Quantcast
Channel: Kammermusikkammer
Viewing all 294 articles
Browse latest View live

Ives‘ Variations on “America” – geblasen von The President's Own US Marine Band

$
0
0
Charles Edward Ives wird am 20. Oktober 1874 als ältester Sohn des Musikers George Edward Ives und seiner Frau Mary Parmelee in Danbury, Connecticut geboren. George Ives hatte sich zunächst als Militärkapellmeister während des amerikanischen Bürgerkriegs einen Namen gemacht, bevor er sich nach Kriegsende entschließt, die Musik - entgegen der Familientradition und dem eher industriellen Umfeld Danburys - zu seinem Beruf zu machen. Von Vorteil erweist sich dabei seine Vielseitigkeit als Kornettspieler, Dirigent und Lehrer, die ihn schon bald zu einem der einflussreichsten Musiker in seiner Umgebung macht. Naturgemäß spielt die Musik daher von klein auf eine wichtige Rolle im alltäglichen Leben von Charles und dank der väterlichen Gene macht sich auch schon bald eine überdurchschnittliche Begabung bemerkbar, die zunächst am Schlagzeug und wenig später auf den Instrumenten Klavier und Orgel gefördert wird. Im Alter von 14 Jahren hat er bereits solche Fertigkeiten erreicht, dass er öffentlich in Konzerten auftritt und wenig später seine erste Stelle als Organist an der Second Congregational Church in seinem Heimatort antritt. Später sollte vor allem dieses Instrument ihn als einen der bedeutendsten Solisten seiner Zeit auszeichnen.

Bereits im Alter von 13 Jahren regt Charles die vielfältige künstlerische Betätigung auch zu ersten kompositorischen Versuchen an. Es entstehen Gelegenheitswerke wie Märsche oder Kirchenlieder, die sein musikalisches Umfeld reflektieren und sich in Kompositionen wie dem March No. 2, Variations on America für Orgel oder From the Steeples and the Mountains für Blechbläser und Röhrenglocken niederschlagen. Mindestens ebenso bedeutend für die musikalische Entwicklung seines Sohnes ist der unorthodoxe und freie Umgang Georges Ives' mit der Materie Musik. Hier werden die Wurzeln für Charles' eigene experimentelle und unabhängige kompositorische Arbeitsweise gelegt. Das Musizieren in verschiedenen Tonarten (Polytonalität) gehört dabei ebenso zum Alltag wie der Bau spezifischer Instrumente für die Produktion von Vierteltönen oder Experimente zur Raumakustik. Erste kompositorische Ergenisse dieser künstlerischen Freiheit ist die Arbeit mit Polytonalität und Polyakkorden in Werken wie London Bridge is Fallen Down! oder Jerusalem, the Golden.

Charles Ives, ca. 1909
Studium in Yale

Trotz seiner offensichtlichen musikalischen Begabung beginnt Charles nach seinem Schulabschluss im Jahr 1894 zunächst ein Wirtschaftsstudium an der Yale University in New Haven, das er 1898 als Bachelor of Arts abschließt. Dennoch nimmt die Musik auch weiterhin einen wichtigen Stellenwert in seinem Leben ein und neben der ununterbrochenen Tätigkeit als Organist an den verschiedensten Kirchen besucht er Musikkurse bei den Komponisten Horatio W. Parker (1863-1919) - Schüler von Joseph von Rheinberger - und George Chadwick (1854-1931), die Charles ebenso prägen wie sein Vater. Dessen früher Tod aufgrund eines Schlaganfalls im Jahr 1894 mit nur 49 Jahren wird für den Rest seines Lebens eine schmerzhafte Lücke hinterlassen und Charles Ives wird von da an sein gesamtes kompositorisches Schaffen seinem Vater widmen.

Der eher konservative Parker sollte Charles vor allem das bis dahin fehlende musiktheoretische Fundament in den Fächern Kontrapunkt, Harmonielehre, Musikgeschichte, Formenlehre und Instrumentation vermitteln. Von dem dadurch veränderten Umgang mit dem musikalischen Material zeugen Werke wie die Symphony No. 1 oder das String Quartet No. 1. Parallel dazu entsteht eine Vielzahl von Chor- und Orgelwerken, die von seiner auch in diesen Jahren ununterbrochenen Organistentätigkeit inspiriert sind, durch die sich darüber hinaus auch ein regelmäßiges Forum für die Aufführung seiner neuesten Schöpfungen bietet.

Ives im Battery Park, New York City,
ca. 1913
Versicherungsagent

Trotz seines umfangreichen musikalischen Engagements und seiner offenkundigen Begabung nimmt Charles Ives nach dem Studium im Sommer 1898 eine Stelle bei der New Yorker Lebensversicherungsgesellschaft Mutual Life Insurance Company an. Mit den jahrelang gesammelten Kenntnissen und Erfahrungen wagt er 1907 den Schritt in die Selbständigkeit und gründet gemeinsam mit seinem befreundeten Kollegen Julian Myrick eine eigene Agentur, die sich als Ives & Co. (später Ives & Myrick) in den folgenden zwei Jahrzehnten zu einer der erfolgreichsten an der amerikanischen Ostküste entwickelt, bevor sich Ives im Jahr 1930 aus der Versicherungsbranche zurückzieht.

Trotz seiner umfangreichen geschäftlichen Verpflichtungen nimmt die kompositorische Tätigkeit einen immer größeren Stellenwert ein. Es entstehen Werke wie die eher konservative Kantate The Celestial Country, vier Violinsonaten, die mit ihren folkloristischen Elementen den Bezug zum traditionellen square dance nicht verleugnen können, aber auch avantgardistische Kompositionen wie das mit Dissonanzen gespickte Chorwerk Processional: Let There Be Light. Doch das übermäßige Arbeitspensum fordert nach mehreren Jahren seinen Tribut und 1906 erleidet Charles Ives seinen ersten Herzinfarkt, der ihn für mehrere Monate zum Einhalten zwingt.

Zu dieser Zeit trifft Charles Ives die Krankenschwester Harmony Twichell wieder, der er erstmals während seines Studiums in Yale begegnet war. Die Eheschließung im Juni 1908 ist nicht nur von elementarer Bedeutung für Charles Ives' Privatleben, sondern vor allem auch für sein kompositorisches Schaffen, das von da an von einer ganz neue Intensität, Kraft und Reife geprägt ist. Beispielhaft dafür sind Werke wie das Orchestral Set No. 1, Three Places in New England oder die Concord Sonata für Klavier.

Harmony und Charles Ives, ca. 1946, außerhalb
 ihrer Sommerwohnung in West Redding, CT
Ives' reife Werke verbinden dabei die unterschiedlichsten musikalischen Quellen zu einer neuen, als »music of the ages« (Musik aller Zeiten) bezeichneten Sprache. Ives' Werke sind dabei oft programmatischer Natur; es sind musikalische Kurzgeschichten, die zu einem imaginären Drehbuch Situationen aus seinem Alltag oder historische Ereignisse auf eindrucksvolle Weise hörbar machen - Musik als Abbild des (alltäglichen) Lebens, aber auch spiritueller Erfahrungen. Zu Ives' reifen Meisterwerken gehören Kompositionen wie Decoration Day, das Orchestral Set No. 2 oder die Symphony No. 4.

1918 erleidet Charles Ives einen zweiten Herzinfarkt, von dem er sich nie mehr ganz erholen konnte. Ein Jahr später macht er sich an eine systematische Ordnung seines bis dahin geschaffenen Materials und kümmert sich erstmals auch um eine breitere öffentliche Präsenz seines Werkes. 1921 finanziert er den Druck seiner Concord Sonata sowie 1922 die Veröffentlichung der umfangreichen Liedersammlung 114 Songs. In beiden Publikationen finden sich darüber hinaus ausführliche Essays, die Charles Ives' künstlerisch-ästhetisches Credo formulieren.

Charles Ives, ca. 1935
Der Schritt in die Öffentlichkeit

Obwohl die erste Resonanz auf seine veröffentlichten Werke eher zurückhaltend ist, beginnen Charles Ives und sein Werk von diesem Zeitpunkt an jedoch zunehmend an Bedeutung zu gewinnen. Mit dazu beigetragen hat sicherlich auch sein Anschluss an die zeitgenössische amerikanische Musikbewegung durch Kontakte zur 1925 von Henry Cowell gegründeten New Music Society sowie ab 1927 seine Mitgliedschaft in der avantgardistischen Pan American Association of Composers. Eine weitere Verbreitung erfährt sein Werk in den 1930er Jahren, als renommierte Kollegen wie Aaron Copland Kompositionen von ihm in ihre Konzertprogramme mit aufnehmen. Zur gleichen Zeit macht Nicholas Slonimsky auch Werke wie Three Places in New England in Europa bekannt. Im Zuge dieser Ereignisse unternimmt Charles Ives 1932/33 gemeinsam mit seiner Frau eine einjährige Europareise, aus der u.a. eigene Einspielungen seiner Klaviermusik stammen - unschätzbare Dokumente für die musikalische Nachwelt und sicherlich eine teilweise Kompensation für das Versiegen der kompositorischen Quellen im Jahr 1927, vielleicht die bitterste Erfahrung im Leben von Charles Ives.

Ein letzter und der für die zukünftige Rezeption von Ives' Werk vielleicht bedeutendster Anstoß geht von dem Pianisten John Kirkpatrick aus, der insbesondere in den 1940er Jahren das Klavierwerk einer breiteren Öffentlichkeit bekannt macht. Nicht zuletzt seiner Initiative ist es zu verdanken, dass Charles Ives 1947 für seine Symphonie Nr. 3 der Pulitzer-Preis verliehen wird. Zu diesem Zeitpunkt ist der Komponist jedoch gesundheitlich bereits so geschwächt, dass er den Preis nicht mehr selbst entgegen nehmen kann. Charles Ives stirbt am 19. Mai 1954 in New York. Sein künstlerisches Vermächtnis bleibt mehr als jedes andere Werk neben der Vierten Symphonie die unvollendet gebliebene Universe Symphony.

Quelle: Unbekannt, angefunden bei wissen.de


Charles Ives, ca. 1946, außerhalb seiner Sommerwohnung
 in West Redding, CT
»Es gibt eine Anekdote, wonach der junge Charles Ives zwei marching bands beobachtete, die aufeinander zu marschierten und deren Musik sich irgendwann zu überlagern begann. Wenn man so will, besteht Ives's Musik aus sich überlagernden Clustern von Melodien. Es hat lange gedauert, bis die Öffentlichkeit ihn als den musikalischen Revolutionär Amerikas akzeptiert hat. Die Aufführung mancher seiner Werke hat er nicht mehr erlebt. Während man vor Jahrzehnten Schwierigkeiten hatte, eine Aufnahme seiner Werke zu finden und dankbar war, dass Columbia in der Reihe Masterworks Portrait herausgebracht hatte, kann man heute sein Werk leicht erreichen. Man muss sich dafür Zeit nehmen, denn - wie schon gesagt - es ist nichts zum Mitpfeifen. Aber je länger man es hört, desto mehr beginnt man, diese ruhige, kontemplative Musik zu verstehen.«

Jay Loomings, in seinem Blog, zitiert aus dem Post über Stars and Stripes Forever

Michael Jäger hat im Freitag mehrere relevante Artikel über Ives‘ Orchestermusik publiziert, z.B:


Track 1: Charles Ives: Variations on 'America'
TRACKLIST

Charles Edward IVES
(1874-1954)

VARIATIONS ON 'AMERICA'


Prologue

01. Variations On "America" [06:25]

Battle Cries of Freedom

02. Overture and March "1776" [02:56]
03. They Are There! (A War Song March) [02:28]

Town and Gown

Old Home Days: Suite for Band

04. Waltz [01:26]
05. The Opera House and Old Home Day [01:57]
06. The Collection [02:14]
07. Slow March [01:13]
08. London Bridge is Fallen Down! [01:10]

09. March Intercollegiate [03:30]
10. Fugue in C [06:32]
11. March: "Omega Lambda Chi" [03:03]
12. Variations on "Jerusalem The Golden" [04:12]
13. A Son of a Gambolier [03:49]
14. Postlude in F [04:26]

"Band Stuff"

15. "Country Band" March [0:04:22.53]
16. Decoration Day from "Four New England Holidays" [08:17]

Horseplay

17. Charlie Rutlage [02:30]
18. The Circus Band [02:43]
19. Runaway Horse on Main Street [01:16]
20. March No. 6, with "Here's to Good Old Yale" [02:52]

Epilogue

21. The Alcotts" (from Piano Sonata No. 2, Concord, Mass., 1840-1866) [05:50]


PLAYING TIME: [73:22]


"The President's Own" United States Marine BandColonel Timothy W. Foley, Director

The United State's Marine Band is the premier ensemble of the United States
Marine Corps and one of the most widely respected Bands in the World. Founded
by an act of Congress in 1798, "The President's Own" is the oldest professional
musical organization in America. The band performs regularly at the White House
and at over 500 public performances a year.

Recorded from 2nd to 6th June, 2003, at the Rachel M. Schlesinger Concert Hall,
Northern Virginia Community College, Alexandria
Producers: Major Michael J. Colburn, USMC, and First Lieutenant Jason K. Fettig,
USMC, U.S. Marine Band
Recording, editing and CD mastering: Gunnery Sergeant Karl Jackson, USMC,
U.S. Marine Band, and Staff Sergeant Travis Gregg, USMC, U.S. Marine Band
Cover: Charles Ives, c. 1947 in New York City by Clara Sipprel
(P) 2003 (C) 2007
*

Claude-Nicolas Ledoux - Das Bild als Philosophie

Arc-et-Senans


In Ostfrankreich, irgendwo in der Franche-Comté, gibt es einen imaginären Ort. Ich hatte in Besançonübernachtet, einer Stadt, die schon alt war, als sie im Jahr 58 v. Chr. von Cäsars Truppen erobert wurde. Als ich versuchte, aus dem Labyrinth der Einbahnstraßen herauszufinden, machte ich die Erfahrung aller Reisenden: Die Welt ist eine unordentliche Angelegenheit. Alte Burgen erheben sich direkt neben modernen Wohnblöcken, mittelalterliche Gäßchen winden sich an Designerboutiquen entlang, die liebliche Berglandschaft der Umgebung ist von häßlichen Industrieanlagen angefressen. Die ideale und geordnete Stadt, die zweckmäßig und ingeniös durchdachte Anlage existiert, so dachte ich, nur auf dem Papier, im Utopia des Thomas More oder in den vagen Beschreibungen der Insel Atlantis.

Die meisten Landschaften haben etwas Wohltuendes an sich, weil sie keinerlei Überraschungen bieten. Man weiß, daß die nächste Kleinstadt einen Marktplatz und eine Kirche haben wird, die üblichen Läden, das übliche Gemisch von Vor- und Nachkriegshäusern - alles ist anders, aber immer auf dieselbe Art. Als ich von Besançon südwärts fuhr, lag über den Feldern das gleiche blaue Morgenlicht, das ich vom Frühherbst in Südontario kenne und immer für einzigartig hielt. Und dann, buchstäblich aus dem Blauen, tauchte vor mir die Saline von Arc-et-Senans auf. Dem Besucher bietet sich die Anlage aus dem 18. Jahrhundert als ummauertes Haus dar, das ein Kind mit aller Sorgfalt aus butterfarbenen Klötzen errichtet hat.


Modell der Königlichen Saline von Arc-et-Senans
Und doch ist das Haus kein Haus. Es ist die visionäre Darstellung eines Hauses, die steingewordene Idee eines Hauses, ein Lehrbeispiel für architektonische Harmonie, ein philosophisches Konzept. Natürlich weiß jeder, was ein Haus ist. Dieses Wissen bestimmt unseren Blick auf Gebäude aus Stein und Mörtel, sei es ein anonymer Vorstadtbungalow in Missasauga oder Gaudís Kathedrale von Barcelona, aber es erlaubt uns auch, gewisse literarische Metaphern zu verstehen, wenn etwa ein angelsächsischer Dichter des 12. Jahrhunderts das Grab als »fensterloses Haus« bezeichnet oder wenn der hochgelehrte Apollodorus (von dem wir nichts wissen als den Namcn) im 2. Jahrhundert v. Chr. das kretische Labyrinth als »Haus ohne Türen« beschreibt. Die beiden ersten Beispiele stellen ein ästhetisches Urteil dar, die beiden darauffolgenden lösen einen gelinden Grusel aus, doch hinter allem steht dieselbe Grundvorstellung, die sich mit dem Begriff »Haus« verbindet. […]

Manchmal sind Gebäude nur Fiktion, errichtet aus Wörtern oder Bildern. Das verfallene Haus Usher, die nostalgischen Green Gables, Toad Hall oder Schloß Drakula, die Ruinen von Mandalay und das Traumhaus von Le Grand Meaulnes brauchen weder Ziegel noch Mörtel. Luciano da Lauranas Idealstadt im sehr realen Herzogspalast von Urbino, Giorgio de Chiricos melancholische Arkaden und sonnenüberflutete Plätze, die düsteren Verliese Piranesis im 18. Jahrhundert und Pieter Brueghels spiraliger Turmbau zu Babel zwei Jahrhunderte zuvor beanspruchen keinen Platz in der Wirklichkeit, sondern nur in der Phantasie. Alle bieten jedoch eine Theorie an, enthalten eine philosophische Vorstellung davon, was unsere Behausungen für uns bedeuten könnten, und unterbreiten dem Leser oder Betrachter Geschichten von Leben und Sterben in den phantasierten Gemäuern. Eins der eindrucksvollsten Beispiele für eine Architekturphilosophie, die sich in Stein verwandelt hat, ist Arc-et-Senans, das Meisterwerk des visionären Baumeisters Claude-Nicolas Ledoux.

Das Portal der Saline von Arc-et-Senans

Heute sagt einem der erste Anblick von Arc-et-Senans nicht viel, außer daß der Erbauer ein wunderbar ausgeglichenes Formgefühl besaß. Wie eine Reihe von Zypressen erheben sich die dorischen Säulen des Portalgebäudes, die aus grob behauenen, grottenartigen Steinen aufgetürmt sind. Zu beiden Seiten sind liegende Urnen in die Mauer eingebettet, aus denen steingewordene Salzlake fließt. Dies ist der einzige Schmuck, der sich an vielen Stellen wiederholt.

Wenn man kein Vogel ist, muß man erst das Portal durchqueren, um zu erkennen, daß man sich am Scheitelpunkt eines großen Halbkreises oder Fächers befindet. Links und rechts stehen niedrige weiße Gebäude mit Ziegeldächern, in gerader Linie, an der Basis des Halbkreises, erhebt sich ein hoher Säulenbau, der von flacheren Gebäuden flankiert ist. Die ganze Anlage ist streng symmetrisch.

Offiziell war die Saline von Arc-et-Senans zur Herstellung von Salz bestimmt. Seit dem 13. Jahrhundert wurde Salz in Frankreich besteuert und bildete eine der Haupteinnahmequellen des Königs. 1681 führte Jean Baptiste Colbert, der einflußreiche Berater Ludwigs XIV, ein System der Steuererhebung ein, das den Eintreibern neue Vollmachten gab. Die verhaßten fermiers généraux konnten nun - gegen eine beträchtliche Abgabe an die Krone - die Steuer direkt kassieren und wurden nebenbei zu Prügelknaben des Volkszorns, während der König die unverminderte Verehrung seiner Untertanen genießen konnte. Dank der Steuern und der Exporte vor allem in die Schweiz war Salz für die königliche Familie über Jahrhunderte ebenso kostbar wie Gold. Als um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Salzerträge in der Franche-Comté zu sinken begannen, beschloß Ludwig XV, le Bien-Aimé (der 1715 im Alter von fünf Jahren die Thronfolge seines Urgroßvaters angetreten hatte), eine größere und leistungsfähigere Saline errichten zu lassen. Als Standort wurde Arc-et-Senans in der Nähe des Waldes von Chaux ausgewählt, wo es genügend Feuerholz für die Laugenkessel gab. Zum Architekten wurde Claude-Nicolas Ledoux bestimmt.

Das Haus des Direktors der Saline von Arc-et-Senans

Ledoux hatte die sozialen Barrieren des vorrevolutionären Frankreich erfolgreich übersprungen. Am 21. März 1736 war er in der Marne-Gegend geboren worden. Seine Eltern waren arm, und trotz eines Gemeindestipendiums mußte Ledoux die Schule abbrechen und eine Kupferstecherlehre in Paris antreten. […] Gefördert von Aristokraten, die seine Talente erkannt hatten, trat er im Alter von vierundzwanzig Jahren in Jacques-François BlondelsEcole des Arts ein, die erste Kunstschule Frankreichs, die Architektur unterrichtete.

Ein Aushilfsjob bei der Gewässer- und Forstverwaltung von Sens führte ihn in die Welt der reichen fermiers généraux ein, und durch diese gelangte er in den Umkreis der Madame Dubarry, der Mätresse des Königs. Ursprünglich eine einfache Verkäuferin, war sie nach dem Tod der Pompadour zur maitresse en titre aufgestiegen, und sie übte ihre Macht aus, bis Ludwig XVI. im Jahre 1774 den Thron bestieg und sie in ein Kloster verbannte. Der alte König hatte ihr ein riesiges Waldstück bei Louveciennes übereignet, und sie beschloß, dort einen Pavillon errichten zu lassen, in dem sie ihre königlichen Gäste und ihre großartige Kunstsammlung unterbringen konnte. […] Im Dezember 1770 berief die Dubarry Ledoux zu ihrem Architekten. Und schon ein Jahr später, am 2. Dezember 1771, empfing sie den König im neuerrichteten Pavillon von Louveciennes zum Diner.

Portal des Direktorenhauses
Der Bau mit seinen Wabenmustern gefiel dem König ungemein, und Ledoux erhielt das Angebot, die Saline von Arc-et-Senans zu bauen. Die ersten Entwürfe, die der König wenige Tage vor seinem Tod im April 1774 vorgelegt bekam, stießen nicht auf sein Wohlgefallen, und erst Ludwig XVI., sein Sohn und Thronfolger, genehmigte die überarbeiteten Pläne in den letzten Wochen desselben Jahres. Im Jahr 1779 war der Bau weitgehend vollendet.

Die Saline hatte eine Reihe von Anforderungen zu erfüllen. Sie mußte ausbaufähig sein, damit Engpässe wie in der alten Anlage von Salins vermieden werden konnten, die zwischen der Stadt und dem Fluß Furieuse eingeklemmt war; sowohl die Sole, aus der das Salz gewonnen wurde, als auch das Holz, mit dem die Siedekessel geheizt wurden, mußten in ausreichender Menge verfügbar sein; die Anlage mußte vor Feuer und Salzdiebstählen sicher sein - aber vor allem mußte sie eine Idee zum Ausdruck bringen, die sich allmählich im europäischen Bewußtsein breitmachte und mit der Französischen Revolution ihre Inthronisierung erlebte: Der Bau mußte eine Verkörperung der Vernunft darstellen. »Die Architekten jener Tage«, kommentierte Victor Hugo mit einem Hauch Ironie, »verwechselten Symmetrie mit Schönheit.«

Aussenmauer mit Urnendekor
Auch die Gesellschaft müsse zum Produkt der Vernunft werden, meinten die Revolutionäre. »Die menschliche Vernunft«, verkündete der um seine Vernunft beraubte Robespierre, »ähnelt noch immer dem Globus, den der Mensch bewohnt - halb ins Dunkel getaucht, halb von Licht erfüllt.« Und die Architektur, schrieb Ledoux fünf Jahre, nachdem die revolutionären Parolen von Napoleon kassiert wurden, sei eins der wirksamsten Werkzeuge der Vernunft. »Ist die Macht der Architektur nicht eine ungeheure?« fragte er mit Leidenschaft. »Sie kann innerhalb der Natur, der sie nacheifert, eine andere Natur errichten; sie ist nicht beschränkt auf ein Stück Boden, der zu eng für die Größe ihres Gedankens ist; die Lüfte zwischen Himmel und Erde sind ihre Domäne; […] sie kann die ganze Welt den hehren Launen der Phantasie unterwerfen.«

Aber selbst die hehren Launen der Phantasie brauchen einen Ausgangspunkt. Ledoux fand ihn im Bauprojekt der königlichen Saline. Er würde eine Anlage bauen, die so sinnreich und so wohlgefällig konstruiert war wie keine andere in der Welt (und die zweihundert Jahre später als einzige Fabrikanlage auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes erschien). Und es sollte nicht nur eine Fabrik entstehen, in der die Arbeiter mit ihren Familien wohnten und unter der Aufsicht des Direktors die Solekessel heizten, sondern ein Muster sozialer Gerechtigkeit und allgemeinen Glücks.

Das Direktorenhaus gegenüber dem Säulenportal bildet das Herzstück der Anlage und versinnbildlicht die Intentionen des Architekten. Während man sich darauf zubewegt, wird immer deutlicher, daß es in jeder Hinsicht den Mittelpunkt bildet. Das Gebäude strahlt Macht aus und lenkt von jedem Punkt der Anlage den Blick auf sich, so daß man sich ständig von den drei Augen im Säulengiebel beobachtet fühlt. Fast zweihundert Jahre später, als George Orwell seinen Alptraum von der Allgegenwart des Großen Bruders erdachte, nahm er damit unbewußt Bezug auf die steinernen Überwachungskameras der Saline von Arc-et-Senans.

Claude Nicolas Ledoux: Projekt der Neuen Stadt Chaux, 1804

Doch das Direktorenhaus wirkt nicht nur imposant und bedrohlich, sondern auch ausnehmend elegant. Die sechs Säulen aus einer wechselnden Folge von Zylindern und Quadern hatte Ledoux auf Stichen von neuen römischen Bauten gesehen - eine Variante der dorischen Säule, die stabil und zugleich dynamisch aussieht.

Das Erdgeschoß des Direktorenhauses stellt die Verbindung zwischen den benachbarten Gebäuden her. Alles Salz, das in Arc-et-Senans produziert wurde, passierte das Direktorenhaus und wurde zumindest symbolisch der Aufsicht des Direktors unterstellt. Damit wurde Diebstahl praktisch unmöglich. Eine gerade, breite Treppe führt vom Erdgeschoß ins Obergeschoß. Sie diente nicht nur als Aufgang zur Direktorenwohnung, sondern endete in einer Empore. Sonntags wurde dort ein Altar errichtet, und diese kleine Zutat verwandelte das Treppenhaus in ein Kirchenschiff. Das Besteigen der Treppe war folglich nicht nur ein physischer, sondern auch ein geistlicher Akt. Die Arbeiter, die das Direktorenhaus in der Woche betraten, bekamen an den Sonntagen vor Augen geführt, daß ihr Direktor näher bei Gott wohnte als sie. Ihr Eintritt war eine Zeremonie, die stets von neuem die göttliche Ordnung bekräftigte. Es gibt nichts in Ledoux' Bauplan, was lediglich praktisch begründet wäre.

Die Arbeiterbehausungen rückte er in die Nähe der Produktionsstätten. Jedes Wohngebäude war durch einen langen Korridor unterteilt, auf jeder Seite befanden sich zwölf Räume, die von je einer Familie bewohnt wurden. In der Mitte lag die Gemeinschaftsküche, und hinter jedem Gebäude unterhielten die Familien ihre Gemüsegärten. Ledoux ging davon aus, daß die Arbeiter (deren Arbeitstag lang und beschwerlich war, denn das Feuer unter den riesigen Siedekesseln durfte nicht ausgehen) »gemeinschaftlich« am Küchenherd ausruhen würden, »bewahrt vor kostspieligen Ablenkungen und bacchantischen Orgien, die den Ehestand gefährden und die Müßiggänger ruinieren«. […]

Projekt: Haus für den Direktor des Wasserwerks
Als Ledoux die Saline von Arc-et-Senans entwarf, glaubte er daran, daß seine Mitbürger unter der Führung einer strahlenden Autorität in Frieden und Weisheit leben konnten. Die Wirklichkeit und die Politik versuchten ihn eines Besseren zu belehren. Wegen seiner Beziehungen zur Aristokratie wurde er 1790 ins Gefängnis geworfen. In einer Zelle der Bastille, wo er Tag für Tag auf die Enthauptung wartete (einmal wurde sein Name aufgerufen, doch dann war es ein anderer Ledoux, den die Guillotine ereilte), schrieb er an seiner apologia pro vita sua, einer monumentalen Abhandlung mit dem Titel Die Architektur und ihre Beziehung zu Kunst, gesellschaftlichen Sitten und Recht, in der er seine Auffassungen über die Pflichten eines Architekten niederlegte. Die Revolution hatte vor allem seinen Glauben an die überragende Rolle der Architektur gestärkt. Dem Laster sollte kein Raum gegeben werden. Er wollte nicht nur eine Arbeitswelt, sondern eine Lebenswelt entwerfen, in der die Wände mit moralischen Belehrungen geschmückt waren, ein rundes Jerusalem für das Zeitalter der Vernunft. In der Gefängniszelle versuchte er, seiner Idealstadt eine materielle Existenz zu verleihen, und gab ihr den Namen Chaux (nach dem Wald, in dessen Nähe die Saline gelegen war). Daß diese Stadt in einer unerreichbaren Zukunft lag, nahm sich in seinem Plan nur wie ein winziger Rechenfehler aus.

Projekt: Oikema, der Ort des Verweilens
Monatelang zeichnete er fieberhaft an den Bauplänen. Die Stiftung, die seinen Namen trägt und in den siebziger Jahren die verfallene Saline rettete, stellt in einem der Gebäude seine phantastischen Entwürfe aus - ein Muß für jeden, der sich für die kreativen Potenzen Utopias interessiert.


Der Halbkreis der Saline sollte durch sein eigenes Spiegelbild vollendet werden, und die Entwurf gebliebenen Bauwerke hätten das Ensemble zum Gesamtgefüge einer Idealgesellschaft ergänzt. Die Arbeit und ihre seelenläuternde Funktion blieben mit dem Direktorenhaus im Zentrum der Anlage, aber auf der unbebauten Fläche sollten sich die architektonischen Formen einer Welt erheben, die von Gerechtigkeit und Vernunft regiert wurde.

Getreu dem Geiste des Klassizismus bediente sich Ledoux geometrischer Grundformen, die die Natur nur in kristalliner Form präsentieren kann: Würfel, Zylinder und Pyramide. So entstand auf dem Papier die Kanonengießerei (denn der Krieg findet auch in seiner Idealwelt einen Platz) als ein Gebäudekreuz in einem Quadrat, dessen vier Ecken von wuchtigen Pyramiden wie von vier symmetrischen Vulkanen gekrönt wurden; oder das Vergnügungszentrum, das Ledoux schlicht als »Ort des Verweilens«, oikema, bezeichnete - eine Ballung von Quadern und Zylindern, in der die Arbeiter Musik hören oder Bilder betrachten konnten; dann das Haus des Friedens oder pacifière, in dem Streitigkeiten durch vernünftige Diskussion beigelegt werden sollten; ein Haus für den Direktor des Wasserwerks, das von einem gebändigten Fluß durchströmt wurde; ein Friedhof in Gestalt einer gewaltigen, halb versenkten Kugel, die, weithin sichtbar, die Bewohner der Idealstadt daran erinnern sollte, daß auch ihre Tage gezählt waren.

Projekt: Pacifiére, oder Haus des Friedens
In seinen Ausführungen über die »architecture parlante« (sprechende Architektur) bemerkte der französische Philosoph Jean Starobinski, daß die geometrischen Grundformen in der Baukunst nicht nur funktional eingesetzt werden, sondern auch eine inhaltliche Bedeutung erlangen. »Die Form dient der Funktion, umgekehrt spiegelt sich die Funktion in der Form wider, um sich bemerkbar zu machen: Der Begriff der Funktion wird um einen Symbolismus der Funktion bereichert ... Indem es sich präsentiert, proklamiert ein Gebäude seinen Zweck und zugleich seine symbolische Bedeutung.« Und insbesondere die Architekten der Revolution, fügt Starobinski hinzu, hätten nicht geduldet, daß der Verwendungszweck eines Gebäudes verborgen und unartikuliert blieb: Es ist ein Bauwerk, das alle Bürger angeht, und daher muß sein Zweck von Anfang an in die Überlegungen des Architekten einbezogen werden.

Aber die Wirklichkeit nimmt wenig Rücksicht auf die hochfliegenden Ideen der Architekten. Schon 1782, drei Jahre nach Fertigstellung der Saline, beklagte sich der Betreiber über ihre geringe Produktivität. Es gab zwar genügend Feuerholz (die Nähe des Waldes von Chaux war ausschlaggebend für die Standortwahl gewesen), aber die Sole mußte über eine 21 Kilometer lange Holzrinne, die dem Lauf der Flüsse Furieuse und la Loue folgte, aus Salins zugeleitet werden, und das Holz erwies sich als so undicht, daß die 135000 Liter, die täglich in Salins gefördert wurden, mit 30 Prozent Verlust in Arc-et-Senans eintrafen. Im 19. Jahrhundert setzte sich die Kohle als Brennstoff durch, und in der Franche-Comté entstanden leistungsfähigere Salinen. 1895 wurde die Saline von Arc-et-Senans geschlossen. […]


Claude-Nicolas Ledoux starb 1806, nur ein paar Jahre nach seiner Entlassung aus der Bastille. Sein monumentales Werk über die Architektur war zwei Jahre zuvor erschienen, aber keins seiner in der Haft entstandenen Bauprojekte wurde je verwirklicht. Für viele Zeitgenossen verkörperte er das verhaßte ancien régime, für andere waren seine Zukunftsentwürfe gar zu gewagt. Wenige seiner Bauten haben sich erhalten: Außer der Saline von Arc-et-Senans gibt es noch vier von über vierzig eleganten Mauthäusern für die fermiers généraux, zwei von fünfzehn Pariser Villen, ein château bei Caen, zwei Landschlösser (in Eaubonne und in Louveciennes) und die großartige Fassade der Stallungen der Madame Dubarry in Versailles.

Alles andere ist zu Staub geworden.




CD Info & Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 38 MB
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files


Theodor W. Adorno: Der Philosoph vor dem Mikrophon

$
0
0
»Gesetzt, der Geist hätte nach Auschwitz in Deutschland noch eine Geschichte, so müßte der Tod von Theodor W. Adorno wirken, als ob plötzlich die Uhr still stünde. Er hat den Bann durchbrochen, der in einer zur Reproduktion ihrer eigenen Unwahrheit verdammten Gesellschaft die Freiheit des Geistes gefesselt hält. Er hat das Wahnsystem, das sich als Realität ausgibt, beim Namen genannt, und sich nicht abbringen lassen von dem ›machtlosen Versuch des Gedankens, seiner selbst mächtig zu bleiben‹. Die Erkenntnis eben dieser Machtlosigkeit bricht der Entdeckung einer neuen Form der Autonomie des Denkens ihre Bahn. Durch das Entsetzen vor dem Trug der Affirmation legitimiert sich hier Philosophie zu einer höheren Stufe jener Kritik, in der nach seiner Interpretation die Geschichte des europäischen Denkens ihre Wahrheit hat.«

Diese Sätze aus einem Nachruf, den der Religionsphilosoph Georg Picht Adorno widmete, beschreiben nicht schlecht die Funktion, die dem Verfasser der »Minima Moralia« und der »Negativen Dialektik« im vom Faschismus befreiten Deutschland zugefallen war. 1949 waren Adorno und sein Freund Max Horkheimer, die in der amerikanischen Emigration mit der »Dialektik der Aufklärung« gemeinsam das Schlüsselwerk der Epoche geschrieben hatten, in das innerlich wie äußerlich zerstörte Deutschland zurückgekehrt. Bald, wohl schon in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, wurde Adorno in einer Umfrage von der Mehrzahl der Befragten – das waren die Stipendiaten der Studienstiftung des deutschen Volkes, mithin eine Art Elite – als der für sie wichtigste Theoretiker genannt. Diese Funktion, die oft der eines Praeceptor Germaniae glich, hat Adorno, der sie nicht gesucht hatte, dann gegen zahlreiche, mit den Jahren eher noch anwachsende Anfeindungen tapfer auszufüllen versucht.

Geriet er dabei zunächst mehr und mehr in Gegensatz zu jenem offiziellen Deutschland, das unter Adenauer und seinen Nachfolgern eine Politik der Wiederbewaffung und Notstandsgesetzgebung verfolgte, so wurden Adornos letzte Jahre verdunkelt durch Konflikte mit der studentischen Protestbewegung, die ein anderes Deutschland darstellte, zu dessen Entstehung Adorno nicht wenig beigetragen hatte und dessen Protagonisten häufig seine besten Schüler gewesen waren. Als er 1969, unerwartet und kaum 65jährig, starb, blieb freilich keine Uhr stehen, eher konnte man ein Aufatmen beobachten, mit dem eine unirritierbare Öffentlichkeit Abschied von dem wahrscheinlich bedeutendsten Philosophen nahm, der nach Nietzsche auf Deutsch geschrieben hat.

Für den zurückgekehrten Adorno war es nach dem, was in Auschwitz und den anderen Vernichtungslagern geschehen ist, alles andere als selbstverständlich gewesen, daß weiterhin Philosophie so betrieben werden konnte, als ob nichts sich geändert hätte. In der in den vierziger Jahren geschriebenen»Dialektik der Aufklärung« haben Adorno und Horkheimer sich »nicht weniger als die Erkenntnis vorgesetzt, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt«.

Diese Frage hat Adorno wie Horkheimer bis zu ihrem Tod nicht mehr ruhen lassen; sie ist zum Zentrum ihres Denkens geworden, neben dem die traditionellen Probleme der Philosophen irrelevant erschienen. Auschwitz bedeutete ihnen den Zusammenbruch der bisherigen, mühsam genug errungenen Zivilisation. Am Ende der »Negativen Dialektik« hat Adorno die Frage aufgeworfen, »ob nach Auschwitz noch sich leben lasse«; es war für ihn keine rhetorische Frage sondern die allerernsteste. Philosophie, die mit Hegel»ihre Zeit, in Gedanken erfaßt,« ist, versagt kläglich bei der Anstrengung, den stattgefundenen Zivilisationsbruch zu begreifen, geschweige daß sie noch irgendeinen ›Sinn‹ ihm zu verleihen vermöchte. Auf weiten Strecken versucht sie es denn auch gar nicht mehr, bescheidet sich entweder mit unverbindlichen Erwägungen übers Sein des Seienden oder mit der Analyse der sprachlichen Voraussetzungen von Denken an sich und überhaupt. Neuerdings finden sich auch immer häufiger Philosophen, die mit der Abschaffung ihrer selbst beschäftigt scheinen.

Adorno hat keines dieser Spiele mitgespielt, sondern in seinem Denken unbeirrt die reale Geschichte und ihre Erosionen reflektiert. Die Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ergänzte Adorno im Blick auf die eigene Person dahin, »ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen. Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre.« Die Unmöglichkeit einer verbindlichen Antwort war der Philosophie Adornos eins mit der Unmöglichkeit von Philosophie nach Auschwitz.

Dennoch hat er nicht aufgehört zu philosophieren; nachdrücklich bestand er auf der Notwendigkeit der Philosophie, über deren Gleichgültigkeit für den Weltlauf er sich doch nichts vormachte. In den zwei Jahrzehnten nach 1949, als Adornos Philosophie eine unvergleichliche Wirkung im nachfaschistischen Deutschland geübt und das kulturelle Leben maßgeblich mitbestimmt hat, tat sie das wesentlich durch ihre Intention des Eingedenkens, in der sie mit jenen moderen Kunstwerken übereinkam, die, wie Picassos »Guernica« und Schönbergs »Überlebender von Warschau«, ihrer geschichtsphilosophischen Unmöglichkeit abgezwungen waren. Die Stelle der Adornoschen Philosophie des Eingedenkens ans Jüngstvergangene hat unterdessen ein wiedererwachtes Interesse an den Ursprüngen im Chthonischen, die Ideologie einer wieder einmal ›neuen‹ Mythologie besetzt, wie es gleichermaßen in der Konjunktur des mißverstandenen Nietzsche und in der lange undenkbar gewesenen Renaissance des Heideggerschen Denkens zum Ausdruck kommt.

Dieser Einkehr der Philosophie bei den Vorsokratikern korrespondiert ein Rückzug aus der realen Geschichte, der Erinnerung ausblendet und Erfahrung durchstreicht: Ratifikation von Tendenzen, denen die Gesellschaft von sich aus folgt. Aber nicht das Ende der Geschichte ist herangekommen, wie die Vertreter der Postmoderne glauben machen wollen, sondern der Ausfall jedes historischen Bewußtseins absehbar; er bringt die Philosophie nicht um das beste, nur um alles. Von Adorno ließe sich demgegenüber gerade heute lernen, daß ohne Erinnerung, die Kantische »Reproduktion in der Einbildung«, keine Erkenntnis, die lohnt, gelingen kann; daß Erinnerung jedoch, einer Theorie zuwider, die seit Platon die herrschende war und der auch Kant noch folgte, keine zeitlos gültige, nicht die transzendentale Synthesis ist, sondern jenen ›Zeitkern‹ besitzt, von dem zuerst Walter Benjamin gesprochen hat.

Dieser Zeitkern ist für die Philosophie in der Ära nach Auschwitz in den Schreien der Opfer enthalten, seither ist, wie Adorno formuliert hat, »das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, Bedingung aller Wahrheit«. Wenn heute auch Philosophie gleichwohl möglich ist, dann jedenfalls – so lehrt die Adornosche – nur eine solche, die in jedem ihrer Sätze das Leiden der Menschen in den Vernichtungslagern gegenwärtig hält; die nicht länger wie der »Phaidros« des Platon im Schatten der hoch gewachsenen Platane am Ilissos, sondern im »Schatten / des Wundenmals in der Luft« gedacht wird, von dem ein Gedicht Paul Celans spricht.

TRACKLIST

Theodor W. Adorno
Aufarbeitung der Vergangenheit
Reden und Gespräche
Auswahl und Begleittext: Rolf Tiedemann

CD 1:

(01)-(12) Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?, 1960,
ca. 60 Minuten

CD 2:

(01)-(11) Bemerkungen zu Hegel, 1956,
ca. 52 Minuten

(12)-(16) Der Jargon der Eigentlichkeit, 1963,
ca. 22 Minuten (1. Teil)

CD 3:

(01)-(08) Der Jargon der Eigentlichkeit, 1963,
ca. 35 Minuten (Fortsetzung)

(09)-(16) Das Altern der Neuen Musik, 1955,
ca. 39 Minuten (1. Teil)

CD 4:

(01)-(04) Das Altern der Neuen Musik, 1955;
ca. 21 Minuten (Fortsetzung)

(05)-(15) Zur Grundfrage der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur, 1968,
ca. 55 Minuten

CD 5:

(01)-(10) Erziehung zur Mündigkeit, Gespräch mit Hellmut Becker, 1969,
ca. 46 Minuten


STEREO, Laufzeit ca. 330 Minuten
Produktion: Hessischer Rundfunk 1955, 1956, 1960, 1963, 1968, 1969
Foto: Adorno-Archiv

© + (P) 1999
ISBN 3-89584-730-5
*
Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?

Nach der Rückkehr nach Deutschland war Adorno sich durchaus nicht zu vornehm, seine theoretischen Einsichten in praktische Anwendungen zu überführen; konkret der Politik und Pädagogik bei der Bekämpfung des Faschismus und der Ausbildung demokratischen Bewußtseins zuzuarbeiten. Den Vortrag»Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?« hielt er zum erstenmal auf einer vom Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit veranstalteten Erzieherkonferenz am 6.11.1959 in Wiesbaden, also vor genau 40 Jahren [1999]; die Ausführungen Adornos haben unterdessen an Aktualität nicht eingebüßt. Adorno nahm mit diesem Vortrag die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit vorweg, die in der Gesellschaft der Bundesrepublik selber erst zehn Jahre später, von den linken Studenten erzwungen, begonnen hat und bis heute fortdauert. – Die Erstsendung im Schulfunkprogramm des Hessischen Rundfunks erfolgte am 7.2.1960.

Bemerkungen zu Hegel

Zum 125. Todestag Hegels, des für Adorno wichtigsten Philosophen der Tradition, hielt Adorno am 14.11.1956 die Gedenkrede in der Berliner Freien Universität: »Die Vorarbeiten waren zu umfangreich, als daß sie in jener Rede hätten bewältigt werden können«; so sah Adorno »sich genötigt, für den Berliner Anlaß einen – freilich zentralen – Komplex auszuwählen und andere Motive in einem Vortrag zu behandeln, der vom Hessischen Rundfunk übertragen wurde.« Beide Vorträge wurden dann zu der Abhandlung »Aspekte der Hegelschen Philosophie« vereint und später mit zwei weiteren Aufsätzen als Buch mit dem Titel »Drei Studien zu Hegel« gedruckt; Adornos Absicht mit den Hegel-Studien war »die Vorbereitung eines veränderten Begriffs von Dialektik«, will sagen: des mit der »Negativen Dialektik« realisierten. – Der vom Hessischen Rundfunk am 14.11.1956 gesendete Vortrag vertritt, zusammen mit dem folgenden, in der vorliegenden Auswahl den eher fachphilosophischen Arbeitsbereich Adornos.

Der Jargon der Eigentlichkeit



Als »Jargon der Eigentlichkeit« kritisierte Adorno die Sprache der in Deutschland und nicht nur hier einflußreichen Existenzphilosophie, als deren konsequenten Widerpart er das eigene Denken verstand. »Hat sich in den ambitiösen Entwürfen deutscher Philosophie aus der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre niedergeschlagen und artikuliert, wohin es damals jenen objektiven Geist zog, der blieb, was er war, und darum heute noch den Jargon redet, so ist erst an der Kritik jener Entwürfe die Unwahrheit objektiv zu bestimmen, die aus der Vorlogenheit des Vulgärjargons widerhallt. Seine Physiognomik führt auf das an Heidegger sich Entbergende. Nichts Neues, daß das Hohe als Deckbild eines Niedrigen verwandt wird: um potentielle Opfer bei der Stange zu halten.« Adorno gab dem Buch, zu dem er den Vortrag – der am 9.4.1963 vom Abendstudio des Hessischen Rundfunks gesendet wurde – erweiterte, den Untertitel »Zur deutschen Ideologie«; er hat gelegentlich nicht ohne Genugtuung davon gesprochen, daß er durch seine Ideologiekritik doch manchen davon abgehalten habe, weiter guten Gewisens den Jargon nachzureden, der da von Auftrag, Anliegen und Begegnung, von echtem Gespräch und existentieller Entscheidung wiederhallt, »edel und anheimelnd in eins, Untersprache als Obersprache.«

Das Altern der Neuen Musik



 Für Adornos zahlreiche Arbeiten zur Ästhetik und Kunstsoziologie muß in der vorliegenden Auswahl der Vortrag »Das Altern der Neuen Musik« stehen, der seinerzeit viel Aufsehen erregte, sowohl Zustimmung von der falschen Seite wie den energischen Widerspruch der betroffenen jungen Komponisten erfahren hat. Adorno hielt den Vortrag zuerst 1954 in Stuttgart; dieser sorgte sogleich in den Kreisen der damals jüngsten Musik für beträchtlichen Skandal. Hier wurden Beobachtungen reflektiert, die Adorno an Kompositionen der seriellen Schule aufgegangen waren, welche er vor allem in Darmstadt, bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik, kennengelernt hatte. Zu denken ist dabei etwa an Berio und an den ganz frühen Stockhausen, vor allem an Karel Goeyvaerts, auch an Gottfried Michael Koenig, weniger an Boulez. 1955 dann hielt Adorno in Darmstadt unter dem Titel »Der junge Schönberg« drei Vorlesungen, die auf weite Strecken jene Kritik fortsetzten, die er in dem Stuttgarter Vortrag artikuliert hatte. Die Grunderfahrungen, die die neue Musik in ihrer heroischen Phase bestimmt hatten, waren bereits vom jungen, noch tonalen Schönberg gemacht worden; genau diese Grunderfahrungen, etwa das Urphänomen der Angst in der »Erwartung« oder im »Wozzeck«, schienen Adorno von der neuen Musik in ihrer gegenwärtigen Phase, die insbesondere mit der Zwölftontechnik wie mit einem fertigen Rezept operierte, vergessen worden zu sein. Da Adornos Versuch, seinen Stuttgarter Vortrag in Darmstadt diskutieren zu lassen, an mangelnder Zeit gescheitert war, benutzte er seine Vorlesungen über den jungen Schönberg, um diese Diskussion dennoch zu beginnen.

1958, im vierten Heft der »Reihe«, dem quasi offiziellen Organ der seriellen Schule, erschien eine Polemik, die Heinz-Klaus Metzger mit dem gegen Adornos musikphilosophisches chef-d´Œuvre gerichteten Titel »Das Altern der Philosophie der Neuen Musik« geschrieben hat und in der jene Musik, an der Adorno Symptome des Alterns diagnostiziert hatte, in Schutz genommen wurde. Ursprünglich verfolgte Adorno den Plan, bei Gelegenheit seiner Darmstädter Vorlesung »eingehend, und möglichst mit Analysen, Metzgers Arbeit zu besprechen«. Dazu ist es zwar nicht gekommen – unter anderem deshalb nicht, weil die Kompositionen, auf die Metzger sich stützte, kaum zugänglich und zum Teil nur erst fragmentarisch vorhanden waren. Adorno und sein, in musicis ohne jede Frage begabtester Schüler Metzger trugen ihre Kontroverse schließlich außerhalb Darmstadts aus, in einer Diskussion im Westdeutschen Rundfunk und in weiteren Aufsätzen Metzgers, der am Ende freilich einräumen mußte, daß jene Komponisten, die er zunächst verteidigt hatte, sich beeilt hätten, »die Partituren nachzuliefern, an denen Adornos Kritik sich gewährt«. – Die vorliegende Aufnahme seines Vortrags wurde am 15.2.1955 vom Hessischen Rundfunk übertragen.

Zur Grundfrage der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur



Am 8.4.1968 hielt Adorno als scheidender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie auf dem 16. Deutschen Soziologentag in Frankfurt am Main den Einleitungsvortrag; der Vortrag wie der Soziologentag insgesamt hatten die Frage »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?« zum Thema gemacht. Mit diesem, im Vorjahr seines Todes gehaltenen Vortrag, in dem wie kaum irgendwo sonst Adornos Theorie der Gesellschaft zusammengefaßt ist, wies er provozierend über die Soziologie als wissenschaftliche Einzeldisziplin hinaus; er stellte das enge und gespannte Verhältnis der Soziologie zur Politik ausdrücklich in den Vordergrund, an welches denn auch immer wieder die Diskussionsbeiträge auf dem Soziologentag, insbesondere die studentischen, sich ankristallisierten. Nach Adornos Theorie wären die entwickelten westlichen Gesellschaften nicht als Industriegesellschaften oder als Spätkapitalismus zu verstehen: sie seien beides ineinander und durcheinander.

Adornos Vortrag blieb weit davon entfernt, die Fragestellung des Soziologentages nach dem Schema des Entweder-Oder entscheiden zu wollen. Die von ihm verfochtene kritisch-dialektische Theorie überzieht die zu beobachtenden Fakten nicht mit bloßem Ordnungsschemata, sie systematisiert sie nicht nur, sondern sie versucht sie abzuleiten aus gesellschaftlichen Strukturgesetzen, die zwar nicht wie soziale Einzeldaten dingfest zu machen sind, die aber dennoch an Objektivität hinter diesen nicht zurückstehen. Adornos Vortrag ist ein Modell seines Denkens überhaupt; sowohl in sachlich-inhaltlicher Hinsicht wie auch in erkenntnistheoretischer ließe sich an ihm zeigen, was Adorno unter Kritischer Theorie verstanden hat. – Von dem Vortrag stellte Adorno eine von ihm selber so genannte »Rundfunkfassung« her, die auch hektographiert verbreitet worden ist. Sie stellt – ein wahrscheinlich einziger Fall in der literarischen Produktion Adornos – eine Version dar, in der der Autor durch sprachliche Vereinfachungen, selbst durch die Verdeutschung von Fremdwörtern dem Publikum des Rundfunks entgegenzukommen versuchte. Unsere Aufnahme wurde am 4.6.1968 vom Abendstudio des Hessischen Rundfunks übertragen.

»Erziehung zur Mündigkeit« - Gespräch mit Hellmut Becker



Einen nicht kleinen Teil von Adornos Arbeiten für den Rundfunk machten die Gespräche und Diskussionen aus, die er mit anderen geführt hat: unter seinen Gesprächspartnern und –kontrahenten waren Eugen Kogon und Carl Linfert, Karl Kerényi und Elias Canetti, Ernst Bloch und Arnold Gehlen. In diesen mehr oder minder improvisierten Diskussionen, der unvergleichlicher Meister Adorno gewesen ist, erwies er sich als ein bedeutender Pädagoge. Zwar war er »sich dessen bewußt, daß in seiner Art von Wirksamkeit gesprochenes und geschriebenes Wort noch weiter auseinandertreten als heute wohl durchweg. Spräche er so, wie er um der Verbindlichkeit der sachlichen Darstellung willen schreiben muß, er bliebe unverständlich.« Nicht zuletzt politische Motive, die Verantwortung des Bürgers für seine Gesellschaft, ließen ihn dennoch das Verstandenwerden durch den Hörer suchen. Wie Kant hat auch Adorno einen Primat der praktischen Vernunft gekannt, dem er einmal sogar die Fassung eines kategorischen Imperativs zu geben wußte: »Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschähe.«


Im Grunde war es diese Überlegung der »Negativen Dialektik«, die Adorno immer wieder vor das Mikrophon des Radios geführt hat; ganz bestimmt gilt das für Adornos Gespräche mit dem ihm befreundeten Bildungsforscher Hellmut Becker, die für eine Sendereihe des Hessischen Rundfunks mit dem Titel »Bildungsfragen der Gegenwart« entstanden. – Das Gespräch über Erziehung zur Mündigkeit wurde am 16. Juli 1969 in Frankfurt aufgenommen; es war Adornos letzte Arbeit überhaupt. Zwei Tage nach der Aufnahme schrieb er in einem Brief: »Ich geriet bei dem Gespräch mit Hellmut Becker in eine Art aggressiver Euphorie. Ich glaube, ich habe noch nie mit solcher Schärfe öffentlich gesprochen, und er mußte nolens volens dabei mittraben.« Gesendet worden ist das Gespräch zuerst am 13.8.1969, eine Woche nach Adornos Tod.

