für ein Kap des Südkontinents hielt. Weder Cook noch Ross, noch Moore fanden es wieder. Nur zwei Kapitäne von Walfischfängern haben die Inseln gesehen, doch ihre Positionen abweichend bestimmt. // Das Barometer fällt, der Wind erhebt sich zu schwerem Sturm, zehn Beaufort stark, und zwingt sie, beizudrehen. Der Himmel verdunkelt sich, und Sturmvögel ziehen auf, die ersten aschgrauen Albatrosse mit geschwärzten Köpfen und weiß geränderten Augenlidern, Vampire, die in gespenstisch ruhigen Kurven um das schwer arbeitende Schiff kreisen. Mehrmals packt die Dünung den Dampfer, schleudert ihn zur Seite, sodass in den Laboratorien die Glaskolben aus den Gestellen fallen. Regelmäßig dröhnt die Dampfpfeife, und die Eisberge, die sich im Nebel verstecken, antworten ihr helles Echo. Endlich erreicht die Valdivia die Region, in der die Admiralitätskarten drei Inseln verzeichnen: Bouvet, Lindsay, Liverpool. Tatsächlich ergeben Lotungen einen unterseeischen Rücken, und die Sonne formt am Horizont aus Wolkenwänden täuschend echtes Land. Von den Inseln fehlt jede Spur. // Am Mittag des 25. November 1898 kommt der erste große, majestätisch glänzende Eisberg in Sicht. 30 Minuten nach drei Uhr schreit der Erste Offizier: Die Bouvets liegen vor uns! Doch was erst in verschwommenen, bald in deutlich hervortretenden Umrissen nur sieben Seemeilen rechts vor ihnen liegt, ist keine Inselgruppe, sondern ein einziges steiles Eiland in wilder Pracht, mit schroffen Eismauern und bis zum Meeresspiegel abfallenden Gletschern, ein gewaltiges Feld aus Firn. Das ist sie, die Bouvetinsel, von drei Expeditionen vergeblich gesucht, seit 75 Jahren verschollen.
AM 18. JUNI 1871 STRANDET das englische Postschiff HMS Megaera auf einer der natürlichen Kiesmolen am Eingang des Kraters. Die schiffbrüchige Besatzung rettet sich an Land, wo sie von zwei Franzosen begrüßt wird. Sie stammen von der Insel Bourbon und sprechen kein Wort Englisch. // Einer der beiden nennt sich der Gouverneur. Er ist 30 Jahre alt und hat ein lahmes Bein. Der andere, der sich als der Untertan vorstellt, ist fünf Jahre jünger und in einer hervorragenden körperlichen Verfassung, ein ausgezeichneter Kletterer, dem keine Felswand zu steil ist. Bereitwillig führt er die Gestrandeten über die Insel, während der Gouverneur vor einer Hütte am Kraterrand hockt. Der Untertan spricht von ihm ausnahmslos als von einem sehr guten Menschen. Der Gouverneur beschreibt seinen Untertanen immer nur als einen durch und durch schlechten Menschen. Nie haben zwei Menschen besser zueinander gepasst. Zusammen bewohnen sie eine winzige Holzhütte mit einer kleinen Bibliothek französischer Bücher. Seit einer Ewigkeit sind die beiden ein unzertrennliches Paar. Ihre Aufgabe ist es, vier kleine Boote, die im überfluteten Kraterbecken liegen, zu bewachen und Walfänger zu registrieren - für einen Monatslohn von 40 Francs. Aber so gut wie niemand landet hier an, in einer Gegend, die für ihre grausamen Stürme und zähen Nebel gefürchtet ist. // Enten, Ratten und wilde Katzen sind die einzig essbaren Tiere, die auf dieser Insel leben; und außer einem spinatähnlichen Salat wächst hier nur Moos, Farn und trockenes Gras. Einmal im Jahr kommen große Schwärme von Pinguinen, um ihre Eier in die kargen Grasbüschel zwischen den Felsen zu legen. Die riesigen Vögel haben eine weiße Brust, einen grauen Rücken, pink leuchtende Augen und auf den Köpfen goldene Federn. Sie sind sehr zutraulich, doch ihr Fleisch ist ungenießbar. // Früher soll hier ein Mulatte mit den Franzosen gelebt haben. Es heißt, dass der Gute und der Schlechte ihn ermordet und verspeist haben und seine Überreste in genau jener Hütte aufbewahren, die der Gouverneur tagein, tagaus bewacht.
AM 17. NOVEMBER 1760 verlässt die Utile, ein Schiff der Ostindischen Handelskompanie, Bayonne im Südwesten Frankreichs, um zu den Mascarene-Inseln zu fahren. In Madagaskar macht das Handelsschiff halt, um die Nahrungsreserven aufzufüllen, und der Kapitän Jean de La Fargue nimmt - gegen die Anweisung des Gouverneurs - 60 Sklaven an Bord, um sie wie die anderen Waren auf der Île de France, dem heutigen Mauritius, zu verkaufen. Doch auf dem Weg dorthin bringt ein Unwetter die Utile vom Kurs ab. Sie läuft auf Grund, zerschellt am Riff dieser kleinen Insel, ein Streifen Strand mit ein paar Palmen, knapp zwei Kilometer lang und 800 Meter breit, Sandinsel genannt. Fast alle, die sich an Land retten können, sind verletzt, verstümmelt, eher Geister als Menschen. // Die Überlebenden beginnen, aus den Trümmern des Wracks ein Boot zu bauen. Zwei Monate nach dem Schiffbruch ist es fertig. Darauf verschwinden die französischen Matrosen mit dem Versprechen, Hilfe zu holen, 122 Mann, eng umklammert, auf Nimmerwiedersehen. Zurück bleiben die Sklaven. Sie sind frei, aber ihre Freiheit ist nicht mal einen Quadratkilometer groß; sie sind so gefangen wie noch nie, Sklaven ihres Überlebenswillens. Sie machen Feuer, graben einen Brunnen, nähen sich Kleider aus Federn, fangen Seevögel, Schildkröten und Schalentiere aus dem Meer. Viele von ihnen sind so verzweifelt, dass sie sich auf einem Floß ins Nirgendwo treiben lassen - alles ist besser, als gefangen zu bleiben auf einem Stückchen Sand, der Hoffnung und dem Leben ausgeliefert. Die anderen bewachen das Feuer. // Nach 15 Jahren brennt es noch immer. Von den 60 freien Sklaven bleiben sieben Frauen übrig - und ein kleiner Junge, ein Säugling noch. Am 29. November 1776 entdeckt sie die Besatzung der Korvette La Dauphin, nimmt sie an Bord und bringt sie zur Île de France. Auf der Sandinsel lassen sie nichts zurück als das verkohlte Holz des erloschenen Feuers und den Namen ihres Retters, eines Offiziers der königlichen Marine, des Kapitäns der Korvette: Chevalier de Tromelin.
DRAMATlS PERSONAE: Dore Strauch - eine Lehrerin, zu Höherem berufen als dem Leben an der Seite eines doppelt so alten Gymnasialdirektors, und Dr. Friedrich Ritter - ein Berliner Zahnarzt mit krauser Stirn und flackernden Augen, der das menschliche Hirn kartografieren will und dem die Zivilisation nichts Neues mehr bieten kann. Beide verlassen 1929 ihre Ehegatten, um dorthin zu gehen, wo der Staat aufhört und das Gesetz des Notwendigen herrscht. // Der Ort der Handlung: eine einsame Insel, auf der alle Kolonisierungsversuche gescheitert sind. In dem grünen Krater eines erloschenen Vulkans gründen Friedrich und Dore die Farm Frido, bauen eine Hütte aus Wellblech und rostfreiem Stahl und bestellen einen Morgen Land. // Kleidung tragen sie in ihrer Einsiedelei nur, wenn Besuch kommt. Erst sind es Neugierige, die Zeitungen mit Geschichten von Adam und Eva auf Galapagos füttern wollen, bald die ersten Nachahmer. Kaum zu glauben, dass ein so schwer zugängliches Fleckchen Erde wie das unserige so oft aufgesucht wird. // 1932 betritt eine neue Siedlerin die Freilichtbühne: die Österreicherin Eloise Wagner de Bousquet - selbst ernannte Baronin, eine Lebedame mit großen Zähnen und dünnen Augenbrauen, die auf der Insel ein Luxushotel für Millionäre bauen will, im Schlepptau Kühe, Esel, Hühner, 80 Zentner Zement und zwei Liebhaber: Lorenz, ein schmächtiger Jüngling mit semmelblondem Haar, und Philippson, ein vor Kraft strotzender Kerl, Sklaven ihrer Lüste und Launen. Die Baronin spielt bald Kaiserin, tyrannisiert die Ritters, regiert mit Peitsche und Revolver, quält ihren Lakaien Lorenz und verwundet Tiere, nur um sie danach wieder gesund zu pflegen. Ihr Hotel bleibt ungebaut; die Hacienda Paradiso ist nur eine zwischen vier Pfählen gespannte Zeltbahn. // Die Komödie gerät zum Krimi: 1934 verschwindet die Baronin mit Philippson spurlos, Lorenz' Gerippe wird am Strand einer NachbarinseI gefunden, und Dr. Ritter stirbt an den Folgen einer Fleischvergiftung. Nur Dore kehrt heim nach Berlin. Und die Zeitungen in aller Welt spekulieren über die Galapagos-Affäre: Wer war's?
DAS SCHIFF AUS ACAPULCO bleibt aus. Ein amerikanischer Kreuzer bringt die Nachrichten: In der Welt tobt der Krieg, in Mexiko das Chaos. Man hat sie vergessen. Ihr General regiert nicht mehr. // Auf der ganzen Insel wächst kein Gras. Unter einer Handvoll Palmen liegen ein Dutzend dürre Schweine, Nachkommen einer gestrandeten Horde. Sie ernähren sich von Kokoskrebsen, die zu Millionen die Insel bevölkern. Kein Schritt ist zu machen, ohne dass man auf einen orangen Panzer tritt. Es knirscht, als der Gouverneur Capitán Ramón de Arnaud über seine Insel geht. Wie immer trägt er eine österreichische Paradeuniform, seine Frau eine elegante Robe, Diamanten an den Händen und um den Hals. An diesem Tag verkündet er: Eine Evakuierung ist nicht nötig. Befehl ist Befehl. Die Garnison bleibt: 14 Männer, sechs Frauen und sechs Kinder. Kein Schiff kommt, keins aus Acapulco, keins von sonst woher. Die Vorräte gehen zur Neige. Skorbut bricht aus: Das Zahnfleisch blutet, die Wunden eitern, die Muskeln schwinden, die Gliedmaßen faulen, das Herz versagt. Die Toten vergraben sie tief, um sie vor der Gier der Krebse zu schützen. // Irgendwann erträgt der Gouverneur das Kreischen der Seevögel und das Rauschen des Meeres nicht mehr. Als er glaubt, Schiffe zu sehen, setzt er ein kleines Boot aus. Mit ihm zusammen ertrinken die übrig gebliebenen Soldaten. Jetzt gibt es nur noch einen Mann auf der Insel, Victoriano Álvarez, den ehemaligen Wärter des erloschenen Leuchtturms. Er ruft sich zum König aus, zum König von Clipperton, nimmt Mätressen, vergewaltigt und tötet, regiert fast zwei Jahre lang. // Am 17. Juli 1917 erschlagen die Frauen ihn mit einem Hammer und massakrieren sein Gesicht. Da taucht am Horizont ein Schiff auf. Frauen und Kinder winken ihm, während sich die Krebse auf den Weg zum Leuchtturm machen, angelockt vom frischen Blut. Ein Beiboot landet am alten Kai der Phosphate Company, und die vier überlebenden Frauen verlassen mit ihren winzigen Kindern das einsamste Atoll der Welt. Der orangefarbene Krebsring der Lagune ist von der USS Yorktown aus noch lange zusehen.
SEIT 3000 JAHREN LEBEN Menschen auf diesem Eiland, so klein, dass der Ozean selbst von der Inselmitte zu hören ist. Die Tikopier fangen Fische in dem Brackwassersee und Schalentiere aus dem Meer. Sie bauen Yamswurzel, Bananenbäume und den riesigen Sumpftaro an und vergraben Brotfrüchte für schlechtere Zeiten in der Erde. Das reicht für zwölfhundert Menschen - aber nicht für mehr. // Wenn ein Wirbelsturm oder eine schwere Dürre die Ernte zerstört, entscheiden sich viele für den schnellen Tod. Unverheiratete Frauen erhängen sich oder schwimmen aufs offene Meer hinaus, und manche Väter unternehmen mit ihren Söhnen eine Seereise im offenen Kanu, von der sie nicht zurückkommen. Lieber sterben sie auf hoher See, als dass sie langsam an Land verhungern. // Jedes Jahr wieder predigen die Häuptlinge der vier Stämme das Ideal eines Bevölkerungs-Nullwachstums. Alle Kinder einer Familie sollen von dem Grundbesitz leben können. Also gründen nur die ältesten Söhne Familien. Die jüngeren bleiben allein und achten bei ihren Vergnügungen darauf, dass sie keine Kinder zeugen. Die Männer fühlen sich verpflichtet, die Empfängnis zu verhüten, unterbrechen den Akt, und die Frauen - wenn dies nichts nützt - pressen vor der Niederkunft heiße Steine auf den Bauch. // Eltern bekommen keine Kinder mehr, wenn ihr ältester Sohn alt genug ist zum Heiraten. Dann fragt der Mann seine Frau: Wessen Kind ist es, für das ich Essen vom Feld holen muss? Er entscheidet, ob es leben darf. Die Plantagen sind klein. Lass uns das Kind töten, denn wenn es lebt, wird es keinen Garten für ihn geben. Das Neugeborene wird auf das Gesicht gelegt, damit es erstickt und von alleine stirbt. Für diese Kinder gibt es kein Begräbnis, sie haben noch nicht teilgenommen am Leben auf Tikopia.
Im Vorwort zur Ausgabe der Urfassung von Schönbergs Kammersymphonie op.9 für Soloinstrumente (Flöte, Oboe, Englischhorn, Klarinetten in A, D und Baß-Klarinette in A, Fagott, Kontrafagott, Streichquartett, Kontrabaß) gibt Berg eine knappe Analyse, die darauf hinweist, daß dieses zwar monolithische, aber in fünf ineinander übergehende Episoden gegliederte Werk unter einem doppelten Aspekt betrachtet werden kann. Der erste ist demnach der symphonische Aspekt, der die 1922 und 1935 vorgenommenen orchestralen Erweiterungen rechtfertigt (die Fassung von 1949 für eine kleinere Besetzung bringt die Reichhaltigkeit des Werkes nicht voll zur Geltung). Hier unterscheidet man Exposition (langsam), Scherzo (sehr rasch), Durchführung (viel langsamer, aber noch fließend), Adagio (viel langsamer), Finale mit Coda (etwas bewegter).
Die zweite Betrachtungsweise reduziert die »Symphonie« auf einen einzigen, großangelegten, nach der Sonatenform gebauten Satz. Über diese formalen Betrachtungen hinaus fällt vor allem die Einheitlichkeit des Werkes auf, die von Anfang an durch das thematische Material gewährleistet wird, eine Reihe von sechsstimmigen Quartenakkorden. In seiner »Harmonielehre« (1911) erklärt Schönberg, daß diese Quartenakkorde aus dem Willen zur Expressivität hervorgehen, und das Wesentliche des eingangs vom Horn vorgetragenen und zu hohen Tönen tendierenden Themas darstellen. Diese Quarten ziehen sich durch das ganze Werk hindurch, und spielen darin eine architektonische Rolle. Sie sind also keine bloßen melodischen Elemente, keine impressionistisch wirkenden Akkorde; ihr eigentümlicher Charakter prägt die ganze harmonische Struktur des Stückes. Das komplexe polyphonische Tongebilde, das frei von bloßen Wiederholungen ist, zeichnet sich vor allem durch seine ununterbrochenen melodischen Linien aus, die bis zu acht simultan erklingenden Solostimmen konstituiren. Dieses reiche, großzügige Material, das dem von Verklärte Nacht noch ähnelt, ermöglicht das Bestehen von Klangschichten, die durch klangfarbliche Dichte und Mannigfaltigkeit charakterisiert sind; der häufige Gebrauch kanonischer Formen erweckt den Eindruck, daß die kraftvolle musikalische Rede von einem Kontrapunkt vokaler Natur unterstützt wird.
Die ursprüngliche Fassung wurde im Juli 1906 vollendet und am 8. Februar 1907 von dem Rosé-Quartett und dem Solistenverein der Wiener Philharmoniker in Wien uraufgeführt. Berg entdeckte im Werk die Möglichkeit einer Bearbeitung für großes Orchester (gleich dem von Pelléas et Mélisande op. 5). Webern war seinerseits von der erstaunlichen thematischen Einheitlichkeit des Werkes angetan, dessen Originalität und komplexe Architektur in der Bearbeitung für Klavier zu vier Händen deutlich zutage treten. Diese Bearbeitung macht den monolithischen Charakter dieser »Symphonie« noch deutlicher sichtbar, selbst wenn die Substanz ihres Melos sich wegen des Gebrauchs von Ganztönen immer mehr spaltet, wodurch die Kohäsion der vierten Episode viel langsamer beeinträchtigt wird.
In knapp sechzehn Minuten bieten die 5 Stücke op. 16 (in der Originalfassung »5 Orchesterstücke«) ein neues »De natura sonoris« und dokumentieren die von Schönberg initiierte und mit großer Ausdrucksfreiheit verwirklichte Verbindung von Klangfarben und musikalischen Formen, und zwar von alten (Kanon) und neuen (Aggregate).
Arnold Schönberg: Selbstporträt, 1910
Selbstportrait Öl und Aquarell auf Karton 40 × 30 cm ca. 1910 Catalogue raisonné 5 Verne Knudsen Collection, Los Angeles
Jedes der Stücke trug dem Wunsch des Verlegers gemäß einen Untertitel. Das erste, herbe und heftige Stück, molto allegro, ist Vorgefühle betitelt und bewegt sich in einer emotionalen Sphäre, die an Angstgefühle grenzt, welche für das zur selben Zeit konzipierte Monodram Erwartung charakteristisch sind. Die im höchsten Fortissimo angeschlagenen Tremolostellen schaffen eine psychische Spannung, die von zahlreichen Ostinatos unterhalten wird.
Das zweite Stück, andante, (Vergangenes betitelt) bewirkt einen brutalen Kontrast durch seine gleichsam fernen Melodien, die eine nicht eindeutige d-moll-Tonart suggerieren, welche schon Brahms und Bach bevorzugten. Zugleich erlaubt aber eine kanonische Form, eine ganze Klangfarbenskala wahrzunehmen, und zwar selbst bei Pianissimi und gleich auf welchem Tasteninstrument, auf dem Klavier in der vorliegenden Bearbeitung von Webern oder auf der Celesta in Schönbergs Orchesterbearbeitung.
Das dritte Stück, moderato, das ursprünglich die Überschrift Farben oder Sommermorgen auf einem See trug, ist gänzlich athematisch. Es relativiert auch den Begriff der Zeit und des Taktstrichs. Phantastische harmonische Spiele verbreiten sich im Raum; sie hängen von der unterschiedlichen Art des Klavieranschlags ab und verwerten einen Eingangsakkord von fünf Tönen (C, Gis, H, E, A). Die musikalische Rede nimmt die Form einer sich stets wandelnden Klangfarbenmelodie an, deren ineinanderf1ießende Farbtöne durch ihre Dichte an gewisse zeitgenössische Gemälde, z.B. von Franz Marc, erinnern.