Als Max Horkheimer, von dem Adorno wiederholt gesagt hat, daß ihrer beider Philosophien identisch seien, am Grab des acht Jahre jüngeren Freundes stand, sagte er: »Adornos Werk wird leben, solange es Menschen gibt, deren Denken nicht einzig um exakte Kenntnis, sondern darüber hinaus um Wahrheit bemüht ist, Wahrheit in dem Sinn, die Kenntnisse so auszudrücken, daß ihre Formulierung zum rechten Urteil über das schlechte Bestehende führt. Die Werke Adornos, deren Tiefe und historische Aktualität seiner kaum zu fassenden unermüdlichen Hingabe, seiner einzigartigen schriftstellerischen Kraft entsprangen, zeugen für die kritische Theorie, mag sie wie andere bedeutsame Lehren noch so entstellt und mißbraucht werden.«

Aber wie die Hoffnung auf eine veränderte Gesellschaft in den siebziger Jahren sich zunehmend als trügerisch erweisen sollte, so scheint die Philosophie Adornos unterdessen einer Furie des Verschwindens anheimgefallen. Zum letzten Mal Philosophie: mit der Kafka nachgebildeten Formulierung könnte die Adornosche einmal in der Geschichte der Philosophie charakterisiert werden. Adorno wäre es wohl recht gewesen, hat er doch früh darauf bestanden, daß »nicht die Erste Philosophie an der Zeit ist sondern eine letzte.« Und ein solcher Augenblick mag am Ende einer erneuten Lektüre der Schriften Adornos nicht nur ungünstig sein.

Quelle: Rolf Tiedemann, im Booklet


Rezension der CD Box bei Perlentaucher

Eine weitere Rezension bei kultur-online

Bestellung der CD Box bei Amazon

Dem Infoset liegen Texte der Vorträge »Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?« und »Der Jargon der Eigentlichkeit« bei, sowie der Artikel von Jürgen Vogt »Empirische Forschung in der Musikpädagogik ohne Positivismusstreit? Zum 100. Geburtstag Theodor W. Adornos«.

CD Info & Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 119 MB
Filepost: Teil_1 -- Teil_2
Hotfile: Teil_1 -- Teil_2
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files



Charles Ives: Klaviersonate Nr. 2 »Concord«

$
0
0
Um 1910 beschloss Charles Ives, eine Reihe von Instrumentalwerken zu schreiben, in denen »Männer der Literatur« gefeiert werden sollten. Sie porträtieren seine favorisierten Dichter aus New England. Ives begann mit der Emerson Ouvertüre für Klavier und Orchester, dem Hawthorne Klavierkonzert und der Alcott Ouvertüre. Er verwarf schon bald diese Werke, überarbeitete jedoch das musikalische Material zu einer Klaviersonate in drei Sätzen mit den Titeln Emerson, Hawthorne und The Alcotts und fügte einen neu komponierten vierten Satz, Thoreau, hinzu. 1920-21 wurde dieses Werk als Klaviersonate Nr. 2 »Concord, Mass., 1840-1860« auf Ives eigene Kosten gedruckt und zusammen mit einem schmalen Buch Essays before a Sonata (Essays zu einer Sonate) veröffentlicht.

Ives beschrieb die Concord-Sonate bei einer Gelegenheit als »impressionistische Gemälde von Emerson und Thoreau, als eine Skizze von den Alcotts und ein Scherzo, das einen leichteren Zug wiedergeben soll, der oft im phantastischen Hawthorne auftritt«. Für Ives war es jedoch ein besonderes Stück, wie Howard Boatwright, der Herausgeber des Essays von Ives, betont:

»Für einige Komponisten kann ein Werk … zu einem Kanal werden, durch den die Ströme der philosophischen Konzepte, der musicalischen Techniken und der Stile in einzigartiger Einigkeit fließen. Für Charles Ives war die Concord-Sonate so ein Werk. … Es repräsentiert Ives Errungenschaften in Bezug auf den Reichtum der Harmonie und die Freiheit des Rhythmus, und es trägt unmissverständlich den Stempel … der höchst individuellen Persönlichkeit des Komponisten.«

George Edward Ives (1845-1894), Vater von
Charles Ives und selbst ein innovativer Militärmusiker
Emerson, der erste Satz der Concord-Sonate ist ein musikalisches Porträt von außergewöhnlicher Kraft und Intensität. Er scheint erfüllt von Kämpfen und Gegensätzen, und Ives schrieb, dass er eher vom Kampf der Seele (Emersons) handele, als vom Frieden des Geistes, den er sogar in diesen Kämpfen behielte. Das Scherzo Hawthorne huscht flüchtig vorüber, bis auf eine leise, langsame Passage, die von riesigen Noten-Clustern ausgemalt wird. Diese Cluster vibrieren in den höchsten Registern und werden mit einem schweren Holzbrett angeschlagen, das mit Flanell bespannt ist. Darüber hinaus erklingen einige Passagen, in denen die choralartige Melodie Martyn (1834) in flüchtiger Harmonie erscheint. Der dritte langsame Satz der Sonate, TheAlcotts, ist ein leicht undeutliches photografisches Porträt. Es beschwört eine Variante von Martyn herauf, die an das Eröffnungsmotiv von Beethovens Fünfter Sinfonie erinnert. Dieses Motiv taucht häufiger in der Sonate auf, am häufigsten jedoch auf dem Höhepunkt von The Alcotts. Thoreau, der letzte Satz, ist seinem Wesen nach irreführend ruhig, nach dem Höhepunkt entwickelt sich eine ausgedehnte Lösung und der Satz schließt mit der vollständigen Melodie eines Liedes, das seit dem Beginn der Sonate angedeutet wurde: »einer menschlichen Glaubens-Melodie«, wie Ives schreibt, »transzendent und gefühlvoll genug für den Enthusiasten oder den Zyniker«.

Die Reduktion der Orchestermusik-Stücke, die für die Concord-Sonate Pate gestanden haben, für die zwei Hände eines Pianisten verlangte von Ives, die musikalische Struktur zu vereinfachen. Doch kaum war die Sonate gedruckt, stellte Ives neue Überlegungen zu diesen Vereinfachungen an, und er begann, das musikalische Material, das er aus der Orchesterpartitur eliminiert hatte, für Klavier zu arrangieren. Diese »Flickschusterei« führte in den späten 1940er Jahren schließlich zu einer zweiten, stark überarbeiteten Fassung der Concord-Sonate. (Diese Fassung erklingt im wesentlichen auf dieser CD.)

Das Büro von Ives & Myrick Insurance Agency,
 an der Ecke Nassau und Liberty Streets, New York City.
Darüber hinaus waren in den 1920er Jahren aus Ives Flickschusterei zwei weitere mit einander korrespondierende, jedoch unabhängige Stücke entstanden. Das eine waren die Four Transkriptions from »Emerson«, Überarbeitungen des ersten Satzes (Emerson) der Sonate. Auf dieser CD ist die erste dieser Transkriptionen zu hören: eine umfangreiche improvisatorische Überarbeitung der ersten paar Seiten der gedruckten Sonate, ergänzt mit Passagen, die auf der ursprünglichen Instrumentation der Emerson Ouvertüre beruhen.

Das andere Stück war eine groß angelegte Transkription des Hawthorne-Satzes aus der Sonate. Ives hat diese neue Fassung instrumentiert und zum zweiten Satz seiner Vierten Sinfonie gemacht. Doch obwohl die Bezüge zur Hawthorne-Klaviertranskription noch deutlich erkennbar sind, hat er dem Satz einen neuen Titel gegeben: The Celestial Railroad (Die Himmlische Eisenbahn). Das war der Titel einer Kurzgeschichte von Hawthorne, einer Erzählung, die in der Tat die Form von Ives Musik nachhaltig beeinflusst hat.

Ein Mann fällt in tiefen Schlaf und träumt von einem fantastischen Zug, sein Ziel ist die Himmlische Stadt. Der Mann wird von Mr. Smooth-it-away überredet, ihm zu folgen und den Zug zu besteigen, gerade als dieser seine Reise beginnt. Der Zug rast vorbei an schrecklichen Anblicken und der mit Spannung erfüllten Stadt Vanity Fair, um im Beulah-Land am Fluss Jordan anzukommen. Dort wartet ein Raddampfer, der sie über den Fluss zur Himmlischen Stadt bringen soll. Doch sobald der Mann auf der Fähre ist, bemerkt er, dass Mr. Smooth-it-away zurück geblieben ist und dass die Reise eine irreführende Illusion gewesen ist. Die Schaufelräder setzen sich in Bewegung und schleudern Wasser in das Gesicht des Mannes. Der Schock darüber lässt den Mann erwachen, der Alptraum ist vorbei. Es ist der vierte Juli in Concord (nicht in Hawthornes Gedicht).

Maurice Prendergast (1859-1934): The Park, Salem,
ca. 1910, Wasserfarben über Bleistift auf Papier
Waren die Four Transcriptions from »Emerson« und The Celestial Railroad aus Ives-typischem Herumbasteln an der Concord-Sonate der Jahre 1920/21 hervorgegangen, so ist ein drittes Klavierstück aus der Mitte der 1920er Jahre möglicher Weise von dem Misserfolg inspiriert (oder provoziert) worden, den die Sonate erfuhr, nachdem Ives sie gedruckt und der Öffentlichkeit vorgestellt hatte. Es handelt sich um die Varied Air and Variations, ein Titel, mit dem der Spaßvogel Ives ihnen wohl den Stempel als »Very Darie Variations« aufdrücken wollte. Denn es handelt sich um eine zornige (wenn auch humorvolle) Parodie auf die Situation bei einem Klavierabend, daher der Untertitel »Study … for Ears or Aural and Mental Exercise!!!« (Studie … für Ohren oder Hör- und Geistesübung!!!). Den Kern bilden fünf grundverschiedene Variationen, die auf einer atonalen »air« basieren, einer Melodie ohne Wiederholungen, unbequem phrasiert und hyper-chromatisch und die fast unmöglich gesummt, gesungen, gepfiffen oder sogar wieder erkannt werden kann. (»Die alte Steinmauer um den Obstgarten. Keiner (dieser Steine) ist wie der andere«, skizzierte Ives im Manuskript.) Bis auf eine sind alle Variationen so dissonant, dass sie einen Schlag ins Gesicht bedeuten. Sie wechseln sich ab mit kurzen »Protesten«, die Logen-Schönheiten repräsentieren, Damen (männlichen oder weiblichen Geschlechts), für die, wie es Ives in seinem Essay formulierte, »Schönheit zu oft vermischt ist, mit etwas, das die Ohren in einen Liegestuhl packt.« Über die Ausnahme, die weniger dissonante Variation, schrieb Ives: »Also gut, Ladies, ich werde die (air) noch einmal spielen, und sie mit netten und richtigen Harmonien versehen«. Und die Musik erscheint diesmal nicht als Protest, sondern eher als »Applaus (non-Protest)« mit einfachen, konsonanten C-Dur-Akkorden, die nicht nur laut gespielt werden, (f oder ff - forte oder fortissimo), sondern ffffffffffff! Der Pianist, sagt Ives, »verliert die Geduld mit (den Damen), beginnt (dissonante) Sachen nach ihnen zu werfen, und das Stück endet, wie es begonnen hat, mit einem Protest«.

In dieser Aufnahme mit Klaviermusik von Ives hören wir ihn also als seiner Zeit weit voraus eilenden Komponisten von meisterhaften und bedeutenden Kompositionen, als Flickschuster und Wiederverwerter seiner eigenen Musik und als übermütigen Humoristen.

Quelle: H. Wiley Hitchcock, im Booklet (Deutsche Fassung: Peter Noelke)


TRACKLIST

Charles IVES (1874-1954)

Sonata No. 2 for Piano, 'Concord, Mass.: 1840-60' 50:39
(1) 'Emerson' 18:32
(2) 'Hawthorne' 12:17
(3) 'The Alcotts' 6:29
(4) 'Thoreau' 13:22

(5) Varied Air and Variations 7:35

(6) The Celestial Railroad 9:25

(7) Four Transcriptions from 'Emerson', No. 1 4:56

Playing Time: 72:35


Steven Mayer, Piano

Recorded at the Toronto Centre for the Arts, Toronto, Canada,
on 30th and 31st January, 2002.
Producers: Bonnie Silver and Norbert Kraft
Engineer and Editor: Norbert Kraft
Cover Painting: The Park, Salem, (1913-15) by Maurice Prendergast (1858/9-1924)
American flag, folk artist. 1880s.
(P) & (C) 2004



Stanisław Lem hat einen weltweiten Ruf als Verfasser intelligenter Science-fiction-Erzählungen und -Romane. Die vollkommene Leere zeigt eine neue Seite seines vielseitigen Talents. Diese Sammlung von Analysen, von kritischen Besprechungen nicht existierender Bücher ist nicht nur ein witziger Einfall und ein Vergnügen für Denkende, sondern wie gewöhnlich bei Lem eine Warnung vor allzu leichtfertigem Optimismus, vor dem Vertrauen auf Entdeckungen im Bereich literarischer Form, die so oft als genial, wegweisend, einzig und allein nachahmenswert angepriesen werden.


Patrick Hannahan

Gigamesh
(Transworld Publishers - London)

Da ist ein Autor, der Joyce um seinen Ruhm beneidet. Der »Ulysses« hat die Odyssee in einem Dubliner Tag konzentriert, hat den höllischen Palast der Kirke zum Futterstoff der Belle Epoque gemacht, hat die Schlüpferkonfektion der Gerta McDowell zum Strick für den Akquisiteur Bloom zusammengedreht, hat sich in einem Umzug von vierhunderttausend Wörtern über das Viktorianische Zeitalter empört, hat sich in jeder Stilistik ergangen, über die die Feder zwischen dem Bewußtseinsstrom und dem Vernehmungsprotokoll verfügt. War das noch nicht der Kulminationspunkt des Romans und zugleich seine monumentale Beisetzung im Familiengrab der Künste (denn auch die Musik fehlt nicht im »Ulysses«)? Offenbar nicht; offenbar war auch James Joyce dieser Meinung, da er weiter zu gehen beschloß und ein Buch schrieb, das nicht nur die Konzentration in einer Sprache, sondern die allsprachliche Linse sein soll, das Hinabsteigen zu den Fundamenten des Babylonischen Turms. Die Großartigkeit des »Ulysses« und des »Finnegan«, die sich in doppelter Unverschämtheit der Unendlichkeit nähert, soll hier weder bestätigt noch negiert werden. Unsere einsame Rezension kann nichts anderes mehr sein als ein Körnchen, hingeworfen auf den Berg der Huldigungen und Flüche, der sich über diesen beiden Büchern erhebt. Sicher hingegen ist, daß Patrick Hannahan, ein Landsmann Joyce', seinen »Gigamesh« ohne das große Beispiel, das er als Herausforderung ansah, nie geschrieben hätte.

Es könnte so scheinen, als wäre dieser Gedanke von vornherein zum Scheitern verurteilt. Einen zweiten »Ulysses« zu schreiben, lohnt sich ebensowenig wie einen zweiten »Finnegan«. Auf den Gipfeln der Kunst zählen nur die ersten, so wie in der Geschichte des Alpinismus nur die Erstdurchsteigungen unbezwungener Wände.

Hannahan, »Finnegans Wake« gegenüber recht nachsichtig, schätzt den »Ulysses« nicht. »Welch ein Einfall«, sagt er, »das europäische 19. Jahrhundert in der Gestalt Irlands in die Sarkophag-Form der Odyssee zu packen! Homers Original selbst ist von zweifelhaftem Wert. Ein antiker Comic, der Ulysses als Superman besingt und sein Happy-End hat. Ex ungue leonem - an der Wahl des Musters erkennt man das Kaliber des Schriftstellers. Die Odyssee ist doch ein nach dem Geschmack des griechischen Publikums zubereitetes Plagiat des Gilgamesh. Was in dem babylonischen Epos eine mit der Niederlage gekrönte Tragödie ist, haben die Griechen zum malerischen Abenteuer einer Fahrt über das Mittelländische Meer umgekehrt. Navigare necesse est, das Leben als Reise - das sind mir große Lebensweisheiten. Die Odyssee ist der Verfall im Plagiat, weil sie die ganze Größe des Gilgamesh-Kampfes zugrunde richtet.«

Man muß zugeben, daß der »Gilgamesh«, wie die Sumerologie lehrt, tatsächlich Elemente enthält, die Homer benutzt hat, z. B. den Odysseus, die Kirke und den Charon, und daß er wohl die älteste Version einer tragischer Ontologie bildet, weil er zeigt, was Rilke sechsunddreißig Jahrhunderte später das Wachstum genannt hat; es bestehe darin, »der Tiefbesiegte von immer Größerem zu sein«. Das Schicksal des Menschen als Kampf, der unweigerlich in die Niederlage führt, ist ja der letzte Sinn des »Gilgamesh«. Patrick Hannahan beschloß also, vor dem Hintergrund des babylonischen Epos seine epische Leinwand auszuspannen, eine recht eigenartige, wie wir betonen, weil sein »Gigamesh« eine in Zeit und Raum sehr begrenzte Geschichte ist. Der notorische Gangster, bezahlte Mörder und amerikanische Soldat zur Zeit des letzten Krieges, der G. I. J. Maesch (d. h. G. I. Joe, Government Issue Joe, Joe in staatlicher Ausgabe - so nannte man die einfachen Soldaten der U.S.Army), durch die Anzeige eines gewissen N. Kiddy in seiner verbrecherischen Tätigkeit entlarvt, soll auf Grund des Urteils eines Militärgerichts in einer Kleinstadt der Grafschaft Norfolk, wo seine Einheit stationiert war, gehenkt werden. Die gesamte Handlung umfaßt 36 Minuten, die notwendige Zeit, um den Verurteilten aus dem Gefängnis zum Ort der Exekution zu bringen. Das Ganze schließt mit dem Bild des Stricks, der als schwarze Schlinge vor dem Hintergrund des Himmels auf den Nacken des ruhig stehenden Maesch herabfällt. Dieser Maesch also ist Gilgamesh, der halbgöttliche Held des babylonischen Epos; der jedoch, der ihn an den Galgen lieferte, sein alter Kamerad N. Kiddy, ist Gilgameshs engster Freund Enkidu, von den Göttern geschaffen, um den Helden zu verderben. Wenn wir das so abhandeln, wird besonders die Ähnlichkeit der kreativen Methode im »Ulysses« und im »Gigamesh« deutlich. Die Gerechtigkeit gebietet, sich auf die Unterschiede der beiden Werke zu konzentrieren. Die Aufgabe wird dadurch erleichtert, daß Hannahan - ganz anders als Joyce! - sein Buch mit einer »Auslegung« versehen hat, die doppelt so umfangreich ist wie der Roman selbst (genauer, der »Gigamesh« zählt 395, die »Auslegung« 847 Seiten). Wie Hannahans Methode aussieht, erfahren wir gleich im ersten, siebzigseitigen Kapitel der »Auslegung«; es erläutert die Vielfalt der Bezüge, die aus einem einzigen Wort entspringen, aus dem Titel nämlich. »Gigamesh« kommt zunächst selbstverständlich von Gilgamesh, damit enthüllt er sein mythisches Urmuster wie bei Joyce, denn auch dessen »Ulysses« nennt seine klassische Adresse, ehe noch der Leser das erste Wort des Textes kennengelernt hat. Die Weglassung des Buchstabens L im Namen Gigamesh ist kein Zufall; L - das ist Lucipherus, Luzifer, der Fürst der Finsternis, in dem Werk anwesend, obwohl er - als Person - in ihm nicht auftritt. Der Buchstabe (L) also verhält sich zu dem Namen (Gigamesh) wie Luzifer zu den Geschehnissen des Romans: er befindet sich dort, aber unsichtbar. Über den Logos verweist das L auf den Anfang (das Ursächliche Wort der Genesis), über Laokoon auf das Ende (denn Laokoons Ende haben Schlangen verursacht, er wurde erdrosselt, so wie der Held des »Gigamesh« durch Strangulierung erdrosselt werden wird). Das L hat noch 97 weitere Konnexionen, aber wir können sie hier nicht darlegen.  

Weiter - »Gigamesh« ist »a GIGAntic MESS«, der furchtbare Wirrwarr, das Elend, in dem sich der zum Tode verurteilte Held befindet. Zu den Bestandteilen dieses Wortes gehört auch »gig«, eine kleine Schaluppe (Maesch versenkte seine Opfer, nachdem er sie mit Zement überschüttet hatte, in einem Gig; GIGgle, das Kichern der Verdammten, ein Hinweis (Nr. 1) auf das musikalische Leitmotiv der Niederfahrt zur Hölle nach der »Klage Dr. Fausti«; davon werden wir noch gesondert sprechen; GIGA - das ist a) italienisch »giga« = Geige, wieder eine Anspielung auf den musikalischen Hintergrund des Epos; b) GIGA - eine Vorsilbe, die Milliardenkräfte bezeichnet (z.B. im Wort GIGAWATT), hier: Kräfte des Bösen, der technischen Zivilisation. »Geegh« - das altkeltische »weg damit«, »fort«. Vom italienischen »Giga« über das französische »Gigue« kommt man zu »geigen«, der Jargonbezeichnung für die Kopulation im Deutschen. Die weitere ethymologische Auslegung müssen wir aus Platzmangel fortlassen. Eine andere Unterteilung des Namens in Form von Gi-GAME-Sh kündigt andere Aspekte des Werks an: »Game« ist Spiel, aber auch Jagd (auf Menschen, hier auf Maesch). Es gibt noch mehr derartiges. In jungen Jahren war Maesch ein GIG-olo; »Ame« ist die altgermanische Amme, und MESH ist Netz, z.B. das, mit dem Mars seine göttliche Gemahlin und ihren Geliebten einfängt, also Reuse, Falle, Schlinge (Strick), darüber hinaus ein System von Zahnrädern (z. B. »synchroMESH« - Ganggetriebe).

Ein besonderer Absatz beschäftigt sich mit dem rückwärts gelesenen Titel, weil Maesch auf der Fahrt zur Hinrichtung seine Gedanken rückwärts lenkt und nach der Erinnerung an das gräßliche Verbrechen sucht, von dem die Erhängung ihn loskaufen wird. In seinem Sinn findet dann ein Spiel (Game!) um den höchsten Einsatz statt: Wenn er sich einer unendlich scheußlichen Tat erinnert, gleicht er das unendliche Opfer des göttlichen Loskaufs aus, d. h. er wird zum Antiloskäufer. Das metaphysisch; natürlich macht sich Maesch nicht bewußt an eine solche Antitheodizee, aber er sucht - psychologisch - nach einer Entsetzlichkeit, die ihn dem Strick gegenüber ungerührt machen könnte. Der G. I. J. Maesch ist also ein Gilgamesh, der in der Niederlage eine negative Perfektion erlangt. Das ist die vollkommene Symmetrie der Asymmetrie in bezug auf den babylonischen Helden.

Gigamesh lautet rückwärts gelesen Shemagig. »Shema« ist ein althebräisches Wort aus dem Pentateuch (»Shema Israel!« -»Höre, Israel, dein Gott ist der einzige Gott!«). Da wir hier die Umkehrung haben, geht es um den Antigott, d. h. die Personalisierung des Bösen. »Gig« ist jetzt natürlich »Gog« (bei Gog und Magog!). »Shem« ist eigentlich »Shim«, »Sim«, der erste Teil des Namens Simon Stylites, des Säulenheiligen; der Strick hängt von einer Säule herab, Maesch wird also als Gehenkter, zum »Stylites à rebours«, weil er nicht auf der Säule steht, sondern unter der Säule (von der Säule herab) hängt. Das ist ein weiterer Schritt der Asymmetrie. Nachdem er auf diese Weise in seiner Exegese 2912 altsumerische, babylonische, chaldäische, griechische, altkirchenslawische, hottentottische, Bantu-, südkurilische, sephardische, apachische (»Igh« oder »Hugh« rufen bekanntlich üblicherweise die Apachen) Wörter mit ihrem Sanskrit-Hintergrund und mit Verweisungen zum Gaunerslang aufgezählt hat, unterstreicht Hannahan, das sei keine zufällige Rumpelkammer;' sondern eine präzise Windrose, ein tausenddimensionaler Kompaß, der Plan des Werks, seine Kartographie - es gehe nämlich um die Ankündigung aller Beziehungen, die der Roman polyphon verwirklicht.

Um auf jeden Fall weiter zu gehen, als Joyce das getan hat, beschloß Hannahan sein Buch zum Knotenpunkt (der Strick!) nicht nur aller Kulturen und Ethiken, sondern auch aller Sprachen zu machen. Ein solcher Vollzug ist notwendig (allein schon der Buchstabe M in GigaMesh führt uns in die Geschichte der Mayas, zu dem Gott Vitzli-Putzli, zu allen aztekischen Kosmogonien und Irrumationen), aber nicht ausreichend! Das Buch ist nämlich gewebt aus der Ganzheit allen menschlichen Wissens. Und wieder: es geht nicht um das aktuelle Wissen, sondern um die Geschichte der Wissenschaft, mithin um die keilschriftlich-babylonische Arithmetik, um die zu Asche zerfallenen, erloschenen chaldäischen, ägyptischen Weltbilder von der ptolemäischen Ära bis zum Einstein-Zeitalter, um die Matrizen- und Patrizenrechnung, um die Algebra der Tensoren und Gruppen, um die Methoden der Vasenbrennerei in der Ming-Dynastie, um die Maschinen eines Lilienthal, Hieronymous, Leonardo, um Andrées tödliche Ballonfahrt und General Nobiles Luftschiff (daß bei Nobiles Expedition Fälle von Kannibalismus auftraten, hat seinen besonderen, tiefen Sinn für den Roman; er ist nämlich so etwas wie der Ort, an dem eine fatale Last ins Wasser gefallen ist und dessen Spiegel in Bewegung versetzt hat - nichts anderes als Wellenkreise, die sich ständig konzentriert erweitern und »Gigamesh« umgeben, ist das »gesamte All« des menschlichen Daseins auf der Erde seit dem Homo javanensis und dem Paläopithecus). Die Gesamtheit dieser Informationen ruht im Innern des »Gigamesh«, verborgen, aber auffindbar, wie in der wirklichen Welt.

So gelangen wir zu Hannahans kompositorischen Gedanken: Um den großen Landsmann und Vorgänger zu übertreffen, will er in seinem belletristischen Werk nicht nur den sprachlich-kulturellen, sondern darüber hinaus allerkennenden und allinstrumentalen (Pangnosis) Ertrag der Geschichte einschließen.

Die Unmöglichkeit dieses Vorhabens scheint in die Augen zu springen, scheint an die Hirngespinste eines Dummkopfes zu grenzen, denn wie könnte ein einziger Roman, die Geschichte der Erhängung eines Gangsters, der Extrakt, die Matrize, der Schlüssel und die Schatzkammer dessen sein, was die Bibliotheken des Globus sprengt! Da er die kalte, geradezu höhnische Ungläubigkeit des Lesers begreift, beschränkt sich Hannahan nicht auf die Abgabe von Versprechungen, sondern beweist seine Ansichten in der »Auslegung«.

Es ist unmöglich, ihren Inhalt wiederzugeben, deshalb können wir Hannahans kreative Methode nur an einem kleinen, am Rande gelegenen Beispiel kennenlernen. Das erste Kapitel des »Gigamesh« umfaßt acht Seiten, auf denen der Verurteilte in der Latrine des Militärgefängnisses seine Notdurft verrichtet und die Kritzeleien liest, mit denen andere Soldaten vor ihm die Wände dieses Raums gesprenkelt haben. Seine Gedanken streifen nur flüchtig die Inschriften. Ihre extreme Obszönität erweist sich - gerade durch die geringe Aufmerksamkeit, die er ihnen widmet - nur scheinbar als letzter Boden, denn wir gelangen durch sie hindurch direkt in die schmutzigen, heißen, riesigen Eingeweide der menschlichen Gattung, in die Hölle ihrer koprolalen und physiologischen Symbolik, die über das Kamasutra und den chinesischen »Kampf der Blumen« hinabreicht zu den dunklen Höhlen mit den steatopygischen Venusbildern der Urmenschen, weil ihre nackten Geschlechtsteile in den ungeschickt auf die Wände geritzten obszönen Akten hervortreten; zugleich führt die phallische Eindeutigkeit anderer Zeichnungen in den Orient mit seiner rituellen Sakralisierung des Phallos Lingam, wobei der Orient den Ort des ursprünglichen Paradieses als eine kümmerliche Lüge bezeichnet, unfähig, die Wahrheit zu verdecken, daß am Anfang eine klägliche Information stand. So ist es; denn Geschlecht und »Sünde« entstanden dort, wo die Uramöben ihre jungfräuliche Eingeschlechtlichkeit verloren; denn die Äquipollenz und Bipolarität des Geschlechts ist direkt aus Shannons Informationstheorie abzuleiten; und schon zeigt sich, wozu die beiden letzten Buchstaben (SH) im Namen des Epos dienten! Der Weg von der Latrinenwand führt folglich in den Abgrund der natürlichen Evolution, dem das Gewirr der Kulturen als Feigenblatt gedient hat. Aber auch das ist ein Tropfen im Ozean, weil das Kapitel ferner enthält

a) die pythagoräische Zahl »Pi«, welche die Weiblichkeit symbolisiert (3,14159265359787 ... ) und sich in der Buchstabenzahl von tausend Wörtern dieses Kapitels ausdrückt;

b) wenn wir die Zahlen nehmen, die die Geburtsdaten von Weismann, Mendel und Darwin bestimmen, und sie auf den Text anwenden wie den Schlüssel einer Chiffre, stellt sich heraus, daß das scheinbare Chaos der Klosett-Skatologie eine Darlegung der sexuellen Mechanik ist, in der kollidierende Körper kopulierende Körper ersetzen, wobei sich der gesamte Fluß der Sinne bereits mit anderen Partien des Werks zu verzahnen (SYNCHROMESH!) beginnt; so bezieht er sich über das III. Kapitel (Dreifaltigkeit!) auf das X. (die Schwangerschaft dauert zehn Mondmonate), dieses aber erweist sich, rückwärts gelesen, als in aramäischer Sprache ausgelegter Freudismus. Das ist noch nicht alles. Wie das III. Kapitel beweist, wenn wir es auf das IV. legen und dabei das Buch über Kopf drehen, ist der Freudismus, d. h. die psychoanalytische Doktrin, die naturalistisch verweltlichte Version des Christentums. Der Zustand vor der Neurose ist gleich dem Paradies, das Kindheitstrauma ist der Sündenfall, der Neurotiker der Sünder, der Psychoanalytiker der Erlöser und die Freudsche Therapie die Erlösung durch die Gnade.

c) Beim Verlassen der Latrine am Schluß des 1. Kapitels pfeift J. Maesch eine sechszehn Takte umfassende kleine Melodie (16 Jahre alt war das Mädchen, das er geschändet und in der Schaluppe erwürgt hat); den äußerst vulgären Text denkt er sich nur. Dieser Exzeß findet seine psychologische Begründung im gegebenen Augenblick; darüber hinaus liefert uns das syllabotonisch untersuchte Liedchen die rechteckige Umformungsmatrize für das nächste Kapitel (dieses hat zwei verschiedene Bedeutungen, je nachdem, ob wir die Matrize anwenden oder nicht).

Kapitel II ist die Entfaltung des lästerlichen Liedchens, das Maesch im ersten pfeift, doch formen sich die Lästerungen nach Anwendung der Matrize zu Engelsgesängen um. Das Ganze enthält drei Verweisungen: 1) auf Marlowes »Faust« (Akt II, Szene Vl ff.), 2) auf Goethes »Faust« (Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis) sowie 3) auf Th. Manns »Doktor Faustus«, wobei die Verweisung auf Manns »Faustus« ein Meisterstück ist! Das II. Kapitel nämlich erweist sich, wenn wir allen Buchstaben der Wörter Noten nach dem altgregorianischen Schlüssel zuordnen, als musikalische Komposition, in die Hannahan die »Apocalypsis cum figuris« aus Manns Beschreibung rückübersetzt hat, ein Werk, das Mann bekanntlich seinem Komponisten Adrian Leverkühn zuschreibt. Diese Höllenmusik ist in Hannahans Buch gleichzeitig vorhanden und nicht vorhanden (offen ist sie ja nicht da) wie Luzifer (der im Titel ausgelassene Buchstabe L). Die Kapitel IX, X und XI (das Herabsteigen vom Lastwagen, die geistliche Tröstung, die Herrichtung des Galgens) haben auch ihren musikalischen Hintergrund (nämlich die »Klage Dr. Fausti«), aber nur, wenn man so sagen darf, beiläufig. Denn wenn man sie als adiabatisches System im Sinne Sadi-Carnots behandelt, erweisen sie sich als die in Anlehnung an die Boltzmannsche Konstante errichtete Kathedrale, in der die schwarze Messe zelebriert wird. (Die Bußübungen sind Maeschs Reminiszenzen auf dem Lastwagen, abgeschlossen mit einem Fluch, dessen dickflüssige Glissandi das Kapitel VIII beenden). Diese Kapitel sind wirklich eine Kathedrale, weil die Proportionen zwischen den Sätzen und Phrasen ein syntaktisches Skelett besitzen, das eine Projektion - nach Monge - der Kathedrale von Notre-Dame mit all ihren Pinakeln, Stützkonsolen, Strebepfeilern, mit dem monumentalen Portal, mit der berühmten gotischen Rose usw. usf. auf eine fantasierte Ebene bildet. So enthält der »Gigamesh« also auch eine von der Theodizee inspirierte Architektur. In der »Auslegung« findet der Leser (S. 397 ff.) die gesamte Projektion der Kathedrale, wie sie der Text der erwähnten Kapitel bietet, im Maßstab 1:1000. Wenn wir indessen statt Monges stereometrischer Projektion eine nicht winkeltreue mit einer Ausgangsverzerrung gemäß der Matrize aus dem 1. Kapitel anwenden, erhalten wir den Palast der Kirke, und die schwarze Messe verwandelt sich in eine Karikatur der Auslegung der augustinischen Lehre (wieder ein Bildersturz: die augustinische Lehre im Palast der Kirke, dafür in der Kathedrale die schwarze Messe). Die Kathedrale oder die augustinische Lehre sind also nicht mechanisch in das Werk hineingestopft, sondern bilden ein Element der Ableitung.

Dieses neue Beispiel erklärt uns, auf welche Weise der Autor dank seiner irischen Hartnäckigkeit in einen einzigen Roman die ganze Welt des Menschen mit ihren Mythen, Symphonien, Kirchen, physikalischen Systemen und Annalen der allgemeinen Geschichte einbezogen hat. Das Beispiel führt wieder auf den, Titel zurück, weil - gemäß dieser Bedeutungslinie - »Gigamesh« eine »gigantische Melange« ist, was einen ungewöhnlich tiefen Sinn hat. Der Kosmos strebt ja nach dem zweiten Gesetz der Thermodynamik dem endgültigen Chaos zu. Die Entropie muß also wachsen, und das Ende allen Seins ist deshalb die Niederlage. So ist also nicht nur das, was einem ehemaligen Gangster zustößt, »a GIGAntic MESS«; weil »a Gigantic Mess« zugleich das gesamte Weltall ist (Unordnung heißt im Jargon Schlamperei, Schlampe = Dirne; deshalb sind alle öffentlichen Häuser, an die sich Maesch auf dem Weg zum Galgen erinnert, Abbild des Kosmos). Gleichzeitig wird »a Gigantic Mass«, eine gigantische Messe, zelebriert, die Transsubstantion der Ordnung in die finale Unordnung. Daher die Verbindung Sadi-Carnots mit der Kathedrale, daher die Eingliederung der Boltzmannschen Konstante; Hannahan mußte das vollziehen, weil das Chaos das Jüngste Gericht sein wird! Selbstverständlich findet der Mythos von Gilgamesh seine volle Verkörperung in dem Werk, doch diese Treue Hannahans gegenüber der babylonischen Vorlage ist eine Kleinigkeit im Vergleich mit den Interpretations-Abgründen, die sich hinter jedem der 241 000 Wörter auftun. Der Verrat, den N. Kiddy (Enkidu) in bezug auf Maesch-Gilgamesh begeht, ist die kumulative Zusammendrängung allen historischen Verrats; N. Kiddy ist auch Judas, der G. I. J. Maesch ist auch der Loskäufer usw. usf.

Öffnet man das Buch blindlings, so findet man auf S. 131, Zeile 4 von oben, den Ausruf »Bah«, mit dem Maesch die ihm von dem Chauffeur angebotene »Camel«-Zigarette quittiert. Im Index der »Auslegung« findet man 27 verschiedene »bah«, und dem auf S. 131 entspricht die folgende Reihe: Baal, Bahia, Baobab, Bahleda (man könnte meinen, Hannahan habe sich geirrt und gebe den Namen des polnischen Bergbauerngeschlechts Bachleda orthographisch unrichtig wieder, doch weit gefehlt! Das in diesem Namen fortgelassene C bezieht sich nach dem bereits bekannten Prinzip auf das Cantorsche C als Symbol des Continuums in seiner Transfinalität!), Baphomet, Babelisken (babylonische Obelisken, ein für den Autor typischer Neologismus), Babel (Isaak), Abraham, Jakob, Leiter, Feuerwehr, Motorpumpe, aufständige Bewegung, Hippies (h!), Badminton, Rakete, Mond, Gebirge, Berchtesgaden - das, weil das h in Bah auch auf einen Verehrer der schwarzen Messe wie Hitler im 20. Jahrhundert hinweist.

So arbeitet in allen Höhen und Weiten ein Wörtchen, ein gewöhnlicher und doch so enthymematisch unschuldiger Ausruf! Welche semantischen Abgründe öffnen sich erst auf den höheren Stockwerken eines sprachlichen Gebäudes, wie es der »Gigamesh« ist! Die Theorien des Präformismus kämpfen mit denen der Epigenese (Kap. III, S. 240 ff.); die Handbewegungen des Henkers, der die Schlinge knüpft, werden syntaktisch begleitet von Hoyle-Milnes Theorie der zwei Zeitskalen, der Verknotung der Spiral-Galaxien; Maeschs Reminiszenzen dagegen, seine Verbrechen, sind die totale Registrierung aller Abstürze des Menschen (die »Auslegung« erläutert, wie seinen Vergehen die Kreuzzüge zugeordnet sind, das Imperium Karl Martells, das Abschlachten der Albigenser und der Armenier, die Verbrennung Giordano Brunos, die Martern der Hexen, die kollektive Besessenheit, das Flagellantentum, die Pest, die Holbeinschen Totentänze, die Arche Noahs, Arkansas, ad calendas graecas, ad nauseam u. ä.). Der Gynäkologe, dem Maesch in Cincinnati einen Fußtritt versetzt hat, hieß Cross B. Androydyss; als Vornamen trug er also das Kreuz, als Nachnamen ein Synglomerat der Menschengestaltigkeit (Android, Androi, Anthropos) und des Ulysses (Odysseus), der mittlere Buchstabe aber, das B, ist wiederum die Tonart b-Moll, die »Klage Fausti«, die diese Partie des Textes verkörpert.

Ja, eine bodenlose Tiefe ist dieser Roman; an welchem Punkt auch immer man ihn berührt, es öffnet sich eine Unzahl von Wegen (die Systematik der Kommas im VI. Kapitel ist ein Pendant zur Karte Roms!), nie beliebiger Wege, weil sie sich mit ihren Verzweigungen alle harmonisch zu einem Ganzen verflechten (was Hannahan mit den Methoden der topologischen Algebra nachweist - vgl. »Auslegung«, Metamathematischer Anhang, S. 811 ff.). Alles unterliegt also der Erfüllung. Es entsteht nur noch ein Zweifel, der nämlich, ob Patrick Hannahan mit diesem Werk seinen großen Vorgänger eingeholt oder gar überholt und sich selbst - aber gemeinsam mit ihm! - im Königreich der Künste in Frage gestellt hat. Es gehen Gerüchte um, ein Ensemble von Computern, das International Business Machines ihm zur Verfügung stellte, habe Hannahan bei seiner Schöpfung geholfen. Auch wenn das wahr ist, sehe ich darin keinen Stein des Anstoßes; die zeitgenössischen Komponisten bedienen sich sehr oft der Computer - warum sollte das den Schriftstellern untersagt sein? Manche meinen, auf diese Weise konstruierte Bücher seien wiederum nur für andere Ziffernrechner lesbar, weil kein Mensch imstande sei, einen derartigen Ozean an Fakten und deren Relationen geistig zu erfassen. Eine Frage sei mir hier gestattet: Gibt es auf der Welt einen Menschen, der analog dazu imstande wäre, »Finnegans Wake« oder nur den »Ulysses« zu erfassen? Ich meine, nicht in der wortwörtlichen Ebene, sondern alle Verweisungen, alle Gedankenverbindungen und kulturmythischen Bezüge, alle Paradigmata und Archetypen, auf denen diese Werke basieren und Ruhm ansetzen. Bestimmt wird niemand das im Alleingang tun! Niemand schafft es ja, die gesamte interpretierende Literatur durchzulesen, die James Joyce' Prosa sich erworben hat! So ist also der Streit um die Rechtmäßigkeit des Anteils der Computer an dem Schöpfungsvorgang total unwesentlich.

Boshafte Kritiker von der Sorte eines Zoilus behaupten, Hannahan habe den größten Logogryphen der Literatur produziert, einen monströsen semantischen Rebus, eine wahrhaft höllische Scharade, ein Bilderrätsel. Das Hineinstopfen einer Million oder einer Milliarde derartiger Verweisungen in ein belletristisches Werk, das Spiel mit solchen ethymologischen, phraseologischen, hermeneutischen Reigentänzen, die Übereinanderschichtung endloser, pervers antinomischer Sinngehalte sei keine literarische Schöpfung, sondern die Erstellung von Wortspielereien für paranoide Hobbyisten, für Sammler und Verrückte, die der bibliographische Suchtrieb hetzt. Mit einem Wort, es sei eine komplette Verirrung, eine Pathologie der Kultur und nicht ihre gesunde Weiterentwicklung.

Entschuldigung - aber wo soll man eigentlich die Grenze ziehen zwischen der Vieldeutigkeit, die Ausdruck genialer Integration ist, und einer Bereicherung des Werkes durch Sinngehalte, die die reine Schizophrenie der Kultur darstellen? Ich verdächtige die Antihannahan-Partei der Literaturkenner der Angst vor der Arbeitslosigkeit. Joyce nämlich hat seine herrlichen Scharaden geliefert, aber keine eigene Auslegung beigefügt; deshalb auch kann jeder Kritiker seinen geistigen Bizeps, seine weitreichende Scharfsichtigkeit oder gar nachschaffende Genialität durch die Auslegungen beweisen, die er dem »Ulysses« oder »Finnegans Wake« mitgibt. Hannahan dagegen hat alles selbst getan. Ohne sich mit der Schaffung des Werks zu begnügen, hat er ihm einen doppelt so umfangreichen interpretatorischen Apparat beigefügt. Da liegt der Hauptunterschied und nicht in solchen Umständen, wie z. B., daß Joyce sich alles »selbst ausgedacht« hat, während Hannahan die Computer sekundierten, die in der Kongreßbibliothek (23 Millionen Bände) aufgestellt sind. So sehe ich also keinen Ausweg aus der Falle, in die uns der Ire mit seiner mörderischen Genauigkeit getrieben hat: Entweder ist »Gigamesh« die Summe der modernen Literatur, oder weder er noch die Geschichte von Finnegan mitsamt der Joyceschen Odyssee haben das Recht, den belletristischen Olymp zu betreten.

Quelle: Stanisław Lem: Die vollkommene Leere. (Übersetzt von Klaus Staemmler), Suhrkamp Taschenbuch 707, 1981, ISBN 3-518-37207-6 Seite 34-47

CD Info & Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 45 MB
Filepost -- Hotfile
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files





Franz Schmidt (1874-1939): Klarinettenquintette

$
0
0

Außerhalb seiner Heimat ist Franz Schmidt merkwürdigerweise nie recht bekannt geworden, was zum Teil an seiner konservativen Haltung, dann aber auch an den Launen der Historie und dem musikalischen Fortschrittsdenken gelegen haben mag. Geboren wurde der österreichische Komponist am 22. Dezember 1874 im ungarischen Pozsony (Pressburg), das seit dem Ende des Ersten Weltkriegs unter dem Namen Bratislava zur Tschechoslowakei gehörte und heute die slowakische Hauptstadt ist. Der Vater war mütterlicherseits Ungar, wie Schmidt in seiner Autobiographischen Skizze angibt, seine Mutter hingegen »reinrassige Magyarin«, die von Franz Liszt unterrichtet worden war und ihrem kleinen, kaum sechsjährigen Sohn als »meine erste (und beste!) Lehrerin« die frühen Klavierstunden gab.

Weitere Unterweisung erhielt der Knabe dann bei dem Volksschullehrer Rudolf Mader und anschließend bei dem früheren Kapellmeister und jetzigen Klavierlehrer Ludwig Burger. Den größten Nutzen brachte allerdings der Orgel- und Harmonielehre-Unterricht bei Pater Felician, dem jungen Organisten des Franziskanerklosters von Pressburg. Nicht unwichtig war schließlich auch der Einfluss einer gewissen Helene von Bednarics, »einer kunstliebenden Dame«, in deren großem Haus eine Vielzahl kreativer Menschen verkehrte. Durch dieses ältere Fräulein lernte Franz Schmidt viele musikalische Werke und berühmte Musiker wie Anton Rubinstein und Hans von Bülow kennen. Auch wurde er in Wien dem Pianisten und Pädagogen Theodor Leschetizky vorgestellt, von dessen Unterricht und Verhalten er allerdings nicht angetan war.

Nachdem Vater Schmidt, ein Transportunternehmer, im Jahre 1888 aufgrund finanzieller Unregelmäßigkeiten in Schwierigkeiten geraten war und aus Pressburg hatte weggehen müssen, stand Franz praktisch vor dem Nichts. Doch er kam als Hauslehrer zu einer wohlhabenden Familie nach Perchtoldsdorf bei Wien, womit er nicht nur aller materiellen Sorgen ledig war, sondern auch ermutigt wurde, eine musikalische Laufbahn einzuschlagen. Im Herbst 1890 trat Franz Schmidt ins Wiener Konservatorium ein. Hier studierte er Violoncello bei Ferdinand Hellmesberger, einem Mitglied der großen Wiener Streicher-Dynastie; sein Kompositionslehrer war Robert Fuchs, bei dem auch Mahler, Sibelius, Wolf, Schreker und Zemlinsky lernten; und in der Klasse des bald darauf pensionierten Anton Bruckner befaßte er sich mit den Zusammenhängen der Harmonik.

1896 legte der junge Musiker seine Reifeprüfung als Cellist ab, und am 1. Oktober des Jahres erhielt er eine Stelle im Wiener Hofopernorchester, womit er automatisch auch zu einem Wiener Philharmoniker wurde. Bald spielte er unter der Leitung von Hans Richter, Robert Fuchs und anderen Dirigenten. 1897 wurde Gustav Mahler Kapellmeister und Direktor der Wiener Oper, und bald saß Schmidt am Pult des Stimmführers, wo er auch der bevorzugte Cellist des neuen Mannes war, ohne dass er der Prinzipal der Gruppe gewesen wäre. Das führte zu einer fortwährenden Fehde mit dem Konzertmeister Arnold Rosé, die solche Kreise zog, dass Schmidt 1901 das Wohlwollen Mahlers verloren hatte und sich von seinem Wunsch, offizieller Erster Cellist zu werden, verabschieden konnte. Zehn Jahre lang saß er fortan in den hinteren Reihen. Inzwischen etablierte er sich als Lehrer für Violoncello und Klavier, so dass er schließlich aus dem Orchesterdienst ausscheiden und sich mehr der Komposition widmen konnte: »Seit 1902 war ich am Conservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde angestellt. Die im Jahre 1910 erfolgte Verstaatlichung dieser Anstalt zur Akademie für Musik und darstellende Kunst sowie die 1912 erfolgte Umwandlung meiner Celloprofessur in eine Klavierprofessur an dieser Anstalt gestalteten meine materielle Position im Vergleiche zu früher um so vieles besser, dass dieser Schritt wohl gewagt werden durfte.«

Nunmehr machte Franz Schmidts Karriere weitere Fortschritte: Den größten Teil seiner Musik schrieb er, nachdem er die sogenannten »Galeerenjahre« im Orchester hinter sich hatte. Auch war er seit 1920 Direktor der Staatsakademie, dann von 1927 bis 1931 Rektor der daraus entstandenen, kurzlebigen Fachhochschule und endlich Leiter der Musikhochschule. Sein Privatleben war von beinahe chronischem Unheil überschattet, das jedes dauerhafte Glück versagte. Nach mehreren mentalen Erkrankungen musste man seine erste Ehefrau 1919 in einer Anstalt unterbringen (wo sie Anfang der vierziger Jahre ein Opfer der Euthanasie-Erlasse wurde). Zwar ging er 1925 eine zweite Ehe mit einer früheren Klavierschülerin ein, doch dann verlor er 1932 seine inzwischen dreißigjährige Tochter Emma bei der Geburt ihres ersten Kindes, worauf er einen völligen Zusammenbruch erlitt. Infolge seines schlechten Gesundheitszustands legte Franz Schmidt 1937 seine Tätigkeit an der Musikhochschule nieder. Nur zwei Jahre später, am 11. Februar 1939, starb er.

Als Franz Schmidt Gustav Mahler seine Oper»Notre Dame« vorspielte, vermisste dieser darin die melodische Erfindung, wenngleich er sich das Stück bis zu Ende anhörte. Drei Jahre nach Mahlers Tod und ein ganzes Jahrzehnt nach der Vollendung der Komposition fand 1914 an der Wiener Hofoper schließlich die Uraufführung des Werkes statt, das einen beträchtlichen Erfolg erringen konnte. In der Folgezeit fand Schmidt nunmehr immer größere Beachtung, und das nicht nur mit seinen insgesamt vier Symphonien (deren letzte ein instrumentales Requiem für die Tochter wurde), sondern auch mit anderen, teils konzertanten Orchesterstücken sowie mit seiner Kammermusik, von der er einiges für den befreundeten Pianisten Paul Wittgenstein schrieb, der bekanntlich im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte. Nicht minder eindrucksvoll sind die Werke für den Organisten Franz Schütz, einen weiteren Freund des Komponisten, und vollends überragend ist schließlich »Das Buch mit sieben Siegeln« nach der Offenbarung des Johannes, das 1938 in Wien seiner Premiere erlebte.

Quelle: Keith Anderson (Deutsche Fassung: Cris Posslac), in einer Besprechung der 2.Symphonie

Paul Wittgenstein bei der Premiere von Schmidts Konzert für die linke
Hand, Februar 1935
Man muss sich Franz Schmidt wahrscheinlich als einen unglücklichen Menschen vorstellen. Trotz aller seiner beruflichen Erfolge: Mitglied der Wiener Philharmoniker, Solocellist der Wiener Hofoper, Professor für Klavier an der Wiener Musikakademie, deren Rektor er später wurde, gefeierter Komponist einer Oper »Notre Dame«, deren Zwischenspiel immer noch zum eisernen Bestand jedes Orchesterwunschkonzertes gehört…

Zwei Jugendlieben blieben unerfüllt. Seine erste Frau dämmerte ab 1919 in der Wiener Heilanstalt »Am Steinhof« dahin, um drei Jahre nach dem Tod des berühmten Gatten im Rahmen der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Kampagne ermordet zu werden. Die einzige Tochter Emma starb nach der Geburt ihres ersten Kindes. Der gebrochene Vater schuf danach seine 4. Symphonie als »Requiem für meine Tochter«.

Als Franz Schmidt sich schon auf das Sterben vorbereitete, marschierte die deutsche Wehrmacht in Österreich ein und streckte Reichspropagandaminister Goebbels auch seine Krallen nach dem 64-jährigen Komponisten aus, der nach dem Tod Alban Bergs und Franz Schrekers, der Emigration von Arnold Schönberg und Alexander Zemlinsky als der bedeutendste Komponist der »Ostmark« galt. Das Regime »beehrte« den mit dem Auftrag, eine Kantate zur Feier des »Anschlusses« zu schreiben. Die »Deutsche Auferstehung« wurde vom Regime eingefordert, der Komponist ließ das Werk jedoch unvollendet liegen und schuf noch zwei inspirierte Auftragswerke für den einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein: das Klarinettenquintett in A-Dur und die Toccata d-Moll – beendet im Sommer und Oktober 1938, wenige Monate vor seinem Tod.

Nun ist diese im doppelten Sinne bemerkenswerte Musik endlich in einer wunderschönen Notenausgabe erhältlich – und diese fördert wahre Wunderschätze zutage. Gleich drei Quintette für Klavier in der ungewöhnlichen Besetzung mit linker Hand allein (sie sind alle Paul Wittgenstein gewidmet) und Klarinettenquartett geschrieben; lediglich das 1926 entstandene G-Dur-Quintett stellt dem Klavier ein normales Streichquartett gegenüber.

Ludwig Rohbock (1820-1883): Die ausgebrannte Pressburger Burg, 1864
Schmidts Stil lotet anmutig ein weites Feld aus, das zwischen Spätromantik, Historismus und böhmisch-ungarischer Volksmusik verortet ist. Es ist eine Musik der unvereinbaren Gegensätze, die gleichfalls empfindsam und distanziert klingen kann und ihre größten Empfindungen unter klassischen Formen verbirgt. Man ist versucht zu schreiben: Schmidt ist die diatonische Dependance der 2. Wiener Schule. Wer etwa das jüngst wieder häufig zu hörende Oratorium »Das Buch mit sieben Siegeln« im Ohr hat, der wird diesen eigenartigen Stil sofort auch in den drei Quintetten wiedererkennen.

Der Beginn des A-Dur-Quintetts etwa mit seinen vorsichtig tastenden Trippelschritten, die gleichermaßen an Bruckners symphonische Scherzi als an eine Musik für einen tschechischen Zeichentrickfilm erinnern, findet in der Kammermusik so schnell kein Ebenbild. Und dem wunderbaren Variationensatz auf ein Thema von Josef Labor (dem Lehrer Paul Wittgensteins), bei dem man nicht weiß, ob man vor Glückseligkeit lachen oder weinen soll, wünscht man ganz schnell viele neue Freunde. Man spürt: hier komponiert einer gegen die Barbarei an und schließt das Tor zu einer besseren Welt leise hinter sich zu. Von nun wird es Nacht in Europa.

Notenausgaben:

Quintett in A-Dur für Klavier linke Hand, Klarinette in A, Violine, Viola und Violoncello
Herausgegeben von Georg A. Predota
Josef Weinberger Verlag
ISMN 50083-328-4

Quintett in B-Dur (1932) für Klavier linke Hand, Klarinette in B, Violine, Viola und Violoncello
Josef Weinberger Verlag
ISMN 50083-326-0

QUINTETT in G-DUR (1926) für Klavier linke Hand, zwei Violinen, Viola, Violoncello
Josef Weinberger Verlag
ISMN 50083-325-3

Quelle: Manuel Rösler:Komponieren gegen die Barberei – Kammermusik von Franz Schmidt, in seinem Blog Meister Rarus

CD 1 Track 5 Clarinet Quintet in A Major - V. Variations on a Theme of Josef Labor
TRACKLIST


Franz Schmidt (1874-1939)

Clarinet Quintets


CD 1

Clarinet Quintet in A Major
(1) Allegro moderato 14:48
(2) Intermezzo 8:45
(3) Scherzo: Trio 10:20
(4) Adagio 13:16
(5) Variations on a Theme of Josef Labor:
Allegretto grazioso 12:43

Playing Time: 60:07

Aládár Jánoska, Clarinet
Stanislav Mucha, Violin
Alexander Lakatos, Viola
Ján Slávik, Cello
Daniela Ruso, Piano

Recorded at the Moyzes Hall of the Slovak Philharmonic
from 17th to 20th December, 1990.
Producer: Karol Kopernicky
Engineer: Hubert Geschwandtner

Cover: Carl Waage (1820-ca. 1885): Pressburg/Bratislava
(P) + (C) 1991
CD 2

Clarinet Quintet in B Flat Major
(1) Andante tranquillo 11:58
(2) Lento 11:44
(3) Allegro ma non troppo 8:02

Kleine Fantasiestücke
(4) Allegretto 3:31
(5) Allegretto con moto 2:51
(6) Allegro vivace 2:17

Romance for Piano 3:55

Toccata for Piano (1938) 5:30

Playing Time: 50:15

Aládár Jánoska, Clarinet
Frantisek Török, Violin
Alexander Lakatos, Viola
Ján Slávik, Cello
Daniela Ruso, Piano

Recorded at the Moyzes Hall of the Slovak Philharmonic
from 17th to 20th December, 1990 (Tracks 1 - 3)
and on 15th June, 1991 (Tracks 4 - 8)
Producer: Karol Kopernicky
Engineer: Hubert Geschwandtner

Cover: Ludwig Rohbock (1820-1883): Pressburg Castle
(P) + (C) 1992

CD 2 Track 1 Clarinet Quintet in B Flat Major - I. Andante tranquillo

«Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann»


Herbert Schnädelbach demonstriert in vierzehn Kapiteln exemplarisch, was in der gegenwärtigen Philosophie verbindlich gelehrt und gelernt werden kann. Zusammengenommen sind seine Ausführungen ein brillanter Grundkurs in Philosophie. Das Buch zeigt anhand ausgewählter Themen, dass der Ausdruck «philosophisches Wissen» kein leeres Wort ist. Ungeachtet mancher Zweifel wissen Philosophen wirklich etwas; sie verfügen über einen Kernbestand wissenschaftlichen Wissens, der wenig umstritten ist und hinter dessen Einsichten nicht zurückfallen darf, wer heute nach den Regeln des Fachs philosophiert. Dieses Wissen hat sich in der neueren Philosophiegeschichte im ständigen kritischen Dialog mit dem Tradierten herausgebildet.

Weitere Informationen bei Perlentaucher

Subjekt - Objekt

Mit dem ‹Subjekt› und dem ‹Objekt› ist es wie mit dem ‹Ich›; im Alltagsdiskurs bedeuten diese Ausdrücke nicht annähernd das, was ihnen von den Philosophen zugemutet wird. Meist fällt den Zeitgenossen bei ‹Objekt› eine Immobilie oder eine Antiquität ein; das Wort ‹Subjekt› hingegen verwenden wir abfällig, wenn wir etwa jemanden als widerliches oder schamloses Subjekt beschimpfen. In anderen Zusammenhängen ist dann auch von Subjekten positiv als Trägern von Rechten oder als Autoren ihrer Handlungen die Rede; aber dies ist nur selten der Fall. Der Grund für diese Ambivalenz ist in der Etymologie zu suchen. Das lateinische Verb ‹subicere› bedeutet wörtlich ‹unterwerfen›, sodass in der römischen Rechtssprache die Subjekte die Unterworfenen oder die Untertanen sind. Zugleich erscheint das Subjekt als dasjenige, was «unten liegt» oder einer Sache zugrunde liegt - als Übersetzung von griech. hypokeímenon - das Darunterliegende, und dies zunächst in grammatischer Hinsicht: als der Redegegenstand, von dem durch Prädikation etwas Bestimmtes ausgesagt werden kann. Damit verwandt ist der traditionelle Gebrauch des Wortes subiectum als Bezeichnung eines bestimmten Tätigkeitsbereichs, vor allem im Sinn einer wissenschaftlichen Thematik; erhalten hat sich dies im Angelsächsischen (subject = matter) und im Französischen (sujet). In der lateinischen Fachsprache wird das hypokeímenon in ontologischer Hinsicht mit ‹substantia› wiedergegeben, sodass es zu einer genauen Entsprechung zwischen ‹Subjekt-Prädikat› und ‹Substanz-Akzidens› kam, das heißt zu der durch die indoeuropäische Sprachstruktur vorgezeichneten Grundüberzeugung, dass die Welt aus Gegenständen besteht, die bestimmte Eigenschaften besitzen, anhand deren sie erkannt werden können; demzufolge sei es möglich, die objektiven Substanz-Akzidens-Strukturen in Subjekt-Prädikat-Sätzen angemessen wiederzugeben.

Nun wird in philosophischen Büchern und Seminaren bis heute immer wieder behauptet, die Erkenntnis sei eine zweistellige Relation zwischen Subjekt und Objekt. Da ist dann vom Problem dieser Beziehung die Rede, denn das beruhe auf der «Subjekt-Objekt-Spaltung» (Jaspers), und so haben sich ganze Generationen von Philosophen den Kopf darüber zerbrochen, wie es möglich sei, dass das Subjekt sich überhaupt auf ein Objekt bezieht und dabei zu Erkenntnissen gelangt.


Prudentia und die sieben freien Künste (sowie
Abbildungen der Heiligen Hieronymus,
Gregor, Augustinus, Ambrosius und
der Philosophen Aristoteles und Seneca)
Diese Fragestellung kam aber erst im späten 18. Jahrhundert auf, und zwar durch eine folgenreiche Substantivierung des in der Scholastik wohlvertrauten Begriffspaares ‹subjektiv-objektiv›, was sich bis zu Kant primär entweder auf eine bestimmte Seinsweise von Phänomenen (vgl. ‹nur subjektiv, nicht objektiv› oder den Geltungscharakter im Sinne von Gewissheitsstufen bezieht. Bemerkenswert ist, wie vorsichtig Kant selbst beim Gebrauch des Subjektbegriffs ist, und wenn er damit nicht das empirische Ich meint, orientiert er sich bei seiner Kritik des Paralogismus von ‹Ich denke› auf ‹Ich› an der grammatischen Bedeutung: Ihm zufolge ist über «das» Ich nichts anderes zu sagen, als dass es dazu dient, mich logisch als Subjekt meiner Gedanken zu präsentieren, die dessen Prädikate sind; wenn man etwas vom Ich prädizieren will, muss man es als ‹Ich denke› immer schon voraussetzen. Kant vertritt somit, wenn man seine Lehre außer Acht lässt, der zufolge das Wort ‹Ich› eine leere Vorstellung repräsentiere, in Wahrheit bereits eine Theorie der Selbstreferenz mithilfe indexikalischer Ausdrücke.

So ist bei Kant kaum von Subjekt und Objekt die Rede, aber umso mehr vom Verhältnis zwischen Bewusstsein und Gegenstand, und es sind die frühen Kantianer, die dieses Problem zunächst im Medium der Begriffe ‹das Subjektive› und ‹das Objektive› diskutieren, um anschließend zu dem vereinfachten Begriffspaar ‹Subjekt vs. Objekt› überzugehen. Seit Fichte ist dann in der idealistischen Diskussion mit Schelling und Hegel von dem Singular ‹das Subjekt-Objekt› die Rede, dem die These zugrunde liegt, dass die offensichtliche Differenz zwischen Subjekt und Objekt aus einem ersten Prinzip abgeleitet werden müsse, und dies sei das ICH als unbedingte Tathandlung. Von ihm wird behauptet, dass es sich, indem es sich selbst denkt, zugleich selbst «setzt», und in dieser Identität von ‹Ich denke mich› und ‹Ich bin› sei es zugleich Subjekt und Objekt. Da Fichte zufolge nach der Liquidation des Dinges an sich nichts außerhalb dieser Identität existiert, ist das ICH absolut und das erste Prinzip aller Philosophie. In Hegels Auseinandersetzung mit Fichte und Schelling kommt es dann zu so merkwürdigen Formulierungen wie «subjektives Subjektobjekt», «objektives Subjektobjekt» und «die Identität der Idee [des Absoluten - H.S.] als Subjekt-Objekt». Der erste Ausdruck bezieht sich kritisch auf Fichte, bei dem nur das absolute Subjekt ein Subjekt-Objekt sei, aber nicht das Objekt, während Schelling in seiner Naturphilosophie nachgeholt habe, dass dies auch für das Objekt gelte, und dessen Identitätsphilosophie unterstelle demzufolge die Identität des subjektiven mit dem objektiven Subjekt-Objekt. In seiner späteren Schellingkritik besteht Hegel darauf, dass diese absolute Identität dialektisch, das heißt als Identität von Identität und Nichtidentität zu denken sei.

Wettrechnen zwischen Pythagoras am Abakus und
Boethius, der mit den neuen arabischen Ziffern rechnet
Die spätere Philosophie ist diesen Wegen nicht gefolgt, und es war vor allem Arthur Schopenhauer (1788-1860), der entschieden zu Kant zurückkehrt, wenn auch in der Subjekt-Objekt-Terminologie, wobei er die Kritik am Paralogismus anders formuliert: «Dasjenige, was Alles erkennt und von Keinem erkannt wird, ist das Subjekt ... Als dieses Subjekt findet Jeder sich selbst, jedoch nur sofern er erkennt, nicht sofern er Objekt der Erkenntniß ist.» Seiner «idealistischen Grundansicht» zufolge sind alle Objekte der Erkenntnis nur Vorstellungen des Subjekts, also vorgestellte Objekte, und zwar vorgestellt durch ein erkennendes Individuum, das ich selbst bin und als das sich jeder Erkennende «findet», sofern er reflektierend über sein Erkennen nachdenkt. Auch wo man Schopenhauers Generalthese «Die Welt ist meine Vorstellung» nicht folgte, die das Subjekt der Erkenntnis mit einem realen, je «eigenen Bewusstseyn» und dessen Vorstellungen in objektiver Hinsicht als «Gehirnphänomene» versteht, blieb in der Erkenntnistheorie das Subjekt-Objekt-Modell bestimmend, nun aber meist in der Form der Beziehung zwischen Bewusstsein und Gegenstand.


Die Frage ist dann freilich, woher wir wissen, dass es sich bei Erkenntnissen um eine solche Beziehung handelt. Um das feststellen zu können, müssten wir es beobachten können, aber wenn wir es zu beobachten versuchen, geht es uns wieder wie beim Paralogismus: Sollte die Tatsache, dass wir uns in der Erkenntnis mit unserem Bewusstsein auf einen Gegenstand beziehen, eine Erkenntnis sein, wäre diese Beziehung dann selbst der Gegenstand in einer Erkenntnisbeziehung höherer Ordnung, die uns als erkennende Subjekte schon voraussetzte. Das gälte dann auch für diesen ganzen komplexen Sachverhalt selbst, und das Ganze wiederholte sich wieder und wieder, wenn wir weiterhin versuchten, unser eigenes erkennendes Bewusstsein auf die Gegenstandsseite zu bekommen. Da es sich somit bei der Subjekt-Objekt-Beziehung nicht um etwas direkt Feststellbares handeln kann, ist deren Herkunft auch nicht in der Selbstbeobachtung zu suchen; tatsächlich ist dieses Modell das Resultat einer Deutung im Zuge des reflektierenden Nachdenkens über die Möglichkeit von Erkenntnis, aber unter begrifflichen Voraussetzungen, die hier in die Irre führen und zu phänomenologisch ganz unplausiblen Ergebnissen führen.

Diese Prämissen werden deutlich, wenn man sich die skeptische Methode vergegenwärtigt, mit der bei Descartes die Philosophie der Neuzeit einsetzt, um zu sicheren Erkenntnissen zu gelangen. Sie beginnt mit dem Zweifel im Sinn der Virtualisierung sämtlicher Wahrheitsansprüche, wobei ‹Wahrheit› im Sinn der scholastischen Formel ‹adaequatio rei et intellectus› verstanden ist. Wird diese adaequatio vollständig außer Kraft gesetzt, wie es Descartes versucht, sieht sich der intellectus ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Gleichwohl vermag er in dieser Situation eine erste adaequatio zu ermitteln, nämlich die, dass er genau dann, wenn er zweifelt, notwendig existieren muss; das ‹Ich bin, ich existiere› ist somit ein Urteil des intellectus, dem unbezweifelbar eine Tatsache als dessen Gegenstand entspricht. Descartes versteht dies als die erste Wahrheit, auf der sich im Widerstand gegen den Skeptizismus sicheres wissenschaftliches Wissen rekonstruieren lasse. Seine Idee der Überwindung des Skeptizismus durch die skeptische Methode hat auch Kant für verbindlich gehalten, und der Hauptstrom der modernen Erkenntnistheorie ist ihm darin lange Zeit gefolgt.

Der gekrönte Ptolemäus mit der Göttin Astronomie
Mit dem Subjekt-Objekt-Modell beerbt diese Tradition die scholastische adaequatio-Formel dadurch, dass sie den «kritischen Weg» der Philosophie, der nach Kant «allein noch offen» ist, mit der Infragestellung aller Wahrheitsansprüche im Sinne einer adaequatio von res und intellectus beginnen lässt; aber auch in der Zielvorstellung dieses skeptischen Manövers bleibt sie jenem Modell verpflichtet. Dass Erkenntnis so beschaffen sein soll, ist aber außerordentlich unplausibel, obwohl dies jahrzehntelang in philosophischen Instituten verbreitet wurde. Nehmen wir an, im Erkennen beziehe sich das Subjekt auf ein Objekt oder das Bewusstsein auf einen Gegenstand, dann ist zunächst zu fragen, wer denn dieses Subjekt sei und um wessen Bewusstsein es sich dabei handle: Ist es jeder einzelne Mensch mit seinem je eigenen Bewusstsein oder ein kollektives Subjekt wie die Menschheit, eine bestimmte Kultur oder die Forschergemeinschaft, die den Stand der Erkenntnis repräsentiert? Wenn Kant an dieser Stelle von einem «Bewußtsein überhaupt» spricht, unterstellt er eine strukturelle Allgemeinheit und Gleichheit von Subjektivität, die die Allgemeingültigkeit der Erkenntnisresultate garantieren soll und die er in der allgemeinen Menschennatur fundiert sieht; die historistische Aufklärung hat uns hier jedoch eines Besseren belehrt. Nehmen wir an, die Gravitationstheorie gehöre zu unseren Erkenntnissen: Was ist dabei der Gegenstand der Erkenntnis - die Gravitation? Tatsächlich interessieren wir uns nicht einfach für Gegenstände, sondern wir wollen etwas über sie herausbringen, also Sachverhalte, die sie betreffen, die wir dann, wenn sie sich so verhalten, wie wir vermuten, ‹Tatsachen› nennen. Dass gleichwohl in der traditionellen Erkenntnistheorie so hartnäckig von Objekten oder Gegenständen die Rede ist, verkennt die Tatsache, dass unser Wissen immer propositional verfasst ist, also in der Form ganzer Sätze präsentiert werden muss, wenn es mehr sein soll als eine Menge unklarer Intuitionen.

Aus dem Mund der Rhetorik entspringen Schwert und
 Blumen. Umstehend die Wissenschaften, und Aristoteles,
Seneca, und Kaiser Justinian
Ein Grund für die ärgerliche Plausibilität dieser Rede von Subjekt und Objekt, Bewusstsein und Gegenstand, ist die Neigung, Erkennen als eine Art des Sehens aufzufassen; wir werden dazu verleitet, weil die meisten der Ausdrücke, mit denen wir Wissen beschreiben, der Metaphorik des Gesichtssinnes angehören. Fraglich ist freilich, ob Peter, wenn man festgestellt hat, dass Peter einen Baum sieht, dadurch schon etwas erkannt hat. Meinen wir damit nicht nur, dass seine Augen korrekt funktionieren, dann wird klar: Es handelt sich um eine abgekürzte Redeweise. Nicht der Baum ist das, was er weiß, sondern dass da ein Baum ist und nicht ein Haus, und in der Regel wird er durch sein Hinsehen noch eine ganze Menge Weiteres über ihn ausmachen. Als Erkenntnisphänomen und nicht als bloß physiologischer Vorgang ist auch das Sehen grammatisch propositional verfasst; hier sieht man immer, dass da etwas mit der und der Beschaffenheit existiert. Die Rede von der Erkenntnis als einer Beziehung zwischen Bewusstsein und Gegenstand ist freilich nicht ganz falsch, denn man kann stets sagen, dass sich dabei jemand auf etwas bezieht, aber diese Referenz ist nur ein Aspekt, den man in der Erkenntnistheorie nicht für das Ganze des Erkenntnisphänomens halten sollte. Es macht keinen Sinn, das, was wir in der Erkenntnis von oder über einen Gegenstand herausbekommen wollen, mit dem Gegenstand der Erkenntnis zu identifizieren; Tatsachen sind keine Gegenstände.

Dass das Modell ‹Subjekt-Objekt› oder ‹Bewusstsein-Gegenstand› auch phänomenologisch ganz unplausibel ist, ihm also gar keine Wirklichkeit entspricht, ist in der an Descartes und Kant orientierten Bewusstseinsphilosophie selbst erkannt worden. Zu nennen ist hier vor allem Franz Brentano (1838-1917), der herausgestellt hat, dass Bewusstsein intentional, also immer Bewusstsein von etwas ist; ein leeres Bewusstsein, das sich nachträglich auf einen Gegenstand oder Sachverhalt bezieht, um dann etwas im Bewusstsein zu haben, ist demzufolge eine schlechte Abstraktion. Edmund Husserl (1859-1938) ist ihm in seiner phänomenologischen Philosophie darin genau gefolgt und betont, dass in jedem Bewusstseinszustand ein bestimmter Bewusstseinsakt (nóesis) und ein Bewusstseinsinhalt (nóema) immer schon beisammen sind.

Am nachhaltigsten hat dann Martin Heidegger (1889-1976) den Mythos von der Erkenntnis als einer Subjekt-Objekt-Beziehung destruiert; schon in seinen Vorlesungen von 1919, dann aber vor allem in Sein und Zeit (1927) zeigt er, dass diesem erkenntnistheoretischen Standardmodell in der Wirklichkeit unseres Erlebens überhaupt nichts entspricht. Die Grundverfassung des Menschen qua «Dasein» ist das «In-der-Welt-sein», und da wir uns ja tatsächlich immer schon in einer Welt vorfinden, kann die legendäre «Subjekt-Objekt-Spaltung» nur auf einer sekundären Abstraktion beruhen, die Heidegger auf die Differenz zwischen der Zuhandenheit und der Vorhandenheit des «innerweltlichen Seienden» zurückführt. Worauf wir uns in unserem Weltumgang sprechend und handelnd beziehen, ohne dies eigens zu thematisieren, ist das «Zuhandene», mit dem wir wesentlich unseren Alltag bestreiten; rückt hingegen dessen selbstverständliche Präsenz, aus welchen Gründen auch immer, in den Fokus der Aufmerksamkeit, steht es uns als «Vorhandenes» gegenüber. Genau dies ist die Genesis dessen, was der Cartesianismus irrigerweise für das Ursprüngliche unseres Verhältnisses zur Welt unterstellt - die Differenz und die problematische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, Bewusstsein und Gegenstand.


Typus Logice. Ein allegorischer Hase »pblenia« (Problem)
 wird gejagt von zwei Hunden »veritas« (Wahrheit)
 und »falsitas« (Falschheit)
 Die Philosophen können somit wirklich wissen, dass die Schemata ‹Subjekt und Objekt› oder ‹Bewusstsein und Gegenstand› irreführend und das Resultat einer Deutung von Erkenntnis auf der Grundlage von systematischen Vorurteilen sind, die sich in einer genaueren Analyse als uralte Irrtümer erweisen lassen. Freilich sind der Kritik Heideggers noch einige grammatische Argumente hinzuzufügen, die uns weiteren Aufschluss über die Erkenntnis und ihre Bedingungen geben. Wenn es hier um Geltungsansprüche wie ‹wahr›, ‹richtig›, ‹schlüssig› oder ‹beweisbar› geht, hilft die Frage, ob hier ein Subjekt mit seinem Objekt oder gar ein Bewusstsein mit seinem Gegenstand übereinstimmt, überhaupt nicht weiter. So wird man auch vor Gericht keinen Zeugen befragen, und wenn der auf sein Bewusstsein verweist im Sinne seines subjektiven Erlebens, wird man dies für ein Ausweichmanöver halten. Im kognitiven Bereich geht es darum, festzustellen, ob das, was jemand behauptet, stimmt oder ob seinen Aussagen öffentlich feststellbare Tatsachen entsprechen. Es geht also um propositionale Gehalte und um Gegenstände nur insofern, als diese in der Regel durch grammatische Subjektausdrücke in die Rede eingeführt werden; nur das Satzartige kann wahr oder falsch sein. Hätte man in der berühmten adaequatio-Formel das Wort ‹res› mit «Sachverhalt» übersetzt, was immer möglich war, wäre man dieser Wahrheit schon näher gekommen. Der intellectus wurde dabei freilich immer implizit als subjektives Urteilsvermögen aufgefasst, denn dass nur Urteile wahr oder falsch sein können, wusste die Scholastik auch. Diese logisch-funktionale Kennzeichnung war allerdings stets vermengt mit dem Bezug auf ein Ego als wirkliches Selbstbewusstsein, und es blieb Kant vorbehalten, diesen Fehlschluss aufzulösen.

Der Ort wirklicher Erkenntnis ist also nicht die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, Bewusstsein und Gegenstand, sondern das Verhältnis von Satz und Tatsache. Die neuere sprachanalytische Philosophie hat uns darüber belehrt, dass Einzelsätze immer nur vor dem Hintergrund eines Sprachganzen Sinn machen, seien es Syntax und Semantik einer natürlichen bzw. künstlichen Sprache oder die jeweilige regelgeleitete Sprachverwendung (Pragmatik), die Ludwig Wittgenstein als «Sprachspiel» bezeichnete. Es liegt auf der Hand, dass nur Deklarativsätze, die im Medium des Behauptens mit Wahrheitsanspruch und nicht etwa auf einer Theaterbühne geäußert werden, Kandidaten für Erkenntnisurteile sind. Wittgenstein hat zudem gezeigt, dass es keine «Privatsprache» gibt, also eine Sprache, die nur ein Einzelner und kein anderer versteht; das zeigt, dass ein ganz individuelles Subjekt oder ein singuläres Bewusstsein, auf das Descartes bei der Wissenschaftsbegründung zurückzugreifen versucht, eine erkenntnistheoretische Fiktion ist. Plausibel ist dieser methodische Solipsismus nur, solange man insgeheim unterstellt, dass das Bewusstsein eines menschlichen Subjekts von Natur aus im Wesentlichen mit dem Bewusstsein der anderen menschlichen Subjekte übereinstimmt; zudem muss auch Descartes sich einer öffentlichen Sprache bedienen, um seine Philosophie formulieren und vortragen zu können. Tatsächlich ist im Erkenntnisbereich die Wortsprache unhintergehbar, denn nur sie sichert die Verständlichkeit und Überprüfbarkeit von Erkenntnisansprüchen. Dies ist freilich kein Argument gegen die leitende Idee der neuzeitlichen Aufklärungstradition mit Descartes als ihrem wichtigsten Gründer: dass es immer darauf ankommt, dass die am Erkenntnisprozess beteiligten Menschen selbst zu beurteilen und einzusehen vermögen, was stimmt und was nicht, und dass sie nicht gezwungen werden dürfen, irgendwelche Überzeugungen anzunehmen und zu vertreten. Um aber dies zu sichern, bedarf es keiner abstrakten Subjekte eines «Bewusstseins überhaupt», bei denen man nicht weiß, wie sie sich auf eine «Außenwelt» sollen beziehen können, sondern kompetenter Sprecher in einer intersubjektiv geteilten, objektiven Welt.

Herbert Schnädelbach
Aus: Herbert Schnädelbach: Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann, München 2012, ISBN 978-3-406-63360-7, Zitiert wurde Kapitel 7, Seite 100-109


Dem Infoset liegt ein weiterer Aufsatz von Herbert Schnädelbach, «Was ist Ideologie?» bei.

Die Abbildungen zu diesem Aufsatz stammen aus der 1503 erstmalig veröffentlichten lateinischen Enzyklopädie »Margarita Philosophica« (etwa »Perlen der Weisheit«) von Gregor Reisch (ca.1467-1525). Bereitgestellt wurden sie im famosen Blog BibliOdyssey (»Books, Illustrations, Science, History, Visual Materia Obscura, Eclectic Bookart«) von peacay in einem Artikel vom 9.12.2006.

CD Info & Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 76 MB
Filepost -- Hotfile
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files


Alma Mahler-Werfel (1879-1964): Sämtliche Lieder

$
0
0
»Schön ist sie - das ist unangenehm. Klavier spielt sie famos - das verdrießt. Und componieren thuts auch - das ist doch rein zum aus der Haut fahren.«

Bertha Zuckerkandl beschreibt so in gespielter Empörung eines der umworbensten Mädchen der Wiener Künstler-Salons, die junge Alma Maria Schindler, die sich diese Bemerkung am 16.III.1900 recht zufrieden in ihrem Tagebuch notiert. Sie fiel im Lauf eines geselligen Abends, an dem sich, wie so oft, die fortschrittlichen Künstler, Denker und Musiker des Wiens der Jahrhundertwende im Salon ihrer Eltern versammelt haben. Alma ist die Tochter des berühmten, 1892 verstorbenen Wiener Malers Emil Jakob Schindler. Ihre Mutter ist in zweiter Ehe mit Carl Moll, einem Gründungsmitglied der Wiener Secession, verheiratet. Joseph Olbrich, Josef Hoffmann und Koloman Moser beispielsweise gehen in ihrem Elternhaus ein und aus, Gustav Klimt und Max Burckhard gehören zu ihrem Verehrerkreis.

»Es war so fesch wie selten«, resumiert Alma, die an diesem Abend ganz in ihrem Element ist, vor allem, als einer der Gäste, der belgische Maler Fernand Khnopff ihr vorschlägt, ein von ihm verfaßtes Gedicht »in Musik zu setzen«. Alle wissen, daß Alma vorzugsweise Lieder komponiert, die sie bei solchen geselligen Anlässen auch gerne vorstellt, und ihre Kompositionstätigkeit sehr ernst nimmt. Sie hat regelmäßig Unterricht bei dem bekannten Organisten Josef Labor und wünscht sich nichts sehnlicher, als selber eine bedeutende Künstlerin zu werden:

»Ich möchte eine große That thun. Möchte eine wirklich gute Oper componieren, was bei Frauen wohl noch nie der Fall war. Ja, das möchte ich. Mit einem Wort, ich möchte etwas sein und werden, und das ist unmöglich - & Warum? Mir fehlte die Begabung nicht, mir - fehlt nur der Ernst, der immer nothwendig ist, bei jedem Streben, bei jeder Kunst. - Ach Gott, gib mir irgend eine Pflicht, gib mir etwas Großes zu thun!! Gib mir das Glück!« (9.II.1898)

Das ist nicht der einzige Widerspruch, in dem sich Alma erlebt. An anderen Tagen hadert sie mit sich ganz im Sinne des tradierten Rollenverständnisses:

»Labor. Ich spielte ihm heute alle 8 Lieder vor, und er sagte: ›Das ist aller Ehren wert … für ein Mädel.‹

Ja, es ist ein Fluch, Mädel zu sein, man kann über seine Grenzen nicht hinaus. Im Übrigen gefielen sie ihm aber […]« (17.I.1899)

Weder im Kontrapunkt noch in der Instrumentierung fühlt Alma sich zu diesem Zeitpunkt sicher, mit ihren Sonaten, Etüden und Fugen ist sie häufig unzufrieden und nimmt sich vor, ihre Studien zu intensivieren. Ihr Medium sind Lieder, bei denen sie ihre musikalischen Einfälle mit ihrem pianistischen Können und ihrem literarischen Interesse verbinden kann. Sie ist sehr produktiv und legt ihrem Lehrer Labor von Woche zu Woche mehrere Lieder vor. »Nichts gleicht der Freude, wenn ich mir mein eben fertig gewordenes Lied vorspiele. Ich spiele es immer und immer wieder und fühle mein Eigenes mir entgegenklingen.« (24.I.1899)

Ihre Tagebuchnotizen geben über diese Lieder allerdings nur allgemeinen Aufschluß: Mal spricht sie von Liedern ohne Titel, dann wieder vermerkt sie Gedichte, deren Vertonung sie nie veröffentlichte und deren Manuskripte nicht vorliegen. Selten findet man so genaue Angaben wie am 7.I.1899, an dem das letzte der Fünf Lieder entstand:

»Componierte eben in 5° ein kleines Liederl. ›Ich wandle unter Blumen […]‹ Obs gut ist, weiß ich nicht. Nur weiß ich, Liebesleidenschaft ist genug drin. Das ganze ist ein cromatischer Lauf! Verrückt ist's - ob das dem Labor nicht einen geringen Schreck einjagen wird. -«

Und am 16.VI.1900 findet man in Almas Tagebüchern die Bemerkung, daß sie »ziemlich viel componiert« habe, »2 Gesänge. Texte von Richard Dehmel und Rainer Maria Rilke. Halb Lied, halb Sprache, halb Choral - eine ganz eigenthümliche Kunstgattung, die ich mir da zusammen gearbeitet habe.«

Bei der hier genannten Dehmel-Vertonung kann es sich durchaus um das Lied »Lobgesang«, das vierte Lied der Fünf Gesänge handeln, denn bei der Wiederaufnahme des Unterrichts bei Joseph Labor nach der Sommerpause schreibt sie: »Erste Laborstunde. […] Der ›Lobgesang‹ und mein ›Engelsgesang‹ gefielen ihm.« (25.IX.1900)

Allerdings hat Alma inzwischen eine Bekanntschaft gemacht, die sie allmählich von ihrem alten Lehrer entfernt: Alexander von Zemlinsky, der in ihren Liedern »sehr viel Talent doch wenig Können« vorfindet. »Er bat mich, die Sache ernst zu nehmen, es sei jammerschade um mich - […]« (23.IV.1900)

Almas Unterricht bei Zemlinsky beginnt im Herbst 1900, und auch ihm spielt sie die beiden Lieder ›Lobgesang‹ und ›Engelsgesang‹ vor, doch Zemlinsky reagiert ganz anders als Labor: »Er war durchaus unzufrieden. - Stimmung verfehlt - und er erklärte mir warum. Es war so ungemein interessant, er hatte in allem so recht, dass ich ganz beglückt bin und war.«

Ob sich Zemlinskys Kritik nur auf den ›Engelsgesang‹ bezieht, oder ob Alma den ›Lobgesang‹ unter seiner Anleitung umarbeitet, hat sie nicht in ihrem Tagebuch festgehalten. Sicher ist, daß sie sich innerlich von Labor distanziert und Zemlinsky für wesentlich kompetenter im Bereich des »modernen Liedes« hält. »Zemlinsky zeigte mir, mit raschem Geiste den Gang des Gedichtes erfassend, warum ich gefehlt. […] Und Zemlinsky ist mir einer der sympathischsten Menschen, den ich kenne. -«

Alma studiert und komponiert mit neuem Eifer. Die meisten ihrer später veröffentlichten Lieder entstehen vermutlich in dieser Zeit der Arbeit mit Zemlinsky, der ihr Talent ernst nimmt und kritisch färdert. Alma empfindet die Stunden bei Zemlinsky wie ein »Mineralbad. Prickelnd, erfrischend, wohlthuend. […] Ein famoser Kerl. ich will fest weiterarbeiten.« (27.XII.1900)

Von Zemlinsky lernt sie, in Oper und Konzert neu zu hören, seine Schüler (wie Schönberg) bilden den Kreis der musikalischen Wiener Avantgarde, Alma fühlt sich auf dem richtigen Weg. »Ich habe gestern abend noch wie rasend componiert - ›Ekstase‹ - Bierbaum. Es floß mir nur so vom Herzen weg.« (24.III.1901)

Gustav Klimt: Dame mit Hut und Federboa,
1909, Österreichische Galerie, Wien
Allerdings wandelt sich ihre Begeisterung und Bewunderung für den Lehrer und Musiker Zemlinsky mit der ihr eigenen Intensität bald in eine zwar nicht konfliktfreie, aber durchaus leidenschaftliche heimliche Liebesbeziehung. Die Unterrichtsstunden nehmen dadurch besondere Formen an:

»Ach wie schön wars heute. Wir haben gearbeitet - uns geküsst - wieder gearbeitet - uns wieder geküsst - u. so. f. […] Ich bin fest entschlossen, ihn zu heirathen … Ich sehne mich namenlos zu ihm hin. […] Ich habe nie gewußt, dass ich so lieb haben könne.« (18.X.1901)

Alma fühlt sich geliebt, begehrt und mit ihrer Musik ernst genommen. »[…] mein ganzes Denken concentriert sich auf diesen einen Menschen, auf diesen einen kleinen, hässlichen, süßen Menschen. […] Er spielte mein Lied ›In meines Vaters Garten‹ mit einer solchen Schönheit, wie ich es nie spielen kann.« (2.XI.1901)

Doch Almas Gefühle sind wechselhaft, und ihre Ansprüche an das Leben auch von anderen Erwartungen geprägt. Immer wieder vertraut sie dem Tagebuch ihre Bedenken an, daß Zemlinsky weder reich noch schön genug für sie ist - und läßt ihn das auch fühlen. Ihre Familie und Freunde machen sich über die Idee einer Heirat lustig - Zemlinsky gilt nicht als angemessener Kandidat für die schöne umworbene Alma.

Aus diesem Konflikt enthebt sie die Begegnung mit Gustav Mahler im Salon der zitierten Bertha Zuckerkandl im November 1901, der ihr schon bald einen Heiratsantrag macht. Alma nimmt diesen Antrag an, obwohl Mahler ihr darlegt, daß er sich eine Ehe mit ihr nur vorstellen kann, wenn sie ihre Kompositionstätigkeit für ihn und seine Musik aufgibt. Sie erfährt davon in einem Brief Mahlers am 20.XII.1901, nach dem sie sich fühlt, als habe man ihr »mit kalter Faust das Herz aus der Brust genommen«. »Es hätte ja kommen können, von allein … ganz sachte … Aber einen ewigen Stachel wird das zurücklassen …«

Alma mit Gustav
Damit scheint die Krise nur kurz zu sein, denn schon am nächsten Tag schreibt sie: »Wie wärs, wenn ich ihm zu Liebe verzichten würde? Auf das, was gewesen! […] Ja - er hat recht. Ich muss ihm ganz leben, damit er glücklich wird.«

Doch Alma Schindler-Mahler-Werfel hat an dieser Entscheidung später oft gezweifelt. »Ich freu' mich unendlich mit meinen Liedern.« hatte sie ihrem Tagebuch noch am 9.XI.1901 anvertraut, und nach dieser Freude sehnte sie sich immer wieder zurück. Obwohl sie sich später auch innerhalb ihrer Ehe viele Freiheiten genommen hat, scheint Alma jahrelang wirklich nicht mehr komponiert zu haben. Gustav Mahler beschäftigte sich erst 1910 wieder mit den Liedern seiner Frau, bedauerte die Grundsätzlichkeit seiner Forderung und veröffentlichte eine Auswahl von fünf 1900/1901 entstandenen Liedern. Zwei weitere frühe und zwei 1910/11 auf Mahlers Anregung hin entstandene Lieder Almas wurden 1915 veröffentlicht. Die Gruppe der 1924 erschienenen Fünf Gesänge enthält die erwähnten frühen Lieder »Lobgesang« und »Ekstase«. »Der Erkennende« und vermutlich auch »Hymne« wurden 1915 komponiert. Weitere Kompositionen hat Alma nicht veröffentlicht oder erwähnt. Es scheint, als sei ihre Kompositionstätigkeit trotz der späten Förderung ihres Mannes und auch nach seinem Tod 1911 zu einem Ende gekommen, und nichts mehr von der Begeisterung geblieben, die sie als junges Mädchen auf eine große Oper hoffen ließ.

Alexander Zemlinsky
Alexander von Zemlinsky (1872-1942): Lieder op. 7

Alexander von Zemlinsky muß von Alma Schindler schon nach den ersten Begegnungen im Februar 1900 beeindruckt gewesen sein, denn als er sie im März bei einer großen Abendgesellschaft wiedertrifft, begrüßt er sie mit den Worten, er habe sich »in den letzten Tagen musikalisch viel« mit ihr »unterhalten«. Zunächst aber hat er keine Gelegenheit zu einem weiteren Gespräch, da Alma wieder einmal der Mittelpunkt des Geschehens ist:

»[…] - es scharten sich die Männer um mich wie die Mücke um die Lampe. Und ich fühlte mich so recht als Königin. War unnahbar und stolz, sprach mit jedem 3 kühle Worte. […] Unzählige ließen sich mir vorstellen - es war ein wirklicher Triumph.«

Es ist das Lied »Irmelin Rose«, das sehr deutlich an das Auftreten Almas erinnert, und das Zemlinsky offensichtlich schon komponiert hat, als er sich an Alma wendet:

»›Fräulein, ich möchte Sie etwas fragen - es handelt sich um etwas sehr ernstes für mich. Ich möchte Ihnen ein Lied widmen - oder nein ich will mehr thun - es kommt jetzt ein Heft Lieder heraus. Darf ich Ihnen die widmen? Würden Sie so lieb sein, sie anzunehmen?‹

Ich war starr vor Freude. Mit einer solchen Bescheidenheit eine solche Bitte aussprechen! Ich gab ihm die Hand. Es freut mich innig. […] Er ist ein lieber Kerl und gefällt mir unendlich. - Hässlich ist er bis zum Wahnsinn!« (10.III.1900)

Zemlinskys Lieder op. 7 erscheinen im Herbst 1901 mit der Widmung an Alma Maria Schindler, obwohl ihr widersprüchliches Verhalten ihn oft verletzt und er sogar erwägt, die Widmung zurückzuziehen. Aber Alma versteht es immer wieder, Zemlinsky an sich zu binden. So streng er sie als Lehrer korrigiert, so wenig kann er ihrer Schönheit und ihrem Charme widerstehen. »›Viel zu viel bist Du mir - viel zu viel. -‹« zitiert Alma ihn in ihrem Tagebuch (2.V.1901) und hält damit die Intensität seiner Gefühle für seine Schülerin fest, die auch in sein Leben als »Irmelin Rose« getreten ist. »Abends im Tonkünstlerverein. U.a.: Lieder vom Zemlinsky. Er begleitete. […] Das eine Lied, Irmelin Rose, was mir gehört, ließ er 2 mal singen.« (8.III.1901)

Quelle: Juliane Wandel, im Booklet

TRACKLIST

Alma Mahler-Werfel (1879-1964)

Complete Songs


Fünf Lieder 14'47

(01) Die stille Stadt (Richard Dehmel) (2) 3'08
(02) In meines Vaters Garten (Otto Erich Hartleben) (2) 5'49
(03) Laue Sammernacht (Gustav Falke) (2) 2'32
(04) Bei dir ist es traut (Rainer Maria Rilke) (2) 2'09
(05) Ich wandle unter Blumen (Heinrich Heine) (3) 1'09

Vier Lieder 13'32

(06) Licht in der Nacht (Otto Julius Bierbaum) (2) 3'47
(07) Waldseligkeit (Richard Dehmel) (1) 2'41
(08) Ansturm (Richard Dehmel) (3) 1'47
(09) Erntelied (Gustav Falke) (1) 5'17

Fünf Gesänge 19'56
(10) Hymne (Novalis) (1) 5'53
(11) Ekstase (Olta Julius Bierbaum) (3) 3'03
(12) Der Erkennende (Franz Werfel) (3) 3'23
(13) Lobgesang (Richard Dehmel) (3) 3'42
(14) Hymne an die Nacht (Novalis) (1) 3'55

Alexander Zemlinsky (1871-1942)

Songs op. 7 10'26

(15) Da waren zwei Kinder (Christian Morgenstern) (2) 1'45
(16) Entbietung (Richard Dehmel) (3) 1'52
(17) Meeraugen (Richard Dehmel) (1) 2'40
(18) Irmelin Rose (Jens Peter Jacobsen) (3) 3'06
(19) Sonntag (Paul Wertheimer) (1) 1'03


Ruth Ziesak, Soprano (1)
Iris Vermillion, Mezzo-soprano (2)
Christian Elsner, Tenor (3)
Cord Garben, Piano

Recording: 12 - 14 August 1996, Musikstudio 3 des SR
Recording Supervisor and Editing: Helmut Fackler
Recording Engineer: Erich Heigold
Executive Producers: Burkhard Schmilgun, Helmut Fackler
Cover Painting: Gustav Klimt, "Dame mit Hut und Federboa", 1909,
Österreichische Galerie, Wien
DDD (P) 1997,
*

Track 10: Fünf Gesänge I. Hymne (Novalis)


Hymne
(Novalis)

Wenige wissen das Geheimnis der Liebe,
fühlen Unersättlichkeit und ewigen Durst.
Des Abendmahls göttliche Bedeutung
ist den irdischen Sinnen Rätsel.
Aber wer jemals von heißen geliebten Lippen
Atem des Lebens sog, wem heilige Glut
in zitternde Wellen das Herz schmolz,
wem das Auge aufging, daß er des Himmels
unergründliche Tiefe maß,
wird essen von seinem Leibe und trinken
von seinem Blute ewiglich.
Wer hat des irdischen Leibes
hohen Sinn erraten?
Wer kann sagen, daß er das Blut versteht?
Einst ist alles Leib, ein Leib,
im himmlischen Blute schwimmt das selige Paar.
O, daß das Weltmeer schon errötete
und in duftiges Fleisch aufquelle der Fels!
Nie endet das süße Mahl, nie sättigt
die Liebe sich. Nicht innig, nicht eigen genug
kann sie haben den Geliebten.
Von immer zärteren Lippen verwandelt
wird das Genossene, inniglicher und näher,
heißere Wollust durchbebt die Seele,
durstiger und hungriger wird das Herz,
und so währet der Liebe Genuß
von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Plakatentwurf von Alfred Roller,
Katalog zur XIV. Ausstellung
 Gustav Klimt: Beethovenfries


"Aber hier hört der Spaß auf, und ein brennender Zorn erfaßt jeden Menschen, der noch einen Rest von Anstandsgefühl hat. Was soll man zu dieser gemalten Pornographie sagen? ... Für ein unterirdisches Local, in dem heidnische Orgien gefeiert werden, mögen diese Malereien passen, für Säle, zu deren Besichtigung die Künstler ehrbare Frauen und junge Mädchen einzuladen sich erkühnen, nicht."

S. G., 22. April 1902, zitiert nach: Hermann Bahr, Gegen Klimt, 1903, S. 70

"Im linken Seitenschiff hat Gustav Klimt ein entzückendes Friesgemälde geschaffen, so voll seiner kühnen, selbstherrlichen Persönlichkeit, daß man sich zurückhalten muß, um dieses Gemälde nicht sein Hauptwerk zu nennen,"

Ludwig Hevesi, Acht Jahre Secession, 1906, S. 392-393

Diese extrem entgegengesetzten Kommentare galten dem Beethovenfries von Gustav Klimt, der sich als Teil der im April 1902 eröffneten Beethovenausstellung der Wiener Secession dem staunenden Publikum offenbarte. Beide Zitate - nur ein Griff aus der Flut an gedruckten Kritiken - stehen für die Polarität zwischen positiver und negativer Wertschätzung, die Klimt von seinen Zeitgenossen erfahren hat. Der Ton dieser Wortmeldungen verrät gleichzeitig, dass die Diskussion um die Person und um den Künstler Gustav Klimt damals in eine sehr emotionale Phase geraten war. Das Schicksal dieser heute weltberühmten Künstlerpersönlichkeit wiederum war auf das Engste mit der Wiener Secession verbunden. Das Gebäude dieser Vereinigung war die Arena, in der sich der Kampf um die Anerkennung der Kunst Gustav Klimts und seiner Zeitgenossen abspielte; gleichzeitig präsentierte es sich als Tempel, in dem den Unwissenden die höchsten Offenbarungen zuteil wurden.

Nirgends wird diese Janusköpfigkeit so manifest wie in der Beethovenausstellung, die im Brennpunkt der frühen Geschichte der Secession stand. Ohne diese Gemeinschaftsarbeit, in der die Ideale der jungen Vereinigung ihren wohl konsequentesten Niederschlag fanden, wäre der Beethovenfries nicht denkbar gewesen. Für Klimts künstlerische Entwicklung war die Teilnahme an diesem ehrgeizigen Projekt von entscheidender Bedeutung.

Der Hauptraum in der XIV. Ausstellung mit Max Klingers
Beethovenstatue, im Hintergrund Alfred Rollers
 Die sinkende Nacht 1902
Die Beethovenausstellung - Konzept und Kultobjekt

Im Sommer 1901 - so Ernst Stöhr in seiner Einleitung im Katalog zur Beethovenausstellung - fasste die Vereinigung den Entschluss zu einer "Veranstaltung anderer Art", die die gewohnten Ausstellungen ablösen sollte. Hatten die Wiener Künstler bisher beispielhafte Einrichtungen geschaffen, die eine optimale Präsentation ihrer eigenen Arbeiten sowie jener ihrer ausländischen Kollegen ermöglicht hatten, so wollten sie diesmal einen großen Schritt weiter gehen: "Der Sehnsucht nach einer großen Aufgabe entsprang der Gedanke, im eigenen Haus das zu wagen, was unsere Zeit dem Schaffensdrang der Künstler vorenthält: die zielbewusste Ausstattung eines Innenraumes." Die Secessionisten wollten ihre Auffassungen einer modernen Monumentalkunst modellhaft vorführen, wobei ihnen am Arbeitsprozess sehr viel gelegen war: Gemeinsam wollten sie "lernen". Im Hintergrund des Unternehmens standen die damals europaweiten Bestrebungen, die - bei allen unterschiedlichen Voraussetzungen - eines gemeinsam hatten: die Wiederherstellung des verlorengeglaubten Zusammenhangs zwischen Architektur, Malerei und Skulptur. Längst vergessene Techniken und weit zurückliegende Stilformen wurden studiert; es wurden jene Epochen idealisiert, in denen die Einheit von Kunst, Religion und Gesellschaft noch als ungebrochen galt. So orientierten sich die Secessionisten laut Katalog an der "Tempelkunst", dem "Höchsten und Besten, was die Menschen zu allen Zeiten bieten konnten". Was wäre aber eine Tempelkunst ohne ein alles dominierendes Kultobjekt? Hier ergab sich für die Secessionskünstler der Idealfall schlechthin: Die Beethovenfigur ihres verehrten Leipziger Kollegen Max Klinger näherte sich der Vollendung - und wurde von der Kunstwelt schon voller Spannung erwartet. "Diese eine Hoffnung, der ernsten und herrlichen Huldigung, die Klinger dem großen Beethoven in seinem Denkmale darbringt, eine würdige Umrahmung zu schaffen, genügte, jene Arbeitsfreude zu erzeugen, die trotz des Bewusstseins, dass man nur für wenige Tage schaffe, dauernde Hingabe ins Leben rief." - so Ernst Stöhr im Katalog. Während einer intimen Vorfeier, zu der natürlich auch Klinger geladen war (der sich tief gerührt zeigte), wurde die Ausstellung unter den Klängen einer kleinen Bläserbesetzung eingeweiht; Gustav Mahler dirigierte die von ihm arrangierte Fassung eines Motivs aus dem Schlusschor der Neunten Symphonie von Beethoven. Auf diesen stimmungsvollen Anfang folgte die erregte Anteilnahme der Öffentlichkeit. Die Beethovenausstellung wurde einer der größten Publikumserfolge der Secession; innerhalb von drei Monaten wurden fast 60.000 Besucher gezählt. Im Mittelpunkt der zahllosen in- und ausländischen Kritiken standen der Beethovenfries von Gustav Klimt und die Beethovenfigur von Max Klinger, die die gesamte Ausstellungsprogrammatik bestimmt hatte.

Blick vom linken Seitensaal der XIV. Ausstellung mit dem
Beethovenfries von Gustav Klimt auf Max Klingers Beethoven
Der Hauptgedanke dieser monumentalen, vielfarbigen Plastik geht auf eine im 19. Jahrhundert zentrale Idee vom Künstler als Erlöser und Befreier der Menschheit zurück. Als Prototyp des einsam kämpfenden, für die Menschheit leidenden Künstlergenies galt Ludwig van Beethoven; die Verehrung für diesen Komponisten hatte um die Jahrhundertwende geradezu kultische Ausmaße angenommen. Nur in diesem Licht kann man Klingers plastisches Gesamtkunstwerk und die Reaktionen der Zeitgenossen auf dessen erste, sensationelle Präsentation verstehen. In der vorgebeugten, halbnackten Gestalt mit der geballten Faust, dem konzentrierten Gesichtsausdruck und dem ins Unendliche gerichteten Blick sah man einen neuen, idealen Menschentypus. Man bewunderte den "seelischen Heroismus", man schwärmte von der Hoffnung auf eine neue Zeit. Die auf Wolken thronende Gestalt mit dem Adler zu Füßen erscheint als Kombination von Zeus und Messias, mit den Gesichtszügen Beethovens; auf diese Weise symbolisierte Klinger seine Vorstellungen einer idealen Synthese zwischen Christentum und Antike.

Verwirklichung

Die Beethovenausstellung war nicht nur eine Antwort auf diese Ideenwelt, sondern auch auf die in der Beethovenfigur demonstrierte Material- und Farbenvielfalt (Marmor, Bronze, Halbedelsteine, etc.). In diesem Sinne experimentierte die Gruppe von 21 Künstlern mit einer bunten Vielfalt an ihnen bis dahin nicht geläufigen Materialien und Techniken in unorthodoxen Kombinationen. Zur Programmatik gehörte die "selbstverständliche Pflicht, durchwegs echtes Material zur Anwendung zu bringen, den Schein und die Lüge energisch zu vermeiden" (Katalog zur XlV. Ausstellung). Fast stolz berichtet der Katalog von der "Beschränktheit der verfügbaren Mittel". Von Josef Hoffmann, dem künstlerischen Gesamtleiter des Projekts, stammte die Innenarchitektur.

In dem dreischiffigen Sakralraum der Secession ergab sich die architektonische Gliederung durch den Wechsel von rauen und glatten Putzflächen. Die Funktion der Säle wurde durch ihre Ausstattung offenbar. Der helle Hauptsaal, in dessen Mitte Klingers "Beethoven" thronte, diente der Apotheose des Künstlergenies. In der Blickrichtung Beethovens befand sich an der Stirnwand Adolf Böhms Dekoration Der werdende Tag, die hintere Wand zeigte Die sinkende Nacht von Alfred Roller. Die etwas gedämpfter beleuchteten Seitenräume standen im Zeichen von Leiden und Erlösung, von Kampf und Überwindung; in den Wandmalereien herrschten die Dramatik und Dynamik der Erzählung vor, gefasst in der horizontalen Bewegung. Der im Katalog vorgeschriebenen Gehrichtung folgend, gelangte der Besucher zunächst in den linken Seitensaal, wo er mit Klimts Beethovenfries konfrontiert wurde; gleichzeitig wurde ihm durch die breiten Wandöffnungen schon ein Blick auf die Kultfigur gewährt. Nach der Begegnung mit dem göttlichen Genie begab sich der Besucher im rechten Seitensaal zum Ausgang, vorbei an den Wandmalereien Mannesmut und Kampfesfreude von Ferdinand Andri und Freude schöner Götterfunke von Josef Maria Auchentaller. Thematisch begleitet wurden die friesartigen Wandmalereien beider Seitensäle von quadratischen Schmuckplatten mehrerer Künstler, die sich in regelmäßiger Reihung im unteren Wandbereich befanden. Trotz der materiellen und künstlerischen Vielfalt wurde die Maxime der einheitlichen Wirkung konsequent eingehalten. Die Dekorationen wurden mit Reliefs von stilisierten Monogrammen versehen, die im Katalog aufgeschlüsselt wurden. Dieses kleine, quadratische Buch - ein wesentlicher Teil des Gesamtkunstwerks - enthielt außerdem Originalholzschnitte vieler Künstler, ein Novum für die Secession. Alfred Rollers Ausstellungsplakat zeigt das rhythmisch wiederholte Motiv seiner Dekoration Die sinkende Nacht: die ornamental stilisierte, vorgebeugte Engelsgestalt mit der goldenen Scheibe in der Hand, umgeben von Sternen.

Die Beethovenausstellung dauerte nur wenige Monate, aber für die Beteiligten waren die durch dieses Projekt gewonnenen Erfahrungen von bleibendem Wert. Historisch gesehen lag die Beethovenausstellung im Vorfeld aufregender Entwicklungen, die durch sie wahrscheinlich beschleunigt wurden. Nach 1902 zeichnete sich die zunehmende Polarisierung zwischen "Naturalisten" und "Stilisten" ab; schließlich traten die letztgenannten 1905 als "Klimt-Gruppe" aus der Secession aus. Ein Jahr nach der Beethovenausstellung wurde die Wiener Werkstätte gegründet, die das Zusammenwirken der Künste auf professioneller Basis weiterführte. Große Gemeinschaftsprojekte wie die "Kirche am Steinhof" oder das "Palais Stoclet" schlossen an die erstmals in der Beethovenausstellung erprobte Form der Zusammenarbeit an. Was nicht mehr wiederholbar war, war der Idealismus, durch den dieses einmalige Experiment getragen war.

Der Beethovenfries als "dekoratives Prinzip"

Strategisch gesehen kam dem linken Seitensaal, in dem der Besucher erstmals von weitem mit dem "Allerheiligsten" konfrontiert wurde, die größte Bedeutung zu. Den Prinzipien der Gleichberechtigung und der Gemeinsamkeit zum Trotz wurde dem damals 40-jährigen Klimt die Rolle als Galionsfigur der Ausstellung zuteil. Ihm standen drei Wände zur Verfügung, während sich im gegenüberliegenden Saal zwei Künstler mit je einer Längswand begnügen mussten. Auf besonders einfühlsame Weise berücksichtigte Klimt die für ihn ganz neuen technischen und inhaltlichen Voraussetzungen.