Mit dem vierten Stück, molto allegro, Peripetie genannt, taucht mit der wieder vorhandenen Zeit Lebensangst von neuem auf. Das letzte Stück, allegretto, oder das obligate Rezitativ, stützt sich auf eine neue, großzügige »Klangfarbenmelodie«, die dem vokalen Monolog in Erwartung zum Vorbild dienen wird, und eine zarte, komplexe Polyphonie (bis zu sechs Stimmen) gründet, deren Pulsieren sich an die Wiener Tradition (von Schubert bis Mahler) anlehnt, und den Chor aus Die glückliche Hand vorwegnimmt, der das Drama kommentiert und sogar manchmal die Sprechstimme vortäuscht.
Am 14. Juli 1909 schreibt der Komponist an Richard Strauss, um ihm sein neues Werk vorzustellen, dessen Uraufführung er Strauss anvertrauen möchte. Letzten Endes wird ihm diese Bitte vom Autor der Salome abgeschlagen, der den »allzu experimentalen« Charakter der Stücke beanstandet. Entmutigt geht Schönberg schließlich auf Weberns Vorschlag ein, der eine Fassung für zwei Klaviere zu acht Händen schrieb, als Vorläuferin eines En blanc et noir nicht Debussyscher sondern expressionistischer Prägung. Die öffentliche Aufführung fand am 4. Februar 1912 statt, und zwar unter der Mitwirkung von Webern und von drei Schülern Busonis, namentlich von Eduard Steuermann. Sie bot solche Schwierigkeiten, daß Schönberg sie »dirigieren« mußte, um bei den vier Interpreten die strenge Disziplin zu erreichen, welche von einer vertikalen Schrift erfordert wird, die die tatsächliche Autonomie der acht simultan erklingenden Stimmen zur Regel hat. Eine kritische Ausgabe dieser Klavierbearheitung ist neulich im Peters-Verlag erschienen. Die vorliegende CD stellt die weltweit erste Schallplattenaufnahme dar.
Hans Thoma: Sommer, 1872, Alte Nationalgalerie Berlin
Fast zur selben Zeit wie die Symphonie op.9 entstand die Kammersymphonie Nr. 2, die schon 1906 entworfen, 1908 fortgesetzt, 1911 und 1916 überarbeitet wurde. Sie wurde mit einem dritten Satz versehen, den Schönberg 1939 wieder strich, als er die Partitur in dem »ursprünglichen Stil« vollendete, in dem sie konzipiert worden war, d.h. in Wirklichkeit zu einer erweiterten Tonalität zurückkehrte. Sie weist eine traditionnelle, zweisätzige Form auf, begnügt sich mit einer »klassischen« Instrumentierung, indem sie auf die Verbindung der Klangfarben von Soloinstrumenten verzichtet sowie auf den Primat der kontrapunktischen Schreibweise, d.h. auf das verzichtet, was die Neuartigkeit der Symphonie Nr. 1 ausmachte.
Schönberg hat darauf hingewiesen, ihm sei vor allem um die harmonische Dimension des Werkes zu tun, das mit dem tonalen Raum spielt. Er hat neue Aggregate und Akkordverkettunngen erprobt, welche die vom Komponisten selbst stammende Fassung für zwei Klaviere, mit bezeichnender, schlagkräftiger Deutlichkeit zur Geltung bringt. Diese Fassung für schwarz-weiße Tastatur hebt die bewundernswerte Strukturfestigkeit dieses zweisätzigen Werkes sowie seinen eher strengen Charakter hervor. Das belebte, im zweiten Teil stehende Con fuoco, eine Art dämonisches Scherzo à la Liszt, mündet in das Molto-Adagio, das zum sehnsüchtigen Melos des Eingangs-Adagios zurückkehrt und zur Reexposition der flüssigen, etwas zögernden und melancholischen zyklischen Melodie der Einleitung führt; ihre plötzliche Belebung, poco animato, nimmt mit der Wiederkehr der »schwebenden«, aber doch deutlich wahrnehmharen Es-moll-Tonart einen Charakter tragischer Intensität an, eine desillusioniert wirkende Stelle, gleichsam die Ablehnung, noch einmal eine verführerische Farbenskala zu entfalten.
Track 08: Kammersymphonie Nr 2 op 38b, Fassung für zwei Klaviere. II. Con fuoco - Molto adagio - Largo
TRACKLISTARNOLD SCHÖNBERG (1874-1951)FIVE PIECES, Op.16 (1906), two pianos score by Anton von Webern (1913) FÜNF ORCHESTERSTÜCKE, op.l6, Bearbeitung für 2 Klaviere zu vier Händen von Anton von Webern CINQ PIÈCES op.16, réalisation pour deux pianos à quatre mains de Anton von Webern 15:57
1. I. Vorgefühle (sehr rasch) / Premonitions 02:02 2. II. Vergangenes (Mäßige Viertel - Viertel etwas langsamer) / The Past 04:43 3. III. Farben (Mäßige Viertel) / Chord-Colors 02:46 4. IV. Peripetie (Sehr rasch) / Peripetia 02:28 5. V. Das obligate Rezitativ (Bewegte Achtel) / The Obbligato Recitative 03:42
CHAMBER SYMPHONY no.I, Op.9 (1906), arranged for piano, four hands KAMMERSYMPHONIE Nr.1, Op.9, Auszug für Klavier zu vier Händen SYMPHONIE DE CHAMBRE n.1, op.9, réalisation pour piano à quatre mains 23:35
6. I. Sonata-Allegro / II. Scherzo / III. Durchführung / IV. Adagio / V. Recapitulation-Finale
CHAMBER SYMPHONY no.2, Op.38b (1906-1940), original version for two pianos by the composer KAMMERSYMPHONIE Nr.2, Op.38b, Zwei Klaviere zu vier Händen Urfassung SYMPHONIE DE CHAMBRE n.2, op.38b, version originale pour deux pianos à quatre mains par le compositeur 18:51
Recording: April 8 (op.16), July 6 (op.38b), July 29 (op.9) 1998, Sal Martinú, Lichtenstejnský palác, Prague Recording Producer: Jaroslav Rybár - Balance Engineer: Václav Roubal - Editing: Karel Soukeník Coverbild: Hans Thoma (1839-1924): Sommer, 1872, 76 x 104 cm, Alte Nationalgalerie Berlin
Koalitions-Schach Brett: Tusche auf Papier Figuren: Mischtechnik ca. 1920 – 1925 Catalogue raisonné 222
Schönberg entwickelte sein Koalitions- oder Bündnis-Schach in der ersten Hälfte der 1920er Jahre. Bei dem Regelkompendium handelt es sich um einen differenzierten, in seinen Kräfteverhältnissen ausbalancierten Entwurf mit sehr eigenwilligen und originären Elementen.
Schönbergs Schach stellt eine Erweiterung des traditionellen Schachspieles dar. Gespielt wird von vier Parteien, zwei »Großmächten« (Gelb, Schwarz) und zwei »Kleinmächten« (Grün, Rot), die in den ersten drei Runden Koalitionen eingehen können. Statt über sechs verschiedene Figuren wie das traditionelle Schach verfügt das Koalitions-Schach über Figuren mit neun Gangarten. Ihre Bewegungsregel wird entweder vom traditionellen Schach übernommen, oder, bei den drei neuen Figuren, aus zwei alten Figuren zusammengesetzt.
Arnold Schönbergs Figuren bleiben gegenständlich,sie versinnbildlichen das vielleicht ursprüngliche Motiv des Heeres in moderner Form. Die Figuren, ihre Bezeichnungen und Verteilung entsprechen den Erfahrungen Schönbergs mit der Kriegsmaschinerie des Ersten Weltkrieges. Rot symbolisiert die Luftstreitkräfte (Flieger), Grün die Marine (U-Boote), die Großmächte Gelb und Schwarz verfügen über das militärische Arsenal der Landstreitkräfte. Schönberg konzipiert jedoch, und darin liegt seine Besonderheit, kein Kriegsspiel, dem agonalen Kampf ist die Anstrengung der Diplomatie, die Verhandlung der Spieler über mögliche Koalitionen vorausgesetzt.
Notenschreibmaschine Bleistift auf Papier 21 x 23 cm 1909 Catalogue raisonné 223
Arnold Schönbergs Notenschreibmaschine von 1909 wurde nie realisiert, doch zeigen die Entwürfe eine enorme Imagination und mechanische Begabung. Die Notenschreibmaschine basiert auf dem Prinzip einer mechanischen Schreibmaschine: Sie verfügt über eine Tastatur, typentragende Hebel und ein Farbband. Um Partituren mit allen notwendigen Zeichen schreiben zu können, muß Schönberg allerdings die herkömmliche Konstruktion erweitern und verändern. Das Papier wird nicht in eine Walze eingespannt, als Schreibfläche dient eine Ebene. Sie kann von links nach rechts, nach oben und unten bewegt, im Kreis um einen Mittelpunkt gedreht und gekippt werden. Damit kann jeder Punkt der Schreibfläche exakt angesteuert werden.
Das Kippen der Platte ist notwendig, da Schönberg den Typenkopf mit trapezförmigem Querschnitt gestaltet, um eine dreifache Belegung mit Zeichen zu erzielen und die Anzahl der Hebel, immerhin 120, einigermaßen zu begrenzen. Durch das Kippen der Schreibfläche nimmt diese die jeweils parallele Position zu einer der drei Flächen am Typenkopf ein und ermöglicht den Abdruck des Zeichens. Die Eingabe erfolgt über etwa 40 Tasten. Durch spezielle zweiteilige Bewegungstaster und Hilfshebel können die Bewegungen der Schreibfläche kombiniert werden, sodaß auch schräge Linien, Bögen und Kurven gezeichnet werden können. Die Noten selbst werden aus verschiedenen Zeichen zusammengesetzt. Das Verschieben des Tastaturbrettes auf drei unterschiedliche Positionen gestattet schließlich zusätzlich die Wahlmöglichkeit dreier Schriftgrößen.
Serie elektrisch betriebener Notenschreibmaschinen Feder und Tinte auf Papier 34 × 21 cm 1909 Catalogue raisonné 224
Indem jede Taste somit über neun Funktionen verfügt, ist Schönbergs Notenschreibmaschine in der Lage, bis zu 360 unterschiedliche Zeichen zu produzieren. Elektrisch betrieben, könnten sogar mehrere Schreibmaschinen aneinander geschaltet werden. Ein geübter Schreiber könnte dann, vermutet Schönberg, kleine Auflagen von Notenblättern rascher, preisgünstiger und mit klarerem Schriftbild als bisher herstellen. Durch einen Elektromotor und Verstärkung der Hebel könnte die Maschine auch zum Notenstechen, durch Umbau im Prinzip auch als Zeichenmaschine verwendet werden. Im April 1909 reichte Schönberg die Patentschrift ein, die in einigen Details, aber nicht im Prinzip beanstandet wurde. Seine Konstruktion wirkt aufwendig, die Komplexität der Tastaturbelegungen und Doppelfunktionen erfordert vom Schreibenden höchste Konzentration.
Hans Thoma: Bernau im Schwarzwald, Teilansicht mit Spießhorn im Hintergrund, 1859, 25,5 x 30 cm, Öl auf Karton, Privatbesitz
Hans Thoma (1839-1924)
Die bereits ganz früh erwachte Lust, die Umwelt im Bilde zu bannen und zu deuten, gelangt bei Hans Thoma immer dann zu künstlerischen Ergebnissen, zu Meisterwerken, wenn sie dem Volke (für den Bauernsohn Thoma war es das einfache bäuerliche Volk) lebendig und mit Verantwortung verbunden ist.
Thoma sollte bald zu spüren bekommen, wie wenig volksverbundene Kunst im damaligen Deutschland geachtet war. Nach dem Studium an den Akademien in Karlsruhe und Düsseldorf unternahm er 1868 eine Reise nach Paris. Hier lernte er die Werke des großen Realisten Gustave Courbet kennen. Es waren die Unmittelbarkeit, mit der der Franzose Natureindrücke wiedergab, und die neuartige malerische Schönheit, mit der in Courbets Bildern alles, auch Anspruchsloses und nach damaliger Ansicht Häßliches, gestaltet und vertieft war, die Thoma zu dem Ausspruch hinrissen: »Es war, als hätte ich das selbst gemacht!« Ebensowenig wie bei Courbets Landschaften waren die seinen »komponierte« Natur. Sie waren spontan erfaßte und spontan gestaltete Naturausschnitte.
Derartige Arbeiten stellte Thoma im Badischen Kunstverein aus. Ein Sturm der Entrüstung brach los. Das akademische Publikum und die Presse kritisierten den jungen Meister heftig und unnachgiebig. In seinem Tagebuch notierte er: »Die Philister sind empört über meine Bilder. Kaum hätte ich geglaubt, daß man sie mit Bildern noch in solche Wut bringen könnte.« Er hätte es wissen können, denn Courbet war es in Frankreich einige Jahre vorher viel schlimmer ergangen.
Nach der Ausstellung verließ Hans Thoma Karlsruhe und zog nach München. Dort traf er Künstler, die gleiches wie er erstrebten. Wilhelm Leibl und dessen Freundeskreis schloß er sich an. Die jungen Maler hatten die überlebten akademischen Regeln durchbrochen, vermieden die vorgeschriebene Brauntönung der landschaftlichen Gründe, die vom Klassizismus abgeleiteten Kompositionsregeln und die auf äußerliche Schönheit und »seelenvolle« Blicke hergerichteten Typen. Man male den Menschen wie er ist, dann ist die Seele ohnehin dabei, war ihr künstlerisches Bekenntnis. In den Münchener Jahren entstanden Gemälde, die zu Thomas besten Werken zu zählen sind.
Hans Thoma: Rheinfall bei Schaffhausen, 1876
Erst 1890 erzielte Hans Thoma mit einer vom Münchner Kunstverein für ihn ausgerichteten Ausstellung den großen Erfolg. Danach war er anerkannt und gehörte bis um etwa 1910 zu den angesehensten Malern Deutschlands. Der Kunsthistoriker Henry Thode, ein Stiefschwiegersohn Richard Wagners, wurde sein Förderer und Biograph, sah in des Meisters Werk aber die Verkörperung nationaler Identität und bereitete damit dessen posthume Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus vor.
Als seine besten und authentischsten Werke gelten heute seine Landschaften (oft aus Schwarzwald, Oberrheinebene und Taunus) und die Porträts seiner Freunde und Angehörigen wie auch seine Selbstporträts. Seine oft grotesk überzeichneten, mythologisch-religiösen oder auch präraffaelitisch-realistischen Darstellungen, die sich an Böcklin anlehnen, werden heute weniger geschätzt.
Rudolf Kolisch, geb. am 20. Juli 1896 in Klamm am Semmering, Österreich, gest. am 1. Aug. 1978 in Watertown (MA), war Geiger, Dirigent, Musiktheoretiker, Geigenlehrer.
Rudolf Kolisch wurde in eine musikalisch interessierte Familie geboren. Kolisch erhielt bereits mit fünf Jahren Violinunterricht. Früh lernte er die Tradition der großen Streichquartette, etwa des Joachim-Quartetts, kennen. Sein Geigenlehrer Jules Egghard war selbst Mitglied im Rosé-Quartett und im Hellmesberger-Quartett gewesen. Nachdem er sich als Neunjähriger bei einem Unfall die linke Hand verletzt hatte, mußte er die Geige seitenverkehrt spielen. Nach der Schulausbildung trat Kolisch in Otakar Ševčíks Meisterklasse für Violine an der k.k. Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien ein. Darüber hinaus studierte er Harmonielehre bei Franz Schreker sowie Musikgeschichte bei Guido Adler und besuchte Vorlesungen an der juristischen Fakultät der Universität Wien. 1915 wurde Kolisch zeitweilig zum Kriegsdienst eingezogen.
Bei Arnold Schönberg nahm Kolisch seit Anfang 1919 privaten Kompositionsunterricht. In dessen Verein für musikalische Privataufführungen trat er vermehrt auf und beteiligte sich auch an der Vereinsarbeit. Da dem Verein für seine Konzerte ein Streichquartett fehlte, bemühte sich Kolisch um die Gründung eines solchen Ensembles. In der Besetzung mit Rudolf Kolisch, Fritz Rothschild (1. und 2. Violine alternierend), Marcel Dick und Joachim Stutschewsky konzertierte das Ensemble seit 1924 unter dem Namen Wiener Streichquartett und konnte sich international einen Namen machen. Nachdem sich das Quartett 1927 mit Felix Khuner, Eugene Lehner, und Benar Heifetz neu formiert hatte, nahm es den Namen Wiener Streichquartett (Kolisch-Quartett) bzw. später nur noch Kolisch-Quartett an.
Rudolf Kolisch, 1950, bei einer Aufnahmesession
Die Programmgestaltung des Kolisch-Quartetts war kompromisslos. Im Zentrum standen immer eine oder mehrere zeitgenössische Kompositionen, daneben das klassische Repertoire, insbesondere Beethoven. Das Quartett führte viele Quartette von Arnold Schönberg,Alban Berg, Anton von Webern, Béla Bartók, Darius Milhaud u. a. zuerst auf. Viele Werke erarbeitete das Quartett gemeinsam mit den Komponisten. Ziel der Interpretationen des Kolisch-Quartetts war nicht eine möglichst schöne Tongebung, sondern vielmehr ein besonderer rhetorischer Ausdruck, den Kolisch selbst als »Wiener Espressivo« bezeichnete, sowie eine möglichst große Texttreue. Das Quartett lernte deshalb den Notentext aus der Partitur und spielte einen großen Teil seines Repertoires auswendig. Darüber hinaus waren die Interpretationen durch die eingeschränkte Verwendung von Rubato und Portamento, höhere Tempi sowie große dynamische Kontraste gekennzeichnet.
Anfang der 1930er Jahre und verstärkt 1933 machte sich für Kolisch und sein Quartett die verschärfte wirtschaftliche und kulturpolitische Situation sowie die antisemitische Gesetzgebung bemerkbar. Es gab immer weniger Gelegenheiten, Konzerte zu geben, und die Gestaltung der Programme mit zeitgenössischer Musik erwies sich als immer schwieriger. Ab 1935 suchte das Quartett auf verschiedenen Tourneen in die USA, nach Kanada und Südamerika nach neuen Wirkungsorten. In Brasilien reichte er bei den Behörden Unterlagen für seine Einwanderung ein, und auf einer USA-Reise 1937 besorgte Kolisch sich Papiere, die ihm die Wiedereinreise in das Land zu einem späteren Zeitpunkt sicherten.
Kolisch Quartett, in der Besetzung 1927-1939: Khuner Vn.II - Lehner Va. - Heifetz Vc - Kolisch Vn. I
Den »Anschluss« Österreichs erlebte er in Amsterdam. Mit inzwischen ungültig gewordenem österreichischen Pass, verschiedenen Visen und umständlichen Reiserouten absolvierte er noch den Rest seiner Tournee und reiste dann in die USA. Anfang 1939 hielt er sich noch einmal in Europa auf. Nach Kriegsbeginn sagte das Kolisch-Quartett jedoch eine weitere geplante Europa-Tournee ab.