Dass der Fries in erster Linie eine ornamentale, der Architektur dienende Funktion erfüllen sollte, geht aus dem lapidaren Katalogtext hervor: "Dekoratives Prinzip: Rücksichtnahme auf die Saalanlage. Ornamentierte Putzflächen." Offenbar veranlasste diese Verankerung in der Architektur Klimt zu einer intensiven Suche nach neuen stilistischen Lösungen. Seine Figuren erscheinen, rhythmisch gegliedert, in Frontal- und Profilstellungen, ihre Haltungen und Bewegungen sind der strengen Tektonik unterworfen. Besondere Bedeutung erlangten dabei die Konturen, die zum Großteil mit dem Pinsel, aber auch mit Kohle, Graphit oder Pastellstiften angelegt wurden; das helle Grau der Putzflächen diente als Basisfarbe für die nur ganz leicht getönten Hautpartien. Für die übrigen Teile verwendete Klimt Kaseinfarben, deren Intensität und matt schimmernde Oberfläche effektvoll mit den Goldauflagen und den glänzenden, spiegelnden oder schimmernden Applikationen kontrastierte. Das demonstrative Bekenntnis der Secessionisten zu einem kreativen Umgang mit "einfachen" Materialien inspirierte Klimt zu höchst originellen Lösungen: Den Beethovenfries schmücken Tapeziernägel, Vorhangringe, Spiegelstücke, Perlmutterknöpfe und Modeschmuck aus geschliffenem, farbigem Glas. Gleichzeitig erinnert das schillernde, bunte Erscheinungsbild des Frieses - dies betrifft besonders die Schmalwand - an die "heidnische" Vielfalt an farbigen Materialien in Klingers Beethovenfigur.

Bildprogramm und Symbolik

Ebenso eigenständig nimmt Klimt in seiner Programmatik auf die vorgegebenen Richtlinien Bezug. Im Katalog ist nur zu lesen, dass die "friesartigen Malereien" sich über drei Wände erstrecken und eine zusammenhängende Folge bilden, worauf die einzelnen Programmteile kurz erläutert werden. So führt in der linken Wand die lange Kette der hoch oben schwebenden Genien, Symbol für die "Sehnsucht nach Glück", den Betrachter in die Erzählung ein. Bis zum ersten Drittel der letzten Wand bilden diese Schwebenden das verbindende Element zwischen den einzelnen Szenen. Im Laufe der ersten Wand nimmt der "Wohlgerüstete Starke" (der Ritter im goldenen Harnisch), angefleht durch die leidende "Schwache Menschheit" und angetrieben durch "Mitleid und Ehrgeiz", den Kampf um das Glück auf sich. Die "Feindlichen Gewalten" verdunkeln die Schmalwand und entziehen die "Sehnsucht nach Glück" vorübergehend dem Blick. Hier herrschen "Typhoeus" (das Affenmonstrum mit dem überdimensionalen Flügel- und Schlangenleib) sowie "Die drei Gorgonen, Krankheit, Wahnsinn, Tod, Wollust, Unkeuschheit, Unmäßigkeit, nagender Kummer". Die "Sehnsüchte und Wünsche" sind jedoch stärker und fliegen über sie hinweg. Die dritte Wand, die unterhalb des Frieses zum Kultbild im hellen Mittelsaal hin durchbrochen war, steht im Zeichen der Künste. Hier findet die Sehnsucht nach Glück "Stillung in der Poesie". Über die Kithara spielende Gestalt hinweg scheinen die "Sehnsüchte" mit ihren teils abwehrend aufgerichteten Händen gegen eine unsichtbare Wand zu stoßen.

Der darauffolgende Leerraum wirkt wie eine - vermutlich inhaltsbedingte - Zäsur zwischen der vorletzten und der letzten Szene. Hier leiten uns die "Künste", dargestellt als von goldenen Wellen hinaufgetragene Frauengestalten, in das "ideale Reich, in dem allein wir reine Freude, reines Glück, reine Liebe finden können. Chor der Paradiesengel. Diesen Kuss der ganzen Welt." Diese letzten Sätze - Zitate aus dem Text des Schlusschors der Neunten Symphonie, basierend auf Schillers Ode an die Freude - bilden den Schlüssel zum allegorischen Inhalt des ganzen Frieses. Die "Neunte" wurde um 1900 über alle Maßen bewundert; die in Beethoven projizierten Utopien bezüglich einer besseren Welt nährten sich vor allem aus dieser Quelle. Zum Geniekult um die Figur Beethovens hatte Richard Wagner sehr wesentlich beigetragen. Seine auf diesen Komponisten zugespitzte Antithese von leidendem Volk und kämpfendem Künstler könnte Klimt beeinflusst haben; darüber hinaus zeigt die Katalogbeschreibung der Szenen im Beethovenfries auffallende Parallelen zu Wagners 1846 publizierter, speziell für Laien verfasster programmatischer Deutung der Neunten Symphonie.

Jedenfalls konnte Klimt sich gerade damals mit der Thematik des einsam kämpfenden, von der Menschheit unverstandenen Künstlers gut identifizieren. Die Angriffe auf seine Kunst - besonders auf seine 1900 und 1901 in der Secession präsentierten, für die Universitätsaula geschaffenen Monumentalbilder Philosophie und Medizin - hatten zur Zeit der ersten Pläne für die Beethovenausstellung ihren Höhepunkt erreicht. Von der Schmalwand des Frieses starrten die Fratzen der Feindlichen Gewalten dem Besucher gleich bei seinem Eintritt bedrohlich bzw. herausfordernd entgegen. Wie der anfangs zitierte Kommentar illustriert, verfehlte diese Skandalwand, die von Ludwig Hevesi gerade ihrer "betörenden Schönheit" wegen gelobt wurde, ihre provozierende Wirkung auf Publikum und Presse nicht. In ihrer mythologischen Abwehrfunktion erscheinen die frechen Drei Gorgonen wie eine Anspielung auf die Reliefs der drei Gorgonenköpfe, die sich am Gebäudeexterieur über dem Haupteingang befinden, unmittelbar unter dem berühmten Motto: "Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst ihre Freiheit."

Klimt und die internationale Kunst

Im Sinne der Ausstellungsprogrammatik setzte Klimt sich intensiv mit Beispielen aus vergangenen Epochen der "Tempelkunst" wie auch mit zeitgenössischen Arbeiten auseinander. Das Spektrum der Vorbilder, die Klimt auf souveräne, phantasievolle Weise verarbeitete, reicht von der ägyptischen, griechischen, japanischen, byzantinischen und mittelalterlichen Kunst bis zu Zeitgenossen wie Beardsley oder Munch, besonders aber zu den Werken jener zeitgenössischen Kollegen, die als "Monumentalkünstler" im Milieu der Secession gerade großes Aufsehen erregt hatten. Die "moderne Gotik" des belgisehen Bildhauers George Minne inspirierte ihn zur Gestaltung der hageren, eckig gegliederten Figuren der knienden Schwachen Menschheit und des Nagenden Kummers (in der sich, einer mündlichen Überlieferung zufolge, die Angst des Künstlers vor der Syphilis verschlüsselt mitteilt); besonders mit dieser ausgemergelten, zusammengehockten Gestalt nimmt Klimt den Expressionismus von Schiele und Kokoschka vorweg. An die schottische "Mackintosh-Gruppe" erinnern die Helligkeit der Längswände in Verbindung mit den eleganten, langgezogenen Linien, die die Figurengruppen ornamental einfassen, zum Beispiel das in einer goldenen Glocke gefangene Liebespaar in der Schluss-Szene. Die Arbeiten des Schweizers Ferdinand Hodler spielten eine wichtige Rolle bei der Heroisierung und Monumentalisierung der menschlichen Gestalt, ebenso wie bei den rhythmisch-parallelen Motivwiederholungen im Chor der Paradiesengel. Für den flächig-ornamentalen Charakter dieser Gruppe war aber zweifellos auch der holländisch-javanische Symbolist Jan Toorop von Bedeutung, dessen tiefgreifender Einfluss auf Klimt gerade im Beethovenfries einen Höhepunkt erreichte. Über unmittelbare Motiventlehnungen hinaus inspirierte Toorop den Wiener Künstler durch die Exotik seines eckiggliedrigen, überschlanken Frauentypus und die charakteristischen parallel-linearen Haarmassen (wie in Sehnsucht nach Glück, Die Künste, u.a.). Auf sehr eigenständige Weise befasste Klimt sich mit der bei Toorop essentiellen, inhaltsbetonenden Funktion der Linie. Im Beethovenfries sind die Figuren durch unterschiedliche Stufen linearer Stilisierung gekennzeichnet, die ihrer Funktion im Programm oder ihrem Realitätsgrad entsprechen. Der größte Kontrast innerhalb dieser Skala findet sich in den fließenden Linien der immateriellen Idealgestalten der Sehnsüchte auf der einen, und in den realitätsbetonenden Körperumrissen des muskulösen Mannes des Liebespaares auf der anderen Seite. Auch in den mit schwarzer Kreide gezeichneten Studien zum Beethovenfries richten sich die Konturen jeweils nach dem Aussagewert der betreffenden Figur: zart und fließend bei der Schwebenden, spröde und derb bei dem knienden nackten Mann, sinnlich gekurvt bei dem Modell für die Gorgonen. In den Umrisslinien der Figur des Nagenden Kummers wird das Hagere, Eckige betont; die Poesie ist von einer archaischen Strenge, während die an- und abschwellenden Umrisslinien des muskulösen Mannes erotische Vitalität zum Ausdruck bringen. Charakteristisch für diese Studien ist der spannungsvolle Gegensatz zwischen tektonischer Strenge und sensibler Linearität.

Ausdruck und Ornamentik

Die Verbundenheit von Inhaltlichem und Dekorativem zeigt sich im Beethovenfries im Kleinen wie im Großen. So sind die Längswände durch Helligkeit, Offenheit wie durch harmonische Farb- und Linienkonstellationen geprägt; in diesen Teilen der Allegorie herrschen das Gute und Positive vor. Die dunkle Schmalwand dagegen, aus deren Dickicht die Körperformen und Ornamente blitzartig aufleuchten, ist ein Sammelbecken von allen denkbaren Lastern und Untugenden. Die grelle Erotik der Gorgonen mit ihren provokanten Körperkonturen, Haarsträhnen und eckig aufeinanderstoßenden Bewegungen setzt sich vom Idealcharakter der harmonisch fließenden Gestalten der Sehnsüchte und der Künste deutlich ab. Auf das heutige Publikum wirkt die Schmalwand nicht mehr schockierend, aber die verschwenderische Pracht des "Bösen" vermag immer noch zu faszinieren; schon im Mittelalter hat die Hölle die Phantasie der Künstler und der Schriftsteller mehr angeregt als das Paradies (Klimt war bekanntlich ein eifriger Dante-Leser). Allegorisch gesehen prangert das moderne und zugleich zeitlose Inferno des Beethovenfrieses die materiellen und sinnlichen Genüsse an. Gleichzeitig jedoch huldigt die Wand der Feindlichen Gewalten der Ästhetik des weiblichen Körpers. Sogar die Gestalt der Unmäßigkeit, deren gewaltige Rundungen mit den Körperformen der Wollust und Unkeuschheit verschmolzen sind, weist in Verbindung mit den elegant geschwungenen, goldenen Lianen eine eigene Linienpoetik auf.

Von großer Bedeutung für den Beethovenfries ist die überragende Rolle des Goldes und des Ornaments, wobei die Grenzen zwischen Figur und Ornament fließend sind. Neben den jugendstilhaft geschwungenen Linien und den floralen Motiven setzt sich, im Anschluss an die Ausstellungsarchitektur, das geometrische Element durch; auch das Spiralmuster ist häufig anzutreffen. Die größte dekorative Phantasie entwickelte Klimt in der Wand der Feindlichen Gewalten, angefangen von dem alles umfassenden Schlangen- und Flügelkörper bis zu den zahllosen Musterformen und Schmuckteilen der weiblichen Gestalten. Am reichsten geschmückt ist die Unmäßigkeit, mit der sich auch die kräftigste Farbe verbindet: Ihr blauer Rock ist der koloristische Blickfang der Schmalwand.

Epilog

Der Beethovenfries von Gustav Klimt wird zusammenfassend von drei wesentlichen Neuerungen geprägt: von der monumentalen, flächenhaften Isolierung der menschlichen Gestalt, von der inhaltsbetonenden Funktion der Linie sowie von der dominierenden Rolle der Ornamentik. Die Teilnahme am "Experiment Beethoven" bildete für Klimt den Auftakt zu den Hauptwerken seiner "Goldenen Periode". Heute gilt die monumentale Allegorie, die dem Publikum 1986 am Ort ihrer Entstehung wieder zugänglich wurde, als Schlüsselwerk in der Entwicklung des Künstlers.

Quelle: Marian Bisanz-Prakken, Der Beethovenfries von Gustav Klimt und die Wiener Sezession, in: Secession - Gustav Klimt - Beethovenfries, Wien, Secession, 2002, ISBN 3-901926-44-5

Gustav Klimt, Studien zu Beethovenfries (Poesie - Die Leiden
der schwachen Menschheit - Gorgonen)
Geschichte des Beethovenfrieses

1902 Ursprünglich wird der Beethovenfries für den Zeitraum der XIV. Ausstellung angefertigt und soll danach wieder von den Wänden des Secessionsgebäudes entfernt werden.

1903 Die Wandmalerei bleibt jedoch bis 1903 am Ort ihrer Entstehung, bis sie in den Besitz des Industriellen Carl Reininghausübergeht. Reininghaus lässt den Beethovenfries nach Beendigung der XVIII. Secessionsausstellung, einer Klimt-Retrospektive, samt Unterbau von den Wänden nehmen.

1915 Durch Vermittlung von Egon Schiele verkauft Carl Reininghaus den Beethovenfries an die Industriellenfamilie Lederer, die der Österreichischen Galerie, die sich ebenfalls für einen Kauf des Kunstwerks interessiert, zuvorkommt.

1936 In der Zwischenkriegszeit werden Teile des Beethovenfrieses in der Secession ausgestellt.

1939 Nach der Enteignung der Familie Lederer im Zuge der Arisierung durch die Nationalsozialisten wird der Beethovenfries im Depot einer Wiener Speditionsfirma verwahrt.

1943 Teile des Beethovenfrieses werden während des Zweiten Weltkriegs in der Secession gezeigt und im Anschluss wegen Beschädigungsgefahr von Wien nach Schloss Thürntal bei Fels am Wagram in Niederösterreich gebracht, wo das Kunstwerk im Kapellenraum gelagert wird.

1945 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs geht der Beethovenfries in den rechtmäßigen Besitz der Sammlung Erich Lederer in Genf über. Nach Klärung der Besitzverhältnisse wird über den Beethovenfries von Seiten des österreichischen Staates ein Ausfuhrverbot verhängt und er verbleibt im Schloss Thürntal.

Gruppenbild von Mitgliedern der Wiener Secession
 anlässlich der XIV. Ausstellung 1902. Von links nach rechts:
 Anton Stark, Gustav Klimt (im Sessel), Kolo Moser (vor Klimt
 mit Hut)Adolf Böhm, Maximilian Lenz (liegend), Ernst Stöhr
 (mit Hut), Wilhelm List, Emil Orlik (sitzend), Maximilian Kurzweil
 (mit Kappe), Leopold Stolba, Garl Moll (liegend), Rudolf Bacher.
1956 Der Beethovenfries wird nach Stift Altenburg im Waldviertel gebracht. Zum Schutz des Frieses und aus konservatorischen Gründen setzt sich Erich Lederer für einen erneuten Standortwechsel ein.

1961 Die Wandmalerei wird in das Depot der Österreichischen Galerie in den ehemaligen Pferdestallungen des Prinz Eugen im Schloss Belvedere gebracht.

1973 Die Republik Österreich erwirbt den Beethovenfries von Erich Lederer. Der damalige Kaufpreis beträgt 15 Millionen Schilling.

1974 Die Restaurierung des Beethovenfrieses durch das Bundesdenkmalamt beginnt. Die vollständige Restaurierung dauert mehr als zehn Jahre.

1985 Die Restaurierung des Beethovenfrieses wird Ende Jänner mit der Montage der einzelnen Teilstücke auf Stahlrahmen abgeschlossen. In der Ausstellung Traum und Wirklichkeit. Wien 1870-1930 im Wiener Künstlerhaus wird der Fries in einer vom Atelier Hans Hollein erarbeiteten Rekonstruktion seiner ursprünglich von Josef Hoffmann entworfenen architektonischen Umrahmung gezeigt. Nach Ende der Ausstellung im Künstlerhaus kehrt der Beethovenfries in einen von Architekt Adolf Krischanitz eigens dafür geschaffenen Raum in die Secession zurück.

2009 Ein Vierteljahrhundert nach Abschluss der Restaurierung beginnen die laufenden Untersuchungsarbeiten zum konservatorischen Zustand des Beethovenfrieses.



Als Beilage im Infoset befindet sich der Artikel von Marian Bisanz-Prakken: George Minne und die Wiener "Moderne" um 1900

CD Info & Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 100 MB

Filepost Part 1 -- Part 2
Hotfile Part 1 -- Part 2
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files




Carmina Burana. Das Benediktbeuren Manuskript. Studio der Frühen Musik

$
0
0
Die Carmina burana, die Handschrift Clm 4660 der Bayerischen Staatsbibliothek, ist die berühmteste aller mittelalterlichen Gedichtsammlungen in lateinischer und mittelhochdeutscher Sprache. Johann Andreas Schmeller, der die Handschrift 1847 erstmals herausgab, stellte fest, daß die Handschrift in der Klosterbibliothek Benediktbeuren aufbewahrt worden sein muß; daher wurde sie unter dem Namen Carmina burana, Lieder aus Benediktbeuren, bekannt. Die Handschrift kann zwar für eine gewisse Zeit im Besitz dieses Klosters gewesen sein, doch hatte sie dort nicht ihren Ursprung. Sie entstand in einem unbekannten, ohne Zweifel klösterlichen Umfeld (sowohl Seckau wie Neustift in Tirol wurden vermutet) und kam nach Benediktbeuren im Zuge der Säkularisierung der Klöster durch Napoleon.

Bekannt ist sie vor allem durch ihre reichhaltige Sammlung von Liebesgedichten, Studentenliedern und religiösen Dichtungen, die in lateinischer, häufig aber auch in deutscher Sprache gehalten sind (die deutschen Teile wurden in einem Dialekt geschrieben, der in einer Region um Neustift in Tirol beheimatet ist). Am besten sind die Carmina burana der Musikwelt als szenische Kantate von Carl Orff bekannt, einem Werk für Vokalsolisten, Chor und Orchester, in dem in Szenen arrangierte ausgewählte Texte aus der Handschrift verwendet werden. Die vorliegende Aufnahme aus den frühen sechziger Jahren stellt den ersten ernsthaften Versuch dar, die originale mittelalterliche Musik dieser Lieder etwa 25 Jahre nach Orffs Komposition zu rekonstruieren.

Carmina Burana: Rota Fortunae
Die Anfänge des Projekts

Nachdem ich mich dazu entschieden hatte, eine Transkribierung und Aufführung der Lieder des Carmina burana-Manuskripts zu versuchen - eine Idee, die, wenn ich mich recht erinnere, von Andrea von Ramm angeregt wurde - machte ich mich daran, das notwendige Material zu sammeln. Das Manuskript befand sich (und befindet sich noch heute) in der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek, doch als ich es sehen wollte, wurde mir mitgeteilt, es sei zu kostbar, man könne mir nicht erlauben, es zu sehen oder gar zu benutzen. Ich sagte dem Kurator, selbst ein Wissenschaftler und anerkannter Beamter, ich wüßte, daß eine Faksimileausgabe vorbereitet würde, daß ich meine Steuern zahle, daß die Handschrift öffentlicher Besitz sei und ich mit ihr arbeiten wolle. Er erwiderte, ich könne ja wohl nicht hereinkommen, ihm die Pistole auf die Brust setzen und Forderungen stellen, im übrigen »dürfen Sie gar nicht wissen« (an diese Worte erinnere ich mich noch heute genau), daß eine Faksimileausgabe geplant sei. Ich glaube, ich habe sogar die Kulturreferenten von Bayern und München um Unterstützung gebeten. Schließlich wurde mir die Erlaubnis erteilt, Fotokopien von den von mir angegebenen Folios anfertigen zu lassen, doch durften keine zusammenhängenden Abschnitte der Handschrift kopiert werden. Einsicht in die Handschrift selbst wurde mir allerdings nie gewährt.

Dies zeigt die Schwierigkeiten, mit denen sich Wissenschaftler und Musiker zu dieser Zeit konfrontiert sahen, wenn sie Material in den großen europäischen Bibliotheken einsehen wollten (an dieser Situation hat sich in einigen Bibliotheken innerhalb wie außerhalb Deutschlands bis auf den heutigen Tag nichts geändert, ein ernsthaftes Hindernis für jeglichen Fortschritt).

Die Handschrift ist klein und recht elegant. Die Musik ist in Neumen ohne Taktstriche über einigen Gedichten angegeben. In dieser Notationsart sind Tonhöhe und Rhytmus nur recht ungenau fixiert, doch da sich viele der Stücke in anderen Handschriften in klarerer Notation finden, ist eine Transkription möglich.

1960 glaubte man, die gesamte Information zur Musik sei in der Partitur enthalten, während heute die Auffassung vorherrscht, daß in vielen Kompositionen die Partitur unwichtiger ist als Einzelheiten des Vortrags; etwas was wir als Hilfsmittel der Ethnologie kennengelernt haben, wird jetzt in der historischen Musikwissenschaft eingesetzt.

Carmina Burana: Der phantastische Wald
Die Rekonstruierung

Unsere Hauptaufgabe war es, einen historisch fundierten Vortragsstil zu finden, der sowohl künstlerische Qualitäten wie historische Aufführungspraxis gleichermaßen berücksichtigte. Es gab keine Modelle, auf die man sich hätte stützen können. Ich hatte bereits Gelegenheit, mich näher mit der Musik des Mittleren Ostens und Südostasiens zu beschäftigen; daher war mir klar, daß diese Musik, die hauptsächlich monophon ist, weder primitiv noch künstlerisch geringer einzuschätzen ist als die polyphone Musik. Dies war weniger Musik des Komponisten als vielmehr Musik der Ausführenden. Daher entwickelten wir passende instrumentale Begleitungen zu den Liedern. Dabei entfernten wir uns von den harmonisch-kontrapunktisch geprägten Modellen zu Instrumentierungen, die besser auf die Melodie abgestimmt waren. Die in der nichtwestlichen Musik vielfach benutzte kleine Trommel wurde mehr als ein Kammermusikinstrument als für die Tanzrhythmen eingesetzt, was zu dieser Zeit eine vollkommene Neuerung darstellte. Außerdem verwendeten wir viele mittelalterliche Instrumente wie die lira, die vielle, das rebec, die 'ud (= Laute), die citole, die chitarra sarracenia, die kleine mittelalterliche Harfe, das Psalter, die kleine Flöte ohne Klappen, die mittelalterliche Schalmei - das alles waren Instrumente, die in Musikerkreisen zu dieser Zeit noch recht unbekannt waren.

Carmina Burana: Das Liebespaar
Die instrumentalen Vor-, Zwischen- und Nachspiele regten zur Aufführung des ganzen Liedes an (1960 war man noch der Auffassung, die Aufführung eines Liedes in voller Länge wäre unüblich, da nicht das ganze Lied sondern nur die Melodie für den wesentlichen Teil der Musik gehalten wurde - ein ein- oder zweimaliger Durchgang galt als durchaus ausreichend). Die Grundregel, die unsere Aufführungen mittelalterlicher Instrumentalmusik bestimmte, war, daß jeder Part individuell behandelt werden mußte und für den jeweiligen Musiker leicht zu spielen war. Artikulation ist der eigentlich wichtige Schlüssel zu korrekter Phrasierung. Bei einem Saiteninstrument gibt die Stimmung die Noten vor, die gespielt werden. Der Bogen oder das Plektrum verlangt eine Art Choreographie, durch die verwendbare und passende Klänge (entsprechend der Stimmung) hervorgebracht werden; diese Klänge basieren nicht auf Theorien über Konsonanz oder Kontrapunkt.

Diese Aufführungen boten einen neuen experimentellen Ansatz für die Interpretation mittelalterlicher Musik, doch öffneten sie auch vielerlei geistloser Nachahmung und Einbeziehung folkloristischer und exotischer Paradigmata Tür und Tor, die in der ernsthaften authentischen Aufführungspraxis keinen Platz hatten. Dies führte zur Schaffung eines pseudo-historischen Aufführungsstils, in dem gute Musiker alte Musik spielten, ohne einen Gedanken an die historische Aufführungspraxis zu verschwenden; sie kreierten eine neue Art von Musik, keine Volksmusik, keine exotische, keine historische Musik, sondern eine Musik, die eben einfach Freude macht beim Spielen und beim Zuhören.

Carmina Burana: Dido und Aeneas
Die Gegebenheiten der Aufführungspraxis mittelalterlicher Musik 1960

In den frühen sechziger Jahren setzten sich die Spezialisten für Alte Musik sehr mit den Details der Melodien auseinander: die Ambiguität von richtigen gegen falsche Noten wurde ähnlich empfunden wie die Zweideutigkeit, die zwischen Dichtung und Wahrheit besteht. Damals wie heute ist es für uns schwer zu verstehen, daß es mehrere verschiedene Versionen eines Musikstücks geben kann, die von gleichem künstlerisehen Wert sind und die gleiche historische Glaubwürdigkeit besitzen. Man kannte sich mit den Einzelheiten der Instmmente und ihren Spieltechniken, die so wichtig dafür sind, improvisatorische Eigenheiten während der Aufführung herauszubringen, noch nicht so recht aus. Es war tatsächlich nur wenig über mittelalterliche Instrumente bekannt. Niemand, der zu dieser Zeit mittelalterliche Musik spielte, wollte den Aufführungsmustern des Mittelalters Vertrauen schenken, jeder benutzte Instrumente neuerer Zeit und setzte bei der Aufführung eine moderne »Qualitätskontrolle« an, bei der es mehr darauf ankam, einen schönen Klang (was auch immer das sein mag) zu erzeugen, als sich interessante Noten besonders herauszugreifen.

Obwohl uns eine wichtige originale Quelle zur historischen Aufführungspraxis leicht zugänglich gewesen wäre, erkannten wir sie nicht als solche: Ich denke hier an den gesamten Komplex mittelalterlicher Rhetorik. Zu dieser Zeit fingen wir erst an zu verstehen, daß es in weitem Maße die speziellen Eigenheiten eines Instruments sind, die das Klangbild bestimmen. Als wir damit aufhörten, spezifische Muster der Renaissancemusik auf das Mittelalter zu übertragen, war ein großer Schritt nach vorn getan. Unsere neuen Modelle fanden wir in ausgewählten Praktiken Südostasiens, des Mittleren Ostens und Nordafrikas: monophon bestimmte und instmmentale Musik, die auf einer ernstzunehmenden ästhetischen Theorie fußen, die im weitesten Sinne auch auf die westliche Musik anwendbar ist. Wir ahmten die östliche Musik nie direkt nach, unsere Erkenntnisse ließen wir durch ein »westliches Filter« passieren, um so die verlorene Kunst mittelalterlicher Instrumentalmusik wieder erstehen zu lassen. Wir sahen die Vor-, Zwischen- und Nachspiele als notwendige Bestandteile der Lieder an, und da es keine Modelle gab, suchten wir in der östlichen Musik nach Vorbildern.

Carmina Burana: Die Zecher
Der Blick zurück

Während ich auf diese Arbeit von vor dreißig Jahren zurückschaue, ist es für mich überraschend, wieviel davon meinem Gefühl nach immer noch richtig ist. Heute wäre ich vielleicht weniger großzügig im Gebrauch verschiedener Instrumentalklänge in der Begleitung. Ich würde die Rhythmen mehr im sprachlichen Sinne und nicht so sehr als tanzähnliche Metren späterer Musik, wie sie uns allen in den Knochen steckt, herausarbeiten. Ich würde die Vor-, Zwischen- und Nachspiele besser in die Stücke eingliedern; sie gehören dazu, sind den Liedern selbst aber immer noch untergeordnet. Die Theorien der nachmittelalterlichen Aufführungspraxis stören den Musiker sowohl bei seiner Umsetzung der Ästhetik mittelalterlicher Stücke, wie auch der Realisierung - wenn man ihn so nennen kann - des Makrorhythmus rhetorischer Exposition, der Priorität der Kadenzen und der Phrasenanfänge. Ich bin nicht sicher, ob wir das damals schon erkannten, doch heute ist dieses Problem immer noch aktuell. Im Gegensatz zu heute war die Szene für mittelalterliche Musik damals klein, was zur Isolation der Musiker, die sich mit moderner Musik beschäftigten, von den Musikern, die sich um eine Umsetzung mittelalterlicher Musik bemühten, führte. Wären da nicht die weitsichtigen Aufnahmeproduzenten gewesen, die ihre Firmen davon überzeugten, in Projekte wie das unsere zu investieren, wer weiß, was wohl passiert wäre.

Ich kann mich noch gut an die Aufnahmen in dem alten AEG Studio in München in jenen ersten Tagen des stereophonen Klangs erinnern. Der Saal selbst war klein und hatte eine schlechte, für Aufnahmen nicht geeignete Akustik - was für ein Unterschied zu den fantastischen riesenhaften Gemäuern des Mittelalters. Wir sangen und spielten mit jugendlichem Zutrauen in die musikalischen Entscheidungen, die zum großen Teil auf Instinkt und Einfühlungsvermögen beruhten. Während ich zu diesem Repertoire in den Jahren bis heute wieder und wieder zurückgekehrt bin, erscheint mir kein Unternehmen so groß und weitreichend wie jenes damals.

Quelle: Thomas Binkley: Erinnerungen nach dreißig Jahren, veröffentlicht im Booklet (Übersetzung: Eva Zöllner). Dieser Artikel wurde 1994 geschrieben, ein Jahr vor Thomas Binkleys Tod

CD 1 Track 3, Estivali sub fervore, C.B. No. 79

Estivali sub fervore
Estivali sub fervore,
quando cuncta sunt in flore,
totus eram in ardore.
sub olive me decore,
estu fessum et sudore,
detinebat mora.

Erat arbor hec in prato
quovis flore picturato,
herba, fonte, situ grato,
sed et umbra, flatu dato.
stilo non pinxisset Plato
loca gratiora.

Subest fons vivacis vene,
adest cantus philomene
Naiadumque cantilene.
paradisus hic est pene;
non sunt loca, scio plene,
his iocundiora.

Hic dum placet delectari
delectatque iocundari
et ab estu relevari,
cerno forma singolari
pastorellam sine pari
colligentem mora.

In amorem vise cedo;
fecit Venus hoc, ut credo.
»ades!« inquam, »non sum predo,
nichil tollo, nichil ledo.
me meaque tibi dedo,
pulchrior quam Flora!«

Que respondit verbo brevi:
»ludos viri non assuevi.
sunt parentes michi sevi;
mater longioris evi
irascetur pro re levi.
parce nunc in hora!«
Unter sommerlicher Hitze -
wenn alles in Blüte steht -
war ich durch und durch erglüht.
Unter eines Ölbaums Schmuck,
von Hitze und Mühe erschöpft,
machte ich eine Pause.

Da war ein Baum auf einer Wiese,
bunt gefärbt von Blüten aller Art.
Eine Quelle, Kräuter, schöne Lage,
doch auch von Schatten, Windhauch gesegnet.
Plato hätte mit seinem Stift keinen schöneren
Ort gezeichnet.

Nahebei der sprudelnde Quell eines Bachs,
ringsum der Nachtigallen Gesang
und Lieder der Najaden.
Fast wie im Paradies ist es hier;
es gibt keinen Ort, ich weiß es bestimmt,
der schöne wäre als dieser.

Als ich da genoss, mich zu erfreuen,
und mich erfreute, mich zu ergötzen
und von der Hitze zu erholen,
sehe ich ein Hirtenmädchen
ohne Gleichen, einzigartig
schön, wie es Brombeeren sammelt.

Ich vergehe in Liebe zu dem, was ich sehe;
Venus bewirkte das, wie ich meine.
»Komm her!«, sage ich. »Ich bin kein Räuber,
Ich stehle nichts, ich verletze dich nicht.
Das Meine und mich geb ich dir hin,
die schöner du bist als Flora!«

Sie erwidert mit knappen Worten:
»Ich vergnüge mich nicht mit Männern,
habe grimmige Eltern.
Meine Mutter, schon recht alt,
zürnt selbst wegen Kleinigkeiten.
Lass mich jetzt zufrieden!«

TRACKLIST

CARMINA BURANA

The Benediktbeuren Manuscript c. 1300


CD 1 53'19"

(1) Fas et nefas, C. B. No. 19 1'32"
male voices, goblet drum, bells

(2) Veris dulcis in tempore, C. B. No. 85 2'38"
tenor, lute

(3) Estivali sub fervore, C. B. No. 79 5'15"
countertenor, flute, goblet drum

(4) In Gedeonis area, C. B. No. 37 4'29"
male voices, flute, fiddle, lute, goblet drum, cimbalom

(5) Dulce solum, C. B. No. 119 2'49"
countertenor, long-necked lute

(6) Iove cum Mercurio, C. B. No. 88a 2'42"
tenor, rebec, cymbalom, goblet drum

(7) Nomen a solemnibus, C. B. No. 52 3'40"
baritone, flute, fiddle, long-necked lute

(8) Sic mea fata canendo solor, C. B. No. 116 1'59"
countertenor, long-necked lute, goblet drum

(9) Vite perdite, C. B. No. 31 3'04"
baritone, goblet drum

(10) Tempus transit gelidum, C. B. No. 153 3'32"
countertenor, lute

(11) Fulget dies celebris, C. B. No. 153 1'08"
boys' choir, tenor

(12) Exiit diluculo, C. B. No. 90 1'22"
boys' voices, flute, organetto

(13) Conspexit in cespite, C. B. No. 90 0'34"
boys' voices

(14) Dic, Christi veritas, C. B. No. 131 4'36"
countertenor

(15) Procurans odium, C. B. No. 12 2'04"
three male voices

(16) Planctus ante nescia, C. B. No. 14* 6'28"
mezzo soprano, long-necked lute

(17) Chramer gip diu varwe mier, C. B. No. 16* 0'31"
rebec

(18) Diu werlt frovt sih uber al, C. B. No. 161a 0'30"
baritone, fiddle

(19) Dum iuventus floruit, C. B. No. 30 0'54"
flute

(20) Sage, daz ih dirs, C. B. No. 147a 0'58"
mezzo-soprano, baritone, flute, fiddle

(21) Chramer gip diu varwe mier, C. B. No. 16* 1'00"
mezzo-soprano, bombarde


CD 2 46'35"

(1) Homo quo vigeas, C. B. No. 22 1'24"
mezzo-soprano, three tenors, bass, rebec, trombone

(2) Ecce torpet, C. B. No. 3 6'50"
bass, organetto, fiddle, lute, tambourine, bells

(3) Licet eger cum egrotis, C. B. No. 8 4'35"
tenor, rebab

(4) Vite perdite, C. B. No. 31 2'57"
mezzo-soprano, countertenor, three tenors,
bass, rebec, two tambourines

(5) Crucifigat omnes, C. B. No. 47 3'00"
mezzo-soprano, countertenor, tbree tenors, bass

(6) O varium Fortune, C. B. No. 14 3'59"
mezzo-soprano, tenor

(7) Celum, non animum, C. B. No. 15 4'19"
mezzo-soprano, two tenors

(8) Dum iuventus floruit, C. B. No. 30 3'12"
tenor, lute, fiddle

(9) Axe Phebus aureo, C. B. No. 71 2'52"
mezzo-soprano, rebec, lute

(10) Ecce gratum, C. B. No. 143 2'59"
tenor, lute, fiddle, organetto, bells, tambourine

(11) Tellus flore, C. B. No. 146 2'36"
countertenor, citole

(12) Tempus est iocundum, C. B. No. 179 3'18"
mezzo-soprano, rebec, citole

(13) Nu gruonet aver diu heide, C. B. No. 168a 3'30"
tenor, harp, psaltery, rebab


Studio der Frühen Musik
Thomas Binkley




STUDIO DER FRÜHEN MUSIK

Andrea von Ramm
Mezzo-soprano, harp, organetto - Mezzosopran, Harfe, Organello
- mezzo-soprano, harpe, organette
Willard Cobb
Tenor, tambourine - Tenor, Tambourin - tenor, tambourins
Sterling Jones
Rebec, fiddle, lyra - Rebec, Fiedel, Lyra - rebec, vielle, lyre
Thomas Binkley
Lute, bass shawm, trombone, tambourine, citole, psaltery
- Laute, Pommer, Posaune, Tambourin, Citôle, Psalterium
- luth, bombarde, trombone, tambourins, citole, psaltérion

with - mit - avec:

Grayston Burgess
Countertenor - Kontratenor - haute-contre
Nigel Rogers
Tenor, bells, tambourine - Tenor, Schellen, Tambourin -
ténor, grelots, tambourins
Desmond Clayton
Tenor - ténor
Jacques Villisech
Bass - Baß - basse
Karlheinz Klein
Baritone - Bariton - baryton
Lore Wehrung
Transverse flute - Querflöte - flûte traversière
Horst Huber
Percussion - Schlagzeug - percussion
Münchener Marienknaben
Chorus Master: Kurt Rith


Recording Locations:
Munich, September 1964 (CD 1); Amsterdam, October 1967 (CD2)
Cover: Osias t.E. Beert: Still Life with Fruit (1615)

(P) 1964/1968
(C) 2007

CD 2 Track 2, Ecce torpet, C.B. No. 3

Ecce torpet probitas (Walther von Châtillon)
Ecce torpet probitas,
virtus sepelitur;
fit iam parca largitas,
parcitas largitur;
verum dicit falsitas,
veritas mentitur.
Refl. Omnes iura ledunt
et ad res illicitas
licite recedunt.

Regnat avaritia,
regnant et avari;
mente quivis anxia
nititur ditari,
cum sit summa gloria
censu gloriari.
Refl. Omnes iura ledunt
et ad prava quelibet
impie recedunt.

Multum habet oneris
do das dedi dare;
verbum hoc pre ceteris
norunt ignorare
divites, quos poteris
mari comparare.
Refl. Omnes iura ledunt
et in rerum numeris
numeros excedunt.

Cunctis est equaliter
insita cupido;
perit fides turpiter,
nullus fidus fido,
nec Iunoni Iupiter
nec Enee Dido.
Refl. Omnes iura ledunt
et ad mala devia
licite recedunt.

Si recte discernere
velis, non est vita,
quod sic vivit temere
gens hec imperita;
non est enim vivere,
si quis vivit ita.
Refl. Omnes iura ledunt
et fidem in opere
quolibet excedunt.
Sieh, der Anstand liegt ohnmächtig da,
die Tugend wird begraben;
jetzt wird Freigebigkeit sparsam,
Sparsamkeit großzügig;
wahr spricht die Falschheit,
die Wahrheit lügt.
Ref. Alle verstoßen gegen das Recht,
und ungestört ziehen sie
zum Unerlaubten hin.

Es regiert Habgier,
und es regieren die Habgierigen;
ein jeder strebt mit bangem Sinn,
sich zu bereichern.
Denn es ist der größte Ruhm,
sich eines Vermögens zu rühmen.
Ref. Alle verstoßen gegen das Recht,
und zu jedwedem Schlechten
ziehen sie gottlos hin.

Große Last bedeutet
»ich gebe«, »du gibst«, »ich gab« und »zu geben«;
die Reichen verstehen es,
vor allem dieses Verb
nicht zu kennen - man könnte sie
mit dem Meer vergleichen.
Ref. Alle verstoßen gegen das Recht,
und jedes Maß überschreiten sie
mit dem Maß ihres Besitzes.

Allen gleichermaßen
wohnt die Gier inne,
schmählich stirbt die Treue,
dem Treuen ist niemand treu:
weder Jupiter der Juno
noch dem Äneas Dido.
Ref. Alle verstoßen gegen das Recht,
und auf üble Abwege
weichen sie ungestört aus.

Wenn du ehrlich urteilen
willst, ist das kein Leben,
was das unwissende Volk
so unbedacht verlebt;
denn es handelt sich nicht um »leben«,
wenn jemand so lebt.
Ref. Alle verstoßen gegen das Recht,
und mit jedwedem Werk
verletzen sie den Anstand.

Nikolaus Harnoncourt, 2003
Zur Interpretation historischer Musik


Da im heutigen Musikleben die historische Musik eine beherrschende Rolle spielt, ist es gut, sich mit den Problemen, die damit zusammenhängen, auseinanderzusetzen. Es gibt zwei grundverschiedene Einstellungen zu historischer Musik, denen auch zwei ganz verschiedene Arten der Wiedergabe entsprechen: die eine überträgt sie in die Gegenwart, die andere versucht, sie mit den Augen der Zeit ihres Entstehens zu sehen.

Die erste Auffassung ist die natürliche und übliche zu allen Zeiten einer wirklich lebendigen Gegenwartsmusik. Sie ist auch die einzig mögliche während der ganzen abendländischen Musikgeschichte von Beginn der Mehrstimmigkeit bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, und noch heute huldigen ihr viele große Musiker. Diese Einstellung stammt daher, daß die Sprache der Musik immer als absolut zeitgebunden betrachtet wurde. So empfand man zum Beispiel um die Mitte des 18. Jahrhunderts Kompositionen aus den ersten Jahrzehnten als hoffnungslos altmodisch, wenn man auch ihren Wert als solchen anerkannte. Immer wieder wundern wir uns über die Begeisterung, mit der früher die gegenwärtigen Kompositionen als noch nie dagewesene Höchstleistungen gepriesen wurden. Die Alte Musik wurde nur als Vorstufe dazu betrachtet, bestenfalls als Studienmaterial herangezogen oder in ganz seltenen Fällen für irgendeine besondere Aufführung bearbeitet. Bei jeder dieser seltenen Aufführungen Alter Musik - etwa im 18. Jahrhundert - hielt man eine Modernisierung für unbedingt nötig. Die Komponisten unserer Zeit aber, die historische Werke bearbeiten, wissen genau, daß diese vom Publikum unbearbeitet genauso selbstverständlich angenommen würden; die Bearbeitung entspringt heute also nicht einer absoluten Notwendigkeit wie in früheren Jahrhunderten: wenn überhaupt historische Musik, dann modernisiert, sondern der ganz persönlichen Einstellung des Bearbeiters. Dirigenten wie Furtwängler oder Stokowski, die ein spätromantisches Ideal hatten, haben die ganze frühere Musik in diesem Sinne wiedergegeben. So wurden Bachs Orgelwerke für Wagner-Orchester instrumentiert oder seine Passionen in überromantischer Art mit einem Riesenapparat aufgeführt.

Carmina Burana: Wurfzabelspiel
Die zweite Auffassung, die der sogenannten Werktreue, ist wesentlich jünger als die vorhin besprochene und datiert erst etwa vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Seither wird die »werkgetreue« Wiedergabe historischer Musik immer mehr und mehr gefordert, und bedeutende Interpreten bezeichnen sie als das von ihnen angestrebte Ideal. Man versucht, der Alten Musik als solcher gerecht zu werden und sie im Sinne der Zeit ihres Entstehens wiederzugeben. Diese Einstellung zur historischen Musik - sie nicht in die Gegenwart hereinzuholen, sondern sich selbst in die Vergangenheit zurückzuversetzen - ist Symptom des Verlustes einer wirklich lebendigen Gegenwartsmusik. Die Musik von heute genügt weder dem Musiker noch dem Publikum, ja deren größerer Teil lehnt sie direkt ab, und um das so entstehende Vakuum auszufüllen, greift man auf die historische Musik zurück. In der letzten Zeit hat man sich schon stillschweigend daran gewöhnt, unter Musik in erster Linie historische Musik zu verstehen; die zeitgenössische Musik läßt man höchstens nebenbei gelten.

Diese Situation ist in der Musikgeschichte absolut neuartig. Ein kleines Beispiel mag dies illustrieren: würde man heute die historische Musik aus dem Konzertsaal verbannen und nur moderne Werke aufführen, wären die Säle bald verödet - genau das gleiche wäre aber zu Mozarts Zeit passiert, wenn man dem Publikum die zeitgenössische Musik vorenthalten und nur Alte Musik (zum Beispiel Barockmusik) vorgesetzt hätte. Man sieht, heute trägt die historische Musik, besonders die des 19. Jahrhunderts, das Musikleben. Das war seit Bestehen der Mehrstimmigkeit noch nie der Fall. Ebenso hatte man früher kein Bedürfnis nach einer werkgetreuen Wiedergabe historischer Musik, wie man sie heute fordert. Die historische Schau ist einer kulturell vitalen Zeit absolut wesensfremd. Man sieht dies auch in den anderen Künsten: so hat man beispielsweise früher bedenkenlos an eine gotische Kirche eine barocke Sakristei angebaut, die herrlichsten gotischen Altäre weggeworfen und barocke aufgestellt, während man heute alles peinlichst restauriert und erhält. Diese historische Einstellung hat auch ein Gutes: sie ermöglicht uns, erstmalig in der Geschichte unserer christlich-abendländischen Kunst, einen freien Standpunkt einzunehmen und so das ganze Schaffen der Vergangenheit zu überblicken. Dies ist die Ursache für die immer größere Ausbreitung historischer Musik in den Konzertprogrammen.

Carmina Burana: Schachspiel
Die letzte musikalisch lebendig schöpferische Zeit war die Spätromantik. Die Musik Bruckners, Brahms', Tschaikowskys, Richard Strauss' und anderer war noch lebendigster Ausdruck ihrer Zeit. Dort aber ist das ganze Musikleben stehengeblieben: diese Musik ist noch heute die am meisten und liebsten gehörte, und die Ausbildung der Musiker an den Akademien folgt noch immer den Prinzipien dieser Zeit. Es scheint fast, als wolle man nicht wahrhaben, daß seither viele Jahrzehnte vergangen sind.

Wenn wir heute historische Musik pflegen, so können wir dies nicht mehr so tun wie unsere Vorgänger in großen Zeiten. Wir haben die Unbefangenheit verloren, in der Gegenwart den Maßstab zu sehen, der Wille des Komponisten ist für uns höchste Autorität, wir sehen die Alte Musik an sich in ihrer eigenen Zeit und müssen uns daher bemühen, sie werkgetreu darzustellen, nicht aus musealen Gründen, sondern weil es uns heute der einzig richtige Weg zu sein scheint, sie lebendig und würdig wiederzugeben. Werkgetreu aber ist eine Wiedergabe dann, wenn sie sich der Vorstellung des Komponisten zur Zeit der Komposition annähert. Man sieht, daß dies nur bis zu einem gewissen Grad zu verwirklichen ist: die Urplanung eines Werkes läßt sich nur ahnen, besonders, wenn es sich um Musik weit zurückliegender Zeiten handelt. Anhaltspunkte, die einem den Willen des Komponisten zeigen, sind die Vortragsbezeichnungen, die Instrumentation und die vielen Gebräuche der Aufführungspraxis, die sich immer wieder geändert haben und deren Wissen die Komponisten bei ihren Zeitgenossen natürlich voraussetzten. Für uns bedeutet das ein umfangreiches Studium, aus dem man in einen gefährlichen Fehler verfallen kann: die Alte Musik nur vom Wissen her zu betreiben. So entstehen jene bekannten musikwissenschaftlichen Aufführungen, die historisch oft einwandfrei sind, denen aber jedes Leben fehlt. Da ist eine historisch ganz falsche, aber musikalisch lebendige Wiedergabe vorzuziehen. Die Erkenntnisse der Musikwissenschaft sollen aber natürlich nicht Selbstzweck sein, sondern uns nur die Mittel für die beste Wiedergabe in die Hand geben, denn werkgetreu ist sie schließlich auch nur dann, wenn das Werk am schönsten und klarsten zum Ausdruck kommt, und das wird dann sein, wenn sich Wissen und Verantwortungsbewußtsein mit tiefstem musikalischen Empfinden vereinen.

Carmina Burana: Das Würfelspiel
Den fortwährenden Umwandlungen der Musizierpraxis schenkte man bisher sehr wenig Beachtung, ja sie wurden als unwesentlich empfunden. Schuld daran ist die Vorstellung von der »Entwicklung« aus primitiven Urformen über mehr oder weniger mangelhafte Zwischenstufen bis zu ihrer endgültigen »idealen« Gestalt. Diese ist dann natürlich den »Vorstufen« in allem überlegen. Diese Ansicht ist als Überbleibsel aus den Zeiten lebendiger Kunst noch heute sehr verbreitet. So hatten sich in den Augen der damaligen Menschen die Musik, die Spieltechnik und die Musikinstrumente bis auf diese höchste Stufe, die jeweilige Gegenwart, »herauf«entwickelt. Seit wir aber in der Lage sind, einen Überblick zu gewinnen, hat sich diese Meinung, was die Musik selbst betrifft, schon umgekehrt: wir können keine Wertunterschiede mehr machen zwischen der Musik Brahms', Mozarts, Bachs, Josquins oder Dufays - die Theorie von der Aufwärtsentwicklung ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Nun spricht man von der Zeitlosigkeit aller großen Kunstwerke, und diese Auffassung ist, so wie sie allgemein verstanden wird, genauso unrichtig wie die der Aufwärtsentwicklung. Die Musik ist wie jede Kunst unerhört zeitgebunden, sie ist der lebendige Ausdruck nur ihrer Zeit, sie wird nur von den Zeitgenossen restlos verstanden. Unser »Verständnis« Alter Musik kann uns den Geist, aus dem sie entstanden ist, nur ahnen lassen. Wir sehen, daß die Musik immer der geistigen Situation ihrer Zeit entspricht. Ihr Gehalt kann nie über das menschliche Ausdrucksvermögen hinausgehen, und jeder Gewinn auf der einen Seite muß mit einem Verlust auf einer anderen bezahlt werden.
Carl Orff hat nicht nur die Musik seiner "Carmina Burana"
frei erfunden. Auch das Glücksrad, das für die Inszenierungen
des Orffschen Werks offensichtlich unentbehrlich ist, ist nicht
aus mittelalterlichen Quellen geschöpft.
Weil man sich im allgemeinen nur wenig klar ist über Art und Umfang der Änderungen, die die Musikpraxis in unzähligen Einzelheiten durchmachte, seien sie noch kurz besprochen; etwa die Notation, die bis in das 17. Jahrhundert dauernden Wandlungen ausgesetzt war und deren von da ab »eindeutige« Zeichen trotzdem bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts oft sehr verschieden verstanden wurden. Der heutige Musiker spielt genau das, was in den Noten steht, ohne zu wissen, daß das mathematisch genaue Notieren erst im 19. Jahrhundert üblich wurde. Weiters bildet der Riesenkomplex der Improvisation, bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts untrennbar mit der ganzen Musizierpraxis verknüpft, eine ungeheure Quelle von Problemen. Die Unterscheidung der einzelnen Entwicklungsphasen für die jeweiligen Zeitabschnitte setzt ein umfangreiches Fachwissen voraus, dessen konsequente Verwertung sich im Formalen und Gestaltungsmäßigen der Wiedergabe zeigt. Was aber einen unmittelbar wahrnehmbaren Unterschied macht, ist das Klangbild (das heißt Klangfarbe, Charakter und Stärke der Instrumente und anderes). Denn ebenso wie die Lesart der Notation oder die Praxis der Improvisation dem Zeitgeist entsprechend dauernder Veränderung unterworfen war, wandelten sich gleichzeitig die Klangvorstellung und das Klangideal und damit auch die Instrumente als solche, deren Spielweise und sogar die Gesangstechnik. Zum Komplex des Klangbildes gehört auch noch der Raum, das heißt dessen Größe und Akustik.

Selbst bei den Wandlungen der Spielweise - also der Technik - kann nicht von einer »Aufwärtsentwicklung« gesprochen werden, sie paßt sich ebenso wie die Instrumente den Forderungen ihrer Zeit immer restlos an. Dem könnte entgegengehalten werden, daß die Anforderungen an die Spieltechnik immer größer wurden; das ist richtig, bezieht sich aber immer nur auf gewisse Gebiete der Spieltechnik, während die Anforderungen auf anderen Gebieten wieder geringer wurden. Freilich, kein Geiger des 17. Jahrhunderts könnte zum Beispiel das Brahms-Konzert spielen, aber genauso ist kein Brahms-Geiger imstande, schwierige Werke aus der Violinmusik des 17. Jahrhunderts tadellos wiederzugeben. Eine ganz andere Technik ist für das eine und das andere erforderlich, jede für sich ist gleich schwierig, nur grundsätzlich verschieden.

Bert Osias der Ältere (1580-1623): Stillleben mit Früchten
 (um 1615), Öl auf Holz, 56 x 78 cm, Privatsammlung,
Deutschland. [Quelle]
Ähnliche Veränderungen sehen wir an der Instrumentation und an den Instrumenten. Jede Zeit hat genau das Instrumentarium, das ihrer Musik am meisten gerecht wird. In der Vorstellung der Komponisten klingen die Instrumente ihrer Zeit, sie schreiben oft bestimmten Instrumentalisten in die Hände; instrumentengerechte Spielbarkeit wurde seit jeher gefordert; unspielbar waren nur schlecht komponierte Stücke, und ihr Hervorbringer machte sich lächerlich. Daß viele Werke alter Meister heute als nahezu unspielbar gelten (zum Beispiel Bläserstimmen in der Barockmusik) liegt daran, daß die Musiker mit den jetzigen Instrumenten und der heutigen Spielweise an diese Werke herangehen. Leider ist es eine fast unerfüllbare Forderung, von einem heutigen Musiker zu verlangen, er solle auf alten Instrumenten und nach der alten Technik spielen. Man soll daher die Schuld an den unspielbaren Stellen oder anderen Schwierigkeiten nicht den früheren Komponisten geben oder, wie dies oft geschieht, die Musikpraxis früherer Zeiten als technisch unzulänglich bezeichnen. So kommt man zu dem Schluß, daß die Spitzenmusiker zu allen Zeiten die schwersten Werke ihrer Komponisten wiedergeben konnten.

Aus all dem sind die ungeheuren Schwierigkeiten zu erahnen, die sich dem Versuch eines werkgetreuen Musizierens entgegenstellen. Kompromisse sind nicht zu vermeiden: wie viele Fragen sind ungeklärt, wie viele Instrumente sind nicht mehr aufzutreiben oder es ist kein Musiker dafür zu finden. Wo es aber möglich ist, ein hohes Maß an wirklicher Werktreue zu erreichen, wird man von ungeahnten Reichtümern belohnt. Die Werke offenbaren sich von einer ganz neuen-alten Seite, und viele Probleme klären sich nun von selbst. So wiedergegeben, erklingen sie nicht nur historisch korrekter, sondern auch lebendiger, weil sie ganz mit den ihnen entsprechenden Mitteln dargestellt werden, und man bekommt eine Ahnung von den geistigen Kräften, die die Vergangenheit fruchtbar gemacht haben. Die Beschäftigung mit Alter Musik gewinnt so, über den nur aesthetischen Genuß hinaus, einen tiefen Sinn für uns.

Quelle: Nikolaus Harnoncourt: Musik als Klangrede. Wege zu einem neuen Musikverständnis. Essays und Vorträge. Kassel, 1982, ISBN 3-7618-1098-9, Seite 13-18

Vollständige Ausgabe der CB lateinisch/deutsch bei Weltbild

Onlineausgabe CB Lateinisch

Online Ausgabe 1847

Thomas Binkley Discographie

CD bestellen bei JPC

CD Info & Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 58 MB

Filepost --- Hotfile

Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files



Béla Bartóks Streichquartette – vom Emerson und vom Juilliard Quartett

$
0
0
Wir Musiker des Emerson String Quartet haben schon immer ein besonders enges Verhältnis zur Musik Béla Bartóks gehabt. Seit Beginn unserer Karriere gehören Werke des ungarischen Komponisten zu unserem Repertoire, und bereits in unserer dritten Konzertsaison 1979/80 führten wir unseren ersten Bartók-Zyklus auf. Anlässlich der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages spielten wir in der New Yorker Alice Tully Hall an einem einzigen Abend im März 1981 alle sechs Streichquartette des Komponisten. Ursprünglich war diese Aufführungsform als eine besondere Art der Bartók-Würdigung gedacht, die sich aus der Fülle der in diesem Jahr zu Bartóks Ehren durchgeführten Veranstaltungen abheben sollte. Doch schon sehr bald erwies sie sich als künstlerisches Ereignis von einem Ausmaß, das Überlegungen der Publicity nebensächlich werden ließ. In der (üblicherweise) auf zwei Abende verteilten Form des Vortrags wird, um zwei entsprechend ausgewogene Programme anzubieten, jeweils zwischen Bartóks frühen, mittleren und späten Quartetten »hin- und hergesprungen«.
Demgegenüber wollten wir, wenn wir die sechs Werke an einem einzigen Abend spielten, diese in ihrer chronologischen Folge aufführen. Immerhin umspannen Bartóks Streichquartette einen Zeitraum von etwas mehr als 30 Jahren; jedes Werk hat seine eigene Prägung und repräsentiert eine bestimmte Stufe der musikalischen Entwicklung des Komponisten. In drei Stunden und 40 Minuten - mit zwei Unterbrechungen - konnten wir Bartóks Weg sozusagen noch einmal durchlaufen. Bei den Vorbereitungen für dieses Konzert hatten wir unser Augenmerk vor allem auf zwei recht unterschiedliche Probleme zu richten: Wir mussten alle sechs Quartette gleichzeitig im Kopf und in den Fingern haben, und wir mussten das körperliche Durchhaltevermögen sowie die notwendige Konzentration entwickeln, um alle Werke mit gleicher Intensität und mit gleicher Überzeugungskraft im Laufe eines so langen Abends spielen zu können. Natürlich wollten wir auch möglichst viele Zuhörer gewinnen. Doch noch entscheidender war es für uns zu erreichen, dass alle Hörer bis zum Ende des Konzerts ausharrten. Uns war durchaus klar, dass die Anforderungen, die an die Konzertbesucher gestellt werden, beinahe so groß wie die unseren sein würden. Doch bei dem Gedanken, dass unser Programm ja noch kürzer war als viele Opernaufführungen, ließen wir unsere Befürchtungen fallen.
Die Folgerichtigkeit, mit der sich Bartóks musikalischer Weg für uns an jenem Abend vollzog, ließ auch die letzten Zweifel verfliegen, die wir oder unsere Freunde noch gehabt haben mögen. Das am seltensten aufgeführte Erste Quartett in seinem jugendfrischen Ungestüm und dem romantisch-schwärmerischen Ton bildete sozusagen einen leichteren Einstieg für die schweren Werke, die noch folgten.
Das während des Ersten Weltkriegs komponierte Zweite Quartett ist mit seinen drei Sätzen ein Werk des Übergangs - sowohl zeitgeschichtlich als auch musikalisch-stilistisch. Die inhaltliche Spannbreite reicht von herb-süßer und elegischer Stimmung im ersten Satz, stampfender, vorwärtsdrängender Rhythmik im zweiten bis zu völlig neuen Klangwelten im Finalsatz. Dieser Satz wird beherrscht von scharfen Harmonien, von nüchternen Dialogen unterschiedlicher Instrumentenpaare und ungeheuren Accelerandi mit erstarrten Höhepunkten.
Das erstaunlich kurze, prägnante Dritte Quartett zeigt - ebenso wie die strenge formale Logik des Vierten - Bartók von seiner experimentierfreudigsten und harmonisch dissonantesten Seite. Um 1934, als das Fünfte Quartett entstand, hatte sich Bartóks Harmonik entschieden beruhigt - Fazit einer neuerlichen und verstärkten Beschäftigung mit folkloristischem Material, vor allem mit den modalen Tonleitern des Balkans und Vorderasiens. In den langsamen Sätzen beider Werke finden sich geradezu atemberaubend schöne Beispiele vertrauter Dreiklangsharmonik.
Das Sechste Quartett wurde im Jahre 1939 kurz vor und nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs komponiert. Ähnlich wie im Zweiten Quartett spürt man auch hier die Wucht der historischen Ereignisse. Es ist das letzte Werk, das Bartók noch, in seiner Heimat vollendete, bevor er 1940 fliehen musste. Das Sechste Quartett ist von einer durchgehend melancholisch-düsteren Grundstimmung, die nicht einmal durch die Heiterkeit der beiden folgenden Sätze »Marcia« und »Burletta« gemildert wird, denn deren »Heiterkeit« ist nicht von unbeschwerter Art, sondern wirkt höhnisch und grotesk. Im letzten Satz schließlich vertieft sich die Melancholie vollends zur Tragik. Am Ende erklingen noch einmal, vom Cello gezupft, die ersten fünf Töne des »Mesto«-Themas, jenes Themas, das den ersten Satz einleitet, im weiteren Verlauf vielfältig entwickelt wird und als »Kernthema« alle Sätze durchzieht. Die Harmonik und die melodische Aufwärtsbewegung in dieser letzten Phrase erscheinen wie ein Hoffnungsschimmer inmitten aller Düsterkeit. Als wir an jenem Abend im März 1981 diese letzten Noten erreicht hatten, erlebten wir den Schluss des Werkes auf eine völlig neue Weise, ganz anders als in einem »gemischten« Programm. Die Verzweiflung, die Resignation, der nur kurze Augenblick der Hoffnung - dies alles wurde erhellt von den Stunden und der Musik, die jenen Tekten des Abschieds vorausgegangen waren. Diese Quartette hatten uns und unsere Zuhörer zugleich einen Teil von Bartóks eigenem Leben erfahren und nacherleben lassen. Wir waren gemeinsam verzaubert worden von der überirdischen Atmosphäre im letzten Satz des Sechsten Quartetts.
1983 haben wir die Quartette noch zweimal in dieser Form aufgeführt: in Frankfurt und wiederum in New York in einem Konzert für Frieden und Abrüstung. Unser zweiter Auftritt in New York, mit dem wir zugleich unsere Hoffnung und unseren Wunsch für den Fortbestand der Menschheit zum Ausdruck bringen wollten, schien uns besonders dazu geeignet, Bartóks Zyklus zu spielen: Er stellt nicht nur den bedeutendsten Beitrag zur Gattung des Streichquartetts seit Beethoven dar, sondern ist auch ein musikalisches Dokument, das stark geprägt ist von den historischen Ereignissen seiner Zeit.
© 1988 Eugene Drucker (Übersetzung: Siegmer Keil): Das Emerson String Quartet spielt Bartok, im Booklet
CD 2 Track 12 - String Quartet no. 6 - IV. Mesto
Emerson String Quartet (1988)


TRACKLIST


Béla Bartók (1881-1945)

The 6 String Quartets - Die 6 Streichquartette - Les 6 Quatuors à cordes



EMERSON STRING QUARTET
Eugene Drucker violin I (nos. 1, 4, 5), violin II (nos. 2, 3, 6),
Antonio Stradivari, Cremona 1686
Philip Setzer violin I (nos. 2, 3, 6), violin II (nos. 1, 4, 5),
Sanctus Seraphin, Venezia 1734
Lawrence Dutton viola/alto
Pietro Giovanni Mantegazza, Milano 1796
David Finckel cello
Jean-Baptiste Vuillaume, Paris 1825

CD 1 [72'47]

String Quartet no. 1 op. 7, Sz 40 [1908-09] [28'55]
[01] 1. Lento - attacca: [9'16]
[02] 2. Poco a poco accelerando all'Allegretto - [8'11]
Introduzione. Allegro - attacca:
[03] 3. Allegro vivace [11'28]

String Quartet no. 3, Sz 85 [1927] [13'54]
[04] 1. Prima parte. Moderato - attacca: [4'20]
[05] 2. Seconda parte. Allegro - attacca: [5'09]
Ricapitulazione della prima parte. Moderato
[06] 3. Coda. Allegro molto [4'25]

String Quartet no. 5, Sz 102 [1934] [29'37]
[07] 1. Allegro [7'20]
[08] 2. Adagio molto [5'52]
[09] 3. Scherzo. Alla bulgarese [4'56]
[10] 4. Andante [4'47]
[11] 5. Finale. Allegro vivace [6'42]

CD 2 [76'23]

String Quartet no. 2 op. 17, Sz 67 [1915-17] [26'48]
[01] 1. Moderato [10'11]
[02] 2. Allegro molto capriccioso [7'19]
[03] 3. Lento [9'18]

String Quartet no. 4, Sz 91 [1928] [21'23]
[04] 1. Allegro [5'38]
[05] 2. Prestissimo, con sordino [2'47]
[06] 3. Non troppo lento [5'12]
[07] 4. Allegretto pizzicato [2'41]
[08] 5. Allegro molto [5'05]

String Quartet no. 6, Sz 114 [1939] [27'51]
[09] 1. Mesto - Più mosso, pesante - Vivace [7'06]
[10] 2. Mesto - Marcia [7'27]
[11] 3. Mesto - Burletta [6'57]
[12] 4. Mesto [6'21]


These recordings are dedicated to Katia Elena Setzer. who was
born sametime between the sessions for the Second and Third Quartets.

Recording: New York, American Academy and Institute of Arts and Letters, 1/1988 (nos. 2,3,6), 2/1988 (no. 4) & 3/1988 (nos. 1,5)
Executive Producer: Dr. Steven Paul
Recording Producer: Wolf Erichson
Tonmeister (Balance Engineer): Peter Laenger
Recording Engineers: Volker Martin/Jobst Eberhardt/Manfred Bartel
Mastered by Emil Berliner Studios
DDD
(P) 1988
CD 1 Track 8 - String Quartet no. 5, - II. Adagio molto
Emerson String Quartet (1988)


Das Juilliard String Quartet in der Originalbesetzung von 1952:
Robert Mann und Robert Koff (Violine), Raphael Hillyer (Viola),
Arthur Winograd (Cello)

TRACKLIST


Béla Bartók (1881-1945) 67'35


Quatuor no 3 (Sz. 85)
[01] Prima parte: moderato 4'34
[02] Seconda parte: allegro 5'29
[03] Ricapitulazione della prima parte: moderato - attacca 3'07
[04] Coda: allegro molto 1'30

Quatuor no 4 (Sz. 91)
[05] I. Allegro 6'08
[06] II. Prestissimo, con sordino 2'42
[07] III. Non troppo lento 5'37
[08] IV. Allegretto pizzicato 2'48
[09] V. Allegro molto 5'36

Quatuor no 5 (Sz. 102)
[10] I. Allegro 7'19
[11] II. Adagio molto 6'01
[12] III. Scherzo: alla bulgarese 4'35
[13] IV. Andante 4'59
[14] V. Finale: allegro vivace 6'54


JUILLIARD STRING QUARTET
Robert Mann, violin
Robert Koff, violin
Raphael Hillyer, viola
Arthur Winograd, cello

Enregistré en 1949

(P) 2002

CD Bonus Track 11 - String Quartet no. 5 - II. Adagio molto
Juilliard String Quartet (1949)


Courbet und der Jura

Gustave Courbet: Ein Begräbnis in Ornans, 1849-50, Öl auf Leinwand, 314 x 663 cm, Musée d’Orsay, Paris
Das Werk eines Künstlers läßt sich nie auf die unabhängige Wahrheit reduzieren; wie das Leben des Künstlers - oder Ihres und meines - begründet das Lebenswerk eine eigene Wahrheit, die, je nachdem, gültig oder wertlos sein kann. Erklärungen, Analysen, Interpretationen sind nur Raster oder Linsen, die dem Betrachter zu einer genaueren Sicht verhelfen sollen. Die Berechtigung der Kritik liegt allein darin, daß wir mit ihrer Hilfe klarer sehen können.

 Vor einigen Jahren schrieb ich, man müsse bei Courbet zwei Dinge erklären, die immer noch unverständlich seien. Einmal die wahre Beschaffenheit der Materialität, der Dichte, der Gewichtigkeit seiner Bilder; zum anderen die eigentlichen Gründe dafür, daß sein Werk die bourgeoise Kunstwelt so entsetzt hat. Die zweite Frage ist inzwischen in hervorragender Weise beantwortet worden, und zwar nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, durch einen französischen Gelehrten, sondern durch einen Briten und eine Amerikanerin: durch Timothy Clark in seinen zwei Büchern Image of the People (»Abbild des Volkes«) und The Absolute Bourgeois (»Der absolute Bourgeois«), und durch Linda Nochlin in ihrem Buch über Realismus.
Die erste Frage aber bleibt unbeantwortet. Theorie und Programm des Courbetschen Realismus sind soziologisch und historisch erklärt worden, doch wie praktizierte er ihn mit Augen und Händen? Wo liegt die Bedeutung der einmaligen Art und Weise, in der er Erscheinungen darstellte? Als er sagte: »Kunst ist der vollständigste Ausdruck einer Existenz« - was verstand er da unter Ausdruck?
Gustave Courbet: Die Steinklopfer, 1849, Öl auf Leinwand, 1849,
 Gemäldegalerie Dresden, 1945 verbrannt
Die Gegend, in der ein Maler seine Kindheit und Jugend verbringt, spielt oft eine wichtige Rolle bei der Herausbildung seiner Sehweise. Die Themse trug zur Entwicklung von Turner bei. Die Klippen um Le Havre hatten einen wichtigen Einfluß auf Monet. Courbet wuchs im Loue-Tal, an der Westseite der Berge des Jura auf, in einer Gegend, die er während seines ganzen Lebens malte und in die er immer wieder zurückkam. Eine Untersuchung des Charakters der Landschaft um Ornans, in der Courbet geboren wurde, gibt uns, glaube ich, eine Möglichkeit, sein Werk genauer zu begreifen.

 Die Gegend weist eine außerordentlich hohe Niederschlagsmenge auf: etwa 130 cm im Jahr, während sie im übrigen französischen Flachland zwischen 79 cm im Westen und 41 cm im Zentrum liegt. Der größte Teil des Regens sickert durch das Kalkgestein und bildet unterirdische Kanäle. Die Loue strömt an ihrer Quelle bereits als ziemlich mächtiger Fluß aus den Felsen hervor. Es ist eine typische Karstlandschaft, charakterisiert durch offenliegendes Kalkgestein, tiefe Täler, Höhlen und Falten. Auf den waagerechten Kalkstein-Flözen hat sich häufig Mergel abgelagert, so daß auf den Felsen Gras und Bäume wachsen. Man sieht diese Formation - eine sehr grüne Landschaft, nah am Himmel durch einen horizontalen grauen Felsriegel geteilt - in vielen Bildern Courbets, unter anderem auch im Begräbnis in Ornans. Doch ich glaube, daß diese Landschaft und Geologie Courbet mehr als nur in szenischer Hinsicht beeinflußt hat.
So eine Landschaft kann die Sehgewohnheiten eines ganzen Lebens prägen. Man stelle sich einmal vor, wie man dort normalerweise etwas zu sehen bekommt. Die die Landschaft durchziehenden Falten lassen sie im allgemeinen hoch erscheinen: der Himmel ist weit weg. Der bestimmende Farbton ist grün: dagegen zeichnen sich vor allem die Felsen ab. Der Hintergrund dessen, was man im Tal sieht, ist dunkel - so, als ob die Dunkelheit der Höhlen und der unterirdischen Gewässer das Sichtbare durchdrungen hätte.
Gustave Courbet: Pierre-Joseph Proudhon und seine Kinder, 1865,
 Öl auf Leinwand, 147 x 198 cm, Musée du Petit Palais, Paris
Alles, was aus dieser Dunkelheit ans Licht tritt (eine Felskante, fließendes Wasser, ein Baumstamm), hebt sich mit lebendiger Deutlichkeit, aber eben nur partiell (weil viel im Schatten bleibt) davon ab. Das Sichtbare ist dort diskontinuierlich. Oder, anders ausgedrückt, auf das Sichtbare ist nicht immer Verlaß, man muß sich mit dem, was man überhaupt zu sehen bekommt, auseinandersetzen. Man entwickelt das Auge eines Jägers - nicht nur des zahlreichen Wildes wegen, sondern wegen der dichten Wälder, der Steilhänge, der Wasserfälle, der sich windenden Flußläufe, die alle die Erscheinung der Dinge beeinflussen.

Viele dieser Eigentümlichkeiten sind in Courbets Kunst übergegangen, auch wenn das Sujet nicht mehr seine heimatliche Landschaft ist. Außergewöhnlich viele seiner figürlichen Malereien außerhalb des Ateliers haben wenig oder keinen Himmel. (Die Steinklopfer, Proudhon und seine Familie, Mädchen auf dem Seineufer, Die Hängematte, die meisten Ausführungen der Badenden). Das Licht ist das Seitenlicht des Waldes, das dem mit der Perspektive spielenden Licht unter Wasser nicht unähnlich ist. Die Riesendarstellung des Atelier ist deswegen so verwirrend, weil das Licht der gemalten Waldlandschaft auf der Staffelei das Licht ist, das den ganzen, von Menschen erfüllten Pariser Raum durchdringt. Eine Ausnahme macht das Bild Bonjour Monsieur Courbet, das ihn und seinen Auftraggeber vor dem Hintergrund des Himmels zeigt. Hier hat Courbet jedoch ganz bewußt die weitläufige Ebene von Montpellier als Schauplatz gewählt.
Ich vermute, daß Wasser, in der einen oder anderen Form, in etwa zwei Dritteln von Courbets Gemälden vorkommt - oft im Vordergrund. (Das ländlich-bürgerliche Haus, in dem er geboren wurde, ragt über den Fluß hinaus. Fließendes Wasser muß einer seiner frühesten akustischen und optischen Eindrücke gewesen sein.) Kommt in seinen Bildern kein Wasser vor, lassen einen die Formen im Vordergrund sehr oft an die Strömungen und Wirbel von fließendem Wasser denken (z.B. bei der Frau mit dem Papagei und der Schlafenden Spinnerin). Die gelackte Frische der Objekte, die in seinen Gemälden das Licht auf sich ziehen, erinnert einen oft an die Leuchtkraft von Kieseln oder Fischen unter Wasser. Die Farbgebung seiner Darstellung eines Forellenteiches entspricht der Farbgebung seiner anderen Bilder. Es gibt ganze Landschaften von Courbet, die von einem Tümpel reflektiert sein könnten; die Farbe schimmert feucht auf der Oberfläche und trotzt allen Gesetzen atmosphärischer Perspektive (zum Beispiel in den Felsen bei Mouthier).
Gustave Courbet: Die jungen Mädchen auf dem Seineufer (Sommer),
 1856-57, Öl auf Leinwand, 174 x 200 cm, Musée du Petit Palais, Paris
Normalerweise malte er schon auf dunklem Grund und malte dann noch dunkler. Die Tiefe seiner Gemälde hängt stets mit ihrer Dunkelheit zusammen - selbst wenn es, weit oben, einen intensiv blauen Himmel gibt; darin gleichen seine Gemälde Brunnenschächten. Wo immer Formen aus der Dunkelheit ans Licht treten, definiert er sie, indem er helle Farbe appliziert, gewöhnlich mit einem Palettenmesser. Allein durch die Handhabung des Messers - sieht man einmal von seinen Fähigkeiten als Maler ab - wurde in einmaliger Weise der Lichtstrahl wiedergegeben, der die strukturierte Oberfläche von Blättern, Felsen und Gras trifft; ein Lichtstrahl, der Leben verleiht und Überzeugungskraft, aber nicht unbedingt Strukturen wiedergibt.
Übereinstimmungen dieser Art lassen eine enge Beziehung zwischen Courbets Praxis als Maler und der Landschaft, in der er aufwuchs, ahnen. Aber damit hat man die Frage, welche Bedeutung er den Erscheinungen gab, noch nicht beantwortet. Wir müssen die Landschaft weiter befragen. Felsen sind die hervorstechendste Konfiguration dieser Landschaft. Sie verleihen Identität, bieten dem Blick Anhaltspunkte. Die zutage tretenden Felsen erzeugen die Präsenz der Landschaft. Gesteht man dem Begriff seine volle Tragweite zu, kann man von Steingesichtern sprechen. Die Felsen stellen den Charakter, die Seele der Gegend dar. Proudhon, der aus der gleichen Gegend stammte, schrieb: »Ich bin reines Jurakalkgestein.« Courbet, prahlerisch wie immer, behauptete, daß er in seinen Bildern »sogar die Steine zum Denken bringe«.
Ein Steingesicht ist immer da. (Man braucht nur an die Zehn-Uhr Straße genannte Landschaft im Louvre zu denken.) Es dominiert und will gesehen werden, doch erscheint es immer wieder anders, je nach Licht und Wetter. Das Bild bietet dem Betrachter unaufhörlich verschiedene Facetten seiner selbst an. Verglichen mit einem Baum, einem Tier, einer Person, ist seine Erscheinungsform in nur sehr geringem Maße vorgegeben. Ein Felsen kann beinahe jedes Aussehen annehmen. Er ist unbestritten, was er ist, und dennoch ist er durch seine Substanz nicht von vorneherein auf eine bestimmte Form festgelegt. Er existiert nachdrücklich, und dennoch ist seine Erscheinungsform (nur von einigen wenigen, sehr allgemeinen geologischen Gegebenheiten eingeschränkt) beliebig. Der Felsen ist nur jetzt gerade so, wie er ist. Seine jeweilige Erscheinung entscheidet über seine Bedeutung.
Gustave Courbet: Die Hängematte, 1844, Öl auf Leinwand,
70,5 x 97 cm, Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten, Winterthur
Umgeben von solchen Felsen aufzuwachsen heißt, in einer Gegend aufzuwachsen, in der das Sichtbare sowohl frei von Gesetzen wie unübersehbar real ist. Es gibt zwar visuelle Fakten, aber nur ein Minimum an visueller Ordnung. Courbet besaß, seinem Freund Francis Wey zufolge, die Fähigkeit, ein Objekt überzeugend zu malen - zum Beispiel einen weit entfernten Stapel gespaltenes Holz - ohne daß er wußte, was es war. Das ist ungewöhnlich bei Malern, und es ist, glaube ich, sehr bezeichnend.
Im frühen, romantischen Selbstportrait mit einem Hund zeigt er sich vor einem großen Felsblock, umrahmt von der Dunkelheit seines Umhangs und seines Huts. Er hat darin sein eigenes Gesicht und seine eigenen Hände mit exakt der gleichen Einstellung gemalt wie den Stein dahinter. Sie stellten für ihn vergleichbare visuelle Phänomene dar, verfügten über dieselbe visuelle Realität. Wenn Sichtbarkeit gesetzlos ist, gibt es keine Hierarchie der Erscheinungsformen. Courbet malte alles - Schnee, Fleisch, Haar, Fell, Kleider, Borke - so wie er es gemalt hätte, wenn es ein »Steingesicht« gewesen wäre. Er hat nie etwas gemalt, das Innerlichkeit besitzt, - die hat, erstaunlicherweise, nicht einmal seine Kopie eines Selbstportraits von Rembrandt - aber alles ist voller Verwunderung abgebildet: voller Verwunderung, weil Sehen, wo keine Gesetze vorhanden sind, bedeutet, ständig überrascht zu werden.
Gustave Courbet: Die schlafende Spinnerin, 1853, Öl auf Leinwand,
 91 x 115 cm, Musée Fabre, Montpellier
Vielleicht erweckt dies den Eindruck, ich würde Courbet als »zeitlos« betrachten, als eine ebenso unhistorische Erscheinung wie die Berge des Jura, die ihn so sehr beeinflußt haben. Das ist nicht meine Absicht. Der große Einfluß der Juralandschaft auf seine Malerei steht selbstverständlich im Zusammenhang mit der historischen Situation, in der er sich als Maler befand, und im Zusammenhang mit seinem spezifischen Temperament. Selbst in Erdzeiträumen hat der Jura nur einen Courbet »hervorgebracht«. Die »geographische Interpretation« gibt nur den Hintergrund, das Material und die visuelle Substanz für die gesellschaftlich-historische Interpretation ab.
Es fällt schwer, Timothy Clarks überzeugende und differenzierte Untersuchung über Courbet in ein paar Sätzen zusammenzufassen. Er gibt uns die Möglichkeit, die ganze Komplexität des politischen Zeitraums zu sehen. Er weist den Legenden, die den Maler umgeben, ihren Platz zu: der Legende des ländlichen Possenreißers mit dem hochbegabten Farbpinsel; der Legende des gefahrlichen Revolutionärs; der Legende des groben, betrunkenen, schenkelschlagenden Provokateurs. (Das wahrste und vielleicht sympathischste Portrait von Courbet ist das von Jules Valles in seinem Cri du Peuple.)
Dann zeigt Clark, wie Courbet in den großen Werken der frühen 1850er Jahre mit seinem maßlosen Ehrgeiz, seinem echten Haß auf die Bourgeoisie, mit seiner ländlichen Erfahrung, seiner Liebe zur Theatralik und einer außerordentlichen Intuition sich tatsächlich auf nichts geringeres einließ als auf eine doppelte Transformation der Malerei. Doppelt, weil sie eine Transformation von Bildgegenstand und Publikum umfaßte. Einige Jahre lang konnte er seine Inspirationen aus der Hoffnung auf die Popularisierung dieser Ideale schöpfen.
Gustave Courbet: Felsen bei Mouthier, 1863, Öl auf Leinwand,
 Philips Collection, Washington
Die Transformation bedeutete »die Eroberung« der damaligen Malerei und den Austausch des Publikums. Man kann Courbet, glaube ich, als den letzten »Meister« betrachten. Seine stupende Beherrschung der Farbbehandlung lernte er von den Venezianern, von Rembrandt, von Velázquez, von Zurbaran und anderen. Als Praktiker blieb er Traditionalist. Und doch erwarb er die Fähigkeiten, über die er verfügte, ohne die traditionellen Werte mit zu übernehmen, um derentwillen diese Fähigkeiten ursprünglich entwickelt worden waren. Man könnte sagen, daß er seinen Professionalismus gestohlen hat.
Ein Beispiel: die Praxis der Akt-Malerei war eng verbunden mit Werten des Takts, des Luxus und des Wohlstands. Der Akt war ein erotisches Ornament. Courbet stahl die Praxis der Aktmalerei und benutzte sie, um die »vulgäre« Nacktheit einer Landfrau darzustellen, deren Kleider in einem unordentlichen Haufen am Flußufer liegen. (Später, als die Desillusionierung einsetzte, schuf auch er erotische Ornamente wie Die Frau mit einem Papagei.)
Ein Beispiel: die Praxis des spanischen Realismus des 17.]ahrhunderts war eng verbunden mit dem religiösen Prinzip, daß Einfachheit und Strenge moralischen Wert besitzen und Klarheit Würde verleiht. Courbet stahl die Praxis und benutzte sie in den Steinklopfern, um die verzweifelte, unerbittliche ländliche Armut zu zeigen.
Gustave Courbet: Die Loue-Quelle, 1864, Öl auf Leinwand,
 98 x 130 cm, National Gallery of Art, Washington
Ein Beispiel: die im Holland des 17. Jahrhunderts gebräuchliche Praxis der Gruppenportraits diente dazu, einen bestimmten Esprit de corps zu feiern. Courbet stahl die Praxis für das Begräbnis in Ornans, um die Einsamkeit der Menge vor dem Grab aufzuzeigen.
Der Jäger aus dem Jura, der ländliche Demokrat und der Malerbandit haben sich für wenige Jahre, zwischen 1848 und 1856, im selben Maler zusammengefunden, um einige schockierende und einmalige Bilder zu schaffen. Alle drei betrachteten Erscheinungen als direkte, relativ konventionslos vermittelte Erfahrungen, die genau aus diesem Grund verblüffend und unberechenbar waren. Alle drei sahen die Welt gleichzeitig nüchtern (was Courbets Gegner als vulgär bezeichneten), und unschuldig (was Courbets Gegner dumm fanden). Nach 1856, während der Ausschweifungen des Zweiten Kaiserreichs, hat nur noch der Jäger manchmal Landschaften geschaffen, die anders waren als die irgend eines anderen Malers; Landschaften, auf denen Schnee liegen bleiben konnte.
Im Begräbnis, das zwischen 1849 und 1850 entstand, können wir etwas von der Seele Courbets erkennen, dieser einen Seele, die in verschiedenen Momenten Jäger, Demokrat, und Malerbandit war. Trotz seines Lebenshungers, seiner Aufschneiderei und seines sprichwörtlichen Lachens war Courbets Lebensauffassung düster, wenn nicht tragisch.
Gustave Courbet: Die Quelle & Badende an einer Quelle,
 1868, Öl auf Leinwand, 128 x 97 cm, Musée d‘Orsay
Quer über die Mitte der Leinwand, über ihre ganze Breite (beinahe sechseinhalb Meter), verläuft eine Zone der Dunkelheit, der Schwärze. Wörtlich läßt sich dieses Schwarz mit den Kleidern der Trauermenge erklären. Aber das Schwarz ist zu durchdringend und zu tief - selbst wenn man in Betracht zieht, daß das Gemälde in all den Jahren nachgedunkelt ist -, als daß sein Sinn sich darin erschöpfen könnte. Es ist die Dunkelheit der Tallandschaft, der anbrechenden Nacht und der Erde, in die der Sarg gelegt werden wird. Doch ich glaube, daß diese Dunkelheit auch eine gesellschaftliche und persönliche Bedeutung hat.

 Aus dieser Dunkelheit tauchen die Gesichter von Courbets Familienangehörigen, Freunden und Bekannten aus Ornans auf, die ohne Idealisierung und ohne Häme gemalt sind, ohne daß auf eine vorgegebene Norm zurückgegriffen wird. Das Gemälde wurde als zynisch, frevlerisch und roh bezeichnet. Man behandelte es wie eine Verschwörung. Doch um was ging es in dieser Verschwörung? Um einen Kult der Häßlichkeit? Um gesellschaftliche Unterwanderung? Um einen Angriff auf die Kirche? Die Kritiker suchten das Gemälde vergeblich nach irgendwelchen Anhaltspunkten ab. Niemand hat entdeckt, worauf das Subversive zurückzuführen war.
Courbet hatte eine Gruppe von Männern und Frauen gemalt, so wie sie bei einem Dorfbegräbnis erscheinen könnten, und er hatte sich geweigert, diesen Anblick zu organisieren (das heißt, ihn zu harmonisieren) und ihm so irgendeine falsche - oder auch wahre - höhere Bedeutung zu verleihen. Er hatte sich geweigert, der Kunst eine Funktion als Vermittlerin der Erscheinungen, die das Sichtbare adelt, zuzugestehen. Statt dessen hatte er, in Lebensgröße, auf einundzwanzig Quadratmetern Leinwand, eine Versammlung von Gestalten am Grabesrand gemalt, die nichts ausdrückte als: so sehen wir aus. Und genau in dem Maße, wie das Kunstpublikum in Paris diese Mitteilung vom Land aufnahm, leugnete es ihren Wahrheitsgehalt, indem es sie als bösartige Übertreibung bezeichnete.
Gustave Courbet: Selbstporträt mit schwarzem Hund, 1842,
 Öl auf Leinwand, 46 x 56 cm, Musée du Petit Palais, Paris
In seiner Seele kann Courbet das gewußt haben; vielleicht gaben ihm seine grandiosen Hoffnungen den Mut zum Weitermachen. Die Insistenz, mit der er - im Begräbnis, in den Steinklopfern, in den Bauern von Flagey - malte, was immer ins Licht trat, während er andererseits darauf insistierte, daß jedes Teil genau gleich wertvoll war, läßt mich vermuten, daß der dunkle Hintergrund gleichzusetzen ist mit tiefverwurzelter Ignoranz. Als er sagte, daß Kunst »der vollständigste Ausdruck eines existierenden Dings« sei, stellte er die Kunst jedem hierarchischen System oder jeder Kultur entgegen, die ihre Funktion darin sehen, einen bedeutenden Teil dessen, was existiert, in seinen Ausdrucksmöglichkeiten zu behindern, oder gar nicht erst zum Ausdruck kommen zu lassen. Er war der einzige große Maler, der die gewollte Unwissenheit der Kultivierten in Frage stellte.
Quelle: John Berger: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin, 1989, ISBN 3 8031 1114 5, Seite 78-86  [Kritik zum Buch]

Dem Infopaket liegt ein Text von Klaus Herding zu Courbets Realismus und seine Lichtmalerei bei. [Quelle]

Weitere Artikel über Courbet:
Archiv Bilder der Arbeit (Arbeit in der bildenden Kunst)

CD bestellen bei JPC


CD Info & Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 76 MB
Filepost --- Hotfile
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files

Zoltán Kodály (1882-1967): Musik für Violoncello

$
0
0
Noch heute wird der Name Zoltán Kodálys fast immer in einem Atemzug mit dem seines Landsmanns Béla Bartók genannt. Beiden Musikern gelang in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert die Erneuerung der ungarischen Musik. Mit ihrer schöpferischen Arbeit und ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit stellten sie die Kontinuität der ungarischen Musik wieder her und fügten sie in den europäischen Kontext ein. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten Kodály und Bartók über die Grenzen ihrer Heimat Ungarn hinaus Anerkennung gefunden, doch erst die Lösung Ungarns von Österreich 1918 setzte endgültig die künstlerischen Kräfte frei, die die eigenständige Entwicklung eines musikalischen Nationalstils begründeten.

Als unerschöpfliche Quelle für die Herausbildung eines eigenständigen Stils diente die ungarische Volksmusik, die Kodály und Bartók in schriftlichen und phonographischen Aufzeichnungen bei der Landbevölkerung sammelten. In nur wenigen Jahren trug Kodá1y drei- bis viertausend dieser Melodien zusammen, systematisierte sie und veröffentlichte sie zum Teil gemeinsam mit Bartók. Diese Melodien unterschieden sich deutlich von den im 19. Jahrhundert so beliebten »Zigeunermelodien«, die eher im städtischen Milieu entstandene Kunstmusik waren. In den Volksliedern und der Tanzmusik, die Kodály und Bartók bei ihren Feldforschungen in den verschiedenen Regionen Ungarns entdeckten, waren die Irregulariäten nicht zurechtgestutzt und dem Dur-Moll-System und dem Symmetrie-Ideal der klassischen Melodiebildung angepaßt. Gerade diese Abweichungen von den spätromantischen Ausdrucksmitteln waren es, die sie erforschten und für die Moderne konstruktiv nutzten.

Allerdings nahmen Kodály und Bartók auf dem Gebiet der musikalischen Erneuerung entgegengesetzte Positionen ein: Bartók benutzte die ungarische Volksmusik als Ausgangspunkt für seine eigenen musikalischen Neuerungen. Indem er die Strenge der folkloristischen Melodien noch verstärkte, die Komplexität der rhythmischen Strukturen erweiterte und den Primitivismus intensivierte, folgte er den avantgardistischen Strömungen seiner Zeit und gelangte über die Volksmusik hinaus zu einer objektiven, Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebenden Musiksprache.

Kodály dagegen scheint in seinen musikalischen Ambitionen bescheidener. Er versucht die ungarischen Elemente in seine Musik zu integrieren und griff Zeit seines Lebens auf authentische Volksliedmelodien für sein musikalisches Schaffen zurück. Er verwendete authentische Melodien der Städte Maroszzék und Galánta für Orchestertänze, und schuf eine ganze Oper aus originalen Volksliedern und Tänzen, die 1932 in Budapest aufgeführte Spinnstube. Das Thema seiner Variationen Der Pfauist einem ungarischen Volkslied entnommen, und seine bekannteste Oper Háry János zitiert einerseits direkt Volksliedmelodien, andererseits sind die Melodien so eng nach heimischen Mustern geformt, daß sie wie echtes Volksmusikmaterial erscheinen.

Die wenigen Kammermusikwerke, die Kodály überwiegend in den Jahren zwischen 1905 und 1920 schrieb, zeichnen sich durch eine hohe künstlerische Qualität aus. Trotz dieser bemerkenswerten Reife zählen sie jedoch zu seinen Jugendwerken und dienten in nicht unerheblichem Maße der Entwicklung und Vervollkommnung eines individuellen Stils.


Zoltán Kodály, 1932, von Károly Escher

Kodálys Bach-Transkription entstand 1951 und ist eine Bearbeitung des Präludiums und der Fuge es-Moll aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers. Sie ist »in dankbarer Erinnerung an seine wundervollen Wiedergaben« dem Cellisten Pablo Casals gewidmet, der 1950 anläßlich des 200-jährigen Bach-Jubiläums sein selbstauferlegtes Schweigen gebrochen hatte. Kodály transponierte die Stücke aus spieltechnischen und klanglichen Gründen in die Tonart d-Moll. Während das Präludium dem Cello den melodischen Vorrang gewährt, sind in der Fuge - der kontrapunktischen Gattung entsprechend - die Gewichtungen gleichmäßig auf Cello und Klavier verteilt.

Ursprünglich sollte die 1922 vollendete Sonatina für Cello und Klavier die zweisätzige Sonate op. 4 aus dem Jahr 1909 ergänzen. Jedoch hatte sich Kodálys Stil in den Jahren zwischen den beiden Werken so stark verändert, daß ihm eine Verbindung mit der früheren Sonate nicht mehr angemessen schien. Die formale Struktur der Sonatina ist zweiteilig, wobei der zweite Abschnitt bekanntes Material in variierter und transponierter Form wieder aufgreift. Die melodischen Konturen lassen deutlich den Einfluß des ungarischen Volksliedes erkennen.

Aus dem Jahr 1905 stammt das bewegende Adagio für Cello und Klavier, das auch in Fassungen für Violine oder Viola existiert. Es ist dem Geiger Imre Waldbauer gewidmet, einem Mitglied des Waldbauer-Kerpely-Quartetts, das sich durch sein Engagement für die zeitgenössische ungarische Kammermusik verdient gemacht hat. Kodály hatte dem Ensemble nicht nur sein zweites Streichquartett gewidmet, sondern auch eine Sonate für Cello und Klavier für den Cellisten Jenö Kerpely geschrieben. Kodály schrieb über sein Adagio:»Das Adagio zeigt keinerlei Einfluß des ungarischen Volksliedes. Der Stil ist ziemlich klar, fließend und international verständlich. Hätte ich in dieser Richtung weitergearbeitet, so hätte ich leichtere und schnellere Erfolge erreicht.«

Deutlich anspruchsvoller für den Interpreten ist das Capriccio für Violoncello solo aus dem Jahr 1915. Auf eine dramatische Einleitung folgt eine schnelle Passage mit geteilten Oktaven, die wiederum einen Abschnitt mit komplexerer Virtuosität umrahmt. Nach einer dramatischen Coda endet das Capriccio mit sanft gezupften Akkorden.

Zwei Jahre später komponierte Kodály das Ungarische Rondo. Es ist die Fassung für Violoncello und Klavier eines Werkes für Kammerorchester, das 1918 in Wien unter dem Titel Alte ungarische Soldatenlieder uraufgeführt wurde. Der Titel beschreibt hinlänglich die thematische Grundlage des Werkes, dessen erste charakteristische Melodie eine Reihe von Episoden einschließt, die wiederum auf traditionellem ungarischen Material beruhen.

Die Uraufführung des 1914 komponierten Duos für Violine und Violoncello op. 7 fand 1924 beim Internationalen Festival für Zeitgenössische Musik in Salzburg statt. Die ungewöhnliche Besetzung mit einem hohen und einem tiefen Streichinstrument eröffnet neue Klangmöglichkeiten, und der fortwährende Dialog zwischen Violine und Cello mit Imitation, Frage-und-Antwort-Spiel und Unisono-Passagen bringt die charakteristischen Eigenschaften beider Instrumente hervorragend zur Geltung. Der erste Satz ist ein regelmäßiger Sonatensatz; der zweite verleiht mit einem doppelfugenartigen Hauptthema und variierter Reprise der Sonatenform Fantasie-ähnliche Züge und der abschließende dritte Satz ergänzt eine Trioform um eine langsame Einleitung und eine Coda.

Quelle: Peter Noelke, im Booklet

Track 5: Capriccio for Solo Cello


TRACKLIST

Zoltán Kodály (1882-1967)

Music for Cello, Volume 2

Prelude and Fugue for Cello and Piano (Bach, tr. Kodály)
(1) Prelude 3:55
(2) Fugue 4:30

(3) Sonatina for Cello and Piano 9:31

(4) Adagio for Cello and Piano 9:14

(5) Capriccio for Solo Cello 5:21

(6) Hungarian Rondo for Cello and Piano 11:10

Duo, Op. 7, for Violin and Cello
(7) I. Allegro serioso, non troppo 9:21
(8) II. Adagio 10:22
(9) III. Maestoso e largamente, ma non troppo lento - Presto 9:21

Playing Time: 73:41

Maria Kliegel, Cello
William Preucil, Violin
Jenö Jandó, Piano

Recorded at the Clara Wieck Auditorium, from 10-11 October 1996 (1-4, 6)
and at the Kulturhalle Remchingen, on 2 September 1996 (5, 7-9).
Producer: Günter Appenheimer
Cover Painting: Tim Smith:In Medras Res (1995)

DDD (C)+(P) 1999

Rodin und die sexuelle Dominanz

Auguste Rodin: Danaide,  1885-89
Rodin zu William Rothenstein: »Die Leute sagen, ich denke zuviel über Frauen nach.« Pause. »Doch, alles in allem, was gibt es Wichtigeres?«

Sein fünfzigster Todestag. Zehntausende von Abzügen mit Rodin-Skulpturen sind dieses Jahr speziell für Jubiläumsausgaben und Sonderartikel in Magazinen gedruckt worden. Der Jubiläumskult ist zur schmerzlosen und oberflächlichen Information einer »kulturellen Elite« da, die aus konsumwirtschaftlichen Gründen ständig erweitert werden muß. Dabei wird Geschichte konsumiert - und nicht verstanden.

Unter den heute als bedeutend angesehenen Künstlern der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurde nur Rodin schon zu Lebzeiten, und zwar noch während er arbeitete, geehrt und offiziell gefeiert. Er war ein Traditionalist. »Die Idee des Fortschritts«, sagte er,»ist die übelste Form von Jargon in einer Gesellschaft.« Aus einer bescheidenen, kleinbürgerlichen Familie stammend, wurde er zum bedeutenden, zum Meister-Künstler. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn beschäftigte er zehn andere Bildhauer, um die Marmorstatuen zu meißeln, für die er berühmt war. Von 1900 an versteuerte er ein Jahreseinkommen von etwa 200.000 Francs: in Wirklichkeit war es wahrscheinlich noch beträchtlich höher.

Auguste Rodin: Hockende Frau, um 1880-82
Ein Besuch im Hôtel de Biron, dem Rodin Museum in Paris, in dem Versionen fast aller seiner Werke zu sehen sind, ist ein seltsames Erlebnis. Das Haus ist von Hunderten von Gestalten bevölkert: man hat das Gefühl, sich in einem Statuenasyl oder in einem Statuenarbeitsheim aufzuhalten. Wenn man zu einer Figur hingeht und sie mit den Augen befragt, wird man einiges von beiläufigem Interesse finden. (Einzelheiten einer Hand, einen Mund, die Bedeutung gewisser Titel.) Aber mit Ausnahme der Studien für die Balzac-Statue oder für den Gehenden Mann, der, zwanzig Jahre vorher entstanden, eine Art prophetischer Vorstudie für den Balzac darstellt, gibt es keine einzige Figur, die sich deutlich hervorhebt, und sich, entsprechend dem Grundprinzip freistehender Skulptur, behauptet: das heißt, keine einzige Figur, die den Raum, der sie umgibt, beherrscht.

Sie alle sind Gefangene ihrer Konturen. Die Wirkung ist kumulativ. Man fangt an zu bemerken, unter welch entsetzlichem Druck diese Figuren leben. Jedesmal, wenn irgendwo etwas nach außen drängen will, wird es durch eine unsichtbare Kraft niedergehalten und auf ein Oberflächenereignis für die Fingerspitzen reduziert. »Skulptur«, behauptete Rodin, »ist ganz einfach die Kunst der Vertiefung und Erhöhung. Davon kommt man nicht los.« Bestimmt nicht im Hôtel de Biron. Es ist, als ob die Gestalten zurück in ihr Material gezwungen würden: würde der bestehende Druck verstärkt, würden die dreidimensionalen Skulpturen zu Basreliefs: bei noch größerem Druck zum bloßen Abdruck auf der Wand. Das Höllentor stellt eine ungeheure und enorm komplexe Darstellung und Ausformung dieses Druckes dar. Die Hölle ist die Kraft, die die Gestalten zurück in die Tür zwingt. Der Denker, der die Szene überblickt, verwahrt sich - höchst angespannt -, mit irgend etwas Kontakt aufzunehmen, das von außen kommt; er zuckt sogar vor der Luft zurück, die ihn berührt.

Auguste Rodin: Die gefallene Karyatide
mit Urne, um 1883
Rodin wurde zu seinen Lebzeiten von philiströsen Kritikern wegen »Verstümmelung« seiner Figuren angegriffen - weil er Arme abhackte, Torsos köpfte, usw. Die Angriffe waren dumm und fehlgerichtet, entbehrten aber nicht ganz einer Grundlage. Die meisten der Gestalten Rodins sind so reduziert, daß sie keine unabhängigen Skulpturen mehr sind: sie sind unterdrückt worden.

Das gilt auch für seine berühmten Aktzeichnungen, bei denen er die Umrisse einer Frau oder Tänzerin zeichnete, ohne das Modell aus den Augen zu lassen, und sie anschließend mit einer Wasserfarbenlavierung kolorierte. So beeindruckend diese Zeichnungen oft sind - am zutreffendsten lassen sie sich mit gepreßten Blättern oder Preßblumen vergleichen.

Das Unvermögen seiner Figuren - immer mit Ausnahme des Balzac -, in ein räumliches Spannungsverhältnis mit ihrer Umgebung zu treten, wurde von seinen Zeitgenossen nicht wahrgenommen, weil sie sich ausschließlich mit der literarischen Interpretation seiner Werke befaßten, die durch die offensichtlich sexuelle Bedeutung mancher Skulpturen noch unterstützt wurde. Später wurde es übersehen, weil das wiedererwachte Interesse an Rodin (seit etwa fünfzehn oder zwanzig Jahren) sich auf seinen meisterhaften »Zugriff« auf die Oberfläche der Skulptur konzentrierte. Man betrachtete ihn als bildhauerischen »Impressionisten«. Trotz alledem ist es gerade dieses Unvermögen, eine räumliche Spannung herzustellen, dieser entsetzliche Druck, der auf Rodins Figuren lastet, der einen Anhaltspunkt für ihren wirklichen (wenn auch negativen) Inhalt gibt.

Auguste Rodin: Sie, die einst des Helmmachers
schöne Frau war, um 1880-85
Die Gestalt der ausgetrockneten alten Frau in Sie, die einmal die schöne Frau des Helmmachers war, mit ihren platten Brüsten und einer Haut, die gegen die Knochen gepreßt wird, ist exemplarisch für seine Sujet-Wahl. Vielleicht war sich Rodin seiner Prädisposition dunkel bewußt.

Oft hat die Tätigkeit einer Gruppe oder einer einzelnen Gestalt direkt mit der Ausübung von Druck zu tun. Paare umarmen sich - siehe Der Kuß, wo alles außer seiner Hand und ihrem Arm, die beide nach innen ziehen, spannungslos schlaff ist. Andere Paare fallen aufeinander. Gestalten klammern sich an die Erde, gleiten ohnmächtig zu Boden. Eine gefallene Karyatide trägt immer noch den Stein, der sie niedergedrückt hat. Frauen kauern in Winkeln, wie wenn sie hineingezwungen worden wären.

In vielen der Marmorarbeiten sollen Köpfe und Gestalten so aussehen, als ob sie nur halb aus dem unbehauenen Steinblock heraustreten würden: tatsächlich sehen sie so aus, als ob sie in den Block hineingepreßt sind und mit ihm verschmelzen. Wenn der in diesen Arbeiten nur angedeutete Vorgang zu Ende gebracht würde, so würden die Gestalten nicht unabhängig und befreit aus dem Stein hervortreten: sie würden darin verschwinden.

Selbst wenn die Haltung der Gestalt offensichtlich den auf sie ausgeübten Druck zu leugnen scheint - wie das bei einigen der kleineren Bronzen von Tänzerinnen der Fall ist - hat man das Gefühl, daß die Gestalt immer noch das unselbständige, knetbare Wesen in der formenden Hand des Bildhauers bleibt. Diese Hand faszinierte Rodin. Er stellte sie dar, wie sie eine unvollendete Gestalt und einen Klumpen Erde hielt, und nannte sie Die Hand Gottes.

Auguste Rodin: Die Hand Gottes
(Die Schöpfung), 1896-98
Rodin erklärt selbst: »Kein guter Bildhauer kann eine menschliche Gestalt modellieren, ohne sich mit dem Mysterium des Lebens auseinanderzusetzen. Dieses und jenes Individuum erinnert ihn mit seinen flüchtigen Variationen nur an den darin enthaltenen Grundtypus; vom Geschöpf wird er beständig zu seinem Schöpfer geführt ... Darum haben manche meiner Gestalten immer noch eine Hand oder einen Fuß im Marmorblock eingeschlossen; Leben ist überall, aber selten genug gelangt es zum vollständigen Ausdruck oder das Individuum zur vollkommenen Freiheit« (Isadora Duncan, My Life, London 1969).

Doch wenn der Druck, den seine Gestalten erleiden, als eine Art pantheistischer Fusion mit der Natur erklärt werden soll, warum wirkt er sich in bildhauerischer Hinsicht so verheerend aus?

Rodin war ein außerordentlich fähiger und begabter Bildhauer. Wenn man davon ausgeht, daß sein Werk eine durchgehende und grundlegende Schwäche offenbart, sollte man eher seine Persönlichkeit untersuchen als seine Ansichten.

Rodins unersättlicher sexueller Appetit war zu seinen Lebzeiten wohlbekannt, obwohl seit seinem Tode gewisse Aspekte seines Lebens und seines Werks (einschließlich mehrerer hundert Zeichnungen) geheimgehalten werden. Alle, die über Rodins bildhauerisches Werk schreiben, haben seine sexuelle oder sinnliche Qualität festgestellt. Aber immer wieder wird seine Sexualität nur als ein Ingrediens behandelt. Mir scheint, daß sie die ursprüngliche Motivation seiner Kunst ist - und nicht nur im Sinne einer Freudschen Sublimierung.

Auguste Rodin: Der Schmerz, um 1889-92

Isadora Duncan beschreibt in ihrer Autobiographie, wie Rodin sie zu verführen versucht hat. Sie widerstand - zu ihrem späteren Bedauern: »Rodin war untersetzt, vierschrötig, kräftig, mit kurzgeschorenem Kopf und mächtigem Bart ... Manchmal murmelte er die Namen seiner Statuen, aber man spürte, daß ihm die Namen wenig bedeuteten. Er fuhr mit seinen Händen über ihre Oberfläche und liebkoste sie. Ich erinnere mich, wie ich mir vorstellte, daß der Marmor unter seinen Händen wie geschmolzenes Blei zu fließen schien. Schließlich nahm er ein kleines Stück Lehm und drückte es zwischen seinen Handflächen zusammen. Dabei atmete er schwer ... In wenigen Augenblicken hatte er die Brust einer Frau geformt. .. Dann hielt ich inne, um ihm meine Theorien für einen neuen Tanz zu erklären, aber ich begriff bald, daß er nicht zuhörte. Er starrte mich unter halbgeschlossenen Lidern an, seine Augen funkelten, und dann kam er, mit dem gleichen Gesichtsausdruck, den er auch vor seinen Statuen hatte, auf mich zu. Er fuhr mit seinen Händen über meine Hüften, meine bloßen Beine und Füße. Er fing an, meinen ganzen Körper so zu kneten, als ob er aus Lehm bestünde, während von ihm eine Hitze ausging, die mich versengte und dahinschmelzen ließ. Ich sehnte mich nur noch danach, ihm mein ganzes Wesen hinzugeben ...«

Rodin scheint bei Frauen von dem Moment an erfolgreich gewesen zu sein, als er auch als Bildhauer Erfolg hatte (mit etwa vierzig Jahren). Sein ganzes Auftreten - und sein Ruhm - schien damals ein Versprechen zu enthalten, das Isadora Duncan, gerade weil sie es indirekt beschreibt, hervorragend darstellt. Er verspricht den Frauen, sie zu gestalten: sie werden zu Lehm in seinen Händen. Eine Beziehung, die ihren symbolischen Ausdruck in der Beziehung findet, die seine Statuen zu ihm haben.

»Als Pygmalion nach Hause zurückkam, ging er sogleich zu der Statue des Mädchens, die er liebte, lehnte sich über das Ruhebett, und küßte sie. Sie schien warm; er legte noch einmal seine Lippen auf die ihren und berührte ihre Brust mit seiner Hand - bei seiner Berührung verlor das Elfenbein seine Härte und wurde weich: seine Finger hinterließen einen Abdruck auf der nachgiebigen Oberfläche, genau wie Wachs vom Hymetus in der Sonne schmilzt, und, dadurch daß Menschen es verarbeiten, die mannigfaltigsten Formen annimmt, und so, weil es gebraucht wird, selber brauchbar wird.« (Ovid, Metamorphosen, Buch X)

Auguste Rodin: Paolo und Francesca, um 1887-89
Was wir als »Pygmalion-Versprechen« bezeichnen können, ist vielleicht für viele Frauen ein grundlegender Bestandteil männlicher Anziehungskraft. Wenn es dabei ausdrücklich um einen Bildhauer und seinen Lehm geht, wird seine Wirkung allein deswegen intensiver, weil sie bewußt erkennbar ist.