Die Überlebensmöglichkeiten als Streichquartett in den USA Ende der 1930er Jahre waren begrenzt. Zahlreiche andere Quartette versuchten sich zu etablieren, so etwa das Busch-Quartett, das Léner-Quartett und insbesondere das Budapester Streichquartett, dessen Programmgestaltung dem Publikum viel mehr entgegen kam. Zudem fehlten Kolisch und seinen Kollegen Nebeneinnahmen etwa aus Unterrichtstätigkeit oder Orchesterstellen. Nachdem Benar Heifetz, Eugene Lehner und Felix Khuner zeitweilig durch Stefan Auber, Jascha Veissi u. a. ersetzt worden waren, zerfiel das Quartett 1941. Kolisch geriet in eine schwere Krise, da er realisieren musste, dass er vom Quartettspielen allein nicht leben konnte, und nahm verschiedene Tätigkeiten als Orchestermusiker und Dirigent auf.
Pro Arte Quartet der University of Wisconsin in den 1960ern: Bernard Milofsky Va., Albert Rahier Vn II, Ernst Friedlander Vc., Rudolf Kolisch Vn I
Insbesondere aber führte ihn diese Situation dazu, seine musiktheoretischen Überlegungen zu vertiefen. So lehrte er 1939-1941 an der New School for Social Research in New York (z. B. Vortragsreihe Performance as Realization of Musical Meaning) sowie 1944 am Black Mountain College in North Carolina. Erst Mitte der 1940er Jahre konnte Kolisch in den USA Fuß fassen. 1944 wurde er Primarius des (belgischen) Pro Arte Quartetts, das bis 1965 Bestand hatte. Die Mitglieder des Ensembles waren als associate members an der University of Wisconsin in Madison beheimatet. Dort lehrte Kolisch dann auch bis 1967 Violine und Kammermusik. In diesem Jahr wechselte er an das New England Conservatory in Boston. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wirkte er wieder in Österreich und Deutschland, so 1953-1958 bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt sowie 1954-1955 an der dortigen Städtischen Akademie für Tonkunst und 1974-1977 bei Interpretationskursen im Schönberg-Haus in Mödling. Rudolf Kolisch starb am 1. Aug. 1978 in Watertown.
Auch wenn viele von Kolischs theoretischen Arbeiten unveröffentlicht blieben, er als Geiger nie eine Professur an einer der prominenten US-amerikanischen akademischen Einrichtungen wie der Juilliard School of Music oder der Yale School of Music erhielt und die Arbeit seiner Quartette nur in begrenztem Umfang auf Tonträgern festgehalten wurde, so hatte er doch einigen Einfluss auf die Interpretationsgeschichte. Insbesondere die schnellere Tempogestaltung der Werke Beethovens in den USA ist auf ihn sowie auf seinen Quartettkollegen Eugene Lehner zurückzuführen. Die Musikwissenschaft hat sich in den letzten Jahren mit Kolischs Wirken im Zusammenhang mit der Interpretations- sowie der Exilforschung beschäftigt.
CD 1 Track 3: Schönberg: Streichquartett Nr 2 op 10 - II. Sehr rasch Kolisch Quartett, 1936
"Although the premiere of this quartet was exceptionally well presented by master Rose' and his wonderful string quartet, one knows that perfection cannot be expected at the very first performance. So it was this Second String Quartet about which a gentleman once asked me whether I had heard it already in a perfect manner. I had to answer, "yes, during the composing." Now, since the Kolisch Quartet exists, and thanks to my friend Alfred Newman, who gave me the opportunity to record these compositions, everybody--and even myself--are [sic] in the position to hear it in a perfect manner, in a perfect performance."
CD 1 Track 6: Schönbergs Kommentar zum Streichquartett Nr 2 op 10
CD 2 Track 8: Schönberg: Streichquartett Nr 4 op 37 - III. Largo Kolisch Quartett, 1937
CD 3
Schoenberg: String Quartet #3, op. 30 (29:55) Pro Arte Quartet of the University of Wisconsin (RudolfKolisch - Albert Rahier - Bernard Milofsky - Ernst Fiedlander). Recorded for Dial Records at WOR Studios in New York, 24 Jan. 1950. Released on LP as Dial 4 1) 1 Moderato (8:02) 2) 2 Adagio (8:51) 3) 3 Intermezzo. Allegro moderato (7:04) 4) 4 Rondo, Molto moderato (5:44)
Berg: Lyric Suite (26:39) Same personne1 and venue as above. Recorded 2 Feb. 1950. Re1eased on LP as Dial 5 5) 1 Allegro gioviale (2:46) 6) 2 Andante amoroso (5:28) 7) 3 Allegro misterioso. Trio estatico (3:07) 8) 4 Adagio appassionato (4:56) 9) 5 Presto delirando. Tenebroso (4:06) 10) 6 Largo desolato (5:49)
Total Time 56:40
CD 4
Schoenberg: Concerto for violin and orchestra, op. 36 (34:14) Rudolf Kolisch, Wisconsin Festival Orchestra, cond. Rene Leibowitz. Madison, WI, 7 May 1967 1) 1 Poco allegro (13:14) 2) 2 Andante grazioso (8:20) 3) 3 Finale. Allegro (12:40) 4) Kolisch interview (with Will Ogdon, Darmstadt, 1964) (8:27)
Bartok: Sonata for solo violin (25:35) Rudolf Kolisch; Madison, WI , 1966 5) 1 Tempo di ciaccona (9:22) 6) 2 Fuga. Risoluto, non troppo vivo (4:45) 7) 3 Melodia. Adagio (6:16) 8) 4 Presto (5:12)
Total Time 68:27
CD 3 Track 6: Berg: Lyrische Suite - II. Andante amoroso Pro Arte Quartett, 1950
CD 5
Bartok: 5th String Quartet (30:41) Pro Arte Quartet of the University of Wisconsin (Rudolf Kolisch - Albert Rahier - Germain Prevost - Ernst Friedlander), Washington, D.C., 26 January 1945 1) 1 Allegro (7:15) 2) 2 Adagio Molto (6:03) 3) 3 Scherzo (4:56) 4) 4 Andante (4:54) 5) 5 Finale. Allegro vivace (7:15)
Schoenberg: String Quartet in D Major (1897) (25:06) Pro Arte Quartet of the University of Wisconsin Washington, D.C., 7 Feb. 1952 7) 1 Allegro molto (8:29) 8) 2 Intermezzo. Andantino grazioso (4:11) 9) 3 Andante con moto (7:44) 10) 4 Allegro/Presto (4:42)
Total Time 64:10
CD 6
Webern: Five Movements for string quartet, op. 5 (11:36) Pro Arte Quartet of the University of Wisconsin (same personnel and venue as on CD 3) 20 Jan. 1950. First released on LP on Dial 7. 1) 1 Heftig bewegt (2:29) 2) 2 Sehr langsam (2:45) 3) 3 Sehr bewegt (0:46) 4) 4 Sehr langsam (1:45) 5) 5 In zarter Bewegung (3:51)
Webern: Six Bagatelles for string quartet, op. 9 (4:34) Pro Arte Quartet of the University of Wisconsin (same personne1 and venue as on CD 3) 20 Jan. 1950. First released on LP on Dial 7 6) I Mässig (0:43) 7) II Leichtbewegt (0:29) 8) III Ziemlich fliessend (0:27) 9) IV Sehr langsam (0:56) 10) V Äusserst langsam (1:20) 11) VI Fliessend (0:39)
Schubert: Octet in F major, op. 166 (52:25) Kolisch Quartet (Rudolf Kolisch - Felix Khuner - Jascha Veissi - Stefan Auber) with Eric Simon, clar., Wendell Hoss, horn, Leonard Sharrow, bassoon and Anthony Zentrick, double bass. Rec. in Washington, D.C., 14 April 1940 12) 1 Adagio - Allegro (11:32) 13) 2 Adagio (9:12) 14) 3 Allegro vivace (4:45) 15) 4 Andante (8:34) 16) 5 Menuetto. Allegretto (7:39) 17) 6 Andante molto-Allegro (10:43)
CD 4 Track 6: Bartok: Sonate für Violine Solo - II. Fuga. Risoluto, non troppo vivo Rudolf Kolisch, 1966
Bartok und Kolisch
Arnold Schönbergs Streichquartett op. 30 (1927)
Es gibt kaum einen zweiten Komponisten neben Schönberg, dessen Produktion so viele musikalische Wandlungen erlebt hat. Schönbergs Streichquartette stehen an herausragenden Positionen seiner stilgeschichtlichen Entwicklung. Vor seinem dritten Streichquartett hatte Schönberg schon zwei Quartette komponiert, die in ihrer Art einzigartig waren: Das große, weit ausladende, die Viersätzigkeit in einen musikalischen Ablauf bannende und die Tonalität an die Grenzen ihrer Kenntlichkeit führende d-moll-Quartett op. 7 und das, die Tür in die Atonalität schließlich öffnende Quartett op. 10 fis-moll, bei dem in den letzten zwei Sätzen die Singstimme hinzutritt. Wie Schönberg mit den ersten beiden Quartetten musikalische Grenzbereiche so sehr erweiterte, daß er sie zugleich durchbrach, so durchbricht das dritte Streichquartett die Grenzen einer musikalischen Technik, die er in den Jahren zuvor entwickelte und die unter dem Namen »Zwölftontechnik« bekannt geworden ist.
Nach einer Gruppe von sehr strengen, herzlos klingenden Stücken - Adorno bezeichnete diese Stücke einmal als »Bauhausmusik« -, die auf musikalische Formen aus der Barockzeit zurückgreifen (Klaviersuite op. 25 und Suite für Klavier, drei Streicher und drei Bläser op. 29), anderen, die polemisch gemeint waren (Chöre op. 27 und 28), und nach dem Versuch, die Sonatenform ohne die Mittel der Tonalität zu rekonstruieren (Bläserquintett op. 26), ist das dritte Streichquartett seine erste neue Komposition, die die Mittel und Techniken der Zwölftontechnik vergessen macht. Es ist das erste Stück, das souverän und frei der Mittel und Techniken sich bedient ohne sie als Zweck zu setzen. Pointiert gesagt: Das dritte Streichquartett ist trotz der Verwendung von Zwölftontechnik entstanden.
Rudolf Kolisch, George Szell, Max Horkheimer, Felix Khuner, Arnold Schönberg, Hanns Eisler, unbekannte Person und Eduard Steuermann
Der den Schönbergkreis seit 1925 ständig kritisch begleitende Musikkritiker, Philosoph und Komponist Theodor W. Adorno war sehr beeindruckt von der Aufführung des dritten Quartetts, die er 1929 in Frankfurt mit dem Kolisch-Quartett erlebte. Er schrieb: Dieses Streichquartett sei »von einer Gewalt, die den Hörenden den Atem verschlug: vollends erhellte Musik«. An anderer Stelle heißt es, das Quartett sei »ein mächtiges Werk, unerbittlich und unangreifbar wie keine Kammermusik seit 1827, von niederzwingender Gewalt. … dämonisch erfüllte(s) Gefüge der Konstruktion.« Hier sind Zwölftontechnik und Ausdruck zusammengekommen, haben sich gegenseitig bemächtigt. Dies allein ist der Grund dafür, daß es sich hier nicht lohnt, etwas über die Zwölftontechnik auszuführen. Es ist nicht das Verdikt, welches Schönberg selbst gesetzt hat, indem er sich dagegen verwahrte, die Erkenntnis einer Komposition mit der Aufdeckung ihrer Reihendisposition gleichzusetzen, da solche Analysen »ja doch nur zu dem führen, was ich immer bekämpft habe: zur Erkenntnis, wie es gemacht ist; während ich immer erkennen geholfen habe: was es ist! … Ich kann es nicht oft genug sagen: meine Werke sind Zwölfton-Kompositionen, nicht Zwölfton-Kompositionen …« (Schönberg an Rudolf Kolisch, Brief vom 27.7.1932, in: A. Schönberg: Ausgewählte Briefe, hg. von Erwin Stein, Mainz 1958, S. 179)
Schönberg selbst hat einmal plastisch geschildert, welche drastischen Vorstellungen ihm beim Denken an den ersten Satz des dritten Quartetts begleiteten: »Als kleiner Junge quälte mich ein Bild, das die Szene aus dem Märchen 'Das Gespensterschiff' darstellt, in der der Kapitän von seiner Mannschaft an den Topmast durch den Kopf angenagelt wird. Sicher ist dies nicht das Programm des ersten Satzes des Dritten Streichquartetts. Aber es mag unterbewußt eine sehr grausame Vorahnung gewesen sein, die mich veranlaßte dies Werk zu schreiben - so oft ich über diesen Satz nachdachte, erinnerte ich mich an dieses Bild. Ich fürchte, ein Psychologe könnte diese Geschichte als einen Anlaß zu vorschnellen Schlüssen verwenden. Da sie lediglich einen Anhaltspunkt zu dem gefühlsmäßigen Hintergrund des Satzes gibt, kann sie keine Strukturaufklärung liefern.« (A. Schönberg: Analyse des dritten und vierten Streichquartetts)
Arnold Schönberg und Mitglieder des Kolisch-Quartetts: Rudolf Kolisch, Eugene Lehner, Felix Khuner. Denver 1937
Es läßt sich gar nicht überhören, dieses stupide, penetrierende, nichtendenwollende Hämmern oder Pochen der Staccato-Achtel in den Nebenstimmen. Selbst dort, wo es noch in der gemäßigten gebundenen Form auftaucht, bleibt der Gestus erhalten. Es ist eben ein Stück, das fast durchgehend auf emotionaler Hochspannung gehalten wird. Zu dieser grundlegenden manifesten Ausdrucksgestalt des Stücks gesellt sich eine zweite, latente, die musikalisch formende Substanz: Im Prinzip handelt es sich um einen leicht modifizierten Sonatensatz, bei dem in der Reprise Haupt- und Seitensatz vertauscht werden, so daß eine Bogenform entsteht. So kongruiert die formale Idee, die eher den statischen Charakter als den dynamischen Entwicklungstypus betont, plötzlich mit dem Ausdrucksgehalt.
Der zweite Satz ist ein Variationssatz. Das »Thema« führt vollkommen weg von der Vorstellung, es handle sich auch hier um »angewandte« Zwölftontechnik. Schönberg spielt, genau kalkuliert, mit tonalen Elementen. Sogar Moll-Dreiklänge werden eingebaut. Aber diese tonalen Spuren, die zunächst deutlich exponiert werden, tauchen im Laufe der drei Variationen unter, werden überschwemmt von einer Flut kleinster Derivate motivischer Verknüpfungen. Die Schlußcoda zeigt das Thema verwandelt, wie in einer neuen Übersetzung des Beginns.
Der dritte Satz trägt die Überschrift »Intermezzo«. Es handelt sich offensichtlich um die Vertretung des Scherzo-Menuetts. Schönberg operiert mit wechselnden metrischen Formen, die sich gegenseitig überlagern und so den Eindruck von Flüchtigkeit erwecken. Hier zeigt sich deutlich, was für ein hervorragender Rhythmiker Schönberg war. Seine komplexen Entdeckungen beim Umgang mit motivischem und thematischem Material überträgt er auch auf die rhythmische Dimension. Fließend wechselt er die Metren, häufig überlagert er sie, so daß nie der Eindruck von Gradlinigkeit entstehen kann. Ist es im ersten Satz das Bodenlose des Ausdrucks, so resultiert aus der musikalischen Gestaltung hier ein schwebendes Losgelöstsein.
Das Rondo beginnt wie eine harmlose Spielmusik. Und doch ist es quasi nur die Umformung des ersten Satzes in eine »fröhliche« Auskehr, natürlich hie mit Haken und da mit Ösen.
CD 5 Track 6: Schönberg: Fantasie op 47 Rudolf Kolisch & Gunnar Johansen, 1966
Schönberg´unterrichtet an der UCLA, 1940 ?
Schönbergs »Phantasy for Violin with Piano Accompaniment« op. 47
Auf Anregung des Geigers Adolph Koldofsky komponierte Arnold Schönberg, der 1933 in die USA emigriert war, im März 1949 parallel zu den Chorwerken »Dreimal tausend Jahre« und »Israel Exists Again« ein »Stück für Violin-Solo mit Begleitung des Klaviers«. Daß der solistische Anteil der Violine durchaus auch konzeptionell und seiner im Titel angedeuteten hierarchischen Stellung wörtlich nehmen zu ist, wird durch die den autographen Quellen ablesbaren Kompositionsweise des Werks belegt: Schönberg schrieb zunächst die Violinstimme komplett aus (Enddatum: 22. März 1949), ehe erst eine Woche später der begleitende Klavierpart vollendet wurde. Für die Uraufführung anläßlich seines 75. Geburtstages am 13. September 1949 schrieb Schönberg für Adolph Koldofsky, der das Werk interpretierte und den der Komponist als idealen Interpreten einstufte, ein alternatives Werkende.
Die Werkgattung Fantasie rangierte in Schönbergs Lehrbuch »Formbildende Tendenzen der Harmonie« unter den »sogenannten freien Formen«, bestimmt durch opulentes Figurenwerk, instrumentale Improvisation und spontanen Ausdruck. Mit den klassischen und nachklassischen Genreusancen hat Schönbergs dodekaphone Fantasie insoviel gemein, als die Virtuosität der spielerischen Anlage durchaus mit Schuberts Violinfantasie C-Dur und die formale Disposition mit Mozarts Fantasie c-Moll KV 475 verglichen werden kann. Wie in der Forschung bereits ausgeführt wurde, ist die kaleidoskopartige Abfolge der sich wechselseitig unterbrechenden Teile in Mozarts Fantasie gleichsam als Folie auf Schönbergs Werk applizierbar. Die architektonische Anlage und auf dodekaphoner Grundlage basierende harmonische Regionen lassen in Schönbergs Fantasie denn auch ein originär Dur-Moll-tonales Denken vermuten, worauf auch die Gewichtung rhythmisch-metrischer Satzbestandteile hindeutet, zudem werden Umrisse einer einsätzigen Reprisenstruktur innerhalb eines Sonatenzyklus’ ablesbar.
Die Fantasie ist grobschematisch in vier Teile gegliedert: ein motivbildender Bereich mit Überleitung (der Hauptgedanke des Werks ist sechstaktig), ein mit dem langsamen Satz einer Sonate vergleichbaren Lento-Abschnitt, Scherzando und Coda (jeweils mit Überleitung). Einen klassischen Wienerischen Ton kann die Fantasie keinesfalls verleugnen, wird doch die Ausdrucksästhetik des Werks stellenweise etwa durch tänzerische Dreierrythmik genährt, wie sie im Geigenklang vergleichbarer Satzpartien von Schubert bis Mahler aufscheint. Die spieltechnische Vielfalt des fragilen Satzgefüges reicht von Doppelgriffen in äußerst weitem Ambitus, Glissando-, Pizzicato-, Flageolett- bis zu diffizilen Tremolo-Effekten und dynamisch differenzierten Akkord-Arpeggien.
Max Oppenheimer: Die Philharmoniker, 1926-1952, Belvedere Wien
Max Oppenheimer (1885–1954)
Max Oppenheimer, Sohn jüdischer Eltern, begann bereits mit 15 Jahren in seiner Heimatstadt Wien mit dem Kunststudium an der Akademie der bildenden Künste, das er 1903 an der Prager Akademie der Künste fortsetzte. Im Jahre 1906 schloss er sich der Prager Gruppe »OSMA« an, einer der ersten Vereinigungen tschechischer Avantgardisten. Oppenheimers Malweise wurde zu dieser Zeit in hohem Maße von dem erwachenden Interesse an impressionistischer Malerei, besonders der von Max Liebermann beeinflusst.
1908 zog er nach Wien zurück und schloss sich dem Künstlerkreis um Oskar Kokoschka und Egon Schiele an. Entscheidend wurde für Max Oppenheimer die Begegnung mit Kokoschkas Malerei des sogenannten psychologischen Porträts. Nach einer Teilnahme an mehreren Ausstellungen zeigte er 1911 eine erste Einzelausstellung in der Modernen Galerie, München. Im gleichen Jahr wurde der Künstler in Berlin Mitarbeiter der von Franz Pfemfert gegründeten Zeitschrift »Die Aktion«. 1915 zog er in die Schweiz, wo er mit Unterbrechungen bis zum Jahre 1924 blieb.
Max Oppenheimer: Kolisch-Quartett, Öl auf Leinwand, 89 x 107 cm, 1940 Monogrammiert unten mittig: MOPP. Rückseitig zwei Klebeetiketten: The Kolisch Quartette 35 x 421/4 inches on canvas, painted in New York 1940 Maximilian MOpp.
Kolisch, auf der rechten Seite, hält den Bogen mit der linken Hand, da er nach einer Verwundung auf die andere Hand umgelernt hatte.
In der folgenden Zeit verdichteten sich kubistische Stilelemente in seiner Malerei und wurden zu einem charakteristischen Bestandteil seiner Kunst. Oppenheimer wurde 1916 in den Kreis der Dadaisten eingeführt und nahm noch im gleichen Jahr an der 1. Dada-Ausstellung in Zürich teil. Es entstanden die berühmten Orchesterszenen, die 1924 in einer großen, vom Wiener Haagebund ausgerichteten Kollektivausstellung gezeigt wurden.
1926 ging Max Oppenheimer erneut nach Berlin. Die zunehmend gespannte politische Lage in Deutschland ließ ihn jedoch schon 1931 erwägen, wieder nach Wien zurückzukehren. Ein Jahr später wurde sein Werk im Rahmen der Verfolgungswelle nach dem Reichstagsbrand Opfer einer Diffamierungskampagne der SA. 1932 nahm Max Oppenheimer an einer Kollektivausstellung im Wiener Künstlerhaus teil, bevor er 1938 in die Schweiz flüchtete und 1939 in die USA emigrierte.
In den folgenden Jahren zeigen sich Anzeichen einer Wiederaufnahme früherer künstlerischer Ideen, die für sein Werk in den kommenden Jahren mehr und mehr bestimmend wird. Noch kurz vor seinem Tod begann er, sich mit dem abstrakten Expressionismus zu befassen. Max Oppenheimer starb am 19. Mai 1954 in seiner Wohnung in New York.
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Das Folgende klingt wie das Atemholen zu einem Bratschenwitz, ist aber nichts als die Wahrheit. Was haben Joseph Haydn und die Viola (auch Bratsche genannt) gemeinsam? Die Antwort lautet: Sie waren beide der Anfang und die Vollendung in Personalunion. Sie wurden beide von den Folgegenerationen marginalisiert und belächelt. Ihnen beiden widerfuhr in jüngerer und jüngster Zeit Rehabilitation. Und so wie Haydn die Symphonie, das Streichquartett, die Klaviersonate, das Oratorium in ihrer modernen Form erfunden hat, ohne seither in einem dieser Genres nachweisbar eines Besseren belehrt worden zu sein: so ist auch die Viola Ursprung und Zentrum der reichen und schillernden Geschichte der Streichinstrumente.
Aus ihr entwickelten sich Violine (wörtlich: 'kleine Viola') und Violone ('große Viola'), ein kontrabaßähnlichcs Gerät, dessen Verkleinerungsform 'Violoncello' lautet. Auch anderweitig ist die Etymologie auf unserer Seite: Viola leitet sich aus lateinisch vitulari (frohlocken) her. Geige hingegen kommt von gige und bezeichnet lautmalend das Gicksen, das heute eher den Kollegen von der Blechfraktion vorbehalten ist. Und 'Cello' ist - wir haben es schon erwähnt - überhaupt bloß eine Verkleinerungssilbe.
Sich all das zu vergegenwärtigen tut gut angesichts der stürmischen und spektakulären Karrieren, mit denen besagte Instrumente lange Zeit über uns hinweggebraust sind und uns ins Souterrain des Orchesters verbannt haben.
John Constable: Salisbury Cathedral from the Bishop's Grounds, 1820, Öl auf Leinwand, 74.3 x 92.4 cm,
National Gallery of Canada, Ottawa
Eine kurze Geschichte der Viola
Beginnen wir in der gemeinsamen Urzeit: Die Streichinstrumente haben sich - in Asien, wo fast alle zivilisatorischen Standards ihren Anfang nahmen - aus Zupfinstrumenten entwickelt. Am Anfang war der Bogen - ein Stock, an dessen Enden ein Strick gespannt wurde. Der erste Resonanzraum war der Mund, vor den das Gerät gehalten wurde. Später griff man auf Flaschenkürbisse, Muscheln, Schildkrötenpanzer, Kokosnußschalen und Holzkästchen zurück, spannte Stricke über sie und wies dem Bogen eine neue - die heutige - Funktion zu.
Das indische Ravanstron, schon ein funktionstüchtiges Streichinstrument, datiert 5000 vor Christus, aus dem nordafrikanischen Rebab wurde das birnenförmige europäische Rebec. Die französische vielle mit vier Saiten und Schallöchern in f-Form verweist schon auf die spätere Form der Viola.
Im Mittelalter war die Fidel (wie Viola von lateinisch vitulari) das beliebteste Instrument. Sie wurde von Vaganten und Spielleuten durch Europa getragen und erfreute Könige wie Bauern.
Ab dem 16. Jahrhundert machten sich in den norditalienischen Städten Mailand, Brescia, Cremona und Venedig Meister wie Andrea und Nicola Amati, Gasparo da Salò, Andrea Guarneri und Antonio Stradivari auf, die bis heute unübertroffenen Standards des Instrumentenbaus zu setzen.
Es waren zwei prototypische Violen, aus denen sich dann alles Weitere entwickelte (die Viola d'amore, noch in der Romantik für spezielle Klangwirkungen eingesetzt, ist ein Zwischending aus beiden):
• Die viola da braccio (italienisch Arm, wovon sich auch Bratsche herleitet), flach, mit gewölbtem Boden, Schallöchern in f-Form und vier Saiten auf einem gewölbten Steg, lag auf der Hals-Schulter-Partie auf, wurde also horizontal gespielt. Aus ihr entwickelte sich die Violine.
• Die viola da gamba wurde, wie ihr Name besagt, auf dem Knie aufgestützt, war wesentlich voluminöser, hatte einen flachen Boden und Schallöcher in c- oder f-Form. Fünf bis sieben Saiten lagen auf einem flachen Steg. Obwohl das Cello klanglich und baulich zur Violinfamilie gehört, wird es (unerlässlich wegen seines Umfangs) da gamba gespielt.
John Constable: Cloud Study, 1822, Öl auf Papier auf Karton 30.5 x 49 cm, Courtauld Institute Galleries, London
Im 16. Jahrhundert wurden Alt- und Tenorinstrumente unterschiedlicher Größe, aber gleicher Stimmung gebaut: c, g, d', a', was der heutigen Viola entspricht. Auch die Korpuslänge von 40 bis 42 Zentimetern ist bis heute unverändert. So stehen wir vor dem Phänomen, daß sich die Streichinstrumente im Prinzip seit 400 Jahren kaum verändert haben. Den letzten Veränderungen in bautechnischen Details wurden sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts unterworfen, da man in den großen Hallen das Klangvolumen erhöhen mußte. Die Spannung der nunmehr schwereren Saiten wurde erhöht, der Winkel des Halses zum Korpus leicht nach hinten gekippt, der Hals verlängert.
Die Auslese hingegen war rigide, und die Musikgeschichte stand nur selten auf Seiten der Violen: Im 17. Jahrhundert, mit der Ausbreitung der Barockoper, verschwanden die Gamben, deren weicherer, leiserer Klang den Anforderungen orchestraler Prachtentfaltung in großen Räumen nicht mehr genügen konnte. Als nächstes hatte die Tenor-Viola ausgedient - sie mußte dem Violoncello weichen. Die Alt-Viola und das immer dominanter werdende Cello etablierten sich endgültig als orchestrale Standardbesetzungen.
Ende des 18. Jahrhunderts erschienen die ersten Lehrwerke für Viola. Sie waren noch Geigern zugedacht, und in der Tat war das Instrument tief in der Etappe verschwunden. Während ihre wendigere Nachfahrin, die Violine, als Soloinstrument brillierte, war die Bratsche zur Grundierung und Erzeugung von Stimmungen eingesetzt. Die spärlichen Konzerte für Viola schrieben Georg Friedrich Telemann, Carl Stamitz, selbst ein namhafter Virtuose dieses Instruments, und vor allem Mozart, der sie in der Sinfonia concertante gleichberechtigt neben die Geige stellte. Berlioz, der sie in seiner Instrumentenlehre als 'traurig-leidenschaftlich' bezeichnete, schrieb ihr Harold en Italie, eine Symphonie mit konzertanter Viola.
John Constable: Study of Clouds at Hampstead, 1821 Öl auf Papier auf Karton, 24.2 x 29.8 cm, Royal Academy of Arts, London
War die Viola im Orchester lange Zeit bloß ein supporting act, so konnte sie sich in der Kammermusik behaupten. Wie in allen Belangen war Haydn auch hier bahnbrechend (Streichquartette op. 33). Mozart wies ihr vor allem in den Quintetten Protagonistenrang zu: Die Klangfülle in der Mittellage durch die verdoppelte Bratsche erhebt diese Werke auch in der Publikumsgunst noch über die Quartette. Beethoven - selbst ausgebildeter Bratscher - ließ ihr in allen seinen Quartetten alle Ehre widerfahren. Schuberts Der Tod und das Mädchen in seiner Schwärze und Verzweiflung ist auch ein bedeutendes Bratschenwerk. Schumann (Märchenbilder, Märchenerzählungen) muß sich dem Instrument seelenverwandt gefühlt haben. Brahms schrieb seine Klarinettensonaten alternativ auch für Bratsche.
Im 20. Jahrhundert wurde die Bratsche dann in allen Belangen zum ihr angemessenen Rang befördert: Seit Richard Strauss steht sie im Orchester auch hinsichtlich der technischen Schwierigkeiten den Geigen nicht mehr nach. Hindemith, selbst ein bedeutender Virtuose, wurde zum Gottvater aller Bratscher. Britten widmete wesentliche Werke dem Bratschisten William Primrose, Strawinsky und Schostakowitsch schufen zentrale Kammermusikwerke für das Instrument. Henze, Schnittke, Takemitsu, Bruno Maderna, Kancheli emanzipierten die Bratsche zuletzt endgültig.
Der Charakter der Bratsche im Orchester
Sie ist das Instrument der spröden Seelentöne, der Selbstzweifel, der deformierten Gefühle, des unterdrückten Aufbegehrens. Wenn sich der Komponist Pierluigi Palestrina in Hans Pfitzners Oper am Ende seiner Schaffenskraft wähnt, untermalt die Bratsche seine Verzweiflung. Die wesentlichen Opern Hindemiths - Cardillac,Mathis der Maler - sind Bratschenopern, in den zentralen musikdramatischen Werken - auch den Kammeropern - des Instrumentationsgenies Britten kann unsereiner schwelgen. Richard Strauss bietet uns in Elektra, Rosenkavalier und Arabella schöne (und schwere) Aufgaben, die alle mit Verlust der Lebensorientierung zu tun haben.
John Constable: Flatford Lock and Mill, 1812
Öl auf Leinwand, 66 x 92.7 cm, Corcoran Gallery of Art, Washington
In früherer Zeit allerdings waren unsere orchestralen Aufgaben undankbar: In Tristan und Siegfried ist sie unablässig im Einsatz, erzeugt aber nur grundierend Stimmungen. Und was uns in Webers Freischützzugedacht ist, rangiert hart an der Beleidigung: Während die Seelenqualen des Jägerburschen Max von der Klarinette und Agathes Hoffen und Sehnen vom Cello in betörenden Zwiegesängen zelebriert werden, ist uns die an der Albernheitsgrenze rangierende Arie des Ännchen zugeordnet.
Im Orchesterbereich ist Richard Strauss gleichfalls unser großer Gönner: Der Sancho Pansa in Don Quixote (neben dem von einem Cello verkörperten Ritter) ist eine unserer größten Aufgaben. Bruckners Vierte und Mahlers Zehnte stellen an die Bratsche hohe Anforderungen.
Um Bratscher zu sein, muss man das Dunkle lieben. Der von mir bewundertste Sänger war der samtene Baß Cesare Siepi. Tenöre mochte ich nie besonders. Ich lese am liebsten Lyrik, und mein bevorzugter Maler ist Goya. Es ist allerdings nicht zu leugnen, daß sich viele für die Bratsche entscheiden, weil sie auf der Geige nicht taugen. Das aber ist ein Irrweg: Wenn auf der Geige nichts los ist, ereignet sich auch auf der Bratsche nichts Nennenswertes. Prinzipiell muß jeder Bratscher zunächst Geige studieren, weil die Dimensionen des Instruments für Kinderhände ungeeignet sind. Der Bratscher braucht große Hände und, physikalisch berechnet, ein Drittel mehr Kraft als der Geiger. Krafttraining ist dennoch ungeeignet, denn das verfestigt und verhärtet die Finger.
John Constable: Hadleigh Castle, 1829 Öl auf Leinwand, 122 x 164.5 cm, Yale Center for British Art, New Haven
Viele Bratschisten begehen den fundamentalen Fehler, auf der Bratsche Geige zu spielen: Sie verfehlen den spezifischen dunklen Ton. Man muß tiefer und kräftiger streichen, muß die Amplitude des Vibratos vergrößern. All das kann man nicht lernen, man muß es spüren, weil man es liebt.
Und noch eine Voraussetzung darf nicht verschwiegen werden: Ein professioneller Musiker muß für ein gutes Instrument mindestens 100.000 Dollar veranschlagen.
Der Mythos der alten Instrumente
Ein Mythos für sich sind die alten, kostbaren Violen und Violinen der italienischen Meister. Die großen Geigenbauer waren allesamt auch große Violenbauer (sehr im Gegensatz zum Cello, für das es eigene Meister gab). Die bis heute teuerste Geige, die 'Lady Blunt' von Stradivari aus dem Jahr 1721, kostete 7,5 Millionen Dollar. Wäre eine der nur 12 Stradivari-Bratschen auf dem Markt, müsste man für sie wegen ihrer immensen Seltenheit 10 bis 15 Millionen Dollar veranschlagen.
Das Kuriose ist: Ausgerechnet die legendäre 'Lady Blunt' wäre heute kaum spielbar, denn sie ist in ihrer vollkommenen, unveränderten Gestalt zwar ein singuläres Studien- und Museumsstück. Wer aber heute eine kostbare, alte Viola oder Violine spielt, benutzt ein wesentlich umgebautes Instrument. Die Violen waren für heutige Verhältisse zu groß und unhandlich, also beschnitt man die Ränder, wodurch im Baßbereich einiges verloren ging. Dafür werden heute bessere Saiten aufgezogen als die ständig reißenden Darmsaiten, die früher dafür verantwortlich waren, daß während des Konzerts neben dem Musiker der Geigenbauer saß und ständig neue Saiten aufzog - für die heutige Orchesterpraxis ein unvorstellbarer Vorgang. Ich selbst habe mich von umsponnenen Darmsaiten zu erstklassigen neuen Kunststoffsaiten bekehrt, denn der Wohlklang am Ohr kann in den großen Sälen leicht untergehen. Stahlsaiten lehne ich ab.
John Constable: Hampstead Heath, Looking Towards Harrow, 1821, Öl auf Papier auf Leinwand, 23.8 x 29.8 cm, Royal Academy of Arts, London
Ich spiele ein Mailänder Instrument aus dem Jahr 1720, doch mit seiner ursprünglichen Form hat es nur noch bedingt zu tun: Es wurde etwas verkleinert, ist aber immer noch sehr groß. Das Griffbrett wurde verlängert, das gesamte Instrument wegen der heute erbeblich größeren Saitenspannung verstärkt. Es klingt also wesentlich anders als anno 1720 und ist dennoch unvergleichlich im Klang, was mit dem vollen, reichen Frequenzbereich, insbesondere den berückenden Obertönen, zu tun hat. Oben Silber, unten schwarzer Baß - das ist das Ideal des Bratschenklanges, dessen Geheimnis die alten Meister verstanden.
Der Jammer mit den Bratschenwitzen
In früheren Zeiten wurde der Bratschist unfreundlich als 'dritter Geiger' tituliert. Ausrangierte oder ungebührlich phlegmatische Violinisten wurden zur Bratsche versetzt, was den Ruf nicht beförderte. An der zweiten Bratsche kann man bis heute sehr, sehr alt werden. Deshalb lautet auch der inbegriffliche Bratschenwitz, daß es gar keine Bratschenwitze gibt - nur Tatsachenberichte. Der schlimmste lautet: 'Was macht man mit einem verstorbenen Solobratschisten?' - 'Man setzt ihn ans zweite Pult'.
Die Scherze, die über die Bratsche kursieren, gehen in die Aberhunderte. Haltlose Theorien über ihre Erfindung werden in Umlauf gebracht (jemand soll versehentlich Saiten über einen Geigenkasten gespannt haben) und letzte Fragen der musikausübenden Menschheit geklärt: 'Wenn du auf der Straße einen Dirigenten und einen Bratschisten siehst, welchen überfährst du zuerst?' - 'In jedem Fall den Dirigenten, denn Arbeit kommt vor Vergnügen'. Und: 'Wenn man den Dirigenten erledigt hat, kann der Bratschist noch nicht weit gekommen sein'.
John Constable: The Lock, c. 1823-24, Öl auf Leinwand,
141.7 x 122 cm, Philadelphia Museum of Art
Übel auch die Sache mit dem Bratscher, der sich beim Dirigenten über den Soloklarinettisten beschwert: 'Er hat mir eine Saite verstimmt und will mir nicht sagen, welche!' - Wir werden bezichtigt, unser Instrument nur unter Zuhilfenahme eines Spickzettels mit dem Hinweis 'Bratsche links, Bogen rechts' in Betrieb nehmen zu können. - Zu alledem werden wir des Kleinmuts geziehen: 'Wie bringt man einen Bratscher dazu, Tremolo zu spielen?' - 'Über die betreffende Note groß SOLO schreiben' .
Momente des Aufbegehrens sind selten, und so entwickelt der Bratscher eine Art stolzer Gelassenheit, die den einschlägigen Ruf womöglich noch verstärkt. Dennoch empfehle ich niemandem, uns zu beleidigen: Erstens verfügt der Bratschist naturgemäß über große Hände. Und zweitens widerlegen wir durch die Tat alle Vorurteile: Die erste Frau, die (von den traditionellen Harfenistinnen abgesehen) in den jahrhundertealten Männerbund der Wiener Philharmoniker Eingang fand, war meine Kollegin Ursula Plaichinger.