Bemerkenswert im Fall von Rodin ist, daß er selber das »Pygmalion-Versprechen« attraktiv gefunden hat. Ich glaube nicht, daß er nur deswegen mit dem Lehm gespielt hat, um Isadora Duncan empfänglicher für seine Verführungskünste zu machen. Auch die Ambivalenz von Lehm und Fleisch hat ihren Reiz auf ihn ausgeübt. Die Venus von Medici beschrieb er so:

»Ist es nicht wunderbar? Geben Sie zu, daß Sie nicht erwartet haben, so viele Details zu entdecken. Sehen Sie nur die zahllosen Wellenbewegungen in der Vertiefung, die Körper und Schenkel verbindet ... Beachten Sie den wollüstigen Schwung der Hüfte ... Und jetzt, hier, die wunderbaren Grübchen entlang der Lenden ... Es ist wirklich Fleisch ... Man könnte glauben, es sei durch Liebkosungen geformt worden! Man erwartet beinahe, daß der Körper warm ist, wenn man ihn berührt.«

Dies scheint mir eine Art Inversion des ursprünglichen Mythos und des sexuellen Archetyps, auf den er anspielt, zu sein. Der ursprüngliche Pygmalion stellt eine Statue her, in die er sich verliebt. Er betet, sie möge lebendig werden, aus dem Elfenbein, woraus er sie geschnitzt hat, erlöst werden, sie möge unabhängig werden, damit er ihr als Gleichgestellter statt als Schöpfer begegnen kann. Rodin dagegen will die Ambivalenz von lebender und geschaffener Figur verewigen. Er meint, seinen Statuen das sein zu müssen, was er den Frauen ist, und er will den Frauen das sein, was er seinen Statuen ist.

Auguste Rodin: Schreitender Mann,
1877-1900
Judith Cladel, seine hingebungsvolle Biographin, beschreibt, wie Rodin arbeitet und sich beim Modell Notizen macht: »Er lehnte sich näher an die ruhende Gestalt, und, weil er fürchtete, daß der Klang seiner Stimme ihre Lieblichkeit stören könnte, flüsterte er: 'Halte Deinen Mund so, als ob Du auf der Flöte spielen würdest. Noch einmal! Noch einmal!'

Dann schrieb er: 'Der Mund, die luxuriösen, hervortretenden Lippen mit ihrer sinnlichen Eloquenz ... Hier kommt und geht der parfümierte Atem wie Bienen, die in den Stock ein- und ausfliegen ...'

Wie glücklich er während dieser Stunden tiefer Heiterkeit war, wenn er das ungestörte Zusammenspiel seiner Sinne genießen konnte! Eine Ekstase höchster Art, denn sie nahm nie ein Ende:

'Was für eine Freude mir meine ununterbrochene Bemühung um die Menschenblüte macht!'

'Was für eine Wonne, daß ich in meinem Beruf lieben und auch von meiner Liebe sprechen kann!'« (Zitiert von Denys Sutton, »Triumphant Satyr«, London, Country Life, 1966)

Auguste Rodin: Nackte
Studie von Balzac, um 1892
Wir können jetzt langsam verstehen, warum seine Figuren den Raum um sie herum nicht behaupten oder dominieren können. Sie sind körperlich komprimiert, eingekerkert, durch die Kraft des Dominators Rodin zurückgezwungen. Objektiv gesprochen sind diese Werke Ausdruek seiner eigenen Freiheit und Phantasie. Aber weil Lehm und Fleisch in seiner Vorstellung auf so ambivalente und fatale Weise verwandt sind, ist er gezwungen, sie so zu behandeln, als ob sie eine Herausforderung an seine eigene Autorität und Potenz darstellen würden.

Darum arbeitet er selbst nie in Marmor, sondern nur in Lehm, und überläßt es seinen Angestellten, ein eigenwilligeres Material zu behauen. Nur so kann man seine Bemerkung zutreffend interpretieren: »Das erste, an was Gott dachte, als er die Welt schuf, war modellieren.« Dies ist die überzeugendste Erklärung dafür, warum er sich in seinem Studio in Meudon eine Art Leichendepot voller modellierter Hände, Beine, Füße, Köpfe und Arme einrichtete, mit denen er gerne spielte und prüfte, ob er sie an neu geschaffene Körper anfügen konnte.

Warum ist der Balzac eine Ausnahme? Unsere bisherigen Überlegungen lassen bereits auf eine Antwort schließen. Es ist die Statue eines Mannes von ungeheurer Kraft, der über die Welt schreitet. Rodin hielt sie für sein Meisterstück. Alle, die über Rodin schreiben, stimmen darin überein, daß er sich selbst mit Balzac identifiziert hat. In einer Akt-Vorstudie wird die sexuelle Bedeutung ziemlich deutlich: Die rechte Hand umfaßt den erigierten Penis. Der Balzac ist ein Monument für die männliche Potenz. Frank Harris schrieb über eine spätere, bekleidete Version - und das gilt ebenso für die Endfassung: »Unter der alten Mönchskutte mit ihren leeren Ärmeln hält sich der Mann aufrecht, seine Männlichkeit entschlossen mit Händen gepackt, den Kopf zurückgeworfen.« Dieses Werk stellt eine so direkte Bestätigung Rodins eigener sexueller Kraft dar, daß er sich dieses eine Mal davon beherrschen lassen konnte. Oder, um es anders auszudrücken- als er am Balzac arbeitete, schien ihm der Lehm, vielleicht das einzige Mal in seinem Leben, männlichen Geschlechts zu sen.

Auguste Rodin: Balzac, 1898

Die Widersprüchlichkeit, die so viel von Rodins Kunst verdirbt und gewissermaßen zu ihrem tiefsten und dabei negativen Inhalt wird, muß in mancher Hinsicht Teil seiner Person gewesen sein. Aber sie war auch typisch für eine historische Situation. Rodins Skulpturen machen, wenn man sie eingehend genug analysiert, in einzigartiger Weise die Natur der bürgerlichen Sexualmoral in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts deutlich. Zum einen die Hypokrisie, die Schuld, die dazu führt, ein starkes Sexualbedürfnis - selbst wenn es befriedigt werden kann - fieberhaft und gespenstisch erscheinen zu lassen. Zum anderen die Furcht, daß die Frauen (als Besitz) verlorengehen und die Notwendigkeit, diese ununterbrochen zu kontrollieren.

Da ist Rodin, der Frauen für das Wichtigste auf der Welt hält. Daneben derselbe Mann, der knapp erklärt: »In der Liebe zählt als einziges der Geschlechtsakt.«

Quelle: John Berger: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin, 1989, ISBN 3 8031 1114 5, Seite 115-122


Rainer Maria Rilke: Auguste Rodin (Online bei Zeno)

CD bestellen bei jpc


CD Info & Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 25 MB
Filepost --- Hotfile

Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files

Joseph Marx (1882-1964): Die Werke für Klavierquartett (1911)

$
0
0
Der musikalische Impressionismus ist eine Erscheinung, die primär als französisch verstanden wird (wie ja auch in der Malerei), assoziiert mit einem Großteil des erneuernden OEuvres von Claude Debussy und verschiedenen Werken von Gabriel Fauré, Maurice Ravel (Daphnis et Chloe, Jeux d'eau), Albert Roussel (Poème de la forêt, Écocations), Paul Dukas (L'apprenti sorcier, La péri), Charles Koechlin (La course de printemps, Les heures persanes), Florent Schmitt oder Désiré-Émile Inghelbrecht sowie ihrer Nachfolger. Impressionistisches Komponieren ist gleichbedeutend mit dem ständigen Wechsel der Klangfarben, oftmals vagierender Harmonik (Enharmonik, Ganztonleiter, übermäßiger Dreiklang), dem Ausbrechen aus den tradierten strukturellen Konventionen (Diffusion des klassischen Kontrapunkts, Modalität, Aufheben der kadenziell eindeutig gerichteten Leittönigkeit), Fluktuation und Oszillation des Tonsatzes, scheinbarer Statik des Moments in verschwimmenden, unvorhersehbar verfließenden Strukturen, oft auch in der Rhythmik und Metrik.

Das geht einher mit einem verstärkten Erspüren des Potentials der Klangfarben und ihrer kunstreichen Kombination, mit einem immer subtileren Gebrauch von verfeinerter Harmonik und ausdifferenzierter Farbe, mit Auffächerung, Transparenz, verfeinerter Ausdifferenzierung, Aufgabe der zielstrebigen Eindeutigkeit des energetischen Verlaufs. Immer spielt der Widerhall der Irregularität und im Sinnenrausch der Erscheinung verborgenen Formprinzipien der Natur eine tragende Rolle. Starke impressionistische Tendenzen finden wir auch im Schaffen der Italiener Ottorino Respighi, Ildebrando Pizzetti und teilweise auch Gian Francesco Malipiero, Alfredo Casella und Ferruccio Busoni, der Russen Alexander Skriabin und Nikolai Tscherepnin, der Engländer Frederick Delius und Ralph Vaughan Williams, des Polen Karol Szymanowski, des Rumänen George Enescu, des Spaniers Manuel de Falla, des Brasilianers Heitor Villa-Lobos, des Schweden Gösta Nystroem oder der Österreicher Joseph Marx und Theodor Berger.

Joseph Marx (1882-1964)
Bei aller Verwandtschaft in der opulenten Verfeinerung des Klangs - und zumal einige Orchesterwerke Joseph Marx' wie vor allem die Naturtrilogie sind Musterbeispiele impressionistischer Tonmalerei - besteht doch ein deutlich vernehmbarer Unterschied zwischen dem zur unermesslichen Leichtigkeit strebenden französischen Impressionismus, dessen unbestreitbare Haupterscheinung das immer aufs Neue ins Abenteuer des Unbekannten eintauchende Genie Claude Debussy war, und der pittoresken, stets linearer orientierten Neigung der Italiener, der luxuriös robusten, haptischen Klanglichkeit der Russen, und vor allem der von der Tradition nach-bachisch kontrapunktischen Handwerks und nach-beethovenisch/wagnerisch romantischer Harmonik und thematischer Arbeit geprägten Deutschen und Österreicher. Die Schwere und metaphysische Bedeutsamkeit der germanischen Tradition bildet so etwas wie den schärfsten Gegensatz zur Flexibilität und Schwerelosigkeit der flimmernd-irisierenden Welt der (französischen) Impressionisten.

Und genau dieser Gegensatz ist es, der sich im Schaffen des Steirers Joseph Marx am offenkundigsten bemerkbar macht. Wie viele Künstler des deutschen Sprachraums ist er zeitlebens von einer unstillbaren Sehnsucht nach dem Süden - manifest in der Glorifizierung des antiken Italien - durchdrungen, was in Werken wie dem Klavierkonzert Castelli Romani ebenso sympathiebekundenden Ausdruck findet wie in der freundschaftlichen Verehrung Ottorino Respighis. Marx' OEuvre ist ein jugendstilhaft prunkendes Bindeglied zwischen dem von Bach, Beethoven, Wagner, Brahms und Reger Ererbten und den internationalen Einflüssen Italiens (Puccini, Respighi), Frankreichs (Debussy, Ravel, Florent Schmitt), Polens (Szymanowski) und Russlands (Skriabin), opulent verwoben mit einem starken Eigenwillen und immenser, zur akkordischen Überladung des Satzes und dionysischen Überwucherung der Struktur tendierenden Klangpracht.

Marx und Anna Hansa, 1912, Grambach bei Graz
Joseph Rupert Rudolf Marx wurde am 11. Mai 1882 in Graz geboren. Er erhielt ersten Klavierunterricht von seiner Mutter, dann an der Klavierschule Johann Buwas, und erreichte beträchtliche Meisterschaft am Instrument. Daneben erlernte er im Selbststudium auch das Geigen-, Bratschen- und Cellospiel. Auf der Volksschule war es Joseph Gauby, ein Schüler Robert Fuchs' und Herausgeber steirischer Volkslieder, der als Musiklehrer das musikantische Feuer in Joseph Marx schürte. Seine ersten Kompositionen - zunächst überwiegend Arrangements bekannter Stücke aus der Klavierliteratur und Oper für kleine Kammerbesetzungen zum täglichen Gebrauch - schrieb Marx als Gymnasiast. Seine musikalische Begabung war zwar offenkundig, doch studierte er zunächst auf Wunsch des Vaters Jura, um dann zu Philosophie und Kunstgeschichte überzuwechseln, was zum Zerwürfnis mit dem Elternhaus führte. 1908 erwarb er den Doktortitel in Philosophie, und damit war er frei vom Joch der herkömmlichen Erwartungen. Noch im selben Jahr, 26-jährig, fing er wieder zu komponieren an und schrieb innerhalb von vier Jahren (1908-12) vier Fünftel seines insgesamt 150 Kompositionen umfassenden Liedoeuvres. Mit den Liedern kam der unverhoffte Erfolg, und schon bald erlangte Marx als Liedkomponist internationale Reputation. Das Liedschaffen ist bei ihm in unmittelbarem Zusammenhang mit der Liedbegleitungspraxis erwachsen, was gewiss entscheidend zur Natürlichkeit und Dankbarkeit der Werke beitrug.

Als Komponist war Joseph Marx erstaunlicherweise Autodidakt, der sich vor seinen ersten Liederfolgen vor allem in intensivem Orgelstudium kontrapunktisch, harmonisch und formal vervollkommnete, und brachte es damit früh zu technisch souveräner Meisterschaft. Andreas Liess schreibt in seiner völkisch-emphatischen Marx-Biographie von 1942, er habe »bereits mit achtzehn Jahren seinen originellen persönlichen Stil gefunden, der zwar noch vertieft, verfeinert werden konnte, aber grundsätzlich in seiner charakteristischen Zeichnung feststand. Man hat die geringe Entwicklung in seinem Gesamtschaffen, die erst in den letzten Jahren stilistisch eine stärkere Abschattierung erfuhr, Marx gelegentlich vorgeworfen. […] Für Marx ist das Beharren in dem einmal errungenen Stilkreis das Zeichen eines sich ständig neu gestaltenden Urerlebnisses der Musik in einer Form und Geistigkeit, die fest in jener Zeit der Jahrhundertwende und in ihrer Kunst verankert ist.«

Joseph Marx, 1925
Die Bestätigung, die er als Liedkomponist erfuhr, ließ Marx nun auch in andere, anspruchsvollere Gefilde tonsetzerischer Betätigung vordringen. 1911 war sein erstes der Kammermusik gewidmetes Jahr, in welchem er seine drei Werke für Klavierquartett schrieb: ein Klavierquartett in Form einer Rhapsodie, ein Scherzo und eine Ballade. Mögen die Titel mehr oder minder eher anmuten wie Kleinigkeiten, so handelt es sich tatsächlich um umfangreich angelegte, symphonisch ambitionierte Kompositionen, allesamt Großformen - hätte er noch eine Art Finale hinzugefügt, so hätte dies einen viersätzigen Zyklus, eine Art gewaltiger, 80-minütiger »Symphonie« für Klavierquartett ergeben können - für eine Kombination von Instrumenten übrigens, die er allesamt selbst spielte. In allen drei Stücken herrscht ein dunkler, schwerblütiger Tonfall vor, dicht und farbengetränkt, erstaunlich idiomsicher die heterogenen Klangquellen von Klavier und Streichern verschmelzend. Obwohl durchaus kontrastierende, sonatenhaft dualistische Strukturprinzipien den Ausgangspunkt der Form bilden, ist doch der Tonfall insgesamt auffallend kontinuierlich gleitend, es ist mehr so, dass alles mit allem verwoben, sich gegenseitig in vielfältiger Durchdringung widerspiegelnd erscheint, als dass es zu einem konfrontierenden Konflikt gegensätzlicher Welten im Beethoven'schen Sinne käme.

In dieser in weit austreibendem Rankenwerk wuchernden Gesamtpsychologie der Form steht Marx der Exzessivität Max Regers, der ihn als heftigst umstrittener Neuerer seiner Jugendjahre stark beeindruckte, nahe, kontrapunktiert vom harmonisch mäßigenden, motivisch und polyphon disziplinierenden Einfluss Johannes Brahms'. So fließen hier denn auch Strömungen der schwelgerisch ausufernden Nachromantik, des emporzüngelnden, zu Verdichtung neigenden und zugleich jugendstilhaft ornamentisch verzückten Expressionismus und des unablässig scheinbar absichtslos changierenden Impressionismus ineinander.

Mittlerweile betätigte sich Marx auch als Musiktheoretiker und legte zwei substanzielle Arbeiten über Klangpsychologie und über das Wesen der Tonalität vor (von denen letztere mit dem ,Wartinger'-Preis der Grazer Universität ausgezeichnet wurde und von manchen Kennern als eine der gehaltvollsten Abhandlungen über diese für die musikideologischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts so zentrale Thematik angesehen wird). 1914 bestellte man ihn daraufhin zum Theorieprofessor an der Musikakademie an der Wiener Universität, wo er 1922 Direktor wurde. Er war dann maßgeblich an der Gründung der Wiener Musikhochschule beteiligt und wirkte 1924-27 als deren erster Rektor. Marx etablierte sich schnell als eine der führenden Musikerpersönlichkeiten Wiens, zunächst Seite an Seite mit dem etwas älteren Generationsgenossen und bewunderten Symphoniker Franz Schmidt, wo er allerdings zusehends in eine konservative Rolle geriet, als Bewahrer der Werte der nachromantischen Tradition und Hüter des Tempels des klassischen Kompositionshandwerks.


Anton Wildgans, Anna Hansa, Joseph Marx, 1930
 1932 begann er im Auftrag von Mustafa Kemal (Atatürk) mit dem Aufbau eines nach westlichem Vorbild ausgerichteten Musiklebens und Musikschulsystems in der türkischen Hauptstadt Ankara (eine Aufgabe, mit der betraut ihm nach einem Jahr der progressive Paul Hindemith nachfolgen sollte). Marx betätigte sich auch als Kulturredakteur und scharfzüngiger, gleichwohl maßvoller Kritiker, und als Kompositionslehrer hat er in 43-jähriger Tätigkeit ca. 1300 Schüler gehabt. Nach dem Zweiten Weltkrieg komponierte Marx nur noch wenig, nahm viele Ehrungen entgegen, bekleidete gewichtige administrative und repräsentative Ämter, und musste zusehen, wie seine Musik - ausgenommen die Lieder im häuslichen Gebrauch - schnell aus der Mode kam. Er starb am 3. September 1964 in Graz, hochgehalten als Hohepriester der Altvorderen, und längst ausgeblendet von den jüngeren Generationen.

Joseph Marx' kompositorisches Vermächtnis ist recht leicht zu überblicken, da er verhältnismäßig wenige Gattungen konzentriert in intensiv fruchtbaren Phasen ausschöpfte und sich vom Theater und der konfessionell geistlichen Musik fern hielt. Neben den vielen Liedern steht ein recht überschaubares Kammermusik-OEuvre, einige Klavier- und Orgelmusik, 6 Chorwerke mit Orchester - das Gewaltigste hat er fürs große Orchester geschrieben, und so ist er besonders bemerkenswert in den ganz kleinen und in den großen Formen. An die Klavierquartettsaison 1911 schloss sich 1913-14 eine zweite Periode intensiven Kammermusikschaffens an, die eine große Trio-Phantasie für Klaviertrio, die erste von 2 Sonaten für Violine und Klavier in A-Dur sowie eine Suite in F-Dur und eine Pastorale für Cello und Klavier hervorbrachte. Zwischen 1936 und 1941 entstanden dann seine drei Streichquartette (Quartetto chromatico [1948 revidierte Fassung des 1. Quartetts in A-Dur], Quartetto in modo antico, Quartetto in modo c1assico), die einen abgeklärten Ton einleiten, der bereits wie ein »Altersstil« anmutet.

Joseph Marx, circa 1962
Marx' erste Werke mit Orchester verwendeten dieses allesamt als instrumentale Erweiterung des liedbegleitenden Klaviers: zunächst der Morgengesang für Männerchor und Orchester von 1910 und die Berghymne für gemischten Chor und Orchester (ca. 1910); diesen folgten Herbstchor an Pan (1911), Abendweise (1912), Gesang des Lebens und Ein Neujahrshymnus (beide 1914). Fünf Jahre vergingen, bis er sich dem Orchester als zentralem Medium zuwandte, und auch dann noch zuerst als konzertantem Partner: 1919-20 komponierte Marx sein monumental virtuoses Romantisches Klavierkonzert. 1921 vollendete er sein magnum opus: Eine Herbstsymphonie, ein kathartisch ausufernd viersätziges, orgiastisch übersteigertes Tongemälde auf das Naturdrama des Herbsts, das in der Literatur der orchestralen Kolosse eine einmalige Position einnimmt und aufgrund des großen Aufwands nur sehr selten aufgeführt wird (eine Studienpartitur ist in der exquisiten Serie Repertoire Explorer erhältlich).

1922-25 schrieb er als heiter versöhnliches Gegenstück dazu die impressionistisch schillernde Naturtrilogie, bestehend aus Eine symphonische Nachtmusik, Idylle-Concertino über die pastorale Quart und Eine Frühlingsmusik (alle drei Stücke sind auch gleichberechtigt zur Einzelaufführung vorgesehen). Nach einer Gelegenheitskomposition, der Festlichen Fanfarenmusik für Blechbläser, Pauken und kleine Trommel von 1928, beschlossen die dunkle Nordland-Rhapsodie von 1929 und das lichte zweite Klavierkonzert Castelli Romani (1929-30) den Reigen von Marx' monumental nachromantisch-impressionistischen Orchestergemälden. 1941 folgten noch die nostalgischen Alt-Wiener Serenaden, 1944-45 die Streichorchesterfassungen des 3. und 2. Streichquartetts (Sinfonia in modo classico und Sinfonia in modo antico), und 1946 schließlich die separate Einrichtung Feste im Herbst (ursprünglich Ein Herbstpoem) des Finales der Herbstsymphonie (die van 1927 bis 2005 unaufgeführt bleiben sollte).

Gustav Klimt: Fritza Riedler, 1906
Dass Joseph Marx eine verschwenderische Kraftnatur, schaffend aus überquellender Fülle des Mitteilungsstroms, war, daran lassen die drei Werke für Klavierquartett von 1911 keinen Zweifel. Wie die Lieder sind sie ursprünglich für die Besetzung entstanden, die dem Komponisten unter eigener Mitwirkung zur Verfügung stand, in der er vollkommen zuhause und mit einem weiten Spektrum an Literatur vertraut war. Die Rhapsodie in A-Dur fasst in organisch ineinander verfließender Weise die nur noch schwerlich separierbaren vier Sätze einer Sonate in einem mächtigen Satzgebilde zusammen. Endlos erscheinende lyrische Episoden, die Kapazität des kleinen Instrumentariums rücksichtslos aus- und überlastende, ausgedehnte Steigerungen (ein wahrer Grenzgang für die Kräfte eines jeden Musikers), episch ausgebreiteter Kontrapunkt und rustikal tänzerischer Schwung sind charakteristisch für dieses ehrgeizig monumentale Werk. Auch das Scherzo in d-moll ist ausgesprochen üppig angelegt, kann in seinen Dimensionen allenfalls mit der Elle einiger ausgewachsenen symphonischen Scherzi der spät- und nachromantischen Ära gemessen werden (Bruckner, Mahler, Schmidt).

Schon innerhalb des Scherzo-Hauptteils sind die Gegensätze so ausgeprägt, dass das kurze, frappierend einfache Trio in B-Dur eine echte Überraschung bildet, welcher eine um den langen Anfangsteil verkürzte Wiederholung des gewaltigen Scherzos folgt. Beide Werke wirken wie aufs Kammerformat zurechtgestutzte, in die kleine Besetzung hineingezwungene symphonische Bekenntnisse. Genuine Kammermusik in der Synthese von Inhalt und Form ist insofern einzig die Ballade in a-moll, die zugleich am deutlichsten dem dualistischen Bauprinzip der Sonatenform entspricht. Das Hauptthema ist dem Studium der bachischen Polyphonie entsprungen, im stimmungshaft ausgesponnenen Ton dem unerfüllbaren Sehnen der Nachromantik einverleibt, und wird zunächst in der Art einer meditativ kreisenden Fuge fortgeführt. Viel offensichtlicher Kontrapunkt und motivische Arbeit (Vergrößerung, Kombination der Hauptthemen, Abspaltungen) dienen als zentripetaler Pol im narrativ wogenden Forttreiben der Klanggestalten.

Quelle: Christoph Schlüren, Februar 2010, im Booklet


Track 2: Scherzo for Piano Quartet in D minor

TRACKLIST

Joseph Marx (1882-1964)

The Works for Piano Quartet

[1] Rhapsody in A major 27'47

[2] Scherzo in D minor 16'45

[3] Ballad in A minor 17'32

T.T: 62'26
Oliver Triendl, Piano
Daniel Gaede, Violin
Hariolf Schlichtig, Viola
Peter Bruns, Violoncello

Recording: BR München, Studio 2, June 9 & 11, 2009
Recording Producer & Digital Editing: Wolfgang Schreiner
Balance Engineer: Winfried Messmer
Executive Producers: Pauline Heister/Burkhard Schmilgun
Cover Painting: Gustav Klimt:"Bildnis Fritza Riedler" 1906,
Österreichische Galerie Belvedere, Vienna

(P) 2010,

Das verfälschte Fin de Siècle
Ernst Mach: Selbstporträt, 1900. Publiziert in seinem
 Werk "Die Analyse der Empfindungen", 1900

I.

Wenn in Österreich Bücher unter anspruchsvollen Titeln wie "Moderne Malerei in Österreich" wie z. B. von Werner Hofmann erscheinen, frägt man sich unwillkürlich, welche Malerei wohl damit gemeint sein könnte. Denn wenn wir die üblichen Diagramme zur Entwicklung der modernen Kunst bzw. über die Hauptrichtungen der Kunstströmungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachten, finden wir Futurismus, Kubismus, Surrealismus, Bauhaus usw., aber nicht Jugendstil, Secessionismus usw. Dahinter verbirgt sich das verdrängte Problem, wieweit die Wiener Kunst der Jahrhundertwende tatsächlich Teil der Moderne war bzw. Beiträge zur Konstruktion der Moderne geliefert hat. Entlang dieser Problemstellung wollen wir einige voluminöse Kataloge überprüfen, die in den 80er Jahren zur Kunst der Jahrhundertwende erschienen sind. Bemerkenswertes geht daraus hervor: Vom Bildmaterial wie vom theoretischen Niveau sind die französischen und italienischen Kataloge zur Kunst Wiens um 1900 weitaus besser als der österreichische. Im Katalog zur Wiener Ausstellung z. B. kommt der Name Ernst Mach kaum vor, höchstens in einer Anmerkung. Dabei war Ernst Mach die zentrale Figur Wiens um 1900. Im italienischen und französischen Katalog gibt es hingegen jeweils ein Kapitel über Ernst Mach. Es versteht sich von selbst, daß in Werner Hofmanns Buch zur modernen Malerei in Österreich wie auch in "Experiment Weltuntergang" der Name Mach nicht vorkommt. Ich erwähne diese Beispiele, um auf einen methodischen Mangel bei der Betrachtung der Kunst der Jahrhundertwende in Österreich hinzuweisen. Im Ausland ist es wohl bekannt, daß zwischen der Philosophie Ernst Machs und der Secession ein Zusammenhang besteht und damit wird auch die Wechselbeziehung zwichen Kunst und Wissenschaft bzw. Kunst und politischer Geschichte konstatiert. Österreichische Kunstgeschichtsschreibung hat diese Zusammenhänge grosso modo negiert und damit ein unvollständiges Bild der Epoche geliefert.

Als Hugo von Hofmannsthal 1902 seinen berühmten Text "Ein Brief des Lord Chandos" schrieb, war das genau zwei Jahre nach der Publikation von Ernst Machs "Die Analyse der Empfindungen", die immer wieder in Neuauflagen erschien. Dieser Brief wird im allgemeinen als Ausgangspunkt eines kritischen Sprachbewußtseins, eines Zweifels an der Sprache als Kommunikationsmöglichkeit betrachtet und als Versuch, die Enteignung des Ich darzustellen. Lord Chandos erklärt: "Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt…" Chandos schreibt weiter: "Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. (…) Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte 'Geist', 'Seele' oder 'Körper' nur auszusprechen (…) die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze."

Ernst Stöhr: Entwurf für "Ver Sacrum", 1899
Diese Passagen erinnern weniger an die Lektüre Hofmannsthals von Francis Bacon, den er durch den Besuch der Vorlesungen Franz Brentanos kennengelernt hat, wie Jacques Le Rider suggeriert, als vielmehr an Fritz Mauthners"Beiträge zu einer Kritik der Sprache" (1901-1902) und an Ernst Machs Philosophie, von denen Hofmannsthal Kenntnis besaß, da Hofmannsthal 1897 Machs Vorlesungen besucht hatte, bevor dieser 1898 wegen eines Schlaganfalls seine Lehrtätigkeit aufgeben mußte. Ernst Mach hat in "Die Analyse der Empfindungen" die These aufgestellt, daß jedes physikalische Objekt wie auch jedes physikalische Ereignis in Komplexe von Elementen zerlegt werden kann. Diese Komplexe nennen wir für gewöhnlich Empfindungen. Die Farbe ist ein physikalisches Objekt wie eine Empfindung. Jedes physische Erlebnis kann daher aus Empfindungen, also psychischen Elementen aufgebaut werden. Theodor Beer, ein Schüler Ernst Machs, schreibt in "Die Weltanschauung eines Naturforschers" (1903): "Was wir Dinge, Körper, Materie nennen, ist nichts außer dem Zusammenhang der Farben, Töne, Düfte, Wärme etc., nichts außer jenen Merkmalen, unseren Empfindungen." bzw. "Die Welt ist nichts anderes als die Gesamtheit der Empfindungs-Komplexe." Alles Wirkliche löste sich auf in Empfindungselemente. Die Welt wird zu einem Meer von Empfindungsphänomenen, zu einem kontinuierlichen Strom von Empfindungen. Dabei verschwimmt natürlich die Grenze zwischen Innenwelt und Außenwelt und auch das Ich zerfällt zu einem stets wechselnden Strom von Empfindungskomplexen.

Daraus resultiert Machs berühmter Satz, "Das Ich ist unrettbar". Eindeutig ist das Echo bei Hofmannsthal: "Das Individuum ist unaussprechlich. Was sich ausspricht, geht schon ins Allgemeine über, ist nicht mehr im strengen Sinne individuell... Wie kommt das einsame Individuum dazu, sich durch die Sprache mit der Gesellschaft zu verknüpfen, ja durch sie ... rettungslos mit ihr verknüpft zu sein?" Diese beiden Momente, die Auflösung des Ichs und der Wirklichkeit in eine Folge von Empfindungen hat die kulturelle Welt Wiens um 1900 zentral beeinflußt, vom Impressionismus österreichischer Prägung bis zur Literatur von Jung-Wien. In "Inventur" (1912) schreibt Hermann Bahr, der wichtigste Promotor Jung-Wiens und der Verfasser des einflußreichen Essays "Expressionismus" von 1916, der Ernst Mach seit 1908 persönlich kannte: "...ein Weg gewesen um reif zu werden... für Mach... Hier ... habe ich ausgesprochen gefunden, was mich die drei Jahre ... gequält hat: 'Das Ich ist unrettbar'. Es ist nur ein Name ... eine Illusion..." Der Einfluß von Mach erstreckt sich sogar noch auf Arthur Schnitzler, der mit Mach gut befreundet war, und auf Robert Musil, der 1908 über Mach dissertierte.

Kolo Moser: Katalogumschlag, XIII.
Ausstellung der Secession, Wien 1902
Neben dieser Lehre von der Auflösung alles Wirklichen in Empfindungselemente hat Hofmannsthal eine zweite kulturgeschichtliche Besonderheit der Jahrhundertwende aufgegriffen, die Kritik der Sprache. Der schon erwähnte Fritz Mauthner war ein enger Schüler von Ernst Mach und hat die Machsche Methode der Erkenntnisanalyse als erkenntnislogische Analyse von Begriffen und einzelwissenschaftlichen Sätzen, die Reduktion auf elementare, nicht mehr weiter reduzierbare Elemente der Erkenntnis von der Physik auf die Sprache der Philosophie übertragen. Machs erkenntnisanalytische und begriffslogische Methode hat Erkenntniskritik als Sprachkritik ermöglicht und Fritz Mauthner hat sie erstmals als solche formuliert. Aber nicht nur Fritz Mauthner, sondern auch der schon erwähnte Franz Brentano, Adolf Stöhr und Richard Wahle begründen um 1900 diese Tradition der sprachlogischen Analyse der Erscheinungswelt, deren bekanntester Vertreter Ludwig Wittgenstein wurde.

Adolf Stöhr war der Nachfolger von Ernst Mach und Ludwig Boltzmann auf deren Lehrstuhl. In seinen Schriften "Umriß einer Theorie der Namen" (1889) und "Algebra der Grammatik" (1898) hat er die traditionelle Philosophie mit Hilfe von Sprachanalyse kritisiert und der Philosophie vorgeworfen, sie verwechsle Sprach- und Denkformen: "Der Unsinn kann nur geredet, aber nicht gedacht werden. Man sagt ja auch nicht 'Denken Sie keinen Unsinn', sondern 'Reden Sie keinen Unsinn'. Unsinn wird also erst durch die Sprache möglich." Am Ende von "Algebra der Grammatik" zitiert er Lichtenberg:"Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs".Richard Wahle schreibt in "Das Ganze der Philosophie und ihr Ende" (1894): "...in der Form des Abstrakten kann sich jede Ungenauigkeit, Fehlerhaftigkeit, Lüge und jede listige Phrase breitmachen." Auch hier hört man die spätere Stimme von Hofmannsthal. Anstreichungen in Hugo von Hofmannsthals Handexemplar von Fritz Mauthners "Kritik der Sprache" belegen deutlich, daß Chandos' an der Unzulänglichkeit des sprachlichen Ausdrucks ver/zweifelnder Dichter in dieser sprachkritischen Tradition steht, die Mauthner so formuliert: "Kritik der Vernunft muß Kritik der Sprache werden. Alle kritische Philosophie ist Kritik der Sprache."

Zweifel an der Sprache wie Zweifel an der Wirklichkeit waren also um 1900 in Wien fest etablierte offizielle Positionen der Kulturtheorie und Praxis, extremste Positionen einer kritischen Moderne, bevor diese sich eigentlich begründet hat. Nur die Kunstgeschichte ist verblendet und hat diese Fakten ausgeblendet.

Kolo Moser: Föhn, 1899
Dies ist das eigentliche Rätsel von Wien um 1900. In dieser Stadt werden theoretische Positionen formuliert, die zum Teil erst Jahrzehnte später in ihrer Radikalität und Tragweite erkannt werden, z. B. von Wittgenstein oder von der Wiener Gruppe (1954-1964). Haben die Künstler und Dichter der Epoche aus den radikalen Positionen auch tatsächlich radikale moderne Werke geschöpft? Die Antwort lautet: Es gibt Künstler und Dichter, die zumindest teilweise in ihrem Werk und zu bestimmten Zeiten eine radikale Moderne eingelöst haben, z.B. der frühe Josef Hoffmann, Adolf Loos, Robert Musil, Arnold Schönberg, die aber in einen vollkommen falschen Kontext gestellt werden, z. B. in den des Expressionismus oder den des Jugendstils. Einige dieser Künstler haben aber aus den radikalen Positionen des Anfangs die falschen Konsequenzen gezogen und eine konservative Revolution gestartet, die von Hofmannsthal bis Thomas Bernhard anhält.

Man kann sogar sagen, die meisten Künstler und Dichter haben aus der Wirklichkeits- bzw. Sprachkritik eine konservativ bürgerliche, ästhetisierende Konsequenz gezogen, eben z. B. das harmonisierende Ideal einer alle Lebenswelten umfassenden dekorativen Kunstsprache. Diese Position stand letzten Endes der Ausbildung einer Moderne im Wege bzw. hat die Entstehung der Moderne in Österreich geradezu verhindert. Unterstützt wurde diese antimoderne Kehre von der österreichischen Kunstgeschichtsschreibung, die in der Mehrzahl die falschen Positionen und Figuren verherrlicht. In endlosen Anekdoten wird ein Trittbrettfahrer der Geschichte wie Peter Altenberg glorifiziert, während Stöhr und Wahle nicht im geringsten erwähnt werden. Bevor wir nach den Gründen dieser Verdrängung und Verfälschung fragen, wollen wir die kurze Periode der österreichischen Moderne von 1900-1905 an einigen Beispielen rekonstruieren.

II.

1897 wurde die Wiener Secession gegründet. 1898 wurde die Zeitschrift "Ver Sacrum" der Secession gegründet, die Kunstzeitschrift als Gesamtkunstwerk. 1899 wurde Josef Hoffmann Professor an der Wiener Kunstgewerbeschule. 1903 kam es zur Gründung der Wiener Werkstätte durch Josef Hoffmann und Koloman Moser u.a. 1903 gibt Adolf Loos die Zeitschriftenbeilage "Das Andere. Ein Blatt zur Einführung abendländischer Kultur in Österreich" heraus. 1903 stellte "Ver Sacrum" ihr Erscheinen ein. 1905 baut Otto Wagner die Postsparkasse. 1905 kam es zum Austritt der Klimt-Gruppe aus der Secession, 1907 verläßt Moser die Wiener Werkstätte. 1908 begeht Richard Gerstl, 1910 Ludwig Hevesi, der einflußreiche Kritiker, Selbstmord. Die Jahre 1905 bis 1914 sind die Verfallsjahre der Secession. Kokoschka und Schiele beginnen ihren Aufstieg.

Josef Hoffmann: "Formenlehre IV",
 Didaktisches Blatt, um 1900
Die Periode der Erneuerung und des Aufbruchs war also merkwürdig kurz. Kaum gegründet, geht eine Zeitschrift wieder ein, kaum eingetreten, wird wieder ausgetreten. Von der Gründung der Secession durch Klimt bis zu seinem Austritt dauert es nur acht Jahre, von der Gründung der Wiener Werkstätte bis zum Austritt Mosers dauert es nur vier Jahre. Nur innerhalb weniger Jahre, zwischen fünf bis zehn Jahren, 1897 bis 1907 maximal, gab es Tendenzen der Moderne in Österreich. Weder vorher noch nachher erfreute sich Österreich einer so großer internationaler Reputation. Um 1900 gab es für einen in Europa weit verbreiteten Stil mehrere Namen: art nouveau, Jugendstil, Stile floreale und Secessionsstil.

Wie kam es, daß aus dem florealen Formenvokabular ein geometrisches wurde? Wie wurde das Quadrat von der Verwendung als ornamentales Element in der Architektur zum tragenden Baustein für die Bildgestaltung und schließlich auch für die Raumgestaltung? Es herrschte nämlich in dieser Zeit eine weltweit einmalige Abstraktion vor, die mit geometrischen Formen zweidimensionaler wie dreidimensionaler Art arbeitete und nicht mit dem "Blick nach innen" der konservativen Kehre ab ca. 1908. Diese geometrische Abstraktion des Wiens um 1900, die ähnliche Tendenzen in Europa um Jahrzehnte antizipierte, hat sich aus der Wiener Beschäftigung mit dem Problem des Ornaments ergeben.

Gottfried Semper, Architekt und Autor, dessen Schrift "Wissenschaft, Industrie und Kunst" von 1852 als Inkunabel der Bestrebungen gilt, die dann im Bauhaus gipfelten, und der 1871 nach Wien übersiedelt war, hat in seinem Werk "Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik" (1860/63) die Frage des Ornaments bereits berührt. Alois Riegl, einer der Begründer der Wiener Schule der Kunstgeschichte, hat 1893 Semper mit seiner Schrift "Stilfragen - Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik" geantwortet.

Die durch die Pariser Weltausstellung 1878 in Kunstkreisen Aufsehen erregende japanische Kunst hat relativ spät in Wien Fuß gefaßt. Erst im Winter 1899/1900 hat die Wiener Secession mit ihrer sechsten Ausstellung eine Sammlung japanischen Kunsthandwerks vorgestellt. Gerade aber in diesem Umbruchsjahr 1899/1900 erlangte der Japonismus für die Weiterentwicklung des Flächenornaments in Wien große Bedeutung. Daher erscheint 1899 in "Ver Sacrum" ein Beitrag von Ernst Schur zum "Geist der japanischen Kunst", illustriert mit Flächenentwürfen von Kolo Moser, die sich durch extreme Schwarz/weiß-Kontraste und abstrakte Motive auszeichnen (z.B. das Spiralenornament "Föhn"), die Ergebnisse der stereoskopischen Untersuchungen von Marcel Duchamp der 20er Jahre und der Op Art der 60er Jahre vorwegnehmen. Schur beschreibt die japanische Kunst als "Gefühlskunst" oder, naturwissenschaftlicher ausgedrückt, als "Nervenkunst" . In dieser Formulierung finden wir wiederum den Einfluß von Ernst Mach. Die japanischen Färberschablonen (Katagami) haben also einen fruchtbaren Boden gefunden, haben die Entwicklung der Wiener Flächenornamentik enorm angeregt. Die Wiener Künstler begannen also die Tradition des Ornamentalismus mit der japanischen Art zu verbinden.

Ilse Bernheimer: Abstrakte Komposition, 1913
Ernst Stöhr publiziert in "Ver Sacrum" (II. Jg., Heft 12, 1899) und in anderen Heften überraschend abstrakte formenstrenge Ornamente. Josef Hoffmann hat bereits im ersten Jahr seiner Lehrtätigkeit mit "ornamentalen Übungen" gearbeitet, abstrakten Übungen, deren Anwendungen sich nicht nur auf den Flächendruck beschränkten, sondern auch den Raum miteinschlossen. In einem Bericht zu seiner Lehrtätigkeit, erschienen 1899 im zweiten Band der Zeitschrift "Kunst und Kunsthandwerk" des Kunstgewerbemuseums, heißt es: "Die moderne Kunstausübung erfordert eine eigene Schulung von Grund auf. Die Schüler werden dazu trainiert, die Form an sich zu sehen und zu kombinieren. So sehen wir hier Aufgaben, die bloß mit ein paar Linien und Punkten zu schaffen haben, aber sich immer mehr komplizieren. Dann folgen Ringe, Scheiben, Rahmen, an denen der Reiz der Zusammenstellung erprobt wird, oder Flächen, die sich in japanischer Art übereinanderschieben und im Raum rhythmisch verteilen ..."

In den Vorsatzpapieren der Wiener Werkstätte um 1903, in den Entwürfen für Dekorationsstoffe um 1907 von Josef Hoffmann und Koloman Moser, erkennen wir die Entwicklung zu abstrakten, völlig entgegenständlichten Ornamenten. In den 20er und 30er Jahren griff Josef Hoffmann bei der Kreation von Flächenmustern wieder auf die japanische Flächenornamentik zurück. Das abstrakte Formenvokabular des Flächenornaments konnte eben wegen seines Abstraktionsgrades vom flachen Bild auf alle flachen und räumlichen Gegenstände der Welt übertragen werden. Abstrakte Flächenmuster fanden sich nicht nur auf Vorsatzpapieren, sondern auch auf Stoffen (Vorhangstoffen, Kleiderstoffen, Taschenstoffen, Teppichen, Tapeten), auf Gläsern, Vasen, auf Gebrauchsgegenständen aller Art (Geschirr, Besteck, Nippes), auf Möbeln, auf Skulpturen etc.

Nicht nur die Fläche wurde schwarz/weiß mit dem Quadrat geometrisiert, sondern auch der Raum wurde quadratisch bzw. kubisch geometrisiert. Möbel wurden in quadratischer Form mit Schwarz/weiß-Kontrasten hergestellt, wie man sie aus dem Japonismus für das Flächenornament entwickelt hat. Alles Interieur, die gesamte Wohnungseinrichtung wurde im Schwarz/weiß-Kontrast und mit Quadraten bzw. Kuben als Grundlage konzipiert, schließlich auch die Architektur selbst. Von Josef Hoffmanns eigenen frühen Bauten (1904 Sanatorium in Purkersdorf, 1905-11 Palais Stoclet in Brüssel) über Adolf Loos (Haus Scheu, 1912) bis zu Ludwig Wittgensteins Haus für seine Schwester (1928) sehen wir eine kubische Architektur als Gliederung von Quadraten und Würfeln, welche die Plastik der Minimal Art vorwegnimmt. Das selbstentworfene würfelförmige Ehrengrab aus grauem Granit von Adolf Loos ist ein grandioser stilistischer Höhepunkt dieser ersten Wiener Moderne, die immer wieder, auch in den nachfolgenden Jahrzehnten, siehe Ilse Bernheimer, Hans Pitsch und die Wiener Schule des Kinetismus von Franz Cizek in den 20er Jahren, versucht, gegen den österreichischen figurativen Expressionismus und die nachfolgenden gemäßigten Malschulen durchzukommen.

Hans Pitsch: Abstrakte Komposition, 1918
Der Einklang aller Kunstsparten, das Zusammenspiel der verschiedensten Gebiete der Kunst im Gesamtkunstwerk, die Versöhnung von Kunst und Kunsthandwerk ist also abgeleitet vom Universalismus einer abstrakten, ornamentalen Formensprache, die vom Gemälde bis zur Skulptur, von Architektur bis Grafik, von Kleidern bis Möbeln, von Buch bis Schmuck, alle Lebenswelten durchdringen konnte. Dieses Programm wurde auch von späteren modernen Kunstrichtungen wie Suprematismus,de Stijl und Bauhaus wieder aufgegriffen. Der Modernismus dieser kurzen abstrakten Umbruchphase in Wien um 1900 wird nicht nur durch diesen alle Medien und alle Lebensbereiche umfassenden Ästhetisierungsanspruch bestätigt, sondern auch durch den Beginn eines sich entwickelnden Industriedesigns.

Franz Cizek hatte einen großen Einfluß auf Johannes Itten, den Schweizer Maler, der 1916 seine eigene Schule mit privatem Kunstunterricht in Wien gegründet hatte. Cizeks Erfahrungen mit Kindermalkursen und mit neuen Lehr- und Lernmethoden (John Dewey, Georg Kirschensteiner) hatten ihn zu neuen Ansätzen der Kunst geführt. Die Lehre in Ittens Wiener Schule war von Cizek abgeleitet. Eine seiner Schülerinnen war Alma Mahler, die nach Mahlers Tod und ihrer Affäre mit Kokoschka Gropius heiratete.

So kam es, daß Itten von Gropius, dem Gründer, ans Bauhaus nach Weimar berufen wurde. Dort übte Itten die ersten drei Jahre (1919-1921) mit seinen drei Vorkursen einen dominierenden Einfluß aus. Es gibt also eine interessante, vernachlässigte Beziehung zwischen Kunstgewerbeschule und Bauhaus. In diesen Bauhaus-Vorkursen unterrichtete er, was er in Wien und von Cizek an Methode gelernt hatte, vermischt mit den Form- und Farbtheorien seines eigenen Lehrers Adolf Hölzel.

Adolf Hölzel, geboren 1853 im mährischen Olmütz, studierte 1875 an der Akademie der bildenden Künste in Wien, war Mitglied der Wiener Secession, lebte aber seit 1888 nicht in der Metropole Wien, sondern in Dachau. Viele der in diesem Katalog erwähnten Künstler waren im Laufe der Jahrzehnte Schüler von Hölzel in Dachau, das also einen Gegenpol von der Peripherie wider das Zentrum der Metropole bildete. Adolf Hölzel ist eine der wichtigsten Figuren in diesen entscheidenden Umbruchsjahren der Moderne in Wien, der selbstverständlich von den konservativen Chronisten der Jahrhundertwende ständig übersehen wird, nur weil er nicht in Wien gearbeitet hat.

Dabei veröffentlichte er 1901 in "Ver Sacrum" den vielleicht wichtigsten Aufsatz dieser Epoche: "Über Formen- und Massenverteilung im Bilde". In diesem fast mathematischen Titel finden wir die eigentliche Quelle der geometrischen Abstraktion und den entscheidenden Schritt über die Flächenornamentik hinaus. Hölzel verwendete die Intervalltheorie der Musik, weil ja die Musik insgesamt als avançierteste Formalmethode die Malerei immer wieder inspiriert. Er emanzipierte nämlich die Leerstellen zwischen den figuralen Formen auf ähnliche Weise wie Jahrzehnte später Anton Webern die Pausen zwischen den Noten. Ein Maler gliedere die Bildfläche ja nicht nur mit den Formen von Personen und Baumstämmen, sondern auch mit den dazwischenliegenden Formen, den "Zwischenraumformen". Den Flächen zwischen Häusern und Figuren kommt die gleiche Wertigkeit zu wie den gegenständlichen. In seinem Programm der "Harmonielehre" forderte er, "unbekümmert um das Gegenständliche, die Zwischenraumformen" gleichwertig wie die Formen der Gegenstände zu behandeln und in die Gestaltung des Bildes miteinzubeziehen.

Kolo Moser: Gästezimmer in seiner Wohnung auf der hohen
 Warte, um 1902
Hier sehen wir ein erstes Manifest der Abstraktion. Figur und Grund werden gleichwertig, die Formen der Menschen, Bäume, Häuser werden gleichwertig behandelt wie die scheinbar passiven Lücken zwischen den Gegenständen. Abstrakte Linien und figurale Flächen bzw. figurale Linien und abstrakte Flächen verbinden sich zu einem Kontinuum von gleichwertigen Flächenzellen. Diese Unbekümmertheit um das Gegenständliche war eine Stufe höher als die ornamentale Geometrik von Moser und Hoffmann, weil theoretisch begründet. Weil theoretisch auf schwachen Beinen, hatten Moser und Hoffmann auch nicht den Atem, die Tragweite ihrer eigenen Entdeckungen zu erkennen und fielen früher oder später wieder zurück in gegenständliche Darstellungsweisen und Formen. 1906 wurde Hölzel an die Stuttgarter Akademie berufen, dort gehörten Baumeister, Schlemmer und Itten zu seinen Schülern. Über seinen Schüler Itten und dessen dreijährige private Malschule in Wien wirkte Hölzel auch nach dem Secessionismus verstärkt in Wien. Itten hatte Kontakt zu Alban Berg, Schönberg, Josef Matthias Hauer und Adolf Loos, der ihm 1919 zu einer ersten Ausstellung verhalf. Mit dieser zweiten Phase der Abstraktion hat Wien auch eine Vorläuferrolle für das Bauhaus-Programm inne.

Arthur Roessler hat in seinem Aufsatz "Das abstrakte Ornament mit gleichzeitiger Verwertung der Farbkontraste" von 1903 mit einem für österreichische Verhältnisse erstaunlichen Appell an die "berechnende Vernunft" die Frage der Abstraktion innerhalb des Feldes der Flächenornamentik voranzutreiben versucht: "... das echte Ornament, das Ornament von Bedeutung und Wert kann nur das abstrakte sein." Dieses "Wesen" abstrakter Formen fand er bei Adolf Hölzel, bei einem Besuch desselben in Dachau:

"Der Ausgangspunkt der modernen Bewegung in der Kunst ist nicht, wie wohl sonst bei Stilbildungen, die Baukunst, sondern es ist die reine Form, die Linie, das Ornament. Das ist bedeutsam. Nicht aus dem Zusammenklang praktisch angewandter Statik mit dem Idealausdruck ihrer Gesetzmäßigkeit entsteht dieser Stil, sondern aus dem formalen Drange des Temperaments und aus der heimlichen Phantastik scharf berechnender Vernunft. Das Formale, der Liniendrang, der im Zweck oder im Spiel sich ausleben will, ist die treibende Kraft in den Künstlern. (...) Gelegentlich eines Besuches in Dachau bei Adolf Hölzel sah ich in des Künstlers Werkstatt durch Zufall (oder im kausalen Geschehen) eine Anzahl Blätter, auf welchen einige graphisch wahrnehmbar gemachte seelische und geistige Bewegungen des Künstlers aus verschiedenen Zeiten seines Lebens festgehalten waren ... Einzelne der Blätter waren von einer außerordentlichen Schönheit und wirkten stark dekorativ ohne jedoch im Kleinsten an irgend eine tierisch-, pflanzlich- oder technisch-organische Form zu erinnern ... Hölzels formale Bildungen kann man daher wissenschaftliche nennen, wenn sie nicht doch zugleich die Erzeugnisse einer Phantasie wären, deren Maßstab in ihnen selbst enthalten ist; wissenschaftlich ist schließlich jede gute Kunst. Jedenfalls sind es solche Zeichnungen, die das abstrakte Ornament bilden; abstrakt in der Bedeutung von ungegenständlich."

Josef Hoffmann: Sanatorium Purkersdorf, 1904-1906
In diesem vergessenen Aufsatz Roesslers erkennt man deutlich, wie groß und wie früh die Chance einer ungegenständlichen Kunst in Wien gewesen wäre bzw. ist. Offensichtlich und nachweislich hat sich aus dem Flächenornament ein Bewußtsein von Abstraktion und Ungegenständlichkeit gebildet. Es hat also in Wien um 1900 expressis verbis durch das "abstrakte Ornament" bereits Anfänge einer ungegenständlichen, abstrakten Kunst gegeben. Selbstverständlich ist diese Kunst nicht allein im Topos Wien entstanden, sondern in einem "Wien" als kulturelles Milieu, z.B. durch das korrespondierende Mitglied der Wiener Secession Adolf Hölzel in Dachau.

Aber Roessler weiß selbst schon Bescheid um das Basisdefizit der Wiener Kunstszene um die Jahrhundertwende, nämlich die Angst und die Abneigung vor der Theorie. "Die Künstler verabscheuen noch immer zu ihrem eigenen Schaden alle theoretischen und prinzipiellen Auseinandersetzungen, weil sie von einer Beschäftigung mit ihnen eine Beeinträchtigung ihrer Empfindung befürchten; das Gefühl allein tut's aber nicht; was den Künstler zum Künstler macht, ist, wie Konrad Fiedler so treffend sagte, daß er sich in seiner Weise über den Standpunkt der Empfindung erhebt."

Roessler verwehrt sich also gegen die Empfindungskunst und gegen die Geschmackskunst. Aber gerade die Geschmacks- und Empfindungskunst hat sich im expressionistischen Jahrzehnt von 1910-1920 durchgesetzt. Typischer- und tückischerweise war es auch Roessler selbst, der durch seinen späteren Einsatz für Egon Schiele mitgeholfen hat, die abstrakte Phase zu verdrängen und die expressionistische Phase durchzusetzen, die sich zwischen 1908 und 1910 formierte. Dies waren also die kritischen Wendejahre. 1909 gründete Schiele mit Anton Faistauer, Franz Wiegele, Anton Peschka und anderen die Neukunstgruppe. 1908 publiziert Oskar Kokoschka sein Gedicht "Die träumenden Knaben". In den folgenden zehn Jahren, bis 1918, kam es zur Blütezeit des österreichischen Expressionismus.

Hermann Bahr hat Ernst Machs Empfindungslehre im Laufe der Jahre immer gründlicher mißverstanden und sich immer mehr zum Advokaten der Empfindungs- bzw. Ausdruckskunst gemacht. Wie Peter Altenberg gehört auch er zu den Lieblingen einer kitsch- und klischeebeladenen konservativen Geschichtsbetrachtung, der die Anekdoten im Kaffeehaus wichtiger sind als die theoretischen Manifeste. Relativ spät publizierte er seine Schrift "Expressionismus", nämlich 1916, als auch diese Bewegung schon fast vorbei war. Der kostbarste dieser Bewegung, Richard Gerstl, hatte bereits 1908 Selbstmord begangen; 1918 starben Gustav Klimt (er hat sich 1912 dem Expressionismus angenähert), Egon Schiele, Kolo Moser, Otto Wagner.