Fortsetzung folgt nach der Tracklist
Track 1: Hindemith: Sonata for Viola and Piano, op 11 nr 4
Duo for Viola and Cello in E flat major 'with Two Eyeglasses', WoO 32 13:14 [2] Allegro 9:08 [3] Minuetto: Allegretto 4:06
Robert SCHUMANN (1810-1856):
Märchenerzählungen for Clarinet, Viola and Piano Op. 132 13:59 [4] Lebhaft, nicht zu schnell 2:46 [5] Lebhaft und sehr markiert 3:07 [6] Ruhiges Tempo, mit zartem Ausdruck 3:31 [7] Lebhaft, sehr markiert - etwas ruhiges Tempo 4:36
George Frideric HANDEL (1685-1759) / Johan HALVORSEN (1864-1935):
[8] Passacaglia for Violin and Viola 7:39
Benjamin BRITTEN (1913-1976):
[9] Lachrymae Op. 48 - Reflections on a song by Dowland for Viola and Piano 13:41
Recorded at ORF Funkhaus Vienna, Studio 2, 19th-22nd May, 2004 Producer: Alfred Treiber - Recording Supervisor: Erich Hofmann Sound engineer: Josef Schütz - Editor: Elmar Peinelt Cover Photo: Koll and Inui, by Martin Vukovits (P) & (C) 2004
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John Constable: Dedham Lock and Mill, c. 1820
Öl auf Leinwand, 54.6 x 77.5 cm, The Currier Gallery of Art,
Hindemith war eine Art heiliger Erlöser der Bratschistenzunft. Selbst einer der bedeutendsten Virtuosen in der Geschichte des Instruments, erzwang er der Viola als Opern-, Orchester- und Kammermusikkomponist den Rang, den sie schon beinahe verloren hatte. Die sogenannte 'Phantasiesonate' op. 11 Nr. 4 (benannt nach dem ersten Satz mit der Bezeichnung 'Phantasie') entstand Anfang 1919. Hindemith war soeben aus der Wehrmacht entlassen worden und hatte sich inmitten des nationalistischen Gedröhnes des verlorenen Weltkriegs mit dem inbegrifflichen Gegenteil dieser Stimmung, mit Debussy, beschäftigt. Das Werk, zwischen Romantik und Impressionismus angesiedelt, hat noch nichts von der Anarchie späterer Zeiten, in denen sich Hindemith als junger Wilder gefiel. Doch es geht schon in den Bereich der freien Tonalität, ist von fabelhafter Musikantik, voll Ironie und Farbenpracht und steigert sich zuletzt zu fast erotisch erregter Sinnlichkeit. Hindemith selbst wies die Ausführenden an: 'Die Sonate wird ohne Pause zwischen den Sätzen gespielt, besonders der zweite und dritte Satz sollen so gut verbunden sein, daß der Zuhörer nicht die Empfindung hat, ein Finale zu hören, sondern den letzten Satz lediglich als Fortsetzung der Variationen auffassen muß.' Mit dem Werk förderte er seinen Ruf und wurde einer der erfolgreichsten Musiker Deutschlands. Bis ihn die Barbarei anno 1933 als 'Kulturbolschewisten' denunzierte und sein Werk auszulöschen trachtete. Doch auch diesfalls hatte die Kunst den längeren Atem.
John Constable: Branch Hill Pond, Hampstead Heath, 1828
Öl auf Leinwand, 60.6 x 78 cm, Cleveland Museum of Art
Ludwig van Beethoven (1779-1827):
Duett Es-Dur 'mit zwei obligaten Augengläsern', WoO 32, für Viola und Violoncello
Beethoven, gutgelaunt, ja ausgelassen. Nicht glücksverklärt wie in der Frühlingssonate, nicht beurlaubt von der Unerträglichkeit der Lebenslasten wie in der Pastorale. Sondern gutgelaunt und ausgelassen. Ein seltenes und großes Vergnügen ist es, das uns Beethovens fröhliches, temperamentvolles kompositionstechnisch brillantes Duo da bereitet. Der Meister schrieb es als hoffnungsvoller Endzwanziger in den Jahren 1796 und 1797 in Wien. Hier galt es, sich als Komponist und ausübender Musiker zu positionieren. Und hier fand er als Schüler Haydns Zutritt zu den besten aristokratischen Kreisen, aus denen ihm wichtige Gönner und Freunde erwuchsen, unter ihnen der Graf Waldstein und die Fürsten Eszterházy, Lichnowsky und Rasumowsky. Beethoven brauchte die finanziellen Zuwendungen dringend: Seit 1794 bezog er aus der Geburtsstadt Bonn keine Einkünfte mehr. Ein Gönner, der nicht aus der höchsten Aristokratie kam und daher ein lebenslanger Freund werden konnte, war der in Wien lebende ungarische Baron Hofsekretär Nikolaus Zmeskall von Domanovecz und Lestine, der als begabter Amateur das Cello strich. Mit ihm pflog Beethoven eine Korrespondenz von fast Mozartischer Albernheit, für ihn schrieb er auch das scherzo musicale 'Graf, Graf, liebster Graf'. Beethoven hatte in Bonn eine seriöse Ausbildung als Bratscher genossen, und so schrieb er - wohl zu gemeinsamer hausmusikalischer Ausübung - für Zmeskall das Duett 'mit zwei obligaten Augengläsern'. Beide Herren, so die Fama, seien stark kurzsichtig gewesen - womit auch der Titel des Stücks enträtselt ist. Es zeigt uns, nebstbei, auf welch hohem technischem Niveau damals Hausmusik getrieben wurde.
John Constable: Rainstorm off the Coast at Brighton, c. 1824-28, Öl auf Papier auf Leinwand, 22.2 x 31 cm, Royal Academy of Arts, London
Robert Schumann (1810-1856):
Märchenerzählungen für Klarinette, Viola und Klavier op. 132
1854 war ein verheerendes und lebensentscheidendes Jahr für Robert Schumann: Seine Geisteskrankheit brach aus und führte zum ersten Selbstmordversuch. Zwei Jahre lang, bis zu seinem Tod am 29. 7. 1856, verdämmerte er dann mit gelähmter Schaffenskraft. Wenige Monate vor dem fatalen Datum, im Oktober 1853, schrieb er die vier Märchenerzählungen für Klarinette, Viola und Klavier, und sie unterscheiden sich fundamental von den 1849 entstandenen Märchenbildern für Viola und Klavier. Dominieren dort hausmusikalischer Charme und poesievolle Lebensbejahung, so hatte in den Märchenerzählungen die Krankheit schon die Macht über den Komponisten ergriffen. Die Wahl der für seelische Ausnahmesituationen zuständigen Instrumente Viola und Klarinette erzeugt insbesondere im langsamen dritten Satz eine Stimnmung der Depression und Lebensschwärze. In den anderen entdecken wir einerseits berührende Augenblicke der Nostalgie nach glücklicheren Zeiten, andererseits neurotische, ja aggressive Stimmungen. Für Schumann schloß sich mit diesem Werk (einem der letzten, die zu schreiben er in der Lage war) ein Kreis: Die Besetzung Klarinette - Viola - Klavier kreierte Mozart, das Idol, mit dem Kegelstatt-Trio. Weit mehr als ein Jahrhundert nach Schumanns Tod schloß dann der ungarische Komponist György Kurtág mit der Hommage à Robert Sch. für Klarinette, Viola und Klavier op. 15 d einen weiteren Kreis.
John Constable: A View on the Stour, 1810 Öl auf Papier auf Leinwand, 26.7 x 26.7 cm,
Philadelphia Museum of Art
George Frideric Handel (1685-1759) / Johan Halvorsen (1864-1935):
Passacaglia for Violin and Viola
Der Violinvirtuose, Dirigent und Komponist Johan Halvorsen war neben Grieg der bedeutendste norwegische Komponist der Spätromantik. Seine 1894 entstandene Bearbeitung der Passacaglia (ein spanisches Tanzlied) aus der siebenten Suite für Cembalo von Händel in g-moll ist ein Virtuosenstück hohen Ranges: Geschrieben in der Form der typischen achttaktigen Passacaglia, spielt es mit Staccato, Pizzicato und Richochet, ohne sich im entferntesten um die ein Jahrhundert später zum guten Ton zählenden Bedenken zu kümmern. Im Zeitalter des Originalklangs erscheint der unbekümmerte romantisch-virtuose Umgang mit barocker Musik unstatthaft. Im 19. Jahrhundert war er selbstverständlich. Und wenn man Halvorsens Werk hört, wird der Verdacht nicht geringer, daß die Zeiten für Ausübende und Zuhörer früher freudvoller waren.
Benjamin Britten (1913-1976)
Lachrymae op. 48 - Reflections on a Song of John Dowland for Viola and Piano
Britten, der bedeutendste britische Komponist des 20. Jahrhunderts, war ein immens gebildeter Kopf und schöpfte, unbeeinflußbar von allen Moden, aus dem Reichtum der Vergangenheit. Als Dirigent, Pianist und Komponist erwarb er sich höchste Verdienste um das Werk seines Landsmannes Henry Purcell, dessen Werke er teils transkribierte, teils bis heute gültig edierte. Aus dem thematischen Material der Beggar's Opera von John Gay formte er, ein fulminanter Instrumentierungskünstler, eine kompositorisch ganz und gar eigenständige Kammeroper. Mit Faszination betrachtete er auch das Werk des Komponisten und Lautenspielers John Dowland (1563-1626). Der schrieb unter dem Titel Lachrymae ('Tränen') einen Zyklus hypnotischer Liebeslieder. 'If my complaints could passions move' ('Wenn meine Klagen Leidenschaft auslösen könnten') nimmt dabei eine kuriose Sonderstellung ein: Unter der Tarnung eines Liebesliedes artikulierte Dowland seine Sehnsucht nach einer lukrativen Anstellung bei Hof!
John Constable: The Opening of Waterloo Bridge, 1829
Öl auf Leinwand, 62 x 99 cm, Yale Center for British Art,
New Haven
Dieses Lied machte Britten 1950 zum Gegenstand seiner 'Reflections', denn das Wort Variationen mochte er nicht. Das Werk, dem schottischen Bratschisten William Primrose zugeeignet und von Britten bei der Uraufführung selbst begleitet, ist nach dem umgekehrten Variationenprinzip gestaltet: Britten beginnt in größtmöglicher Entfernung zum Originalmotiv, das erst im 12. und letzten Satz in seiner ursprünglichen Gestalt auftaucht. In den sechsten Satz ist übrigens auch Dowlands'Flow my tears' ('Fließt, meine Tränen') verwoben. Britten erweist sich hier abermals als fabelhafter Techniker und suggestiver Harmoniker. 1976, in seinem letzten Lebensjahr, schuf er eine Bearbeitung für Viola und Orchester. Doch die klare Aufteilung zwischen Singstimme und Laute auf die Instrumente Viola und Klavier ist wesentlich schlüssiger und auch faszinierender.
Geboren 1951 in Wien. Studium an der Musikhochschule Wien. 1976 bis 1980 Solobratschist der Wiener Symphoniker. Seit 1980 Solobratschist des Wiener Staatsopernorchesters und der Wiener Philharmoniker. Seit 1978 Mitglied des Musikverein Quartetts ('Küchl Quartett') mit Zyklus im Wiener Musikverein.
Die hier vorgestellte CD ist Teil der Serie »The Art of the …«, die Solisten der Wiener Philharmoniker vorstellt. Davon ist die Ausgabe »The Art of the Vienna Horn« auch hier in der Kammermusikkammer vorgestellt worden.
Die Gemälde von John Constable (1776-1837), der wie der Bratscher Heinrich Koll das Dunkle liebte, stammen von Mark Harden’s famosem Artchive. Marks Kunstarchiv ist eine der ältesten Quellen hochaufgelöster Kunstbilder im Cyberspace, die frei zugänglich war und ist. Dem Artchive verdankt die Kammermusikkammer auch das bereits früher veröffentlichte und von Ernst H. Gombrich kommentierte »Wivenhoe Park, Essex«.
CD Info & Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 58 MB Filepost -- Hotfile Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files
»Gibt es nicht heftige Bewegungen der Seele, die doch sehr leise sind?« (Anton Webern)
Die Cellostücke op. 11 stellen das letzte Werk der aphoristischen Phase Weberns dar. Sie entstanden 1914 - drei Wochen vor Ausbruch des I. Weltkrieges - während der Arbeit an einer Cello-Sonate, die Webern nach Ermahnungen des Lehrers Schönberg, doch wieder zu größeren Formen zurückzukehren, konzipierte. Zur Entschuldigung schrieb er an Schönberg: Ich bitte Dich, nicht unwillig zu sein darüber, daß es wieder etwas so Kurzes geworden ist. … Ich hatte schon gannz deutlich die Vorstellung einer größeren zweisätzigen Composition für Cello und Klavier und begann sofort mit der Arbeit. Als ich aber schon ein gutes Stück im I. Satz hielt, wurde es mir immer zwingender klar, daß ich was anderes schreiben müßte. Ich hatte ganz deutlich das Gefühl, wenn ich das unterdrücke, etwas ungeschrieben zu lassen. … Und ich habe selten so das Gefühl gehabt, daß was gutes geworden ist. (Die ursprünglich geplante Cello-Sonate wurde nie fertiggestellt).
Zehn Jahre später erscheinen die Stücke im Druck und werden in Mainz uraufgeführt. Der Wiener Erstaufführung 1925 konnte er nicht beiwohnen, jedoch berichtet ihm Berg: Beim ersten Ton spürte man Dich und Deine so ganz einzige Art und ist dermaßen gebannt während der ganzen Dauer der Stücke, daß alle Relativität von Länge und Kürze völlig aufgehoben ist und man den beseeligenden Eindruck wie von dem Duft einer Blume empfängt, bei dem man, wäre er noch so flüchtig, den Hauch der Ewigkeit spürt. Eine Berliner Aufführung durch den weltberühmten Piatigorsky im Jahr 1926 rief heftiges Gelächter beim Publikum hervor. Noch 1939 riet Webern Willi Reich, der ein Konzert plante, von den Cellostücken ab: … Die lieber gar nicht! Nicht, weil ich sie nicht gut finde. Aber sie würden ja nur ganz mißverstanden. Die Spieler und die Hörer können nur schwer damit was anfangen. Nichts Experimentelles!!!
In der Programmreihenfolge eines Wiener Konzertes vom 13.4.1931, das zum ersten Mal ausschließlich der Musik Weberns gewidmet war, folgte den Cellostücken die Uraufführung des Quartetts op. 22. Die satztechnische Analyse der Partitur zeigt eine komplexe dodekaphonische Struktur, die dem personaltypischen Umgang mit Reihentechniken entspricht, wie sie Webern, unabhängig von Schönberg und Berg, für sich entwickelte. Entscheidend aber für das Verständnis dessen, was bei der Uraufführung noch auf völliges Missverstehen stieß, ist die Tatsache, daß Webern seine extreme Abstraktion von Assoziationen ableitet, die in seinen Skizzenbüchern eine deutliche Sprache sprechen.
Eduard Stein, Anton Webern, Arnold Schönberg, Amsterdam 1914
In einem Brief schreibt er 1928 über seine Kompositionspläne: … ein Konzert für Geige, Klarinette, Horn, Klavier und Streichorchester. (Im Sinne einiger Brandenburgischen Konzerte von Bach). Im August 1929 berichtet er Berg vom Fortgang der Arbeit. Das Horn wurde durch ein Saxophon ersetzt, das Streichorchester entfiel - so entstand allmählich die endgültige Quartett-Besetzung. In den Skizzen finden sich direkt neben den ersten Reihenentwürfen Assoziationsketten aus Naturbegriffen, die die Quelle des Ausdrucksgehalts von Sätzen und Themen darstellen. Webern plante ursprünglich drei Sätze, deren dritter zum jetzigen zweiten wurde. Der langsame Satz entfiel. Er notiert im Skizzenbuch: 17.1.1929 - I.Satz: Ruhig (Annabichl, Berge) vielleicht Variationen. 2.Satz Langsam, Einleitung zum 3. (Schwabegg, nur soli). 23.1.1929 - 3.Satz: Rondo, I.Thema: Kühle des ersten Frühlings (Anninger, erste Flora, Primeln, Leberblumen, Küchenschelle), I.Seitensatz: behaglich warme Atmosphäre der Hochalmen, II.Thema: (Dachstein, Schnee und Eis, kristallklare Luft), II.Seitensatz: (Soldanelle, Blüten der höchsten Region), Thema (III.mal): die Kinder auf Eis und Schnee, Wiederholung des I. Seltensatzes: (Sphäre der Alpenrosen), II.Seitensatz: Licht, Himmel, Coda: Blick in die höchste Region.
Die Entstehung von Kunst wird ausgelöst durch Naturerlebnisse. Webern ist der Vermittler. Die musikalische Interpretation der Partitur muß diesem ursprünglichen natürlichen Ausdruck Gehör verschaffen. Die Wirkung des neuen Stils des Quartetts verstörte die Zuhörer der Uraufführung nachhaltig: … solche Schreckgebilde einer sich im Chaotischen verlierenden Musikmanie [hat] mit Musik fast nichts mehr zu schaffen. (Allgemeine Zeitung). Seine Stücke sind klangliche, geräuschartige Interjektionen außermusikalischer Art … Den Höhepunkt erreichte der musikalische Exzess im Quartett. Dieses Werk verstößt schon gegen den guten Ton, da die quiekenden, kläffenden und gurgelnden Klangfetzen der Klarinette und des Saxophons verblüffende Ähnlichkeit mit gewissen menschlichen Vitalitätsäußerungen unfairer Art aufweisen. … Der natürlich empfindenden Zuhörerschaft wenigstens bedeutet diese Schaffensart Sünde wider den Geist der Tonkunst, die uns bis heute gottlob noch heilig geblieben ist. (Dr. Friedrich Bayer, Neues Wiener Extrablatt). Aber es gibt auch Verständnis in der Nische der Provinz: … Seine Musik entbehrt jeglicher irdischen Schwere. Sie ist sparsamste Mosaikkunst. Wie Glas von tönender Transparenz. (Eisenacher Zeitung).
R Gerhard, A Schönberg, A Webern, Berlin 1927
Die Ode to Napoleon Buonaparte und das Melodram A Survivor from Warsaw von 1947, entstanden nach Berichten aus dem Warschauer Ghetto, sind Kompositionen, in denen Arnold Schönberg politisches Engagement zeigt. Er komponierte die Ode zwischen dem 12. März und dem 12. Juni 1942 unter dem Eindruck der historischen Ereignisse. In einem Brief an H.H. Stuckenschmidt, der die Meinung vertritt, daß hier eine Verwandtschaft in den Erscheinungen Napoleons und Hitlers zu erkennen sei, schreibt Schönberg am 15.1.1948: Lord Byron, der vorher Napoleon sehr bewundert hatte, war durch seine einfache Resignation so enttäuscht, daß er ihn mit schärfstem Hohn überschüttet: und das glaube ich in meiner Komposition nicht verfehlt zu haben.
1949 schreibt er u.a.: … Unleugbar hat die Kunst häufig politischen Zwecken gedient. Man darf nicht die vielen Dichter zu erwähnen vergessen, die politische Gedichte oder Dramen schrieben wie die Freiheitskämpfer und auch jene, die die Gesellschaft verändern wollten. In der Musik sollte man Mozart mit seiner Hochzeit des Figaro und seiner Zauberflöte und Beethoven mit seinem Fidelio nicht vergessen. … Dies zeigt, wie unzulänglich Prinzipien im allgemeinen sind, weil alles von der Inspiration abhängt. Vermutlich müßte man zugestehen, daß solch ein Gedanke das Ergebnis der Inspiration eines politisch überzeugten Künstlers ist. Ich selber habe einige Stücke geschrieben, die unbestreitbar politisch sind. Zum Beispiel meine Ode an Napoleon, und vielleicht wird man das gleiche von meiner Oper Moses und Aron finden. Ich muß zugeben, daß ich bei meiner Inspiration nicht das Gefühl hatte, in diesem Fall von irgendeinem künstlerischen Prinzip abzuweichen.