Josef Hoffmann, F. Messner: Arbeitszimmer im Haus Biacy
 in Wien, 1902
III.

Während in Italien und Frankreich Futurismus und Kubismus entstanden, in Russland der Suprematismus, während also Europa zur Abstraktion aufbrach, kehrte Wien, das schon um 1900 bei der geometrischen Abstraktion angekommen war, zur Gegenständlichkeit, zur Figur, wenn auch expressiv übersteigert, zurück. Der einzige, der frühzeitig den Verlust der erreichten Moderne durch Expressionismus, Wiener Werkstätte etc. erkannte, war Adolf Loos. Sein berühmter Aufsatz "ornament und verbrechen", der 1908 verfaßt wurde, steht in dieser Argumentationslinie. Er hat das Ornament in dem Moment angegriffen, als es für restaurative, konservative Zwecke verwendet wurde. Loos wollte das Gegenteil der Wiener Werkstätte, nämlich die Trennung von Kunst und Handwerk, denn die Kunst muß frei und das Handwerk funktional sein. Daher stammt seine Polemik gegen das Ornament: "evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornaments aus dem gebrauchsgegenstande."

Warum kam es zu dieser Retardierung, zu diesem Revisionismus, zu dieser Verdrängung der abstrakten Phase des Secessionsstils durch den Expressionismus? Die Secessionsbewegung (1897-1914) fand im politischen Kontext der k.u.k. Monarchie statt. Ihre Mitglieder waren auch mehrheitlich habsburgtreu. Mit dem Krieg und dem k.u.k. Kollaps verschwand diese Welt 1918. Der Konservatismus in der Kunst korrespondierte mit dem Konservatismus in der Politik nach dem Zusammenbruch der k.u.k. Monarchie 1918. Im politisch erzreaktionären Klima nach 1918 wurde alles zurückgeschraubt, gezähmt, verdrängt, vergessen, vertrieben, sogar der Expressionismus. Die KünstlerInnen, welche nicht aus Wien stammten, sondern nur nach Abschluß ihrer Ausbildung hier für einige Jahre arbeiteten, kehrten in ihre "Provinz" zurück, nach Salzburg, nach Kärnten, und schufen sich dort einen neuen Heimatbezug, der natürlich sogar den österreichischen Expressionismus erheblich mäßigte. Aber auch bei Auswanderern wie Oskar Kokoschka, der einst neben Schiele zum radikalsten Vertreter einer psychischen Selbstbefragung zählte, wurde diese Form des Expressionismus durch Landschaftsbezug etc. ersetzt. Nach dem Kriege setzte sich also nicht einmal der radikale Expressionismus durch, der seinerzeit das abstrakte Ornament und den Jugendstil verdrängt hatte. Die meisten Maler konzentrierten sich wieder auf die Verbundenheit von Mensch und Natur, die Religiösität, die Heimat, die Landschaft usw. Und dies in einer gemäßigten, geschwächten expressionistischen Sprache.

"Die Arbeitsweise der Naturabstraktion wird in Österreich seit drei Generationen gepflogen. Sie ist in Österreich zur dominierenden Art der Auseinandersetzung mit der Abstraktion im weitesten Sinne geworden. Nirgends sonst ist die Naturabstraktion so konsequent verfolgt worden, wie in Österreich", schreibt Arnulf Rohsmann, weil sie vor dem Schritt zur wirklichen Abstraktion geschützt und bewahrt hat. "Im Gegensatz zur abstrakten Malerei, die jahrzehntelang als Inbegriff einer internationalen Malerei gegolten hat, ist die Naturabstraktion eine nationale Sonderentwicklung geblieben, die sich im Ausland bisher nicht durchsetzen konnte."


Adolf Hölzel: Abstraktes Ornament II, um 1900
Nach 1918 entwickelte sich die Malerei in Österreich und die bildende Kunst insgesamt zu einer "zahmen Moderne". Aber sogar diese zahme Moderne konnte sich nicht in den Metropolen entwickeln, sondern ist von zwei Diktaturen, der austrofaschistischen und der nationalsozialistischen unterdrückt bzw. in die Provinz verdrängt worden. Trotz des persönlichen Widerstandes, den diese Maler gegen die Diktaturen z.T. ausübten, und trotz der relativen Abneigung dieser Diktaturen gegen die zahme Moderne, gibt es zwischen der Kunst der Zeit und der Politik dieser Zeit merkwürdige Kongruenzen und Korrespondenzen, z.B. in der Heimat- und Landschaftsverbundenheit, in der Zentrierung auf den menschlichen Körper. Die eigentliche Ursache des Verschwindens der geometrischen Abstraktion ist nämlich im politischen Kontext zu suchen.

Donald Kuspit hat zwischen "organischer" und "mechanistischer" bzw. geometrischer Abstraktion unterschieden und der organischen Abstraktioneine irrationalistische und der geometrischen Abstraktion eine rationalistische Haltung zugeordnet. Die Naturabstraktion, das gemäßigt expressionistische Verzerren der Gegenstandswelt, entspringt also einer irrationalistischen Haltung. Gerade in diesem Irrationalismus treffen sich österreichische Politik und österreichische Kunst zwischen 1918 und 1945. Dadurch wurde die Entwicklung der Moderne sistiert. Eine Mauer der Mediokrität wurde um Österreich, den Inselstaat, gebaut, an der alle Wellen der modernen Kunstbewegungen abprallten. Die Politik diktierte das Mittelmaß, dem sich die Kunst fügte.

Quelle: Peter Weibel: Das verfälschte Fin de Siècle. Skizzen und Thesen zu einer Rekonstruktion. In: Im Hochsommer der Kunst. 1890-1925. Portrait einer Epoche aus steirischen Sammlungen. Katalog zur Ausstellung des Landesmuseum Joanneum, 11.06.-02.11.1997. Zitiert wurde Seite 13-25

Ein Faksimilie dieses Artikels, mit ungekürztem Text, und allen Abbildungen und Anmerkungen liegt dem Infopaket bei.

Besprechung der CD bei klassik.com

CD bestellen bei JPC


CD Info & Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 80 MB
Filepost --- Hotfile
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files

Guillaume Dufay: Adieu ces bons vins de Lannoys

$
0
0
»Er ist die bedeutendste Zierde unserer Zeit« sagt Piero de' Medici, Vater von Lorenzo de' Medici, im Jahre 1467 über Guillaume Dufay (1400?-1474). Die hohe Einschätzung dieses führenden Komponisten im ausgehenden Mittelalter spiegelt sich in der Tatsache wieder, daß von seinem Werk und seiner Biographie mehr überliefert ist, als von anderen Zeitgenossen: Die Persönlichkeit eines Komponisten tritt aus der Anonymität der Geschichte heraus.

Wann und wo Dufay geboren wurde, kann zwar nicht mehr genau eruiert werden, fest steht jedoch, daß die Kathedrale von Cambrai im August 1409 einen neuen Chorknaben in ihr Register unter dem Namen »Willemet« - kleiner Wilhelm -, aufnahm, der 1414, als er zum »clericus altaris« aufstieg, »Willermus du Fayt« genannt wurde. Cambrai zählte damals zu einer der reichsten Kathedralen in ihrem Umkreis mit guten Verbindungen nach Antwerpen, Arras, Lille, Tournai und dem Sitz des burgundischen Hofes in Brüssel. Zeitgleich mit dem Konzil zu Konstanz 1414-18 begannen die Wanderjahre Dufays. Ob er an dem Konzil, von dem berichtet wird, daß dort über 1700 Musiker aus aller Herren Länder Erfahrungen austauschten und somit richtungsweisend für die Komponisten ihrer Zeit waren, teilgenommen hat, kann nicht nachgewiesen werden, doch sind in seinem Schaffen zweifelsohne die Auswirkungen dieses Konzils zu verspüren.

Seine Reisen führten ihn 1420 an die adriatische Küste in den Dienst der Familie Malatesta, der er lange freundschaftlich verbunden blieb. Dort entstand die Ballade Resvellies vous für die Hochzeitsfeierlichkeiten von Carlo Malatesta da Pesaro; Mon chier amy scheint für den Tod seines Freundes Pandolfo Malatesta im Jahre 1427 geschrieben worden zu sein. Aus demselben Jahr datiert auch das Rondeau Adieu ces bons vins de Lannoys, in welchem er wehmütig Abschied von der heimatlichen Gegend um Laon und deren vielgepriesenen Weinen und Frauen nimmt. Hierin finden sich auch Anspielungen an die dunklen Seiten des Lebens, mit dem Dante Alighieri seine Divina Commedia beginnen läßt. 1428-33 hielt er sich zu Studienzwecken in Rom auf, wo er Quel fronte signorille und La dolce vista komponierte. In den darauffolgenden Jahren muß er auch mit seinem Kollegen Gilles Binchois zusammengekommen und befreundet gewesen sein, da dieser Umstand sogar von zeitgenössischen Dichtern überliefert wurde (Martin le Franc: Le champion des dames).
Jan van Eyck: Tymotheos (Leal Souvenir),
 1432, National Gallery, London

Das älteste von Jan van Eyck erhaltene Porträt (datiert auf den 10.Oktober 1432) ist das lebensechte Abbild ("leal souvenir") eines Unbekannten, der seit der Reformationszeit als "Tymotheos" bezeichnet wurde. Panofsky interpretiert dies als Anspielung auf den gleichnamigen Musiker aus Milet (ein Zeitgenosse von Euripides und Plato) und identifiziert in Analogie den Dargestellten mit Guillaume Dufay. [Quelle]

Seiner Begegnung mit der hoch entwickelten italienischen Literatur verdanken wir die wunderschön programmatisch gearbeitete Kanzone Vergene Bella nach einem Text von Francesco Petrarca. Vielerlei Kontakte mit Persönlichkeiten seiner Zeit, wie Donatello, Brunelleschi, Papst Eugenius IV., für den er einige Motetten komponierte, Antonio Squarcialupi, Johannes Ockeghem, der Familie der Medici und dem Haus von Savoyen, beeinflußten und bereicherten seine kompositorische Tätigkeit. Die Texte seiner Lieder enthalten ganz persönliche Sichtweisen von sozialen Kontexten und politischen Reaktionen seiner Zeit, mit denen er mittelbar oder unmittelbar in Berührung gekommen ist.

In den mehr als 200 erhaltenen Kompositionen Dufays findet sich eine starke Entwicklung persönlicher Stilelemente, die aber auch auf die allgemeinen musikalischen Veränderungen im 15. Jahrhundert deutet. Das Wort »Musik« findet man mit zwei grundverschiedenen Bedeutungen.

Die eine war die, in vielen Abbildungen von Musizierenden, Dokumenten und Augenzeugenberichten implizierte Bedeutung von monophoner Musik. Das Gros der Musik des täglichen Gebrauchs bildete improvisierte oder semi-improvisierte Musik, welche meist monophon gestaltet war - »nur« von Bordunen oder Gegenstimmen begleitet. Man weiß z.B. von zwei Drehleierspielern, die am burgundischen Hofe von 1436-56 fest angestellt waren und dort in hohem Ansehen standen. Auch die in den Kirchen meist praktizierte Musik war monophon, wenngleich sie teilweise ohne Instrumente ausgeführt wurde, da diese dort verboten waren. Komplizierte Mehrstimmigkeit wurde in der Regel für besondere Anläße komponiert und nicht für den täglichen liturgischen Gebrauch. Dufay, wie übrigens fast alle Musiker seiner Epoche, war die meiste Zeit seines Lebens als Kirchenmusiker angestellt, im Besonderen als Sänger. So stellte die Monophonie den Einstieg in die musikalische Ausbildung dar. Anklänge an das tonal gebundene, alltägliche Repertoire finden sich z.B. in J´ay mis mon cuer und in dem tänzerischen Ce jour de l´an.

Die zweite Bedeutung des Wortes »Musik« stand im Zusammenhang mit universellen Studien. Neben Arithmetik, Astronomie und Geometrie gehörte als viertes die Musik zum sogenannten »quadrivium«. Hierbei ging es um Beziehungen zwischen den Intervallen, den mathematisch logischen Zusammenhang einer Note zur anderen. Die fundamentale Komplexizität der Klänge und Klanggemische stand in direktem Zusammenhang zur Komplexizität des Universums. Diese Musik verfeinerte Dufay im Dienst der Kirche, u.a. während seiner fünfjährigen Anstellung an der päpstlichen Kapelle in Rom. Die Mehrzahl seiner Werke - Messen, liturgische Motetten, Hymnen - entstanden als Kompositionen für besondere kirchliche Ereignisse, wie z.B. für das Konzil von Basel 1438-39, auf dem er die Kathedrale von Cambrai repräsentierte.

Guillaume Dufay und Gilles Binchois. Aus:
Martin le Franc: Champion des Dames, Arras 1451
Ein in der Kirche angestellter Musiker war nicht auf das Verkaufen seiner Musik angewiesen. Gerade daher ist es bemerkenswert, daß Dufays »Nebenprodukte«, die weltlichen Lieder, so großen Zuspruch fanden. Dies läßt sich nur verstehen, wenn man sie als Herausforderung des Komponisten an sich selbst sieht, die Problematik der »zweiten« Musik im Experiment zu bewältigen. Resvellies vous enthält eine Fülle von musikalischem Material aus der Messe »sine nomine«, komprimiert in einem komplexen kleinen Kunstwerk, von dessen Aufführung man berichtet, daß Dufay selbst anwesend sein mußte, da die Musiker es sonst nicht zustande gebracht hätten. Die junge isorhythmische Polyphonie war zweifelsohne für spezielle Anlässe und auch für spezielle Musiker geschrieben worden. (für den Neujahrstag z.B.: Ce jour de l´an) Dies spiegelt sich auch in den verwendeten Notationsmöglichkeiten noch zum Beginn des 15. Jhdts. wieder, welche nicht zum täglichen Gebrauch bestimmt sein konnten.

Die Polyphonie erscheint als »Gespräch« zwischen Tenor, Cantus und Contratenor, wobei damit kein Stimmumfang, sondern verschiedene Funktionen bezeichnet werden. Der Tenor kontrolliert die harmonischen Bewegungen und bildet mit dem freieren Cantus eine kontrapunktisch perfekte Basis, geprägt von Imitation und gegenseitigen »Zurufen« (Belle, que vous ay ie mesfait, Ce jour de l´an), oftmals auch im Kanon (Puisque vous estez campieur, Par droit je puis im Cantus 1 und 2). Der Contratenor ist eine Füllstimme, meist zwischen den beiden anderen gelegen, oft aber den Tenor melodisch unterwandernd, der mit einer eigenen Diktion dem gesamten Gespräch Farbe und rhythmisches Leben verleiht. Seine oft unmelodischen, rhythmisch komplizierten Sprünge sowie der große Tonumfang lassen eine instrumentale Ausführung nicht ausschließen (Par droit, La dolce vista).

Paul, Hermann und Jean Limbourg: Très Riches Heures des Duc de Berry,
ca 1415, Kalenderblatt Jänner: Neujahrsempfang beim Herzog Jean de Berry
(rechts, in seiner prächtigen blauen Robe dargestellt)
Daß die Gespräche nicht immer reibungslos verlaufen, wird bei den isorhythmischen Frühwerken (Belle, que vous ay; Resvelons nous sogar mit Kanon in Tenor und Contratenor) deutlich. In Donnes l'assault, wo eine Dame mit einer Festung verglichen wird, die im Kampf eingenommen werden will, stehen sich sogar kleine und große Terz dicht gegenüber. Auch in seinem späten Helas mon dueil, wo er mit einer formal einfachen Gestik maximalen Ausdruck erreicht, experimentiert Dufay noch mit Chromatik, doch findet er in seinem späten Schaffenswerk eine einfachere Melodik, die ruhig im harmonischen Satz eingebettet ist (Se la face ay pale, Helas…, Bon jour, bon mois).

Der Weg von objektiven geistigen Experimenten hin zu seelenvoller individueller Schlichtheit im Lauf des 15. Jhdt.s zeigt sich auch im Wandel der Notation, die weitgehend die vereinfachte Form annahm, wie wir sie heute kennen. So konnte der Komponist seine Werke mit einer verbindlicheren Angabe einer größeren Gruppe von Musikern zugänglich machen.

1439 kehrte Dufay endgültig nach Cambrai zurück und beendete somit seine Zeit der Wanderjahre. Zwar blieb er in den meisten seiner Lieder der französischen Muttersprache treu - welches auf die große Bedeutung des Französischen auch im oberitalienischen Raum schließen läßt -, doch die Verschiedenartigkeit seiner Lebensumstände ließ ihn immer eine Erneuerung der textlichen und musikalischen Stilmittel, eine Erweiterung seiner Ausdruckskraft, finden.

Adieu ces bons vins steht als Phänomen am Beginn der sogenannten Franko-Flämischen Schule, in der alle großen Künstler oftmals beschwerliche Reisen in südliche Länder unternommen haben, um dort die Befruchtung mit den kulturellen Errungenschaften des Humanismus zu suchen. Dieses findet weiterhin in einer Vielzahl von Abschiedsliedern seinen Ausdruck (als bekanntestes Lied mag wohl Heinrich IsaaksInnsbruck, ich muß dich lassen gelten). Sie sind gleichzeitig ein Abschied von der Geborgenheit der Traditionen und der Volkszugehörigkeit, welcher zu einem kreativen Leben des Individuums in der Auseinandersetzung mit sich und der Welt führt.

Quelle © 1996 Riccardo Delfino / Michael Posch, im Booklet


Track (06) Guillaume Dufay: Vergene bella (Francesco Petrarca)

Vergene bella (Francesco Petrarca)

Vergene bella, che di sol vestita,
Choronata di stelle al sommo sole
Piacesti, si, che'n te sua luce ascose;
Amor mi spigne a dir di te parole:
Ma non so'ncominzar senza tu aita,
E di colui ch'amando in te si pose.
Invoco lei che ben sempre rispose
Chi la chiamò con fede.
Vergene, s'a mercede.
Miseria estrema dell' humane chose
Già mai ti volse, al mio prego t'inchina.
Soccorri alla mia guerra,
Bench'i' sia terra, e tu del ciel reina.
TRACKLIST

Guillaume Dufay (c. 1400 - 1474)Chansons
(01) Ballade: J'ay mis mon cuer [instrumental] (3:31)
(02) Pardroit je puis bien complaindre (3:48)
(03) Italian rondeau: Quel fronte signorille
Ballata: La dolce vista (6:04)
(04) Puisque vous estez campieur (3:32)
(05) Belle, que vous ay je mesfait [instrumental] (3:38)
(06) Vergene bella (Francesco Petrarca) (4:19)
(07) Ballade: Se la face ay pale [instrumental] (2:36)
(08) Donnes l'assault à la fortresse (4:38)
(09) Rondeau: Par le regard de vos beaux yeux (4:03)
(10) Resvelons nous [instrumental] (2:26)
(11) Ce jour de l'an (2:20)
(12) Ballade: Mon chier amy [instrumental] (2:24)
(13) Pour l'amour de ma doulce amye (3:41)
(14) Virelai: Helas mon dueil [instrumental] (4:02)
(15) Bon jour, bon mois (3:00)
(16) Ballade: Resvelliés vous et faites chiere lye [instrumental] (2:47)
(17) Adieu ces bons vins de Lannoys (5:35)

Playing Time: 62:37
Ensemble UnicornMichael Posch, Director
Bernhard Landauer, Counter tenor

Recorded at Evangelische Kirche AB, Vienna, from 15th to 18th April 1995
Sound Engineering: W*A*R Studios, Elisabeth and Wolfgang Reithofer
Cover Painting from the Book of Hours of the Duc de Berry

DDD (P)+(C) 1996

Track (17) Guillaume Dufay: Adieu ces bons vins de Lannoys
Adieu ces bons vins de Lannoys

Adieu ces bons vins de Lannoys,
Adieu dames, adieu borgois,
Adieu celle que tant amoye,
Adieu toute playsante joye,
Adieu tous compaignons galois.

Je m'en vois tout arquant des nois,
Car je ne truis feves ne pois,
Dont bien souvent entier mennoye.
Adieu ces bons vins de Lannoys,
Adieu dames, adieu borgois, A
dieu celle que tant amoye,

De moy seres, par plusieurs fois
Regretés par dedans les bois,
Ou il n'y a sentier ne voye;
Puis ne scaray que faire doye,
Se je ne crie a haute vois.

Adieu ces bons vins de Lannoys,
Adieu dames, adieu borgois,
Adieu celle que tant amoye,
Adieu toute playsante joye,
Adieu tous compaignons galois.

Der Spiegel als Zeuge


Jan van Eycks Hochzeitsbild von Giovanni Arnolfini

Jan van Eyck: Porträt von Giovanni Arnolfini und seiner Frau Giovanna Cenami,
1434, National Gallery, London
«Aber nichts in diesem Gemälde war wunderbarer als der gemalte Spiegel, in welchem du alles, was dort beschrieben ist, wie in einem echten Spiegel sehen konntest.» Diesen Satz über ein nicht erhaltenes Bild von Jan van Eyck schrieb der in Neapel lebende Humanist Bartolommeo Fazio in seinem Buch Über berühmte Männer («De Viris Illustribus»). 1456 vollendet, erhob Fazio in dem Buch außer Jan van Eyck nur drei weitere Maler, den Niederländer Rogier van der Weyden sowie die Italiener Gentile da Fabriano und Pisanello, in den Rang berühmter Männer. Der König von Neapel besaß ein Triptychon van Eycks, das Fazio gleichfalls beschrieb. Das Bild mit dem Spiegel hatte er jedoch in Urbino bei Ottaviano Ubaldini della Carda, einem Neffen und Ratgeber des Herzogs von Urbino, gesehen. Es stellte eine Badestube dar, ein heute verlorenes Bild, das allerdings durch Kopien und eben die Beschreibung des Fazio bekannt ist. Im Spiegel enthüllten sich dem Betrachter die im Bild abgewandten Körperpartien einer badenden Frau.

Einen Spiegel zeigt auch ein anderes bemerkenswertes Bild van Eycks, das unter dem Titel Die Hochzeit der Arnolfiniin die Kunstgeschichte eingegangen ist. Auch wenn bis heute strittig ist, ob es sich tatsächlich um ein Hochzeitsbild handelt, und immer noch nicht mit endgültiger Sicherheit gesagt werden kann, wer darauf eigentlich dargestellt ist. Aber: es ist das erste erhaltene Bild, in dem ein Bürger nicht als Stifter erscheint, sondern in seiner alltäglichen Umgebung, wahrscheinlich bei einem juristischen Akt. Dem Spiegel kommt dabei die Bedeutung des Zeugen zu, auch das eine Bilderfindung des niederländischen Malers.

Spiegelmacher und Maler gehörten im damaligen Brügge zu einer gemeinsamen Zunft, die Spiegel hatten als Bildmedium also eine ähnliche Funktion wie die gemalten Bilder. Der Legende nach hatte die Geschichte der Malerei ohnehin mit dem Bild des sich spiegelnden Narziß begonnen. Diese antike Legende war von dem Florentiner Architekten und Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti in der Mitte des 15. Jahrhunderts wieder aufgegriffen worden, und man darf annehmen, daß van Eyck Albertis Schriften kannte.

Jan van Eyck gilt heute als der berühmteste Vertreter der «Frühen Niederländer» - auch «altniederländische Maler» genannt -, die zwischen Spätgotik und Renaissance stehen. Zeitgleich mit den italienischen Malern der Frührenaissance versuchen sie, die Welt so darzustellen, wie wir sie wahrnehmen. Allerdings mit einem bezeichnenden Unterschied: Während die Italiener von der Architektur ausgingen und die Wirklichkeit mit Hilfe der Mathematik oder genauer der Geometrie zentralperspektivisch vermaßen, gingen die Niederländer von Erfahrungen aus. Statt der mathematischen Zentralperspektive entwickelten sie eine empirische Luftperspektive, die zwar mathematisch nicht ganz so exakt ist, die aber dennoch ähnliche Effekte hervorbringt.

Handelsbeziehungen zwischen Italien und Flandern machten die Bilder der Niederländer bald im Süden, die der Italiener - speziell der Florentiner - im Norden bekannt und begehrt. Bereits in der Mitte des 15. Jahrhunderts befanden sich Bilder Jan van Eycks im Königreich Neapel.

Über Jan van Eyck wissen wir nicht allzuviel. Er wurde um 1390 wahrscheinlich in Maaseyck bei Maastrich geboren und begann vermutlich als Buchmaler. Zwischen 1422 und 1424 finden wir ihn als Maler im Dienst des Grafen von Holland, dessen Residenz im Haag er ausmalte. Ab 1425 gehörte er zum Hof Philipps des Guten, Herzog von Burgund. Da das Amt eines Hofmalers gegen die Zunftstatuten verstieß, wurde er zum Kammerherrn ernannt. Nach mehreren geheimen Reisen für den Herzog ließ sich van Eyck als Stadtmaler in Brügge nieder und vollendete den von seinem Bruder Hubert begonnenen sogenannten Genter Altar, ein riesiges Retabel, das 1432 geweiht wurde. 1436 war der Maler wieder für den Herzog auf Reisen. Der Zielort ist unbekannt. Fünf Jahre später, am 9.Juli 1441, starb er in Brügge und wurde in Sankt Donatian beigesetzt.

Von Jan van Eyck haben sich nur wenige signierte Werke erhalten. Weitere sind ihm zugeschrieben worden. Er gilt als einer der besten Porträtisten seiner Zeit, zugleich als Erfinder der Ölfarbe. Allerdings war damals eine Mischung aus Tempera und Ölfarben im Gebrauch, und es ist auch nicht mit Sicherheit zu sagen, ob van Eyck wirklich als erster Öl zum Binden der Farbpulver benutzte. Doch ist seinen Bildern eine Transparenz und Leuchtkraft eigen, dabei eine Präzision auch der kleinsten Details, so daß Fazio ihn als «Fürsten der Maler unseres Jahrhunderts» rühmte und es versucht worden ist, von ihm gemalte Landschaften und Räume zu identifizieren, auch wenn die im Bild dargestellte Wirklichkeit bei van Eyck immer inszeniert, immer auch symbolisch zu lesen ist.

Das kleinformatige Bild der Arnolfini-Hochzeit (82 x 60 cm) zeigt den Blick in einen Raum so, als stünde der Betrachter in der Tür. Von dort aus sieht er als erstes einen Mann und eine Frau, die sich an den Händen halten. Die ganzfigurigen Gestalten, die drei Viertel des Bildraums einnehmen, verhindern, den Raum ganz zu überblicken, doch ist es durch die nur zum Teil verdeckten Möbel ersichtlich, daß sich das Paar in einer bürgerlichen Wohn- und Schlafstube aufhält. Licht fällt durch ein Fenster an der linken Zimmerwand. Der obere Teil des Fensters ist mit Butzenscheiben verglast, der untere jedoch nur durch Läden verschließbar, die jetzt offenstehen und trotz der schrägen Sicht das Fenstergitter, ein wenig Baumgrün und den blauen Himmel wahrnehmen lassen. Auf dem Fensterbrett liegt eine Apfelsine, drei weitere auf der Truhe darunter. Auf dieser Fensterseite steht der Mann. Neben ihm, in der linken vorderen Bildecke, sieht man auf den Dielen gerade noch ein Paar Holzpantinen. Diese «Trippen» genannten Überschuhe schützten die eleganten Schuhe der reichen Bürger vor dem Dreck auf der Straße.

Die rechte Zimmerwand hinter der Frau wird vollkommen von einem großen, rot bezogenen Bett mit einem ebenso roten Baldachin eingenommen. Von dem vor dem Bett liegenden Teppich ist nur die Borte zu erkennen. Neben dem Bett und hinter dem Teppich sieht man an der Rückwand des Raumes die hohe, hölzerne, zu Teilen geschnitzte Lehne eines Stuhls, an der ein Handfeger hängt. Die Sitzbank daneben ist ebenfalls rot bezogen. Die roten Kissen heben sich vom Bezug ebensowenig ab wie die roten Pantoffeln vor der Bank.

In der Mitte des Zimmers hängt an einer Kette von der Decke ein Kronleuchter aus Metall mit einer einzigen brennenden Kerze. Genau darunter ist an der Rückwand des Raumes ein konvexer Spiegel angebracht, in dessen Rahmen zehn Medaillons mit Szenen aus dem Leben Christi eingelassen sind. Links daneben hängt ein Rosenkranz, und darüber kann man in burgundischer Kanzleischrift die Worte lesen: «Johannes de eyck fuit hic 1434» (Jan van Eyck ist hier gewesen 1434). Wiederum in der Mitte, jetzt aber vorne im Bild, steht auf den hölzernen Fußbodenplanken und zwischen dem Paar ein kleiner Hund.

Der konvexe Spiegel zeigt (wie ein extremes Weitwinkel bei einem Fotoapparat) mehr von dem Raum als das Bild. Man erkennt die Balkendecke, an welcher der Kronleuchter hängt, und natürlich ist das ganze hintere Zimmer sichtbar, also das Fenster und die Truhe. Allerdings fehlen dem Fenster das Gitter und die Butzenscheiben! Mann und Frau sieht man von hinten. Sie blicken auf den geöffneten Eingang, in dem zwei Gestalten sichtbar werden, die blau und rot gekleidet sind. Sie nehmen den Betrachterstandpunkt ein.

Das Bild hat den Kunsthistorikern viel Kopfzerbrechen bereitet, und noch immer sind nicht alle Rätsel gelöst. Durch die Inschrift ist zwar der Maler bekannt, jedoch ist sie keine richtige Signatur. Diese hätte nicht an so prominenter Stelle gestanden. Außerdem wäre dafür die Formulierung «pinxit» (malte) passender gewesen als «fuit hic» (war hier). Immerhin geht aus der Inschrift hervor, daß Jan van Eyck 1434 die auf dem Bild dargestellte Situation miterlebt hat und deshalb wohl auch der Maler war, ebenso aber einer von den beiden Männern, die sich nur im Spiegel zeigen. Wer aber war sein Auftraggeber?

Im 16. Jahrhundert taucht das Bild im Besitz der Margarete von Österreich, Statthalterin der Niederlande, auf. Aus einem damals angelegten Inventar geht hervor, daß auf dem inzwischen verlorenen Originalrahmen ein Vers aus Ovids Liebeskunst und der Name des Dargestellten - «Arnoulf Fin» - zu lesen waren.

Jan van Eyck: Porträt von Giovanni
Arnolfini, 1435, Staatliche Museen
Berlin, Gemäldegalerie
Es liegt nahe, in den Dargestellten Giovanni Arnolfini und seine Frau Giovanna Cenami sehen zu wollen, auch wenn in Brügge damals noch weitere Mitglieder der Familie Arnolfini ansässig waren. 1434 lebte der in Lucca um 1400 geborene Kaufmannssohn Giovanni Arnolfini bereits 13 Jahre in Brügge. Dort heiratete er die ebenfalls aus Lucca stammende Giovanna Cenami. Sie blieben zeit ihres Lebens in Brügge, Arnolfini wurde 1461 Ratgeber des Herzogs von Burgund, erhielt ein Jahr später das Goldene Vlies und starb 1472 in Brügge. Giovanna Cenami überlebte ihren Mann um acht Jahre. Auch ein wenig später gemaltes Porträt eines Mannes wird mit Giovanni Arnolfini identifiziert, obwohl es weder signiert noch datiert ist und auch den Namen des Dargestellten nicht preisgibt. Der Dargestellte ist auf dem Einzelporträt älter als auf dem Doppelbildnis, also muß jenes später entstanden sein. Und auch der Stil kann eindeutig mit Jan van Eyck in Verbindung gebracht werden.

Jan van Eyck stand also länger mit dem Kaufmann aus Lucca in Kontakt, da er ihn zweimal gemalt hat. Porträts kamen damals in Mode, das zweite Bild ist für einen reichen Kaufmann nichts Ungewöhnliches. Doch was ist auf dem Doppelporträt eigentlich dargestellt? Dafür, daß sie sich in einem Privatraum befinden, sind die Personen viel zu elegant gekleidet. Giovanni Arnolfini trägt einen riesigen Zylinderhut. Sein dunkler Samtmantel ist an Hals, Saum und Ärmeln mit Zobel oder Nerz besetzt. Schwarze Schuhe und Strümpfe schauen unter dem kurzen Mantel hervor.

Bei dem grünen Oberkleid von Giovanna Cenami wurde hingegen am Stoff nicht gespart, der, direkt unter dem Busen geschnürt, in zahlreichen, schweren Falten zu Boden fällt. Sein Gewicht erhält er durch den Hermelin, mit dem der Stoff gefüttert ist und mit dem Saum und Ärmel besetzt sind. Mit ihrer linken Hand hat Giovanna Cenami den Stoff des Obergewandes gerafft und hält ihn so vor den Leib, daß heutige Betrachter meinen könnten, sie sei schwanger. Das ist jedoch nicht der Fall. Hier findet nur mit den Unmengen an kostbarem Stoff eine Demonstration des Reichtums bürgerlicher Kaufleute statt. Die kostbare Kleidung weist aber auch darauf hin, daß gerade ein besonderes Ereignis stattfindet. Und dieses kann durch die Handhaltung der beiden Protagonisten zumindest ansatzweise entschlüsselt werden.

Giovanna Cenami hat ihre rechte Hand in die linke des Mannes gelegt, allerdings mit dem Handrücken nach unten, so daß ihre offene Hand etwas zu erwarten scheint. Sie schaut dabei auf die rechte, erhobene Hand Arnolfinis. Seine Handbewegung wurde als Gruß und auch als Treuegelöbnis bei einer Eheschließung interpretiert. Auch eine dritte Möglichkeit ist denkbar: Arnolfini wird gleich seine Rechte in die ihre legen, um damit die Ehe zu besiegeln.

Das Hochzeitszeremoniell fand damals zumindest in Italien noch nicht in der Kirche statt, sondern lediglich vor einem Notar, der die Eheschließung bezeugte. Weiße Brautkleider wurden erst im 19. Jahrhundert üblich. Und so kann das Bild als Hochzeitsbild interpretiert werden, vor allem wenn man den Spiegel und die darüber stehende Inschrift mit einbezieht. Er und die Schrift darüber sind die eigentlichen Dokumente des Ehevertrags. Der Spiegel läßt die Zeugen sichtbar werden, die Schrift benennt wenigstens einen von ihnen, nämlich Jan van Eyck. Der andere Zeuge dürfte der Notar sein, der natürlich in der Kanzleischrift schrieb, die der Maler hier im Bild benutzte und so die Illusion erzeugte, der Notar habe dokumentiert, daß Jan van Eyck der Hochzeit beigewohnt habe.

Jan van Eyck hat also die Hochzeit bezeugt. Ob er als Maler zugegen war, mit der Funktion als Zeuge also gleichzeitig der Auftrag verbunden war, ein Hochzeitsbild zu malen, oder ob er als Freund kam und das Bild von sich aus gemalt hat, weiß man genausowenig, wie man den ersten Besitzer des Bildes kennt. Gehörte das Bild den Arnolfinis, oder hat es van Eyck behalten? Es ist lediglich bekannt, daß es bereits zehn Jahre nach seiner Entstehung von anderen niederländischen Malern bewundert wurde, später nach Spanien kam, dort eine Inspirationsquelle für Diego Velázquez wurde, der in seinem berühmten Gemälde Las Meniñas das Spiegelmotiv aufgriff. Im 19.Jahrhundert gelangte die Arnolfini-Hochzeit dann in die Londonder National Gallery, wo sie sich heute noch befindet.

Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky, der sich eingehend mit den Frühen Niederländern beschäftigt hat, führte für deren Interpretation den Begriff des «disguised symbolism» ein. Er umschrieb damit die Beobachtung, daß jeder Gegenstand, jede Geste mindestens zwei Bedeutungsebenen besitze. Bei der Arnolfini-Hochzeit fand er unter anderem folgende versteckte Symbole und deutete sie entsprechend: Der kleine Schoßhund steht für eheliche Treue, die einsame Kerze auf dem Kronleuchter ist die Hochzeitskerze, die der Bräutigam der Braut schenkt und die das Auge Gottes symbolisiert. Auf dem Stuhl neben dem Bett ist auf der Lehne die Figur der hl. Margarete zu erkennen, Schutzpatronin werdender Mütter (zu denen sich Giovanna Cenami nach der Eheschließung hoffentlich bald zählen konnte). Die durchscheinenden Perlen des Rosenkranzes sprechen von der Reinheit der Braut, der kleine Besen von den Pflichten im Haushalt. Die offene Hand und der geraffte Stoff des Überkleides sagen, daß sie bereit ist, sich Arnolfini hinzugeben.

Wie eine 1995 publizierte Infrarotaufnahme des Bildes zeigt, hat van Eyck all diese Details auf der Vorzeichnung noch nicht berücksichtigt, sie also erst in einem sehr späten Stadium hinzugefügt. Die verschiedenen Bedeutungsebenen erlauben deshalb auch mehrere Interpretationen. Bis Jan van Eyck dieses Bild malte, waren Privatpersonen lediglich als Stifter dargestellt worden. Nur Herrschern stand es zu, in repräsentativen Bildwerken zu erscheinen. Mit diesem privaten Bild entstand eine völlig neue Gattung, nämlich die Darstellung des Bürgers in seiner Umgebung.

Außerdem wurde mit diesem Bild zum ersten Mal in der Geschichte der Malerei ein privates Dokument gemalt und damit Wirklichkeit inszeniert. Arnolfini steht am geöffneten Fenster und hat erst vor kurzem seine Straßenschuhe ausgezogen, das heißt, er kommt von draußen, aus der Stadt, dem Bereich des Mannes, wo er das Geld verdient. Die Frau hingegen steht neben dem Bett, hinter ihr repräsentiert der Handfeger ihre Pflicht, das Haus in jedem Sinn rein zu halten. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang auch, daß sich die Hände der Brautleute nicht genau in der Symmetrieachse der Mitte des Leuchters und des Spiegels befinden, sondern ein wenig näher zur Braut hin. Der (gemalte) Ehevertrag ändert kaum etwas am Leben des Kaufmanns, aber seine Frau ist ab nun für das Haus und hoffentlich bald auch für die Kinderaufzucht verantwortlich. Über der Suche nach versteckten Symbolen wurde dieser Aspekt des Bildes lange außer acht gelassen. Später dann beschäftigte die Kunsthistoriker das Problem, ob es sich um die Darstellung einer Heirat, einer Verlobung oder des Vertrags über die Mitgift handele. Doch das ist nebensächlich im Vergleich zu der Tatsache, daß hier ein gemaltes Bild zu einem Dokument eines neuen bürgerlichen Selbstverständnisses und Selbstbewußtseins wird.

Quelle: Susanna Partsch: Sternstunden der Kunst. Von Nofretete bis Andy Warhol, C.H. Beck, München 2003, ISBN 3 406 49412 9. Zitiert wurde Seite 103-110  [Leseprobe]

CD bestellen bei JPC

CD Info & Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 51 MB
Filepost --- Hotfile
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files

Artur Schnabel: »Dance and Secret & Joy and Peace« und die Sonate Violine Solo

$
0
0
Artur Schnabel schrieb sein Dance and Secret & Joy and Peace im Jahr 1944. In der Chronologie seiner Kompositionen folgen diese beiden Werke für Chor und Orchester unmittelbar auf die Symphonie Nr. 2. Die Entstehung dieser Chorwerke, und die Impulse, die sie hervorgebracht haben, wird am besten durch Zitate aus drei Briefen beschrieben, die von Schnabel auf Gascon Ranch, New Mexico, verfaßt und an Maria Virginia Foreman adressiert wurden. Einige einleitende Bemerkungen sind jedoch auch hier angebracht.

Robert Frost´s Gedicht über »Dance and Secret« ist »The Secret Sits« (erstmalig erschienen im April 1936):

»We dance round in a ring and suppose,
But the Secret sits in the middle and knows.«

[Wir tanzen denkend rund in einem Kreis,
Doch das Geheimnis sitzt zentral und weiß.]

Von besonderem Interesse ist für mich Schnabels zeitliche Verteilung der Wörter, wobei Wort 3 bis 6 von Zeile 1 in der Arbeit nicht vor 2 ½ Minuten erscheint, Wort 7 und 8 nicht vor 3 ½ Minuten, und zuletzt die zweite Zeile nach etwa 5 ½ Minuten. Diese zeitliche Ausdehnung des Gedichts steht in direktem Gegensatz zu dem komprimierten Text in Joy and Peace. Dieser Text ist aus dem Buch Jesaja (Kapitel 55 und dem ersten Vers von Kapitel 60) entnommen, und es obliegt dem Leser, den ursprünglichen Jesaja (d.h. die King James Version) mit Schnabel´s »Auswahl« zu vergleichen, um so die wunderbare Vorgangsweise, die des Propheten Donnerworte in perfekte Lyrik verwandelt, nachzuvollziehen.

Es folgen Auszüge aus den Briefen. Beachten Sie, dass ich den darin zitierten Jesaja-Text (der dazu neigt, King James zu folgen) überarbeitet habe, damit er den vom Chor gesungenen Worten entspricht. Ich habe mir auch die Freiheit genommen, den Text in 6 Absätze entsprechend der Gliederung des Chorals einzuteilen.

Artur Schnabel am Piano, 1910
Gascon Ranch, New Mexico, 6. August 1944: »In ein paar Tagen werde ich die »We dance, it sits« Chorsymphonie angehen. Seit New Yorker Tagen in meinem Kopf, waren Frost´s zwei Zeilen, wie Sie wissen, unaufhörlich langweilig. Sie haben es nun geschafft, mich zu dem Versuch zu zwingen, ein großes Stück Musik zu produzieren, mit diesen und um diese wenigen Worte herum, die meiner Meinung nach nicht nur besonders gut geeignet, sondern auch absolut ausreichend sind für Musik – Tanz, Runde, Raten, Geheimnis; Oberfläche und Tiefe.«

28. August: »Dance and Secret« ist fast fertig, aber noch nicht orchestriert. Ich habe eine Menge gelernt. Die zwei Körper des Chores und des Orchesters sind fast Gegensätze. Die menschliche Stimme ist im Vergleich sehr begrenzt, in Reichweite, Geschwindigkeit und Ausdauer. Schreiben für 4 oder 6 Stimmen darf nicht zu polytonal oder polymelodisch oder polyrhythmisch sein. Für solche Funktionen sind Stimmen nicht hinreichend unabhängig. Es gibt kaum eine »dissonante« Literatur für Chöre. Die Stimmen würden automatisch, wenn sie nicht speziell jahrelang trainiert wurden, in Richtung der üblichen Harmonien tendieren und das Ergebnis einer solchen Willkür wäre natürlich katastrophal für die Musik, wie sie zu klingen beabsichtigt war. Meine Musik ist polymelodisch, rhythmisch und tonal. Ich habe einen Kompromiss versucht, machte es so singbar wie möglich für der Sänger Ohren, nicht für ihren Kehlkopf – eher wie Kammermusik mit symphonischen Klängen. Die Teile, die das Orchester allein bestreitet, sind dann ein beabsichtiger Kontrast, und alle Spannungen zulässig. Wenn das Orchester mit den Sängern zusammen klingt, ist es meist so hoch oder tief gehalten, daß es die Stimmen noch erreichen können. Das Stück ist teilweise dunkel und hart, aber das süße Geheimnis ist; Komfort, Zuflucht vor Untätigkeit durch Anmaßungen und Illusionen, fast, als ob die Wahrheit das ist, was wir nicht wissen. (Wir wissen sicherlich besser, was »Lüge« ist.)«.

Therese und Artur Schnabel mit ihrem Sohn Karl Ulrich,
Berlin 1910
2. September 1944: »Ich begann ein weiteres Stück für Chor und Orchester zu schreiben. Es ist als scharfer Kontrast und damit als notwendige Ergänzung des ersten gemeint, sie sind für mich untrennbar, in der Reihenfolge ihrer Entstehung. Frost´s zwei Zeilen drücken aus, dass des Menschen mögliche Kenntnis auf bloße Vermutung begrenzt ist. Sie leugnen jedoch keineswegs die Existenz der menschlichen Vernunft. Es ist eigentlich diese Vernunft, die ihnen die Grenze aufzeigt. Das zweite Stück hat einen biblischen Text. Die Worte wurden aus dem zweiten Buch Jesaja genommen, ausgewählt und arrangiert. Sie drücken aus, dass der Glaube mehr ist als Wissen. Glaube ist absolut, und nicht dem Wandel unterworfen. Er ist keine Abstraktion; man hat ihn, wie man Vernunft hat. Kombinierter Glaube und Vernunft bewegen das Individuum zur produktiven Akzeptanz des Lebens und selbst der destruktiven Kräfte, die in jedermanns eigenen System von Trieben bekämpft werden müssen. Die Worte sind:

»Jeder, der dürstet, komme zu den Wassern!
Wozu sollt ihr verbringen eure Arbeit für das, was nicht sättigt?

Hört sorgfältig zu ihm und esset das, was gut ist. Neigt euer Ohr und kommt zu ihm: höret, so wird eure Seele leben. Suchet den Herrn, solange er zu finden ist. Rufet ihn an, solange er nahe ist.

Denn wie der Regen nach unten kommt, und der Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder hinauf, sondern die Erde befeuchtet und sie fruchtbar macht und wachsend, damit sie Samen gibt dem Sämann, und Brot dem Esser, so soll sein Wort sein, das hervorgeht aus seinem Mund; es soll nicht zurückkehren in seine Leere, sondern es soll vollenden, was ihm gefällt, und es soll gedeihen in dem Ding, wohin er es gesandt hatte.

Denn ihr sollt ausziehen mit Freuden und in Frieden geleitet werden; die Berge und die Hügel werden vor euch in Gesang ausbrechen, und alle Bäume auf dem Feld werden in die Hände. Statt dem Stechdorn wird die Tanne emporschießen, und statt dem Brombeerstrauch die Myrte, und es soll ein Namen sein für den Herrn, ein ewiger Gesang, der nicht verstummen wird.

Erheb dich, Glanz! Denn dein Licht ist gekommen, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir… «

Das war lange vor dem 19. Jahrhundert! Es besteht.«

Therese und Artur Schnabel, Berlin 1920er Jahre
»Ich habe heute [7. September] das zweite meiner Chorstücke beendet; es bedarf nur der Ausarbeitung, Ornamentierung, Instrumentierung. Ich denke, es hat, soweit dies möglich ist, die angemessene Atmosphäre. Freude und Frieden kann, natürlich, in zahlreichen Ausdrucksformen erscheinen, auch in genau entgegengesetzten. Ein biblischer Text, von einer Gruppe gesungen, sollte einige eher allgemeine, überpersönliche, doch nicht konventionelle, kollektive Begeisterung ausstrahlen und doch für jeden Einzelnen gültig und überzeugend bleiben. Er sollte für den Menschen, den einfachen eingeschlossen, repräsentativ sein. Die Arbeit daran hat mich ungemein angezogen – Die Instrumentierung für die handgemachten Spielzeuge muß hinzufügt werden – Die Stücke können vermutlich nicht vom Blatt gelesen werden, sind aber auch nicht zu abweisend.«

Sonate für Violine Solo

Artur Schnabel schrieb diese Sonate (ursprünglich mit dem Titel Five Movements in the Form of a Suite) im Sommer 1919. Sie wurde zuerst von Carl Flesch im November 1920 in Berlin aufgeführt. Der dritte Satz wurde als Teil des Anhangs im zweiten Band von Flesch´s Art of Violin Playing gedruckt. Milton Babbitt spricht von einem privaten Konzert in New York in den späten vierziger Jahren, im dem sowohl diese Sonate als auch die Sonate für Cello Solo von 1931 aufgeführt wurden. Darüber hinaus: Stille. Natürlich muß es die ungewöhnliche Aufführung hier und da gegeben haben, aber allgemeine Kenntnisnahme, Interesse an, Neugier seitens der Geiger im besonderen, oder der musikalischen Öffentlichkeit im Allgemeinen?

Keine.

Es ist ein Indiz für meine anhaltende psychische Jugend, daß mich das noch immer schockiert und traurig macht.

Zuerst sah ich um 1965 den dritten Satz dieser Arbeit, weil Flesch´s Buch, das, während es einen ganzen Satz der Öffentlichkeit präsentierte, dies mit so vielen Vorbehalten gegen die ganze moderne Gattung Violine Solo tat, mit so vielen Verweisen auf die unviolinistischen Aspekte dieser besonderen Arbeit (was immer das auch sein mochte), und das Ganze mit einem solchen schwachen Lob pries, dass man sich wundern mußte, warum es an erster Stelle aufgenommen worden war. Kurz, obwohl die Präsentation in dem Buch der in diesem Absatz ausgedrückten Anerkennung in Stil und Geschmack ähnlich war, war es für mich immerhin ein Ausgangspunkt.

Huberman, Casals, Schnabel, Hindemith, Brahmsfestival 1934
Ich war schon in Schnabels Musik verliebt, und in die Sonate für Violine und Klavier von 1935 involviert. Ich beschloss, die Solo-Sonate definitiv anzugehen. Es wurde 1977, bevor ich mit der Arbeit ernsthaft beginnen konnte (mein Dank an Karl Ulrich und Stefan Schnabel für die Bereitstellung des Manuskripts). Ich hatte gehofft, die Aufnahme rechtzeitig zu Schnabels Hundertjahrfeier [1982] verfügbar zu haben (letztere ging vorüber mit wenig oder gar keiner Anerkennung der Existenz seiner Kompositionen, geschweige denn ihres Werts und ihrer Schönheit). Aber persönliche Umstände verzögerten das Projekt. Was aber sind ein paar Jahre zwischen alten Freunden? - Daher, Happy Centennial, lieber ARTUR, (wenn auch ein wenig spät), und viel mehr echte Anerkennung und Berücksichtigung deiner Musik, und Bewußtsein und Verständnis dafür, dass du selbst deine Kompositionen mehr geschätzt hast als deine Konzerttätigkeiten.

Es gibt, wie immer, viele Fragen, wie z. B.: Warum ist die Partitur über und über gespickt mit verbalen Anweisungen? Woher kommt diese subtile und häufige Verwendung, um einen emotionalen Zustand zu vermitteln? Fast Satie-like, wenn auch nicht so aphoristisch. War es die zeitbedingte Sorge um Genauigkeit – eine Ablehnung der älteren Aufführungspraxis (unsere gegenwärtige Annahme, alle toten Komponisten hätten an Sinusarrhythmie gelitten, ist ein überwältigende Unwahrscheinlichkeit)? Ein remainder/reminder an Jean Paul? Den Aufführenden hilfreich sein? Waren sie damals außer Reichweite und hintennach, wie sie es jetzt sind? Verzweiflung?

Und Taktstriche!

Fünfundvierzig Seiten Musik, und nicht ein Taktstrich.

Um 1919.

Und nicht nur eine Kadenz.

Warum diese Lösung? Welche Idee hat sie ausgelöst? War es einfach der Wunsch nach Mehrdeutigkeit (was nicht der Fall zu sein scheint)? Es ist wahr, Hindemith deutete dergleichen in einigen Solo-Werken an, aber das war wenigstens ein paar Jahre später. War es in der Luft? Ein Gefühl, Phrasen auf eine unbegrenzte Flugbahn schicken zu müssen?

Artur Schnabel vor seinem Porträt von Eugen Spiro,
New York, 1940er Jahre
Welchen Einfluss hat diese Arbeit auf Schnabels Freunde Krenek und Hindemith ausgeübt, die ihre Solo-Violinsonaten 1924 schrieben? Und durch welche Musik wurde sie beeinflusst? Sicherlich nicht Reger? Ysaÿe? Aber seine sechs Solo-Sonaten sind auch aus dem Jahr 1924. Schönberg? Kaum, wenn überhaupt.

Und warum Solovioline und später Solocello? Keine Medien, die man mit einem Pianisten-Komponisten assoziieren würde. Und geigerisch, relevant, verständnisvoll für das Instrument, ohne eine Falschbild von Bach zu erzeugen.

Und warum so eine monumentale Länge? Hat er mit dieser Idee begonnen, oder ist sie von selbst gewachsen? Und Gleichgewichte – wie konnte er sie über eine solche Zeitspanne erzielen, in einem solchen Strom des Bewußtseins?

Und die persönlich-psychologische Frage, was läßt jemand solche Musik produzieren, ohne viel Unterstützung von jenen Komponisten, die als Verbündete betrachtet werden könnten, und unter praktisch totaler Ablehnung durch die aufführenden Kollegen (außer wenn sie es nicht länger vermeiden konnten), und dadurch den Zwiespalt eines Mannes bekräftigen, der kaum je Musik des 20. Jahrhunderts in der Öffentlichkeit interpretierte oder in seinen Schriften sein Komponieren diskutierte?

Und doch, für mich ist es keine Frage, dass der berühmte Interpret nicht geleistet hätte, was er leistete, wäre es nicht für sein Komponieren gewesen, ja, wäre er dazu nicht in der Lage gewesen.

Möge die Zeit kommen, in der Schnabel als großer Komponist der er war, anerkannt wird, ohne Beeinträchtigung durch seine pianistischen Verdienste, und möge diese Aufnahme diese Entwicklung befördern!

Quelle: Paul Zukofsky [April 1985], im Booklet, aus dem Amerikanischen holprig übersetzt von WMS.Nemo (kaum besser als Dr.Dementos Apologie auf Tom Lehrer)

Track 3: Sonate für Violine Solo I. Langsam, sehr frei und leidenschaftlich

TRACKLIST

ARTUR SCHNABEL

DANCE AND SECRET & JOY AND PEACE
[TWO PIECES FOR CHORUS AND ORCHESTRA] (23:03)

[1] Dance and Secret (12:16)
[2] Joy and Peace (10:39)

The Gregg Smith Singers
Gregg Smith, Artistic Director
A New York City Free-Lance Orchestra
Conducted By Paul Zukofsky
Recorded February, 1993, BMG (RCA) Studio A, New York
Producer: Joanna Nickrenz Sound Engineer: Jay Newland

SONATA FOR SOLO VIOLIN (46:56)

[3] I. Langsam, sehr frei und leidenschaftlich (9:36)
[4] II. In kräftig-fröhlichem Wanderschritt durchweg sehr lebendig(2:24)
[5] III. Zart und anmutig, durchaus ruhig (13:00)
[6] IV. Äusserst resch (Prestissimo) (5:50)
[7] V. Sehr langsame Halbe, mit feierlichem ernstem Ausdruck,
doch stets schlicht (16:41)

Paul Zukofsky, Violin
Recorded June 13 + 21, 1983, Rutgers Church, New York
Producer: Marc Aubort/Joanna Nickrenz

Total Time 71:27
DDD/ADD
© + ® 1996
Caravaggio
Das Bild als Theater

Caravaggio: Die sieben Werke der Barmherzigkeit, 1607, Pio Monte della
Misercordia, Neapel
Ein Bild, ob gemalt, gemeißelt, fotografiert, gebaut oder gerahmt, ist auch eine Bühne, ein Schauplatz. Was der Künstler auf diese Bühne stellt und was der Betrachter dargestellt sieht, verleiht dem Bild eine dramatische Qualität, als wäre es in der Lage, seine Existenz durch eine Geschichte zu verlängern, deren Anfang der Betrachter verpaßt hat und deren Ende der Künstler nicht kennt. Der Schauplatz muß nicht unbedingt der Bühnenraum eines Theaters sein; die Straße, die ganze Stadt kann ein solcher Raum sein, der sich im Mikrokosmos der Leinwand widerspiegelt. So verhält es sich auch mit dem Bild, das sich an zentraler Stelle in der neapolitanischen Kirche Pio Monte della Misericordia befindet.