A Webern A Schönberg Berlin 1927
Einige Wochen nach seinem 50. Geburtstag, dem 13. September 1924, schreibt Schönberg erste musikalische Gedanken nieder, die auf die Suite op. 29 verweisen. Ein Zettel enthält eine siebensätzige Titelreihenfolge: I.(Satz) 6/8 leicht, elegant, flott, Bluff / 2. Jo-Jo Foxtrott / 3. Fl. Kschw. Walzer / 4. AS Adagio / 5. JdeB Muartsch Var / 6. Film Dva / 7. Tenn Ski. Typisch für das Schönbergsche dodekaphonische Denken ist die latente Tonalität, gleichsam aus dem chromatischen Total herausgefiltert, der Reihe abgetrotzt. Sie prägt etliche Schlüsselstellen der Partitur. Der dritte Satz zitiert als Thema der Variationen Silchers Ännchen von Tharau, dessen diatonische Struktur von ergänzenden 12-Ton-Feldern umrahmt erscheint. B-A-C-H-Motive signalisieren die versteckten Beziehungsfäden zur Tradition. Ouverture und Gigue verwenden rhythmische Gestaltungsweisen barocker Musik, verzerren diese aber häufig durch metrische Manipulationen hemiolischer Art. Durch neuartige Akzentzeichen wird diese metrische Verfremdungstechnik bis hin zur Mikrostruktur der einzelnen kleinsten Schlageinheiten getrieben.
Analysiert man die rhythmisch-metrischen Parameter der Partitur, so erweist sich Schönberg als extrem einfallsreicher Komponist, der damit der, sich dem direkten hörenden Zugang verschließenden Tonhöhenreihenstruktur (…der leichte Enthüllung nicht droht…,Adorno), spontan wahrnehmbare rhythmisch-metrische Kräfte zuordnet, die den immer noch äußerst modern anmutenden, erfrischend sinnlichen Charakter spontan erfaßbar gestalten. Auch im dritten Satz erscheint die Silchersche Melodie in duolischem Metrum, mit leichten Defekten - quasi scherzando, eingebettet in eine 3/4-Takt-Umgebung. Die Palette der rhythmischen Erfindungen ist aber nicht nur auf die historischen Gestalten beschränkt. Ergänzend dazu werden im zweiten Satz – Tanzschritte - zeitgenössische Rhythmen der Unterhaltungsmusik in leicht ironisierender Weise adaptiert und sogar durch Stockschlageffekte der Streicher perkussiv eingefärbt. Die Synkope weicht einem rhythmischen Reichtum, wie er selbst bei Schönberg noch nicht da war (Adorno). Ein Adagio-Charakter taucht nur als Einschub kurz vor dem Ende des vierten Satzes auf. In einer Art Rückblende erscheint die Musik des Ännchen-Satzes als Traumsequenz. Anläßlich der Uraufführung, die Schönberg in Paris 1927 selbst dirigierte, schrieb Adorno: Den Werken des heutigen Schönberg gegenüber geziemt sich keine Kritik; mit ihnen ist Wahrheit gesetzt.
Goethe gab Schopenhauer einen Empfehlungsbrief an ihn, den dieser aber nicht ausnutzte. »Immer wollte ich mit Goethes Brief zu ihm, als ich es eines Tages aufgab. Mit meiner Geliebten [Teresa Fuga] ging ich auf den Lido spazieren, als meine Dulcinea in der größten Aufregung aufschrie: ‘Ecco, il poeta inglese’; [Byron sauste zu Pferde an mir vorüber, und die Donna konnte den ganzen Tag diesen Eindruck nicht loswerden. Da beschloß ich, Goethes Brief nicht abzugeben.] Ich fürchtete mich vor Hörnern. Was hat mich das schon geräut!« (In: Arthur Schopenhauer. Leben und Werk in Texten und Bildern. Hg. v. Angelika Hübscher. Ffm. Insel 1989. S. 187.)
Lord Byron (1788-1824)
George Gordon Byron, 1788 in London geboren, war durch seine Mutter mit dem schottischen Königshaus verwandt; sein Vater, ein flotter englischer Gardeoffizier, 'der tolle Jack' genannt, der das Vermögen seiner Frau in kürzester Zeit durchbrachte, starb als der Sohn drei Jahre alt war. Die Mutter zog nach Aberdeen und widmete sich in fast klösterlicher Abgeschiedenheit der Erziehung ihres Sohnes. Durch den Tod eines Verwandten erbte George Gordon im Alter von 10 Jahren den Adelstitel und ein großes Vermögen nebst dem Schloss Newstead Abbey in Nottinghamshire. Sein Vormund, der Earl of Carlisle, schickte ihn auf die berühmte Schule Harrow, und später studierte er am Trinity College in Cambridge, wo er 1807 seine ersten Gedichte veröffentlichte, die zwar keine Gnade vor den Augen der Kritiker fanden, ihn aber durch seine respektlose Antwort in Form einer Verssatire »English Bards and Scotch Reviewers« mit einem Schlage berühmt machten. Seine Versepen behandeln altertümliche Stoffe im ironischen Gewand, durchwoben von Selbsterlebtem und fantastischen Weiterungen (»Childe Harold's Pilgrimage«,»Don Juan«),ähnlich seine dramatischen Gedichte.
Das 19. Jahrhundert feierte ihn als den größten Dichter nach Shakespeare. Er besaß eine außerordentliche Kraft des Wortes, seine Lyrik bringt die englische Sprache zum Klingen wie es nur wenigen Dichtern gelang. Er übte großen Einfluß auf die englischen und deutschen Romantiker aus, und sogar Goethe beschäftigte sich mit seinen Werken (die er allerdings nur in Übersetzungen las). Vor allem beeindruckte Goethe »The Vision of Judgment«; und im Faust setzte er Byron mit der Gestalt des 'Euphorion' ein Denkmal. Goethe bewunderte die Kühnheit und Großartigkeit von Byrons Dichtungen, die - wie er sagte - zur Entwicklung der Kultur beigetragen hätten. Aber nicht nur als Dichter war Byron berühmt. Sein Kopf mit dem feinen 'klassischen' Profil und den braunen Locken machte Mode sowohl in England wie auf dem Kontinent: Die elegante Welt trug sich à la Byron mit kurzem Haar und offenem Hemdkragen. Er hatte etwas Unwiderstehliches, war ein vielgeliebter Herzensbrecher, der es jedoch schließlich (1809) für opportun hielt, den ihn begleitenden Skandalen ins Ausland zu entweichen.
Mit einem Freund reiste er von Portugal über Spanien nach Albanien und Griechenland bis in die Türkei. Die Freiheitskämpfe und Revolutionen, die damals an allen Ecken und Enden Europas aufflammten, entfachten seine tiefe Anteilnahme und wurden, zusammen mit persönlichen Reiseerlebnissen, Thema seines großen epischen Gedichts »Childe Harold's Pilgrimage«. Er war ein glühender Verehrer Napoleons, der ihn jedoch schmerzlich und bis zur Wut enttäuschte, als er 1814 abdankte und sich nach Elba bringen ließ, statt - wie Byron es von seinem Idol erwartet hatte - im Angesichte seiner Feinde wie ein Held zu sterben. Byron selbst nahm am griechischen Freiheitskampf 1823/24 teil mit zwei von ihm ausgerüsteten Schiffen und 500 albanischen Soldaten, starb aber - Ironie des Schicksals - an einem Sumpffieber bei Missolunghi im April 1824. Goethe sagte bei der Nachricht von seinem frühen Tode zu Riemer: »Byron ist zwar jung gestorben,… aber die Literatur hat dadurch nichts verloren. Er hatte die Höhe seiner poetischen Kraft erreicht.« (J.G.Robertson in "Publications of the Engl. Goethe Soc." 1925)
Quelle: Lotte Dempsey, im Booklet
Jacques-Louis David: Porträt des General Napoleon Bonaparte, [Detail], 1797, Öl auf Leinwand, 81 x 64 cm, Musée du Louvre, Paris
Lord Byron: Ode to Napoleon Buonaparte
Tis done - but yesterday a King! And arm'd with Kings to strive – And now thou art a nameless thing: So abject - yet alive! Is this the man of thousand thrones, Who strew'd our earth with hostile bones, And can he thus survive? Since he, miscalled the Morning Star, Nor man nor fiend hath fallen so far.
Ill-minded man, why scourge thy kind Who bow'd so low the knee? By gazing on thyself grown blind, Thou taught'st the rest to see. With might unquestion'd, - power to save, - Thine only gift hath been the grave To those that worshipped thee; Nor till thy fall could mortals guess Ambition's less than littleness!
Thanks for that lesson - it will teach To after-warriors more Than high Philosophy can preach, And vainly preach'd before. That spell upon the minds of men Breaks never to unite again, That led them to adore Those Pagod things of sabre sway, With fronts of brass, and feet of clay.
The triumph, and the vanity, The rapture of the strife - The earthquake voice of Victory, To thee the breath of life; The sword, the sceptre, and that sway Which man seem'd made but to obey Wherewith renown was rife - All quell'd! - Dark Spirit! what must be The madness of thy memory!
The Desolator desolate! The Victor overthrown! The Arbiter of others' fate A Suppliant for his own! Is it some yet imperial hope That with such change can calmly cope? Or dread of death alone? To die a prince - or live a slave Thy choice is most ignobly brave!
He who of old would rend the oak, Dream'd not of the rebound; Chain'd by the trunk he vainly broke – Alone - how look'd he round? Thou in the sternness of thy strength An equal deed hast done at length, And darker fate hast lound: He fell, the forest prowlers' prey; But thou must eat thy heart away!
The Roman, when his burning heart
Was slaked with blood of Rome, Threw down the dagger - dared depart, In savage grandeur, home. - He dared depart in utter scorn Of men that such a yoke had borne, Yet left him such a doom! His only glory was that hour Of self-upheld abandon'd power.
The Spaniard, when the lust of sway Had lost its quickening spell, Cast crowns for rosaries away, An empire for a cell; A strict accountant of his beads, A subtle disputant on creeds, His dotage trifled well: Yet better had he neither known A bigot's shrine, nor despot's throne.
But thou - from thy reluctant hand The thunderbolt is wrung - Too late thou leav'st the high command To which thy weakness clung; All Evil Spirit as thou art, It is enough to grieve the heart To see thine own unstrung; To think that God's lair world hath been The footstool of a thing so mean;
And Earth hath spilt her blood for him, Who thus can hoard his own! And Monarchs bowed the trembling limb, And thank'd him for a throne! When thus thy mightiest foes their fear Fair Freedom! we may hold thee dear, In humblest guise have shown. Oh! ne'er may tyrant leave behind A brighter name to lure mankind!
Thine evil deeds are writ in gore, Not written thus in vain - Thy triumphs tell of fame no more Or deepen every stain: If thou hadst died as honour dies, Some new Napoleon might arise, To shame the world again - But who would soar the solar height, To set in such a starless night?
Weigh'd in the balance, hero dust Is vile as vulgar clay; Thy scales, Mortality! are just To all that pass away: But yet methought the living great Some higher sparks should animate, To dazzle and dismay: Nor deem'd Contempt could thus make mirth Of these, the Conquerors of the earth.
Jacques-Louis David: Entwürfe zu
Napoleon Bonaparte, 1797, Bleistift,
Musée d’Art et d’Histoire, Genf
And she, proud Austria's mournful flower,
Thy still imperial bride; How bears her breast the torturing hour? Still clings she to thy side? Must she too bend, must she too share Thy late repentance, long despair, Thou throneless Homicide? If still she loves thee, hoard that gem, 'Tis worth thy vanish'd diadem!
Then haste thee to thy sullen lsle, And gaze upon the sea; That element may meet thy smile It ne'er was ruled by thee! Or trace with thine all idle hand In loitering mood upon the sand That Earth is now as free! That Corinth's pedagogue hath now Transferr'd his by-word to thy brow.
Thou Timour! in his captive's cage What thoughts will there be thine, While brooding in thy prison'd rage? But one 'The world was mine!' Unless, like he of Babyion, All sense is with thy sceptre gone, Life will not long confine That spirit pour'd so widely forth – So long obey'd - so little worth!
Or, like the thief of fire from heaven, Wilt thou withstand the shock? And share with him, the unforgiven, His vulture and his rock! Foredoom'd by God - by man accurst, And that last act, though not thy worst, The very Fiend's arch mock; He in his fall preserved his pride, And, if a mortal, had as proudly died!
There was a day - there was an hour, While earth was Gaul's - Gaul thine – When that immeasurable power Unsated to resign Had been an act of purer fame Than gathers round Marengo's name And gilded thy decline, Through the long twilight of all time, Despite some passing clouds of crime.
But thou forsooth must be a king, And don the purple vest, - As if that foolish robe could wring Remembrance from thy breast. Where is that faded garment? where The gewgaws thou wert fond to wear, The star - the string - the crest? Vain froward child of empire! say, Are all thy playthings snatch'd away?
Where may the wearied eye repose When gazing on the Great; Where neither guilty glory glows, Nor despicable state? Yes - one - the first - the last - the best – The Cincinnatus of the West, Whom envy dared not hate, Bequeath'd the name of Washington, To make man blush there was but one!
Leonard Stein
Komponieren für die Musikgeschichte
Sigfried Schibli im Gespräch mit Leonard Stein
Leonard Stein, geboren am 1916 in Los Angeles, ist als engster Mitarbeiter Arnold Schönbergs bekannt geworden. Mit seinem Herausgeber-Namen sind die theoretischen Spätschriften aus Schönbergs amerikanischer Zeit verbunden. Stein hatte unmittelbar nach Schönbergs Emigration aus Berlin an der University of Southern California und an der University of California in Los Angeles bei Schönberg zu studieren begonnen. Der auch als Pianist ausgebildete Stein spielte schon 1940 in der Öffentlichkeit Klavierkompositionen von Schönberg. 1949 bestritt er mit Adolf Koldofsky die Uraufführung der Violin-Fantasie op. 47 von Schönberg. Mit Eduard Steuermann trug er das Klavierkonzert in der vierhändigen Fassung dem Komponisten vor. Er war Teaching Assistant von Schönberg an der University of California Los Angeles, wurde 1965 promoviert und lehrte an verschiedenen Colleges. Von 1974 bis 1991 war Stein Direktor des Arnold Schoenberg Institute in Los Angeles.
Sigfried Schibli: Herr Stein, stimmt es, dass Schönberg nur klassische Werke unterrichtete und keine modernen, insbesondere nicht seine eigenen?
Leonard Stein: Ja, er war tatsächlich aus praktischen Gründen dazu gezwungen. Ich kann mich nur an wenige Gelegenheiten erinnern, als er seine eigenen Werke analysierte. Seine bedeutendste Vorlesung war der Vortrag »Komposition mit zwölf Tönen«. Doch darin ging er nicht in die Theorie, er erklärte mehr durch klangliche Illustration, durch Beispiele. Und als ich sein Diktat für seinen Vortrag über Zwölftonkomposition aufnahm, sagte er dazu, dies sei mehr eine Hypothese als eine Theorie.
Er ging sie im Unterricht regelmäßig durch, auch im Aufsatz »Selbstanalyse« von 1948. Dort beschreibt er die unterschiedlichen Stationen seiner eigenen Entwicklung, vom Brahms-Wagner-Stil der sequenzierenden Wiederholung über die von ihm so genannte entwickelnde Variation bis zu dem, was er »Kondensation und Juxtaposition« (»Verdichtung und Aneinanderreihung«) nannte, zum Beispiel im Streichtrio. Er war sich des evolutionären Prozesses in seinem Schaffen wohl bewusst. Evolutionär, nicht revolutionär!
Mehr als dieses evolutionäre Moment fällt einem in Schönbergs Œuvre die außerordentliche Vielfalt auf, wenn man etwa die »Brettl-Lieder« und die Orchestervariationen oder »Moses und Aron« und die kurzen Klavierstücke nebeneinander hält – da scheint es fast keine kompositorische Identität zu geben.
Nein, er zieht ganz klar seine Entwicklung durch jede dieser Phasen, die tonale, die atonale, die Zwölfton-Phase. Das ist wie ein Pfad.
Arnold Schönberg mit Hund Roddie, Rockingham Avenue, LA, 1937
Seine späten tonalen Werke sind schwer zu verstehen.
Ja, das ist sehr komplexe Musik, die aber immer um ein tonales Zentrum herum gebaut ist. Aber auch schon in Schönbergs Frühwerken hat man oft das Gefühl, es werde unablässig moduliert. Als wir gemeinsam am Buch »Structural Functions of Analysis« arbeiteten, da entwarf Schönberg eine Art Theorie, die ich dann ausarbeiten musste… Er schritt vor von Region zu Region, wie er sagte, ging ans Klavier und ging von Tonika zur Moll-Mediante zur verminderten Quinte, und ich musste das alles notieren. Er spielte, und ich schrieb es auf. Das setzte ein sehr gutes Gehör voraus. Also kurz gesagt, er studierte Probleme der Tonalität, »Structural Functions of the Harmony«.
Die meisten Musikfreunde lieben das Frühwerk Schönbergs, »Verklärte Nacht«, die »Gurrelieder«. Das Spätwerk ist viel weniger populär geworden. Litt Schönberg darunter?
Ist Schönbergs Musik für Sie ein Endpunkt oder ein Anfang zu etwas Neuem?
Sie ist beides. Er verglich sich mit Bach, ein Ende und ein Anfang.
Sie haben als Pianist viel Schönberg gespielt, zum Beispiel die »Brettl-Lieder« und andere frühe Lieder mit der Sängerin Marni Nixon. Sie zeigen Schönberg als erstaunlich witzigen Entertainer. Warum ging er diesen Weg nicht weiter?
Er hat, um Geld zu verdienen, ungefähr 6.000 Seiten Wiener Operettenmusik kopiert… Das half ihm später insgeheim, er kannte diese Art Musik, und sie blitzt in manchen seiner späteren Werke auf wie in der Serenade…
… ja, auch im Streichtrio, in der Suite op. 29, wo er das Volkslied »Ännchen von Tharau« zitiert. Er kannte den Wiener Dialekt ganz genau. Es war in der Zeit seiner zweiten Eheschließung, und er widmete das seiner jungen Frau Gertrud und Wien. Er hatte wirklich viel Humor. Wie Beethoven, viel Ernst und viel Humor! Manchmal ist das in der Zwölftonmusik nicht leicht zu finden wie im letzten Satz des dritten Streichquartetts, das für den musikalischen Kenner in Dur-Phrasen geschrieben ist. Man kann wirklich nicht sagen, das sei nicht humorvoll.
Zu seinen amerikanischen Schülern zählte ein so bahnbrechender Komponist wie John Cage.
Für kurze Zeit, ja. Aber Cage war zu jener Zeit kein wirklicher Komponist, er lernte nur ein bisschen Kontrapunkt.
Arnold Schönberg, Rockingham Avenue, LA, 1940
Welches ist für Sie die „logische“ Fortsetzung der Ästhetik Schönbergs?
Nach dem Tod Schönbergs kannte man die seriellen Verfahrensweisen Weberns und des späten Strawinsky besser als die Zwölftonmethode Schönbergs. Es brauchte einige Zeit, aber sie wurde dann doch an den Universitäten gelehrt. Spätere Komponisten wie Boulez und Stockhausen interessierten sich weniger für die Zwölftonwerke Schönbergs als für die so genannten atonalen Werke.
Pierre Boulez verkündete programmatisch: »Schönberg ist tot«, aber »Strawinsky bleibt«.
Oh, das war gute Werbung für ihn selbst! Ich war erstaunt, als er zum ersten Mal nach Südkalifornien kam, das war 1957, und sagte, er möge die Zwölftonwerke Schönbergs nicht besonders, Schönberg habe nicht wirklich zwölftönig komponiert. Da sagte ich zu mir selbst: Eines Tages wird er sie alle auch dirigieren… Und so kam es.
Könnte man sagen: Das Werk Schönbergs ist als Ganzes wie eine Zwölftonreihe, es darf kein Ton wiederholt werden, bis alle anderen dran waren?
Ja, jedes seiner Werke steht für sich selbst. Und was mich eigentlich erstaunt, ist, dass seine Musik heute besser verstanden wird als zu seinen Lebzeiten. Es ist eine Frage der Gewöhnung. Das Klavierkonzert von Schönberg zum Beispiel wird heute von sehr vielen Pianisten gespielt, von Leuten wie Emanuel Ax und von vielen jungen Pianisten.
Man sagt vom Klavierkonzert, es sei wie Brahms mit Zwölfton-Harmonik. Stimmt das?
Nun, es fällt in eine seltsame Kategorie, vielleicht. Es beginnt mit einem simplen Walzer und hat eine sehr traditionelle Form und traditionelle Phrasen. Deshalb spielt ein Pianist wie Alfred Brendel, der sonst nie moderne Musik spielt, das Klavierkonzert von Schönberg.
Schönberg lebte in Los Angeles nicht weit von Strawinsky entfernt.
Ja, wir hatten damals um 1942 zwei der bedeutendsten Komponisten der Zeit bei uns, Schönberg und Strawinsky, und wir konnten jedes Jahr ihre jeweils neuen Werke hören. Sie hatten nicht viel Kontakt miteinander, und ich weiß natürlich nicht genau, worüber sie sprachen. Strawinsky war eher auf das Publikum angewiesen als Schönberg, er brauchte die Gesellschaft von Künstlern und Schriftstellern und später, als er mehr Zwölftonmusik schrieb, auch von Hochschulangehörigen. Schönberg dagegen komponierte mehr für die Geschichte als für Hörer.
Stimmen Sie mit Adorno überein, dass diese beiden Komponisten den wesentlichen dialektischen Gegensatz in der Musik des 20. Jahrhunderts bilden?
Ja, das gilt sicher für den neoklassizistischen Strawinsky. Aber auch Schönberg schrieb neoklassische Werke wie die Klaviersuite, das Bläserquintett oder das Violinkonzert.
Arnold Schönberg, UCLA, Kerckhoff Hall, LA 1943
Strawinsky näherte sich mehr Schönberg als umgekehrt.
Ja, das denke ich auch. Sehen Sie, als wir 1954 für eine Plattenaufnahme die Suite für sieben Instrumente op. 29 von Schönberg einstudierten – ich spielte dabei das Klavier –, kam Strawinsky meistens zu den Proben. Und ein Jahr später schrieb er sein eigenes Septett… Es ist ein ganz anderes Stück, aber er lernte viel von Schönbergs Partitur. Robert Craft brachte ihn dazu. Er studierte sicher mehr Schönberg als umgekehrt.
Ja, sie haben es mir gestohlen… (lacht). Nun, Sie wissen, dass ich 17 Jahre lang Direktor des Schoenberg Institute in Los Angeles war. Und nachdem ich pensioniert worden war, brachte mein Nachfolger, den ich nicht mit Namen nennen möchte, die ganze Geschichte herunter. Es war nicht meine Schuld. Es gab deswegen viele Auseinandersetzungen mit den Schönberg-Erben, aber jetzt ist alles ausgebügelt.
Haben Sie sich damit abgefunden, dass die Sachen jetzt in Wien sind?
Viele denken, dass das eine große Blamage ist, dass der Nachlass Schönbergs Amerika verlassen hat.
Die Erben sind sich sehr wohl bewusst, was Wien in Schönbergs Leben bedeutete. Aber sie haben einen guten Deal gemacht. Das Schönberg Center ist wunderbar geworden, und sein Leiter Christian Meyer ist sehr klug und macht ein interessantes Programm.
Ein berühmtes Buch über Schönberg heißt »Der konservative Revolutionär«. Was ist er für Sie mehr, der Bewahrer oder der Umstürzler?
Er dachte selbst, dass er einen Weg weiterverfolgte, der in der klassischen Musik wurzelte. Das war seine eigene Vorstellung. Er sagte später, dass er eine Verpflichtung hatte, so zu verfahren. Sie kennen ja sicher die Geschichte aus dem Militär. Als Schönberg gefragt wurde, ob er wirklich der Komponist Arnold Schönberg sei, hat er geantwortet: »Einer hat es sein müssen, keiner hat es sein wollen, so habe ich mich dazu hergegeben«.
Dieser Begriff der Pflicht ist typisch für Schönberg – und auch typisch deutsch.
Ja, in keiner anderen Sprache könnte man das sagen.
Haben die Komponisten heute eine Verpflichtung?
Ich glaube nicht, dass ein hervorragender Mann wie Boulez das heute so sieht. Und dennoch folgt auch er einer bestimmten Entwicklung, einer Logik.
Arnold Schönberg, Rockingham Avenue, LA 1946-47
Und die heute berühmten amerikanischen Komponisten wie Phil Glass oder John Adams?
Meiner Meinung nach schreiben sie interessante Musik, aber sie haben nicht die starke Persönlichkeit, die Bartók oder Schönberg oder Strawinsky hatten. Einer meiner besten Freunde ist Elliott Carter. Er folgt mehr oder weniger eng dem Weg von Schönberg und Strawinsky. Er entwickelt sich konsequent von den ersten Werken, die er bei Nadia Boulanger schrieb, weiter. Er ist einer der wenigen Komponisten heute, die sich wirklich konsequent auf das einlassen, was sie tun.
Was ist das Problem der heutigen Komponisten? Dass heute alles möglich ist?
Ja, und dass sie zu viel Musik hören! Schönberg hörte manche seiner eigenen Werke nur ein einziges Mal, und es gab von einigen gar keine Aufnahmen. Die Orgel-Variationen hörte er zum Beispiel gar nie integral. Heute gibt es von allem Aufnahmen. Ich habe viel Sympathien für die jungen Komponisten. Aber sie müssen ihren eigenen Weg finden.
Als Beilage im Infoset finden Sie Arnold Schönbergs Artikel "Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke" (aus: Schönberg, Arnold: Gesammelte Schriften 1 (hrsg. von Ivan Vojtech). Nördlingen, 1976, S. 25-34, von hier)
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Charles Ives stammte aus Neu-England. Er wurde zunächst von seinem Vater unterrichtet und studierte später in Yale bei dem in Deutschland ausgebildeten Horatio Parker. Unter den amerikanischen Musikern seiner Zeit war Ives schon allein deshalb eine Ausnahme, weil er einerseits zwar in der »klassischen« Tradition komponierte, andererseits aber auch volkstümliche und traditionelle Idiome seiner Heimat verwandte. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Chef einer Versicherungsagentur, und daneben schuf er eine Fülle an Kompositionen, deren großen Wert man erst viel später erkannte. Zu seinen kammermusikalischen Werken gehören vielsätzige »Sets« für kleine Ensembles sowie Streichquartette, Klaviersonaten und anderes.
Von etwa 1902 bis 1916 erlebte Charles Ives den Gipfel seiner Komponistenkarriere. In dieser Zeit schrieb er unter anderem vier Sonaten für Violine und Klavier, die alle mehr oder minder derselben Welt zu entstammen scheinen - anders als die sehr unterschiedlichen »Gruppenmitglieder« anderer musikalischer Gattungen. Sämtliche Violinsonaten sind dreisätzig; jede enthält mindestens einen Satz in »kumulativer« Form; sie alle sind gefärbt vom protestantischen Kirchenliedgut Amerikas, enden allesamt mit einem Finale, das auf einem Lied basiert und sind - gemessen an Ives` Standard - vergleichsweise »leichte« Stücke.
Gleichwohl hat jede Sonate ihre eigenen Merkmale. In der ersten und vierten Sonate benutzt Ives die traditionelle Satzfolge schnell-langsam-schnell, die Sonaten Nr. 2 und Nr. 3 hingegen folgen dem ungewöhnlichen Muster langsam-schnell-langsam, das Ives erstmals in seiner dritten Symphonie ausprobiert hatte. Die Sonaten 1 und 3 sind insofern abstrakter, als sie keine außermusikalischen Satztitel enthalten. Die Sätze der zweiten Sonate sind mit »Herbst«, »Auf der Tenne« und »Die Wiedererweckung« überschrieben, und die gesamte vierte Sonate bezeichnete Ives als »Children's Day at the Camp Meeting« (Kindertag beim Camp Meeting).
Ein Wort zu der »kumulativen Form«, die lediglich in den Mittelsätzen der Sonaten 1 und 2 nicht nachzuweisen ist: Der Ives-Forscher J. Peter Burkholderprägte diesen Begriff 1995 in seiner Magisterarbeit All Made of Tunes: Charles Ives und The Uses of Musical Borrowing (Alles besteht aus Melodien: Charles Ives und die musikalische Entlehnung). Diese kumulativen Stücke beginnen stets mit versteckten Andeutungen und der Entwicklung musikalischer Bruchstücke, die auf eine bereits vorhandene Melodie hinweisen; im Laufe des Prozesses wird ein Zielpunkt angesteuert, der dann die »entliehene« Melodie schlicht und vollständig offenbart, wobei dieser Augenblick oft auch wie die Klimax des gesamten Ablaufs erscheint. Im wesentlichen war Ives selbst der Erfinder dieser Form, die er in seiner Reifezeit bevorzugte.
Zu drei der vier Sonaten hat Charles Ives jene Art pittoresker Kommentare geschrieben, die wir von ihm gewohnt sind.
Zur ersten Sonate:»Teilweise ein allgemeiner Eindruck, eine Art der Reflexion und Erinnerung an jene Versammlungen im Freien, wo die Männer aufstanden und ungeachtet irgendwe1cher Konsequenzen sagten, was sie dachten. - Der erste Satz weist gewissermaßen auf etwas hin, das die Natur und die menschliche Natur einander bisweilen vorsingen. Der zweite Satz bereitet eine Stimmung, als kämen ,The Old Oaken Bucket' und ,Tramp, Tramp, Tramp, the Boys are Marching' über die Hügel herbei, um die Traurigkeit des Bürgerkriegs wieder auf1eben zu lassen. Der dritte Satz schließlich zeigt, wie die Farmer sich bei ihrem camp meeting durch Gesang und Arbeit motivieren, für die kommende Nacht zu schaffen«.
Zur dritten Sonate heißt es: »Ein Versuch, das Gefühl und die oft eher lautstarke als religiöse Glut zu beschwören, mit der man bei den neu-englischen camp meetings der siebziger und achtziger Jahre Lieder und Erweckungsweisen zu singen pflegte. Die hier benutzten bzw. angedeuteten Weisen sind Beulah Land, There'll Be No More Sorrow und Every Hour I Need Thee… Der erste Satz ist so etwas wie ein vergrößerter Hymnus, dessen vier Strophen allesamt mit demselben Refrain enden. Der zweite Satz könnte ein Meeting darstellen, wo Füße, Körper und Stimme gemeinsam die allgemeine Spannung steigern. Der letzte Satz ist ein Experiment. Zuerst kommt eine freie Fantasie, dann entwickelt sich die Durchführung nicht von den Themen weg, sondern zu ihnen hin; und die Coda bringt dann diese Themen erstmals in ihrer Gesamtheit und in Verbindung miteinander … Von der Tonalität wird durchweg erwartet, dass sie sich um sich selbst kümmert.«
Zur vierten Sonate ("Children's Day at the Camp Meeting") schreibt Ives: »Es gab bei diesen sommerlichen Meetings für gewöhnlich immer nur einen Kindertag. Den nutzten die Kinder voll aus, und sie machten oft genug den besten Teil der gesamten Veranstaltung daraus … Der erste Satz ist von einem tatsächlichen Ereignis inspiriert: Der Organist übt sein Postludium und wird dabei vom schnellen Marsch der Knaben klanglich überlagert, wobei die lautesten Sänger besonders falsch singen. Der zweite Satz ist ruhiger und ernster; er dreht sich in der Hauptsache um ein altes, sehr beliebtes Lied [die Melodie Jesus Loves Me], während die Begleitung die Geräusche widerspiegelt, die man an solchen Sommertagen hören konnte: Der Westwind in den Kiefern, der rieselnde Bach. Der dritte Satz zeigt wieder die marschierenden Knaben. Einige der alten Männer beteiligen sich und marschieren ebenso zügig mit - zu Shall We Gather at the River.«
Zur zweiten Sonate hinterließ Ives keinen Kommentar. Womöglich glaubte er, dass die Satztitel ausreichten. Die Überschrift des Kopfsatzes (»Herbst«) könnte nicht nur auf die Jahreszeit selbst anspielen, sondern auch auf die entlehnte Liedmelodie Autumn, die üblicherweise auf den Textanfang Mighty God! While angels bless Thee (Mächtiger Gott! Während die Engel dich heiligen) gesungen wird. Ives bevorzugte allerdings die zweite Strophe, die mit den Worten For the Grandeur of Thy Nature (Um der Größe deines Wesens willen) beginnt. Der zweite Satz ist ein Square Dance (»Auf der Tenne«) und dementsprechend werden viele alte Melodien gefiedelt: »Money Musk«, »Sailor's Hornpipe«, »The White Cockade«, »Turkey in the Straw« sowie eine Walzervariante des Refrains aus »The Battle Cry of Freedom«. Der dritte Satz (»Die Wiedererweckung«) beschwört die allmählich sich steigernde Intensität eines Camp Meeting. Grundlage der Musik ist eine zunehmend sich belebende Variationsfolge über der frühamerikanischen Liedmelodie Nettleton, die besonders häufig auf den Text »Come, thou fount of ev'ry blessing« (Komm, du Quell aller Glückseligkeit) gesungen wurde.
Heute schätzen die Interpreten (und viele Zuhörer) sowohl die technischen als auch die musikalischen Herausforderungen dieser Werke, die zu den wichtigsten amerikanischen Beiträgen zur Violinliteratur zu rechnen sind. Anfangs sah das noch ganz anders aus. Bevor Ives 1914 seine dritte Sonate vollendete, lud er den Geiger Franz Milcke ein, mit ihm die beiden ersten Sonaten durchzunehmen. Milcke war, wie Ives in seinen Memos von 1931-32 schrieb, eine »Primadonna unter den Sologeigern … stammte aus Deutschland und hatte in der Carnegie Hall Konzerte gegeben … Der ,Professor' begann mit dem ersten Satz der ersten Sonate. Er kam nicht mal bis zum Ende der ersten Seite. Die Rhythmen und Töne verwirrten ihn, und er geriet in Wut. Er sagte: ,Das kann man nicht spielen. Das ist schrecklich. Das ist keine Musik, das macht keinen Sinn.' Er kam nicht einmal damit zurecht, nachdem ich es ihm mehrmals vorgespielt hatte und meinte: ,Wenn Ihnen etwas schrecklich Unverdauliches schwer im Magen liegt, dann können sie das loswerden, doch ich kriege diese schrecklichen Klänge nicht aus meinen Ohren'. Nachdem er gegangen war, befiel mich dasselbe Gefühl, das ich immer wieder einmal hatte: Ist was mit meinen Ohren verkehrt? Niemand sonst scheint so zu hören wie ich.«
Erst Jahrzehnte später - nach dem Zweiten Weltkrieg und Jahre nach Ives Tod - erkannte man, dass mit Ives` Ohren alles in Ordnung gewesen und dass er seinen Zeitgenossen nur weit voraus gewesen war.
Recorded at Duncan Recital Hall, Rice University Shepherd School of Music, Houston, on 8th-10th January (1-3,10-12), 26th-27th May (4-6) and 16th-18th December (7-9), 1998 Recording Producers: Curt Thompson + Rodney Waters Recording Engineer: Andy Bradley - Editors: Jose Feghali + Rodney Meyers Cover Photo: Charles Ives c. 1947 in New York City by Clara Sipprell (P) 2003 (C) 2004
« ... allen Werken in Malerei und Bronzeplastik vorzuziehen»
Am 14.Januar 1506 vermeldete ein Felice de Fredis in Rom, er habe in einem zugemauerten Raum unter seinem Weinberg in der Nähe der Kirche San Pietro in Vincoli eine große Marmorgruppe gefunden. Auf der Stelle schickte der Papst den Architekten und Bildhauer Giuliano da Sangallo, der in seinen Diensten stand, zu diesem Weinberg auf dem Esquilin, um Erkundigungen einzuholen. Mit von der Partie waren Michelangelo und der kleine Francesco da Sangallo. Über sechzig Jahre später erinnert letzterer sich in einem Brief ganz genau an die lange zurückliegende Begebenheit: Zunächst hinter ihm im Sattel sitzend, hatte sein Vater ihn schließlich huckepack in den Weinberg getragen. Dort angekommen, waren sie in den unterirdischen, aber inzwischen freigelegten Raum geführt worden. Und dort hatte der Vater sofort erkannt, daß es sich bei der Gruppe um den berühmten Laokoon handeln mußte, den Plinius d. Ä. in seinem im Jahr 77 n. Chr. erschienenen, dem Kronprinzen Titus gewidmeten Werk hervorgehoben hatte. In dieser 37 Bücher umfassenden Naturalis historiae hatte Plinius in der Abhandlung über den Marmor im 36. Buch geschrieben, daß sich im Palast des Titus eine Laokoon-Gruppe befinde, «ein Werk, das allen Werken in Malerei und Bronzeplastik vorzuziehen ist. Aus einem Stein machten ihn und die Kinder sowie die erstaunlichen Windungen der Schlangen aufgrund des Ratsbeschlusses die großen Künstler Hagesander, Polydoros und Athanadoros, die Rhodier.»
Mit der Identifizierung bewies Sangallo zum einen, daß er seinen Plinius gelesen hatte, zum anderen aber auch, daß er sich mit der antiken Mythologie auskannte und zumindest wußte, daß Laokoon und seine beiden Söhne von riesigen Schlangen angefallen und zu Tode gewürgt und gebissen worden waren. Nichts anderes als einen nackten Mann mit zwei Knaben, die von riesigen Schlangenkörpern umwunden und gefesselt werden, stellt die Figurengruppe dar.
Die Kunde von dem Fund verbreitete sich in Rom wie ein Lauffeuer, und Sangallos Identifizierung als die römische Laokoon-Gruppe der drei Bildhauer aus Rhodos wurde fraglos übernommen. Doch wer war überhaupt Laokoon, der mit seinen Söhnen gegen riesige Schlangen kämpfte? Und was genau ist dargestellt?
Der Mythos bietet mehrere Varianten, die hier aufzuführen für die Interpretation nicht unwichtig ist. Fest steht, daß Laokoon ein troianischer Priester war, der dem Apollon diente. Als Bruder des Anchises und damit Onkel des legendären Gründers der Stadt Rom - Äneas - war er mit dem troianischen Königshaus verwandt. Die weniger bekannte und ältere Sage erzählt, er habe als Priester Apollons der Ehe entsagen sollen und damit natürlich auch der Vaterschaft. Statt dessen zeugte er sogar im Tempel (!) mit seiner Frau Antiope die beiden Söhne Antiphas und Thymbraeus. Nur eine Quelle nennt diesen Frevel als Grund, weshalb Schlangen ihn und seine Söhne töten. Arktinos von Milet berichtete in seiner Ilioupersis auch schon in griechischer Zeit von einem Zusammenhang des Laokoon mit dem troianischen Pferd, eine Geschichte, die Sophokles im 5. vorchristlichen Jahrhundert in einem heute verlorenen Theaterstück verarbeitete: Die Troer berieten nach Abzug der Griechen, was sie mit dem zurückgelassenen hölzernen Pferd machen sollten. Sie nahmen es als ein positives Zeichen und feierten ein Freudenfest. Da schickte Apollon zwei Seeungeheuer übers Meer, die den Laokoon und einen der beiden Söhne töteten zum Zeichen, daß der Gott seine Hand nicht mehr schützend über die Stadt halten könne. Äneas verstand dies und floh mit Sohn und Vater, bevor die Griechen angriffen.
Die bekanntere Variante kennen wir aus der 19 v. Chr. vollendeten Äneis des römischen Dichters Vergil: Die Griechen hatten die Belagerung Troias scheinbar aufgegeben und bei ihrer (vorgetäuschten) Abfahrt das hölzerne Pferd am Strand zurückgelassen. Vor ihm warnte der Priester Laokoon die Troer. Anschließend opferte er an einem Altar in der Nähe des Meeres Poseidon einen Stier. Da teilten sich die Fluten, und aus dem Meer kamen zwei schlangenartige Seeungeheuer auf ihn und seine Söhne zu. Sie umschlangen die Knaben und den Vater, der ihnen zur Hilfe eilen wollte, erstickten sie oder gaben ihnen den tödlichen Biß. Anschließend suchten sie beim Heiligtum der Athena Schutz, waren also offensichtlich von der Göttin geschickt worden. Die Troer interpretierten dies als Strafe, weil Laokoon vor dem Pferd gewarnt hatte, nahmen es mit in die Stadt, und das Schicksal Trojas nahm seinen Lauf.
Hören wir diese Geschichte, dann sehen wir automatisch vor unserem geistigen Auge die 1506 aufgefundene marmorne Figurengruppe des Laokoon mit seinen Söhnen, die sich seitdem im Vatikan befindet. Sie ist nicht nur in jeder Kunstgeschichte abgebildet, sie ist uns mit Sicherheit im Schulbuch begegnet und wurde seit ihrer Auffindung von zahlreichen Künstlern in unterschiedlichen Größen und Varianten kopiert, aber auch als Zitat in ganz andere Zusammenhänge versetzt.
Baccio Bandinelli, Marmorkopie der Laokoon-Gruppe, 1525, Florenz, Uffizien
Doch stellt die Gruppe überhaupt die Geschichte dar, die Vergil erzählt hat? Und sind wir sicher, daß uns immer die antike Gruppe gezeigt wird und nicht eine ganz andere?
Die 184 Zentimeter hohe Marmorgruppe steht seit ihrer Auffindung auf einem Sockel. Zwei Stufen, die fest mit den Figuren verbunden sind, leiten über zu einem recht hohen Quader, dem Altar, an dem Laokoon seine Opfer vollzog und auf dem er jetzt selber geopfert wird. Die Tücher, die seine Blöße bedeckten, sind auf den Altar geglitten. Laokoon stützt sich mit dem rechten Fuß auf der oberen Stufe ab, die Zehenspitzen des linken berühren den «Boden» (also den eigentlichen Sockel), und so steht er halb, halb sitzt er aber auch auf dem Altar und versucht, sich der Schlangen zu erwehren. Der mächtige Oberkörper ist gestreckt und gleichzeitig nach links gedreht, der rechte Arm hoch erhoben und angewinkelt. Wahrscheinlich hat er mit der «verlorenen» rechten Hand ebenfalls versucht, eine der Schlangen abzuwehren. Mit der linken hat er die zweite gegriffen, die ihn gerade in die Hüfte beißt. Laokoons Kopf neigt sich bereits nach links und wird gleich kraftlos zur Seite fallen.
Der jüngere Sohn an seiner rechten Seite hat den Kampf schon verloren. Dicht beim Vater, der ihm nicht mehr helfen kann, sind die beiden doch unlösbar miteinander verbunden, denn die eine Schlange hat sich um das eine Bein des Vatcrs wie um das des Sohnes gewunden. Das andere Tier schlingt sich um seinen Oberkörper, stützt ihn, so daß er nicht fällt, hat ihn aber bereits in die Seite gebissen. Er hat noch versucht, den Kopf des Ungeheuers mit der linken Hand wegzuschieben, erfolglos, und nun wirkt es so, als streichele er den Kopf der todbringenden Schlange.
Der ältere Sohn, links vom Vater, ist den tödlichen Bissen noch entgangen. Er steht etwas entfernt vom Altar und abseits der Stufen «auf der Erde». Sein Gewand hängt ihm noch von der Schulter (und dient gleichzeitig dazu, die Figur zu stabilisieren). Er versucht, das Schwanzende der einen Schlange von seinem Fußgelenk zu streifen, während sich die andere Schlange, die dem Vater (wahrscheinlich) gerade den tödlichen Biß gibt, um seinen Arm windet. Entsetzt schaut er zum Vater, sieht seinen Todeskampf und muß erkennen, daß von ihm keine Hilfe mehr kommen kann. Er ist auf sich selbst gestellt, nur er allein kann sich noch retten. Und es scheint, als ob ihm dies gelingen wird, daß er nicht auch noch geopfert wird und deshalb außerhalb des Altarbereiches gezeigt ist.
In der von Vergil berichteten Variante sterben alle drei der Angegriffenen. Hier aber scheint der ältere Sohn zu überleben. Deshalb liegt es nahe, als literarisches Vorbild für das Bildwerk nicht Vergils Version anzunehmen, sondern eher die Ilioupersisdes Arktinos von Milet, seine Lebensdaten sind unbekannt, oder das verlorene Theaterstück des Sophokles aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert.
Die Gruppe wurde so gearbeitet, daß sie nicht allansichtig ist, sondern ihre Dynamik nur in der Vorderansicht entfaltet. Auch wenn einige Teile fehlen, einige Stücke der Schlangen nicht wiedergefunden wurden und sie sich so kompliziert winden, daß man nur am Objekt selbst mit Sicherheit sagen kann, welche Windung zu welcher Schlange gehört, so faszinieren die Körperdarstellung, die Bewegung der Leiber, der Ausdruck von Schmerz. Die Adern des muskulösen Vaters scheinen vor Anstrengung anzuschwellen und treten sichtbar unter der Haut hervor. Muskulös, aber noch nicht so kräftig ausgeprägt wie der Vater, strebt der ältere Sohn entsetzt zur Seite. Der jüngere Sohn hingegen befindet sich erst an der Schwelle vom Kind zum Jüngling, sein Körper ist noch weich und zart ausgeformt. Kein Wunder, daß die Schlangen bei ihm am schnellsten zum Ziel gelangen, die Giftzähne in das noch zarte Fleisch bohren, ihr Angriff keinen ernsthaften Widerstand findet. Genaue Naturbeobachtung stellt somit schon ein ganzes Repertoire an Ausdrucksformen bereit, das sich in den Kopfhaltungen, der Mimik und dem Licht- und Schattenspiel der Gesichter dramatisch steigert.
Antike Skulpturen waren damals von Sammlern heiß begehrt. Im Zeitalter der Entdeckungen, als man anderswo neue Kontinente erforschte, wurde im Boden unter Rom fieberhaft gegraben. Oft fand man nur Torsi, Fragmente. Und so nimmt es nicht wunder, daß Julius II. diese erstaunlich unversehrte Gruppe begehrte, zumal nachdem Sangallo sie als Laokoon bestimmt und Michelangelo dem Urteil offensichtlich nicht widersprochen hatte. Für seinen Skulpturenhof, der als Verbindungsbau zwischen dem Papstpalast und der päpstlichen Villa Belvedere gerade unter Leitung des Architekten Bramante im Entstehen war, kam der Laokoon dem Papst wie gerufen. Der Laokoon stellte somit den Grundstock der päpstlichen Antikensammlung dar.
Bereits am 1.Juni 1506 scheint der Laokoon in der eigens für ihn geschaffenen Mittelnische des Belvedere-Hofes gestanden zu haben. Und im Zuge der Aufstellung hat wohl auch Jacopo Sadoleto das Festgedicht geschrieben, das die einhellige Begeisterung der Zeitgenossen in Worte faßte:
Laokoon-Gruppe mit Ergänzungen des Agnolo Montorsoli, 1532/33, Rom, Vatikanische Museen (Zustand vor 1960)
«Seht her! Aus Bergen von Erde, den riesiger Ruinen Eingeweide, hat nach langer Zeit der Tag den Laokoon zurück ans Licht gebracht. Einst in königlichen Hallen stand er und schmückte Dein, O Titus, Haus. Ein Bildwerk göttlicher Kunst; die alten Gelehrten kannten kein edleres. Jetzt sieht es wieder, befreit aus dem Dunkel, des wiedererstandenen Rom wehrhafte Mauern.»
Nachdem er dann beschrieben hatte, wie die Gruppe aussieht, kam er auf die «großen Künstler» zu sprechen:
«Ihr seid die vortrefflichsten, um den Stein zu lebender Form zu beseelen und in atmendem Marmor lebendiges Fühlen zu pflanzen; wir sehen Bewegung, Zorn und Schmerzen,
und wir hören das Stöhnen. Euch zeugte das glänzende Rhodos. Die Schönheit Euerer Kunst war unendlich lange verdunkelt, das zweite Rom sieht sie wieder im Licht. Und sie wird immer rühmen und den Werken der Alten frische Anmut verschaffen. Um so größer im Geist ist also, wer stets durch Leistung vermehrt, was das Schicksal ihm zumaß, statt Stolz, Reichtum und eitle Pracht zu vermehren.»
Die Begeisterung des Sadoleto entzündete sich an dem Fund, der Darstellung und den ausführenden Künstlern. Und er sprach in dem Gedicht nicht nur seine eigenen Empfindungen aus, sondern die der Künstler und der künstlerisch ambitionierten Römer. Eine antike Skulptur, bei der die Körper Angst, Verzweiflung, Hingabe und Widerstand ausdrückten, bei der jeder Muskel zu erkennen war, war bisher nirgends aufgetaucht. Hinzu kam, daß die Gruppe offensichtlich schon in der Antike als Meisterwerk gegolten hatte, wie die rühmenden Worte des Plinius überliefern.
Die Künstler Roms begannen, die Körper zu studieren. Der Bildhauer Baccio Bandinelli richtete im Belvedere-Hof eine Akademie ein. Dort hatten die Schüler im Angesicht der Laokoon-Gruppe zu arbeiten. Und die Gefesselten Sklaven Michelangelos für das Grabmal Papst Julius' II. sind ohne das Vorbild dieser antiken Skulptur nicht denkbar. Kunsthistoriker sind sogar so weit gegangen zu behaupten, daß ohne Kenntnis des Laokoon die Entwicklung der barocken Kunst nicht stattgefunden hätte, zumindest aber anders verlaufen wäre.
Für die langandauernde künstlerische Rezeption des Laokoon sind dessen unterschiedliche Zustände von Bedeutung. Denn auch wenn die Gruppe erstaunlich gut erhalten war, so fehlte doch jeder Figur der rechte Arm, und es fehlten Teile der Schlangenkörper. In diesem Zustand aber kennen wir die Gruppe gar nicht. Denn sie wurde sehr bald nach ihrer Auffindung vervollständigt.
Die erste Kopie, die gleichzeitig eine Rekonstruktion der fehlenden Teile darstellte, stammt von dem schon erwähnten Bandinelli. Sie ist Ergebnis der Friedensverhandlungen zwischen dem französischen König Franz I., der 1515 Mailand eingenommen hatte, und dem Papst. Franz wünschte die Überführung der antiken Gruppe in seine Residenz nach Fontainebleau. Dieses Ansinnen konnte Papst Leo X. allerdings abwenden, indem er eine Kopie zusicherte, mit der er Baccio Bandinelli beauftragte. Die Kopie war erst 1525 vollendet, wurde aber nicht, wie verabredet, nach Frankreich geschickt, denn der neue Medici-Papst, Clemens VII., fand so außerordentlichen Gefallen daran, daß er sie nach Florenz transportieren ließ. Noch heute befindet sie sich dort in den Uffizien. Erst Napoleon sollte es 1797 gelingen, die antike Gruppe als Kriegsbeute bis 1815 nach Paris zu holen.
Bandinelli hatte in seiner Kopie bei allen drei Figuren den rechten Arm ergänzt. Der des jüngeren Sohnes beschreibt einen Bogen, so daß die Hand weit über seinen Kopf hinausragt. Der Vater hebt den seinen ergänzten Arm rechtwinklig zum Unterarm und hält ein Gewirr von Schlangenkörpern empor. Der ältere Sohn streckt die erhobene offene Hand so, als wehre er etwas Unsichtbares damit ab.
Zehn Jahre später, also 1532/33, erhielt Giovann' Agnolo Montorsoli den Auftrag, die Antiken im Belvedere-Hof zu restaurieren. Und eine solche Restaurierung verlangte, sie zu vervollständigen. Montorsoli übernahm die Rekonstruktionen Bandinellis nicht. Vielmehr fand er eine neue Lösung. Laokoon fügte er einen ausgestreckten rechten Arm aus Terrakotta an, mit dem dieser kraftvoll versucht, die Schlange abzuwehren, die entsprechend ergänzt ist. Dem jüngeren Sohn gab Montorsoli ebenfalls einen rechten Arm, der nach oben zeigt und so der Gruppe kompositorisch einen Abschluß gibt. Die rechte Hand des älteren Sohnes ist nicht mehr im Gestus des Entsetzens geöffnet, sondern greift ins Leere. Auch der Kopf der Schlange, die Laokoon gerade in die Hüfte beißt, ist von Montorsoli ergänzt, interpretierte er doch die Spuren an der Hüfte des Laokoon als Bißspuren. Montorsolis Version des Laokoon blieb bis in die fünfziger Jahre des 20.Jahrhunderts die offizielle Fassung. 1905 hatte man den antiken rechten Arm des Laokoon zwar wiedergefunden, es dauerte aber noch einmal fünfzig Jahre, bis er als authentisch erkannt und montiert wurde.
Francesco Primaticcio, Bronzenachguß der Laokoon-Gruppe, 1540, Fontainebleau, Museum
Da Franz I. vergeblich auf die versprochene Kopie des Laokoon wartete, schickte er 1540 Francesco Primaticcio nach Rom, der von mehreren Antiken Bronzenachgüsse anfertigen sollte. Sein Laokoon, der heute noch in Fontainebleau steht, zeigt jenen Zustand, in dem sich die Gruppe bei ihrer Auffindung befand, besitzt also keine Ergänzungen und ist schon deshalb ein äußerst wertvolles Dokument.
In den Studioli, den Kunstkammern der Renaissancefürsten, waren Antikenkopien in Gestalt von Kleinbronzen sehr beliebt, und so gibt es zahlreiche kleine Laokoon-Gruppen, die entweder der Gruppe von Bandinelli nachempfunden sind oder die Ergänzungen Montorsolis übernommen haben. Und nur wenn wir alle vier Versionen nebeneinander sehen, erkennen wir die Unterschiede, die auch zu unterschiedlichen Auslegungen und kontroversen stilistischen Interpretationen geführt haben.
Der Laokoon hat also mehrere Sternstunden erlebt. Auffindung und Rezeption in Renaissance und Barock waren nicht die letzten. Johann Joachim Winckelmann, dem Stammvater des Klassizismus, diente diese Gruppe als Idealbild für seine Vorstellung der «edlen Einfalt und stillen Größe», die er 1764 publizierte und die den Geschmack des Klassizismus beherrschen sollte. Bereits 1766 erschien als Erwiderung auf Winckelmanns Hymne die unvollständig gebliebene Abhandlung Gotthold Ephraim Lessings mit dem Titel Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in der sich erstmals ein Schriftsteller mit den Unterschieden zwischen Poesie und bildender Kunst beschäftigte und die die Grundlage für die moderne Kunstkritik werden sollte. Lessings Äußerungen bildeten den Auftakt zu einem der berühmtesten kunsttheoretischen Dispute «über den angemessenen Ausdruck» und den «einzigen Augenblick» der Wiedergabe, an dem sich 1798 unter anderen auch Johann Wolfgang von Goethe beteiligte, der seine Argumentation auf den Biß der Schlange in die Hüfte des Laokoon gründete - wie wir heute wissen, eine Rekonstruktion Montorsolis - und in den Figuren die «Zusammenwirkung von Streben und Fliehen, von Wirken und Leiden, von Anstrengen und Nachgeben» hervorhob.
Die emotional geführten Debatten über den Laokoon rissen und reißen nicht ab. Heute werden sie von den Archäologen besonders über Entstehung und Datierung der Gruppe geführt. Auslöser war ein Fund, der 1506 wahrscheinlich ähnlich spektakulär gewesen wäre wie der des Laokoon, 1957 jedoch nur noch Archäologen und kunstinteressierte Laien bewegte: In einer Höhle am Meer nahe der Villa des Tiberius in Sperlonga wurde eine monumentale Marmorgruppe entdeckt, die die Geschichte des Angriffs der Skylla auf das Schiff des Odysseus nach der Odyssee des Homer darstellt. Die Figuren sind von jenen drei Künstlern signiert, die Plinius als Urheber der Laokoon-Gruppe genannt hatte: Hagesander, Polyodoros und Athanadoros. Der Fund belegte aber nicht nur die Existenz der Genannten, sondern machte auch deutlich, daß es sich bei den drei Bildhauern aus Rhodos um Kopisten handelte, die in Rom eine große und gutgehende Werkstatt besaßen. Und nun wurden für den Laokoon je nach Standpunkt unterschiedlichste Theorien aufgestellt, die sich auf folgende Fragen reduzierten:
- Ist der Laokoon die römische Kopie eines hellenistischen Originals aus Pergamon? Oder ist der Laokoon, den wir kennen, das Original, von dem eine Kopie angefertigt wurde?
- Ist die entdeckte Laokoon-Gruppe identisch mit jener, die Plinius gesehen hat? Oder beschrieb er nur eine Kopie?
- Wenn der Laokoon nun gar nicht mit dem von Plinius erwähnten identisch wäre und darüber hinaus (was wahrscheinlich ist) nicht nach der Äneis des Vergil, sondern nach der älteren griechischen Quelle gearbeitet ist, nach der einer der Söhne am Leben bleiben durfte? Dann wäre der Datierungsspielraum von 19. v. Chr., der Vollendung der Äneis, bis 70 n. Chr., dem Bericht des Plinius, hinfällig.
Die neuerlich entfachte Diskussion um den Laokoon wird von den Archäologen sehr kontrovers geführt. Eine wirklich gesicherte Antwort ist nicht abzusehen. Doch der Befürchtung, die Laokoon-Gruppe sei als Ideal entthront, gleichsam von ihrem Podest gestoßen, nachdem man festgestellt hat, sie sei eine Kopie, stehen fünfhundert Jahre Rezeptionsgeschichte gegenüber, in denen diese Plastik unsere Vorstellungen von der Antike maßgeblich beeinflußt hat und deren Wirkung auf das Kunstschaffen unbestreitbar ist. Für jeden, der einmal vor dem Original in Rom oder einem Abguß gestanden und - wie weiland Goethe - ganz schnell hintereinander die Augen geschlossen und wieder geöffnet hat, dem wird sich noch immer der von dem Dichter beschriebene Eindruck einstellen: «... so wird man den ganzen Marmor in Bewegung sehen, man wird fürchten, indem man die Augen wieder öffnet, die ganze Gruppe verändert zu finden ... wie sie jetzt dasteht, ist sie ein fixierter Blitz, eine Welle, versteinert im Augenblicke, da sie gegen das Ufer anströmt.» Und vielleicht wird der Betrachter dann ebenfalls zu dem Schluß kommen: «Genug, wir dürfen kühnlich behaupten, daß dieses Kunstwerk seinen Gegenstand erschöpfe und alle Kunstbedingungen glücklich erfülle.»
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