Am 29. Mai 1606 geschah es in Rom, daß Michelangelo Merisi, bekannt unter dem Namen Caravaggio, bei einem handgreiflichen Streit um das Ergebnis eines Tennisspiels einen Mann tötete. Es war nicht sein erster Gewaltakt, aber der schwerwiegendste. Sechs Jahre zuvor hatte er einen Künstlerkollegen verprügelt und im Jahr darauf einen Soldaten verletzt. 1603 wurde er wegen tätlicher Beleidigung eines Malers ins Gefängnis geworfen (und durch Intervention des französischen Botschafters in Rom wieder befreit); 1604 warf er einem Kellner einen Teller mit Artischocken an den Kopf und wurde verhaftet, nachdem er einen Wachmann mit Steinen beworfen hatte; 1605 verletzte er im Streit einen Nebenbuhler und mußte aus Rom fliehen. Ein paar Monate später, kurz nach seiner Rückkehr, zwang ihn das unglückselige Tennisspiel erneut zur Flucht. Anfang 1607 traf Caravaggio, einer der berühmtesten und gefragtesten Künstler seiner Zeit, in Neapel ein und bat wie ein flüchtiger Verbrecher um Asyl.

Das konnte ihm Neapel gewähren. Unter dem Regime der spanischen Habsburger, das zwei volle Jahrhunderte, von 1503 bis 1704, währte, verwandelte sich die Stadt von einem geschäftigen Provinzhafen in eine Kulturmetropole von beträchtlicher Ausstrahlung. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts war die Einwohnerzahl auf 120000 gestiegen (und verdoppelte sich in weniger als hundert Jahren); Künstler aus Norditalien und Spanien kamen in Scharen. Architekten wurden beauftragt, Kirchen und Paläste zu bauen, an der Universität wurden Lehrstühle für Literatur eingerichtet; Dichter, Schriftsteller und Philosophen waren der Stadt willkommen. Die wachsende Bedeutung zeigte sich auch im Ausbau des Straßennetzes; Wasserversorgung und Kanalisation, bereits unter Alfonso de Aragón begonnen, wurden weiter vervollkommnet. […]

Caravaggio: Der Hl. Matthäus mit dem Engel
 [Erste Fassung] Kaiser-Friedrich-Museum
 Berlin, im 2.Weltkrieg zerstört
Neuankömmlingen wie Caravaggio bot die Stadt die Reize einer città nova, in der alles möglich schien, und zugleich das düstere Milieu einer città vecchia, in der die meisten Einwohner im Elend lebten. Der englische Reisende Fynes Moryson, der die Stadt unter dem von 1532 bis 1554 währenden Regime des Vizekönigs Don Pedro de Toledo erlebte, schrieb von »vier Stockwerke hohen Häusern, leinen- oder papierbespannten Fenstern« und »zierlichen Gärten voller Statuen, Labyrinthen und Brunnen«. Um diese Zeit hatten Elend und Verbrechen ein bedrohliches Ausmaß erlangt. Das europäische Bevölkerungswachstum gegen Ende des 16. Jahrhunderts führte zu einer drastischen Zunahme der Armut. Bettlerbanden streiften durch die Lande und fielen in die Städte ein, um Brot zu ergattern und die Häuser der Reichen zu plündern. […]

Doch die Kirche schien blind dafür, daß Armut und Verbrechen einander bedingten; in der offiziellen Rhetorik galten die Armen nach wie vor als das irdische Abbild des leidenden Heilands. Die Lebensbedingungen der Armen wurden nie als erfreulich empfunden, wie man bei Chaucer nachlesen kann: O gräßlich Ungemach, O bittre Armut! Mit Durst, Kälte und Hunger geschlagen zu sein!« Und doch: »Die frommen und die braven Armen« sah man im »Gewande Jesu Christi« leben. Die »Armen in Christo«, wie die Kirche sie nannte, »mit ihrer Blindheit, ihren verstümmelten Gliedern, blutenden Geschwüren, ihren unwohnlichen Hütten, dem trockenen und kargen Brot, den zerrissenen Gewändern, stinkenden Bandagen, elenden Lumpen, Stöcken und Krücken« waren für die Kirche »ruhmvolle Trophäen ihrer christlichen Geduld, ein heilsamer Anblick für die Reichen, Medizin für die Habsüchtigen, Bittertrunk für die Gesunden, Stufen zum Paradies, Treuhänder göttlicher Gnade, Banken für himmlischen Wucherzins, Türhüter des Himmels, Philosophen der Heilslehre, heilkräftige Blutsauger«.

Caravaggio: Der Hl. Matthäus mit dem Engel,
1602, San Luigi dei Francesi, Rom
Am Ende des 16. Jahrhunderts warf diese Vorstellung von der gottseligen Armut bereits ihren eigenen Schatten: Das Elend wurde nicht mehr nur als geheiligter Zustand, sondern auch als das Gegenteil davon gesehen, als ein Werk des Teufels. Während die europäische Bevölkerung anwuchs, wurden die Armen zu Deklassierten, zu Verstoßenen, Verbrechern, die es vorzogen, zu faulenzen, zu betrügen und von der Barmherzigkeit anderer zu profitieren - und auch zu Narren. »Ein armer Mann bietet einen lächerlichen Anblick, schrieb der französische Dichter und Historiker Agrippa d'Aubigné im Jahre 1629.

Caravaggio, der im Alter von elf Jahren verwaiste und bei einem unbedeutenden mailändischen Maler in die Lehre ging, war mit dem Leben auf der Straße vertraut; auf seinen Wanderungen, die ihn nach Rom führten, hatte er die Landstraße als Lebensraum kennengelernt, und er dachte anders über die Armut. Als er 1597, im Alter von vierundzwanzig Jahren, den Auftrag erhielt, die Contarelli-Kapelle in der römischen Kirche San Luigi dei Francesci mit Szenen aus dem Leben des heiligen Matthäus auszuschmücken, wählte er einen gewöhnlichen Bettler als Vorbild für seinen Apostel. Die erste Fassung von Matthäus mit dem Engel wurde von den Kirchenoberen als so anstößig empfunden, daß sie die Freigabe verweigerten. Der heilige Matthäus streckt den Gläubigen seine großen, ausgemergelten Füße ins Gesicht, und der Engel führt ihm die Hand, als müßte er ihm das Lesen erst noch beibringen.

Die Stadt als Bühne. Holzschnitt aus einem italienischen
 Buch über die Kunst des Bühnenbilds, 16. Jahrhundert
Die traditionelle Toleranz gegenüber Bettlern wurde allmählich abgelöst durch die Angst vor den Vagabunden, die keinen festen Ort auf der Erde und in der Gesellschaft hatten. Sie gingen der Arbeit aus dem Weg und gaben vor, verkrüppelt, blind oder gelähmt zu sein, um bei den Passanten Mitleid zu erwecken. Da sie nicht an Eigentum und gute Sitten gebunden waren, wurde ihnen eine soziale Identität verwehrt, und man traute ihnen jedes denkbare Verbrechen zu: Diebstahl, Brandstiftung, Vergewaltigung, Mord, selbst Schwarze Magie. 1585 wurden die Unbehausten in einem gemeinsamen Postulat des Heiligen Stuhls und der neapolitanischen Regierung als »Ketzer, Rebellen, Gotteslästerer, Fälscher, Kindesräuber, Friedensstörer, Diebe, Mörder und Landstreicher« hingestellt. »Selbst bei den Göttern sind die Armen unbeliebt«, schrieb Alberti und verband damit die Empfehlung, daß der Staat sich nicht um ihre Bildung bemühen möge, da ihnen ohnehin nicht zu helfen sei. Papst Sixtus V. wetterte in seiner 1587 erlassenen Bulle Quamvis infirma gegen die Armen, die einst als Gotteskinder gegolten hatten: »Sie durchstreifen das Land wie wilde Tiere auf Nahrungssuche, auf nichts anderes bedacht, als ihren Hunger zu stillen und sich die schmutzigen Bäuche vollzuschlagen.« Da ihr Aufenthalt in den Städten als gefährlich erachtet wurde, baute man Asyle vor den Toren, um sie von der guten Gesellschaft fernzuhalten. Neapel hinkte hinter der Entwicklung her: Das erste königliche Armenhaus wurde 1751 eröffnet. […]

An diesem »haltlosen Lumpenpack« (wie es Abt Carlo Bartolomeo Piazza nannte) ließen die Neapolitaner ihren Ärger und ihren Spott aus. Doch während die Bettler auf den Straßen und Plätzen wie Hunde behandelt wurden, fanden ihre Sprache, ihre Gestik und ihr Humor Eingang in die Populärkultur. Ihre Manieren, ihre Grimassen und Witze (lazzi) prägten die Commedia dell' Arte, eine Art improvisiertes Straßentheater, das, wie man sagte, »Intrigen aus der Lombardei mit lazzi aus Neapel« kombinierte. Der mittellose spanische Söldner, ein Import der Habsburger, erhielt den Namen Matamoros (»Mohrentöter«) und wurde zum Prahlhans der Commedia und zum Spottbild der spanischen Obrigkeit, die notorisch darauf bedacht war, sich die Taschen zu füllen und den Frauen nachzujagen, statt sich der Politik und der Kriegskunst zu widmen. Vielleicht als Gegengewicht zu Matamoros erfand Silvio Fiorillo, der große neapolitanische Komödiant und Darsteller des Matamoros, die Gestalt des Pulcinella, den Buckligen mit den leeren Taschen, den die Neapolitaner mühelos als einen der ihren erkannten. Er wurde so populär, daß sich einst ein um Beachtung buhlender Prediger vor die Bühne stellte, das Kruzifix in die Höhe hielt und rief: »Seht den wahren Pulcinella!«

Commedia dell'Arte. Stich aus dem 17. Jahrhundert
Im Mittelalter und bis in die Renaissance suchten sich diejenigen, die von der Teilhabe an der Macht ausgeschlossen waren, Nischen in der feudalen Sozialstruktur, um sich und anderen zu bestätigen, daß auch sie Menschen waren. Die Armen, die Kranken, die Schwachsinnigen, die durch Geschlecht oder Glauben Benachteiligten nutzten Karneval und Straßenfeste, Mysterienspiele und Maskenumzüge zur ungehemmten Selbstdarstellung, was der Historiker Jell Koopmans als »mise en scène des Publikums in festlicher Umgebung« bezeichnet. Der Drang, sich zu produzieren, war so groß, daß die Menge selbst bei kirchlichen Veranstaltungen ihre ganze Vulgarität, Obszönität und Subversivität zur Entfaltung brachte. […]

Die Kirche versuchte diese populären Spektakel ein wenig unter Kontrolle zu halten und organisierte Umzüge, bei denen die »Gotteskinder« - die braven Armen also und nicht der Pöbel, der sich dem Wort verweigerte - ebenfalls eine Rolle spielen durften. »Wahrlich ein anrührendes und erstaunliches Spektakel«, meinte der Zensor Camillo Fanucci angesichts eines solchen Umzugs in Rom am 27. Februar 1581, an dem vielleicht auch Caravaggio teilnahm. Hinter einer blutroten Standarte, die die gold gewirkte Dreieinigkeit zeigte, marschierte eine Abordnung von kirchlichen Würdenträgern und Adligen, die sich in rotes Sackleinen geworfen und mit den Insignien ihres Standes geschmückt hatten. Gefolgt wurden sie von einer barfüßigen Menge, die ebenfalls in rote Säcke gekleidet war, ein großes Kreuz schleppte und weiße Kerzen trug. Dahinter trotteten die Mönche der Bruderschaft der Heiligsten Dreieinigkeit, dann kamen verschiedene Chöre, die aus Leibeskräften Kirchenlieder sangen. Darauf folgte das wilde Heer der Bettler: Die Blinden wurden von ihren Begleitern geführt, die Krüppel in wackligen Gefährten gezogen, ganze Wagenladungen mit Kranken, Verstümmelten, Gelähmten, Scharen von Bettelweibern und Bettelbrüdern beschlossen den Zug. Die Menge drängte sich nach diesem Ereignis, denn allen, die sich als Zuschauer oder Mitmacher beteiligten, wurde von Seiner Heiligkeit persönlich Absolution erteilt. […] Für die Würdenträger und Adligen an der Spitze der Prozession war das Zurschaustellen von Armut, pauperitas, ein geistlicher Luxus, begleitet von Gesängen, in denen die Armut als ein Geschenk Gottes gepriesen wurde.

Neapolitanischer Umzug, Holzschnitt aus dem 16.Jahrhundert
Um der Invasion der Armen Herr zu werden, errichtete man Asyle und Hospitäler, deren Hauptzweck in drei Worte zusammengefaßt wurde: »Sparsamkeit, Zucht und Ordnung«. Die von der Straße aufgesammelten Armen wurden unter großem Trara zu den für sie errichteten Gebäuden geführt. Den Frauen wurde von adligen Damen Speis und Trank gereicht, dann wurden sie gewaschen, eingekleidet und weggesperrt, damit sie bei karger Kost und harter Arbeit von den »Verlockungen des Lasters« ferngehalten wurden. Die Männer wurden von einem als Engel gekleideten Knaben in ihre Behausung geführt und nach Absingen des Te Deum gespeist. Die Tische wurden »nach Art eines Theaters« aufgestellt, mit Damast und Silber gedeckt und von Soldaten in voller Montur bewacht, während sich die Aristokraten um das Privileg rissen, die Armen bedienen zu dürfen. Nach dem Mahl wurden sie zum Gebet in die Kapelle geführt und von dort in die Gemeinschaftsräume, die sich alsbald in ein Staatsgefängnis verwandelten. Denn es herrschte die Meinung vor, daß Armut von den falschen Erwartungen an die öffentliche Barmherzigkeit herrührte und nur dann zur Tugend werden konnte, wenn die Sünde der Bettelei unterbunden wurde. Wenn es gelang, die Faulheit auszurotten und die Armen einer nützlichen Arbeit zuzuführen, bedeutete das die Abschaffung der Armut. […]

Die Armen waren immer unter uns, so wurde argumentiert, um unsere Barmherzigkeit auf die Probe zu stellen. Thomas von Aquin, der Gelehrte des 13. Jahrhunderts, der auf derartige Fragen spezialisiert war, hatte geschrieben, diese heilige Tugend sei »das spontane Produkt der Nächstenliebe und doch im Unterschied dazu ... der höchste äußere Wertbeweis eines Menschen, da sie den Barmherzigen auf eine höhere geistige Stufe stellt als den Begünstigten«. Das scholastische Dogma setzte die Barmherzigkeit in Beziehung zur Gerechtigkeit, da sie ebenfalls die Verhältnisse zwischen zwei Menschen regelte. Ausgelöst wurde die Barmherzigkeit durch die Wahrnehmung des körperlichen oder seelischen Leidens anderer, sie konnte daher nach Art der Bedürftigkeit unterteilt werden. Jesus selbst hatte (in Matthäus 25, 35-46) die sechs kardinalen Akte der Barmherzigkeit aufgezählt: die Hungrigen zu speisen, die Durstigen zu tränken, die Nackten zu kleiden, die Unbehausten zu beherbergen, die Kranken zu besuchen, den Gefangenen zu helfen. Der siebente Akt der Barmherzigkeit, die Beerdigung der Toten, beendete seinen Leidensweg mit der Grablegung. Diese Akte waren begleitet von den sieben Akten der geistigen Barmherzigkeit, die sich heute lesen wie nachträglich hinzugefügt: die Unwissenden zu lehren, die Zweifelnden zu beraten, die Sünder zu ermahnen, Ungemach mit Geduld zu tragen, Kränkungen zu vergeben, die Leidenden zu trösten, für die Lebenden und die Toten zu beten. Im allgemeinen Bewußtsein faßten nur die ersten sieben Akte Fuß.

Titelkupfer einer Abhandlung von Rosco
Ortino über die sieben Werke der
 Barmherzigkeit
Den wahren Gläubigen erkannte man an seiner Barmherzigkeit, denn Christus selbst hatte ihn von dem Ungläubigen, der keine Barmherzigkeit übte, geschieden: Der eine wurde erlöst, der andere verfiel der Verdammnis. Wer einem anderen Menschen eine Wohltat erwies, tat dies für Christus selbst: »Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan.«

Dieses Gebot war, wie sich Thomas von Aquin beeilte festzustellen, zwar bindend, aber nicht immer zur Tat verpflichtend - semper sed non pro semper (immer, aber nicht bei jeder Gelegenheit). Von niemandem konnte ständig Barmherzigkeit verlangt werden. Diese vorsichtige Einschränkung rechtfertigte die Vernachlässigung der Armen, die keine Barmherzigkeit verdienten. Auf sicherem Boden und öffentlicher Beachtung gewiß, konnten der wohlhabendere Klerus und Adel unter den Augen Gottes und im Einklang mit den guten Sitten Akte der Barmherzigkeit vollbringen, die ihrem Namen Ehre einbrachten und das Seelenheil beförderten. Aber die Armen und Elenden hinter den Kulissen, in den schmutzigen Gassen, in den Absteigen und Hütten waren nicht zu bedauern. Sie mußten bestraft und zur Arbeit gezwungen werden und wurden höchstens dann geduldet, wenn sie wußten, wo ihr Platz war.

Es war jedoch nicht klar, wo dieser Platz sein sollte. Im August 1601, fünf Jahre vor Caravaggios Ankunft in Neapel, beschlossen sieben junge Adlige (sie waren alle zwischen zwanzig und dreißig), »sich für die Armen und Bedürftigen einzusetzen«. Sie trafen sich jeden Freitag im Spital der Pockenkranken, um die todgeweihten Insassen mit »gekochten Mahlzeiten und aus eigener Tasche bezahlten Leckerbissen« zu bewirten. Das Unternehmen wurde ein voller Erfolg. So viele Gleichgesinnte wollten daran teilnehmen, daß die sieben im Jahr darauf, am 19. April 1602, beschlossen, eine Gesellschaft mit dem Namen Monte della Misericordia zu gründen und eine Kirche zu errichten, die später unter dem Namen Pio Monte della Misericordia bekannt wurde. Dort übte man alle sieben biblischen Akte der Barmherzigkeit mit Eifer und Regelmäßigkeit. […]

Detail aus Caravaggio: Die sieben Werke der Barmherzigkeit
Zur gleichen Zeit gab es noch etliche andere Wohlfahrtsinstitute in Neapel, die alle miteinander wetteiferten: Die Gesellschaft Dei Bianchi half Gefangenen und begrub die Toten, die man in den Straßen fand; christliche Sklaven unter heidnischen Herren konnten in einer Kirche für die Erlösung Gefangener Hilfe suchen, Pilger in einer Kirche für Pilger, und die unwürdigen Armen fanden Unterstützung in der Kirche der Unwürdigen Armen. Aber Pio Monte della Misericordia verfolgte größere Ambitionen: Diese Kirche wollte alle sieben Barmherzigkeitsakte unter einem Dach vereinen.

Zu diesem Zweck schafften die jungen Edelmänner das Beste herbei, was sich für Geld kaufen ließ. Zwei Gebäude an der Piazza di Capuana, neben der Kathedrale, wurden als Bauplatz für die neue Kirche angekauft, die Pläne entwarf der Architekt Giovanni Jacopo Conforti. Der Bau geriet wunderbar kompakt, und gemäß dem Ideal der Gegenreformation hatten alle Formen eine symbolische Bedeutung. Das kleine, aber hohe Hauptschiff bestand aus einem Oktaeder und erinnerte so an Christi Auferstehung (die am achten Tag seines Einzugs nach Jerusalem stattfand). Umschlossen war es durch ein vollkommenes Rund der Göttlichkeit. Die Vorderfront wurde vom Portal eingenommen, dem der Hauptaltar gegenüberlag, während die restlichen sechs Segmente von drei Kapellen zur Rechten und drei Kapellen zur Linken eingenommen wurden und zusammen mit dem Hauptaltar die symbolische Zahl Sieben ergaben.

Die besten Maler, die sich in Neapel auftreiben ließen, erhielten den Auftrag, die Akte der Barmherzigkeit zu illustrieren. […] Der Ehrenplatz über dem Altar wurde 1607 Caravaggio zugewiesen. Obwohl er von den römischen Behörden gesucht und von konservativeren Kirchenkreisen mißtrauisch beäugt wurde, gehörte er doch zu den bedeutendsten Malern seiner Zeit, und die Edelmänner von Pio Monte konnten sich gratulieren, daß sie ihn für die Aufgabe gewonnen hatten.

Detail aus Caravaggio: Die sieben Werke der
 Barmherzigkeit
Caravaggio machte sich umgehend an die Arbeit. Er beschloß, alle sieben Akte der Barmherzigkeit auf einer Leinwand unterzubringen, und so etwas war in der Geschichte der religiösen Malerei so gut wie noch nie vorgekommen. Die gedrängte Szene wird durch das Gemäuer in der rechten Bildhälfte unterteilt. Von oben und gehalten von zwei Engeln blickt die Madonna della Misericordia mit ihrem Kind auf das dunkle irdische Gewühl herab, wo man nichts von ihrer Gegenwart ahnt. […]

In der linken unteren Ecke ringt ein nackter Mann die Hände - aus Verzweiflung oder aus Dankbarkeit, während sein Begleiter sich vom Boden aufrichtet, um nach dem Mantel eines gutgekleideten Herrn zu greifen (der die Kranken besucht und die Nackten kleidet). Damit folgt der Wohltäter dem Beispiel des heiligen Martin - ein römischer Söldner, der beim Passieren des Stadttors von Amiens auf einen armen, fast nackten Mann traf. »Niemand gab ihm Almosen, und Martin begriff, daß dieser Mann ihm vorbehalten war. Also zog er das Schwert und schnitt sein Gewand in zwei Hälften. Die eine gab er dem Bettler, in die andere hüllte er sich selbst.« Der gutgekleidete Herr scheint mit einer Pilgergruppe zu ziehen, der auch der Mann in der Kluft des heiligen Jakob von Compostela angehört (man beachte die Muschel an seinem Hut). Die Pilger werden von einem untersetzten, freundlich blickenden Mann, vielleicht einem Herbergswirt, willkommen geheißen (Die Unbehausten beherbergen). Hinter ihnen trinkt ein halbnackter Bettler aus einem Eselskiefer (Die Durstigen tränken). Caravaggios Zeitgenossen erkannten in diesem Gefäß eine Anspielung auf Simson, der seine Feinde mit einem Eselskiefer erschlug und hinterher in der Wüste zu verdursten drohte. »Da spaltete Gott die Höhlung im Kinnbacken, daß Wasser herausfloß. Und als er trank, kehrte sein Geist zurück, und er lebte wieder auf.« Rechts von ihnen hält ein Mann im weißen Hemd und mit roter Mütze eine Fackel, um einem Leichenträger den Weg zu bahnen (Die Toten begraben). Und schließlich nährt eine junge Frau, den Blick auf die bewegte Szene gerichtet, mit ihrer Brust einen alten Gefangenen, der den Kopf durch ein Gitterfenster streckt (Die Gefangenen besuchen und Die Hungrigen nähren). Ohne es zu wissen, erinnert sie an die Geschichte von Cimo und Pero, eine antike Fabel römischer caritas. Und obwohl sie alle klassische Rollen verkörpern, tragen die Männer und Frauen auf Caravaggios Gemälde die Züge der neapolitanischen Bettler.

Detail aus Caravaggio: Die sieben Werke der
Barmherzigkeit
Caravaggios Szene hat nichts Gewolltes oder Allegorisches. Weder folgt sie dem kirchlichen Bestreben, die Armut zu heiligen, noch entspricht sie den stilisierten Schaubildern der Commedia dell' Arte. Zwar ist die Bildszene ebenfalls theatralisch, aber sie ist auf die Mitwirkung des Betrachters angewiesen, wenn sie die Wahrheit sprechen will. So bezieht Caravaggio den Betrachter ins Geschehen ein, macht ihn zum Mitwirkenden eines Vorgangs, der sich um ihn herum, auf gleicher Höhe mit ihm, abspielt. Er bürdet dem Betrachter ein Verantwortungsgefühl für das Elend seiner Mitmenschen auf. Und er zwingt ihn zum Handeln. Tatenloses Mitleid, so hatte Thomas von Aquin gelehrt, ist keine Barmherzigkeit. […]

Kurz bevor das Konzil von Trient in der Mitte des 16. Jahrhunderts die Richtlinien für die Gegenreformation festlegte, hatte der römische Theologe Silvester Prieras verlangt, das Buch, auf das sich die Kirche gründete, müsse ein Geheimnis bleiben, interpretiert ausschließlich von Berufenen und durch den unfehlbaren Ratschluß des Papstes. Die Darstellung der Heilsgeschichte auf der Leinwand sollte zweifellos das Geheimnis bewahren und die Anmut, Schönheit und Vornehmheit der von Gott erleuchteten Gestalten herausstellen. Das Mysterium hatte in himmlischen Gefilden stattzufinden, nicht aber auf der platten Erde, wo es durch das vulgäre Treiben in den schmutzigen Gassen nur beschmutzt werden konnte.

Caravaggio: Madonna der Pilger [Madonna
di Loreto], 1603-05, Sant' Agostino, Rom
Als Caravaggio den Armen von Neapel auf seiner geheiligten Leinwand eine Bühne bot, verstieß er damit nicht nur gegen die bereits veralteten Regularien des Trenter Konzils, sondern er weitete auch den öffentlichen Raum für das gewöhnliche Volk von Neapel aus, den es sich mit der Commedia dell' Arte, mit Karneval und Narrenfest, mit Prozessionen und Mysterienspielen bereits erobert hatte. Diese Armen waren die Akteure, die er sich für seine Gemälde aussuchte. Sein Matthäus, der die römischen Stiftsherren so schockierte, die schmutzigen Anbeter der Madonna di Loreto für die Kirche Sant' Agostino, sein Tod der Jungfrau für die Karmeliter, für die ihm angeblich eine schwangere Prostituierte als Vorbild diente, die sich im Tiber ertränkt hatte und deren Leiche er in seinem Atelier aufbahrte - all das waren Porträts von Armen, die ihm täglich auf der Straße begegneten, und all diese Bilder wurden von seinen Auftraggebern zurückgewiesen. Erst als Rubens seinen Mäzen, den Herzog von Mantua, drängte, den Tod der Jungfrau zu kaufen, wurde das Bild dem römischen Kunstpublikum zugänglich gemacht, aber nur eine Woche lang. Dann verschwand es im Palast des Herzogs und wurde den Blicken der Allgemeinheit entzogen.

Die Wohltäter von Pio Monte della Misericordia hatten den besten, den ursprünglichsten, den modernsten aller Maler für ihre Kirche gewollt. Es ist nicht sicher, ob das Ergebnis ihren Wünschen entsprach. […] Caravaggios Gemälde ist ein Mahnmal gegen die Heuchelei. Sein Darstellungsstil ist weit entfernt von den Abstraktionen des Barock, wie sie von der Kirche der Gegenreformation bevorzugt wurden. »Barock ist das letzte Charakteristikum, das ich Caravaggio anhängen würde«, schrieb der amerikanische Kunsthistoriker Bernard Berenson sehr zutreffend, »obwohl dies immer wieder geschieht. Die passendste Bezeichnung für ihn wäre vielmehr Antibarock.« Die Kirche stellte den homo operativus (den wirkenden Menschen) zwar eine Stufe über den homo dignus, den Menschen von Würde, aber sie mahnte, daß menschliches Eingreifen nicht nur heilsam, sondern auch schädlich sein könne. Daher sei es klüger, nicht auf eigene Faust zu handeln, sondern sich der Führung Berufener anzuvertrauen und Abhilfe im Gebet zu suchen, statt unter den Armen zu leben. Die Akte der Barmherzigkeit auf Caravaggios Gemälde zielen auf wirkliche Menschen, die unter wirklichen Nöten leiden. Den Wohltätern von Pio Monte dürfte die kirchliche Auffassung bekannt gewesen sein, und vielleicht dachten sie ähnlich wie Caravaggio.

Caravaggio: Der Tod der Jungfrau, 1605-1506,
Louvre, Paris. Auftraggeber: Laertino Cherubini,
urspr. für den Altar der Kapelle der Karmeliter-
Kirche Santa Maria della Scala in Rom.
Das Gemälde wurde von den Karmelitern
als »der Maria unwürdig« zurückgewiesen
Von Neapel floh Caravaggio noch Malta, wo er dank seiner Berühmtheit in Ehren aufgenommen wurde, bis dem Großherzog die Nachrichten über seine Verbrechen zu Ohren kamen. Erneut wurde er ausgewiesen. In Syrakus, in Messina und dann wieder in Neapel suchte er Zuflucht und setzte seine Arbeit fort. Gegen Ende 1609 wurde er vor der Tür einer neapolitanischen Herberge, an einem Schauplatz wie auf seinem Gemälde, überfallen und schwer verletzt. Nach Rom gelangte die Kunde, der berühmte Maler sei tot. Doch er erholte sich nach mehreren Monaten so weit, daß er die Schiffsreise nach Port'Ercole antreten konnte, einem päpstlichen Besitztum, wo er vergeblich auf die Begnadigung durch den Papst wartete. Schließlich wollte er den Bußgang selbst antreten und zu Füßen des Pontifex um Vergebung bitten. Kurz vor Abfahrt des Schiffes nach Rom wurde er versehentlich verhaftet. Nach der Freilassung stellte er fest, daß es mit all seinen Habseligkeiten in See gestochen war. Krank und erschöpft brach Caravaggio am Hafen zusammen und starb wenige Tage später. Er war siebenunddreißig Jahre alt.

Quelle: Alberto Manguel: Bilder lesen. [Reading Pictures. A History of Love and Hate. Übersetzt von Chris Hirte] Volk & Welt, Berlin, 2001, ISBN 3-353-01150-1, Auszüge aus den Seiten 267-287[Buchbesprechung]

CD bestellen bei Amazon

CD Info & Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 42 MB
Filepost --- Hotfile --- EmbedUpload
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files

Webern: Im Sommerwind, Orchesterstücke, Variationen

$
0
0
Weberns Musik verlängert in ihrem radikalen Ausdrucksbegehren, wie es die Musik der »Wiener Klassik« bis hin zur Spätromantik von Richard Strauss,Gustav Mahler und Arnold Schönberg im Stil- und Aufführungsideal des »Wiener Espressivo« gesucht hatte, die Tradition des 19. Jahrhunderts. Mit der gegenwärtigen Tiefenperspektive auf die vergangene Geschichte erscheint Webern nicht mehr als eine zentrale Figur des 20. Jahrhunderts, sondern als eine, die die Tradition der »Wiener Klassik« zu ihrem äußersten Höhepunkt geführt hat. Dies zeigt sich nicht nur im Ausdruckswillen dieser Musik, sondern auch im Prinzip der durchbrochenen Arbeit, bei der eine thematische Linie auf mehrere Instrumente verteilt wird. Die weit auseinandergezogenen und bei Webern oft durch Pausen unterbrochenen Melodiezüge noch hörbar und fühlbar zu machen ist denn auch das dringlichste Problem, das von einer musikalischen Interpretation der Werke Weberns zu lösen ist. Im Gegensatz zur seriellen Musik dürfen die einzelnen Töne nicht als isolierte Tonpunkte erklingen, sondern müssen in ihrer impulshaften Kraft über sich selbst hinauswachsen, bis sie sich mit dem nächsten Ton in einem anderen Instrument berühren, um sich mit ihm ganz zu verbinden.

Anton Webern hat ein präzise abgezirkeltes Gesamtwerk von genau 31 Tonstücken hinterlassen, deren Anfang und Ende zyklisch durch das Prinzip entwickelnder Variation verbunden ist. Sein Opus 1, die 1908 geschriebene Passacaglia, hat er bewusst als die Nummer 1, als Portalöffnung zu seinem Gesamtwerk komponiert. Erst als er offiziell seine Kompositionsstudien bei seinem Lehrer Arnold Schönberg abgeschlossen hatte, konnte er demonstrativ als Ausdruck der nun erreichten Eigenständigkeit mit der Zählung der Werke beginnen.

Die symphonische Dichtung Im Sommerwind von 1904 nach dem gleichnamigen Gedicht aus Bruno Willes Roman Offenbarungen des Wacholderbaums hat den Untertitel »Idylle für großes Orchester«. Sie trägt noch ganz die Spuren von Weberns Auseinandersetzung mit der Gattung der Tondichtung und eines poetisch bestimmten symphonischen Stils, dem Webern in der Musik Richard Strauss`, Arnold Schönbergs und Gustav Mahlers begegnet war. Aus der Sicht des Komponisten war es durchaus verständlich, wenn er dieses Werk in sein späteres Werkverzeichnis nicht aufnahm. Dennoch trägt es bereits Züge, wie sie den späteren Werken Weberns eigentümlich werden: die Bedeutung der Klangfarbe als ein Aspekt der Komposition, der die Vorgänge der Partitur nicht illustriert, sondern von eigenständig ausdruckgebender Substanz ist. Dies rückt diese Partitur bereits weit über Strauss hinaus, zeigt ihren Zusammenhang mit der Orchestrierung der späteren Werke Weberns, mit der vibrierenden Klangflächenkunst von Claude Debussy.

Die Passacaglia op. 1 (1908) enthält wie in einem Kern alle späteren Ausformungen. Sie geht zwar auf das thematische Gebilde einer Passacaglia zurück, wie sie uns als Bass-Modell durch Beethovens Eroica-Variationen op. 35 und durch das Finale von Brahms vierter Symphonie vertraut ist, zeigt aber bereits in der durch Pausen ausgesparten Verlaufsform eine Webern eigentümliche Erfindungsweise auf. Die angerissenen, aber auch gedämpften Saiten der Streicher erzeugen Töne, die über die Pausen hinweg zuammenhängen sollen. Zugleich werden die Pausen im Sinne des 19. Jahrhunderts als»sprechende Pausen« so bedeutsam und beredt wie die klingenden Töne. Damit ist ein für Webern zentrales Thema vorgezeichnet: die Aussparungen, die Leerräume und die Stille zum Gegenstand der Komposition zu machen. Gerade wenn die freien Partien in den folgenden zyklischen 23 Variationen mit großen Bewegungen und Akkordmassierungen ausgefüllt werden, zeigt sich immer wieder diese Gewalt der absichtsvollen Leere über das rauschende Klanggeschehen.

Anton (von) Webern
Das Opus 1 war noch ein durchgehend lineares Gebilde, das trotz vieler Episoden dramatisch auf einen symphonischen Höhepunkt hinstrebte. Die Sechs Orchesterstücke op. 6(Neufassung 1928) dagegen erscheinen zunächst als aus größeren Kontexten herausgelöste und lange Verlaufsformen zusammenfassende Charakterstücke und die Fünf Orchesterstücke op. 10 (1911-13) aber dann als nochmalige Verdichtungen gleich einer ungeheuren Abbreviatur der Orchesterstücke op. 6. Das mag ihnen zusammen mit den Bagatellen für Streichquartett op. 9 die Bezeichnung von Aphorismen eingetragen haben, die sie als Verkürzungen ehemals ausgedehnter Formen auch sind. Da gibt es Trauermärsche und imaginäre Nachtmusiken, die an Mahlers fünfte und siebte Symphonie erinnern. Aber sie sind entweder im Verhältnis zu den extrem kurzen und schmerzhaft zusammengezogenen Stücken derartig gedehnt, dass sie wie die Schlussstücke von Opus 6 und 10 nicht aufzuhören scheinen, oder sie sind derartig verknappt, dass der Hörer, um ihnen überhaupt folgen zu können, glaubt, er müsse diese Stücke unters Teleskop nehmen, um sie derartig zu dehnen, dass sie dem hörenden Bewusstsein zugänglich gemacht werden können.

Während der langen mittleren Periode Weberns zwischen den Cellostücken op. 11 (1914) und dem Streichtrio op. 20 (1926-27) hat Webern ausschließlich Vokalwerke geschrieben, um durch die Auseinandersetzung, vor allem mit der Farbmetaphorik der Gedichte Georg Trakls, zu einem neuen Stil zu gelangen. Weberns Weg zur »Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen« ist dabei weniger entscheidend als die neue Art der gleichsam schwerelosen Führung der Vokal- und Instrumentalstimmen, die in ein vollständiges Gleichgewicht aller Stimmen eingebunden sind. Dies führt auch in den Orchesterwerken seit dem Opus 21 zur Gleichberechtigung aller Stimmen, von denen keine figurativ oder ornamental aufgefasst werden kann, weil jede gleich nahe zum thematischen Prozess der motivischen Grundgestalten ist.

Obwohl die Symphonie op. 21 (1927 - 28) mit ihren zwei Sätzen an traditionelle Werke auch zweisätzig-zyklischen Charakters der Symphonik und Instrumentalmusik erinnert (Beethovens Klaviersonaten op. 90 und Op. 111 und Schuberts h-moll-Symphonie), geht Webern hier doch einen anderen Weg: zunächst den Weg »zurück« in die zweiteilige Sonatensatzform, wie sie den ersten Satz der Symphonie bestimmt. Erst die an der Symphonik Beethovens orientierte Theorie fasste sie als dreiteilig auf, während um 1780 »Durchführung und Reprise« noch als ein einheitlich zweiter Teil verstanden wurde, der auf den ersten der »Exposition« folgte. Webern hat dieses historische Verständnis deutlich durch die Wiederholung sowohl des ersten als auch des zweiten Teils markiert, um den Bezug zur zweiteiligen Form anzudeuten.

Max Oppenheimer: Der Komponist Anton von Webern,
 1908/10, Von der Heydt-Museum, Wuppertal
Die zweite Satz macht ein anderes architektonisches Konstruktionsprinzip geltend, das im Widerspruch zur linear-dynamischen Bewegungsform etwa der Symphonien Beethovens steht. Wie die Zwölftonreihe symmetrisch um die Mitte des Tritonus geformt wird und mit Spiegelungen arbeitet, die auch in der Verbindung der Grundgestalten gehört werden können (etwa in der ersten Variation die Rückläufigkeit der Bewegung in der ersten Geige ab T.17), so überträgt Webern diese thematischen Ordnungsverhältnise dann auch übergreifend auf die Architektur der Form. Das Thema mit sieben Variationen und Coda verdichtet sich im Sinne einer von außen nach innen in die »Mitte« der vierten Variation gehenden Symmetrie. So entsprechen sich auf verschiedene Weise die Rahmenvariationen I:VII - II:VI - III:V, und die vierte ist die ambivalente Mitte zwischen dem Thema der Variationen und der Coda. Das klassisch-organische Formschema des späten 18. Jahrhunderts wird also von einem architektonisch-symmetrischen Schema durchkreuzt, wie J. S. Bach es uns in den Goldberg-Variationen und in seiner Actus tragicus-Kantate vorgeführt hat.

Auch für das Konzert für Neun Instrumente op. 24 (1931-34) ist die Bachsche Formarchitektur von Bedeutung. So schreibt Webern in der Phase des ersten Entwurfs am 19. September 1928 an den Verleger Emil Hertzka: »Mittlerweile habe ich mich auch bereits wieder einer neuen Arbeit zugewandt: einem Konzert für Geige, Klarinette, Horn, Klavier und Streichorchester. (In Sinne einiger Brandenburgischen Konzerte von Bach.).« Der Bezug auf J. S. Bach wird über diesen brieflichen Hinweis hinaus noch nachdrücklicher durch den Sachverhalt, dass Webern in der Phase der endgültigen Niederschrift des Opus 24 im Jahr 1934 das sechsstimmige Ricercar aus Bachs Musikalischem Opfer für Orchester setzte.

Mit Weberns vorletztem Werk, den Variationen für Orchester op. 30 (1940), schließt sich der Kreis zu seinem Opus 1. Es zeigt sich für Weberns Gesamtwerk tragend, aus einem unerhört vielfältig ineinander verflochtenen thematischen Gebilde einen Formprozess zu entwickeln, der auf verschiedenen Stufen das nach außen treibt, was in der Grundgestalt des Themas bereits vorgezeichnet war. Deswegen sind die Webernschen Themen, vor allem in seinen Variationswerken, nicht Ausgangspunkt, sondern Endpunkt, von dem aus die Komposition bis in ihren Anfang hinein zurückentwickelt wird (nicht zufällig sind deswegen viele seiner Formen rückläufig oder stellen die Grundgestalt der Reihe nicht zu Beginn, sondern erst im zweiten Satz vor). In einem Brief vom 3. Mai 1941 an den Schweizer Kritiker und Musikologen Willi Reich erklärt Webern: »Alles nun, was in dem Stück (op. 30) vorkommt, beruht auf den beiden Gedanken, die mit dem ersten und zweiten Takt gegeben sind (Kontrabass und Oboe)! Aber es reduziert sich noch mehr, denn die zweite Gestalt (Oboe) ist schon in sich rückläufig: die zweiten zwei Töne sind der Krebs der ersten zwei, rhythmisch aber in der Augmentation. Ihr folgt, in der Posaune, schon wieder die erste Gestalt (Kontrabass), aber in Diminution! Und im Krebs der Motive und Intervalle. So nämlich ist meine Reihe gebaut, die mit diesen dreimal vier Tönen gegeben ist.«

Quelle: Anonymus, im Booklet


Track 19: Anton Webern: Variationen op. 30 (Lebhaft)


TRACKLIST

Anton Webern (1883-1945)


Im Sommerwind - 'Idylle für großes Orchester nach einem Gedicht von Bruno Wille'
In the Summer Wind - 'Idyll for large orchestra after a poem by Bruno Wille'
Au Vent d'été - lIdylle pour grand orchestre d'après un poème de Bruno Wille'
(01) Ruhig bewegt 12'44

Passacaglia Op.1
(02) Sehr mäßig, Tempo I 10'51

Six Orchestral Pieces Op.6
arr. for reduced orchestra 1928
(03) Etwas bewegte 0'55
(04) Bewegt 1'21
(05) Zart bewegt 1'03
(06) Langsam - marcia funebre 4'55
(07) Sehr langsam 2'53
(08) Zart bewegt 1'52

Five Orchestral Pieces Op.10
(09) Sehr ruhig und zart 0'57 .
(10) Lebhaft und zart bewegt 0'37
(11) Sehr langsam und äußerst ruhig 1'47
(12) Fließend, äußerst zart 0'38
(13) Sehr fließend 0'51

Symphony Op.21
(14) Ruhig schreitend 6'03
(15) Variationen 2'52
Thema: Sehr ruhig - Variationen 1-7

Concerto Op.24
For flute, oboe, clarinet, horn, trumpet, trombone. violin. viola & piano
(16) Etwas lebhaft 2'33
(17) Sehr langsam 2'06
(18) Sehr rasch 1'15

Variations Op.30
(19) Lebhaft 7'01

TT: 64'13

Staatskapelle Dresden
Giuseppe Sinopoli conductor

Recorded at the Lukaskirche, Dresden, in September and October 1996
Recording producer: Wolfgang Stengel
Recording engineer: Christian Feldgen
Assistant engineers: Tobias Lehmann, Peter Weinsheimer
Digital editing: Andreas Florczak

DDD
® l999
© 2003

William Hogarth: »Beer Street and Gin Lane«
Hogarths Geschäftskarte »The Shop Card« als Kupferstecher
Als William Hogarth (1697-1764) im Februar 1751 das Erscheinen der Blätter »Beer Street« und »Gin Lane« - »Bierstraße und Schnapsgasse« - gemeinsam mit »The Four Stages of Cruelty« (»Die vier Stufen der Grausamkeit«) öffentlich annoncierte, war er unbestritten der Erste seines Zeichens auf der britischen Insel. […] Er wurde einer der großen Neuerer in der Geschichte der Kunst - nicht indessen auf eine ingeniös explosive, sondem eine nach Bedürfnissen und Marktlücken spähende, kalkulierende Weise. In der Tat ist das markanteste und in der Konsequenz, mit der es in Erscheinung trat, verblüffendste Prädikat Hogarthscher Kunst das nimmermüde geschäftliche Kalkül als Voraussetzung für eine andauemde innovatorische Produktion. Die für diese Disposition - die klassische des Warenverkäufers - erforderliche Bedingung war dem jungen Hogarth sozusagen in die Wiege gelegt: Der materielle Zwang, erfolgreich zu sein.

Der Vater - Schulmeister und (verhinderter) Gelehrter - hatte wie viele das Land mit der Stadt vertauschen müssen, aber mit verschiedenen Unternehmungen nicht Fuß fassen können. Nach einer Bekanntschaft mit dem Schuldgefangnis (»Fleet«) - Haftbedingungen sind später ein thematischer Schwerpunkt im Oeuvre des Sohns - und einer Kaffeehausgründung hinterließ er (1718) diesem, seinem Ältesten, der noch in der Lehre war, nicht viel mehr als die Verpflichtung, die Familie zu versorgen. Die einzige Chance eines mittellosen Lehrlings lag, das hatte Hogarth später ausführlich in »Industry and Idleness« (»Fleiß und Faulheit«, 1747) demonstriert, in der unbedingten Einschwörung auf die Tugenden Ehrgeiz, Zuverlässigkeit, Fleiß, die eventuell über eine Verbindung mit der Tochter des Lehrherren zum Erfolg führen konnte. Aber anders als im Falle seines Helden »Francis Goodchild« mußte die Graviererlehre abgebrochen werden; Hogarth machte sich als Kupferstecher selbständig, seine eigene »Shop Card« ist eine erste Probe in der für ihn neuen Technik.

Als Stecher wäre es sein gewissermaßen natürliches Schicksal gewesen, lebenslang unselbständig in fremder Rechnung für Buchhändler und Verleger arbeiten zu müssen. Um dem zu entgehen, scheint er nichts dem Zufall überlassen zu haben. Statt der »Greuel von Heraldik« und aufgenötigter Buchillustrationen, schreibt er in den Notizen zu seinem Lebenslauf, setzte er auf künstlerische Weiterbildung und begann autodidaktisch, »Gegenstände aus der Natur zu zeichnen«. Erhellend und ernüchtemd zugleich ist der von ihm selber beschriebene Pragmatismus, mit dem er seine näheren und ferneren Ziele ansteuerte: Da es ihm an Zeit (vermutlich auch an Geld) mangelte, Zeichenunterricht zu nehmen, entwickelte er eine eigene Methode, trainierte er sich mnemotechnisch einen Formvorrat von Naturdetails an, die er nach Bedarf und Belieben zusammensetzen und künstlerisch verwerten konnte. Diese und weitere Formen des Selbststudiums, denen er später seinen Erfolg zuschrieb, ließen in ihm kunstpädagogische Ambitionen wach werden, die konsequenterweise zur Gründung einer privaten Akademie (1734) und zur Publikation der Schrift Analysis of Beauty (1753) führten. […]
Industry and Idleness, Bl. 4 (Der fleißige Lehrling, ein Liebling und
Vertrauter seines Prinzipals). Die positive Aussage wird indessen irritiert
 durch das Verhalten von Hund und Katze, die den sozialen Gegensatz
 zwischen Arbeit (City Porter) und Arbeitgeber stellvertretend austragen

In der Autobiographie heißt es weiter: »Ich heiratete dann und begann, kleine zwölf bis fünfzehn Zoll hohe Konversationsstücke zu malen. Da dies etwas Neues war, hatte ich einige Jahre lang Erfolg damit.« Diese nebensächliche, nur vom kommerziellen Aspekt bedachte Notiz betrifft nichts Geringeres als die Erfindung einer neuen Gattung, des Konversationsstücks (»Conversation Piece«). Diese Bilder enthalten kleinfigurige Bildnisse im familiären und privaten Rahmen, haben weder das Format und den Anspruch eines (Gruppen-)Porträts noch die Würde eines Historienbildes und kamen so dem wachsenden Sinn des Bürgers für Privatheit und Intimität entgegen. Das neue Genre erwarb sich schnell sein Publikum. Da jedoch ohne arbeitsteilige Produktionsweise der Gewinn aus diesen Bildern langfristig den Arbeitsaufwand nicht lohnte, sah sich Hogarth bald nach weiteren Wegen um: »(Ich) wandte deshalb meinen Blick auf ein neues Genre, nämlich das Malen und Stechen moderner Lebensbilder (»Modern Moral Subjects«), ein Feld, welches bisher noch in jedem Lande brach lag. Ich erkannte, daß die Schriftsteller und auch die Maler im historischen Stil die Zwischenstufe vom Erhabenen zum Grotesken übersahen. Das veranlaßte mich, auf meine Art zu zeichnen (zu malen).«

Das Resultat, eine Art mittleres »moralisches« Genre, das keineswegs mit der beschaulich-harmonistischen Sehweise der holländischen Sittenmalereiübereinstimmt, bedingte und bediente ein Publikum, dem der Gebrauch der Kunst zumal in ihren repräsentativen und dekorativen Konventionen noch fremd war, das statt dessen über zeitgenössische Themen und Sensationen ansprechbar schien: das großstädtische Kaffeehaus-, Journal- und Theaterpublikum, dem Hogarth denn auch zeitlebens eng verbunden war. Der »Lebenslauf einer Dirne« (»A Harlot's Progress«, 1731) machte den Anfang: Ein nicht eben seltener, wenngleich immer wieder hinreichend pikanter Vorgang konnte - geschützt durch seine moralisierende Dramaturgie - der weitreichenden Anteilnahme und des kommerziellen Erfolges sicher sein. In diesem Sinne verarbeitete und verurteilte Hogarth von nun an etwa zwei Jahrzehnte lang alle möglichen »modernen« Laster, Untugenden und menschlichen Schwächen, zumeist in gemalter (unikaler) wie auch in gestochener (reproduzierter) Version, um neben der Vervielfältigung seiner sittlichen Belehrungen zugleich auch seinen Umsatz und Gewinn zu vervielfachen.

Oben: A Rake's Progress, Bl. 1 (Der Lebenslauf eines
 Wüstlings). Das männliche Gegenstück zur »Dirne«.
Unten: A Rake's Progress, Bl 1, Raubdruck von ca 1735.
 Hogarth ließ 1734 in der Subskriptionsphase nur
eine Vorbesichtigung durch die Interessenten zu -
so mußte der »Räuber« aus dem Gedächtnis arbeiten
 - und verzögerte die Auslieferung bis zum
Inkrafttreten des von ihm initiierten
Urheberrechtsgesetzes am 25. 6. 1735.
Das so sehr hemmende Verlags- und Verkaufsmonopol der Buch- und Kunsthändler umging er, indem er Werbung und Vertrieb in die eigene Hand nahm. Er kündigte seine Arbeiten mittels Zeitungsannoncen an, lud gegebenenfalls gleichzeitig zu ihrer Subskription ein; als Quittung für erfolgte Zahlung, mit der er größere Produktionen finanzierte, vergab er kleinformatige Stiche, die er mit großer Sorgfalt und Reflexion auf die angekündigte Thematik und Tendenz entwarf und herstellte. Diese »Tickets« bilden zuvor nicht dagewesene Visualisierungen kunsttheoretischer und -politischer Standpunkte, sind als diskutierende Kunst ebensolche Neuerungen wie die genannten Gattungen. Die Gemälde, sofern er sie nicht unmittelbar verkaufen konnte, suchte er ebenfalls unter Umgehung des Kunsthandels mittels selbstveranstalteter Auktionen und Lotterien - mehr oder minder erfolgreich - zu verwerten. Selbstverlag und Selbstvertrieb konnten indessen langfristig nur erfolgreich sein, wenn dem weitverbreiteten unautorisierten Kopieren (»Piracy«) das Handwerk gelegt wurde, - allein vom »Harlot«-Zyklus sind acht Raubdrucke bekannt. Hogarths diesbezügliche Vorstöße bei der Legislative führten zur sog. »Hogarth-Akte« (1735) - »According to Act of Parliament« wird nun unter die Blätter gerückt -, in der erstmals das Urheberrecht grundsätzlich anerkannt und fixiert wurde.




Beer Street und Gin Lane: Schilderungen britischen Glücks und Elends


William Hogarth: Beer Street. Kupferstich mit radierten Anteilen, 35,8 x 30,2 cm
Nach all diesen Erfahrungen und Erfolgen stand Hogarth um die Mitte des Jahrhunderts auf dem Zenith seines Lebens. Seine Ambitionen und Zukunftspläne waren noch weitgespannt, aber er dachte bereits daran, von den Früchten, die er geerntet, als Wohltäter und Menschenfreund an die Gesellschaft zurückzugeben. In dieser Situation traf er auf das Thema des Alkoholismus sowie einiger Erscheinungsweisen menschlicher Grausamkeit, mit denen er, so weit wie noch nie zuvor, in die Öffentlichkeit dringen wollte. […]

Die Ankündigung der Publikation im General Advertiser(13.2.1751)äußert sich in dieser Hinsicht recht detailliert: »Am nächsten Freitag werden zwei große Drucke zum Preis von 1 s. (1 Shilling), gezeichnet und gestochen von Mr. Hogarth, mit dem Titel Beer Street und Gin Lane publiziert werden. Eine Lieferung wird in einer besseren Qualität für den Liebhaber zum Preis von 1 s. 6 d. (1 Shilling und 6 Pence) gedruckt. Und am darauffolgenden Donnerstag sollen vier Drucke über das Thema Grausamkeit erscheinen, - zum selben Preis und im selben Format. N.B. (nota bene): Insofern die Themen dieser Drucke berechnet sind in der Hoffnung, ihnen größtmögliche Verbreitung zu gewährleisten, nämlich um gewissen grassierenden Lastern namentlich der Unterklasse zu steuern, hat sie der Autor auf preiswerteste Weise produziert. Sie sind zu haben in seinem Haus The Golden Head in Leicester Fields, wo auch alle seine übrigen Werke zu erwerben sind.«

Die Blätter stellen nun nicht etwa - wie es aus der Nominierung der Alkoholika Bier und Schnaps zu lesen naheläge - eine Steigerung des Lasters nach Art der gleichzeitig angekündigten vierstufigen Grausamkeit vor, sie bezeichnen vielmehr, bezogen auf die jeweilige Konsumentenschicht der Getränke, einen Kontrast moralischer und sozialer Natur, wie er in Hogarths und seiner Zeitgenossen Augen nicht krasser sein konnte.

Die Lesbarkeit dieses Sinnes wird buchstäblich vermittelt durch die unter die Darstellungen gerückten Verse. Sie stammen aus der Feder von Reverend James Townley (1714-1778), Stückeschreiber und Pädagoge, Hogarths Freund und Helfer vor allem in theoretischen Dingen:

O Bier! Gesunder klarer Gerstensaft,
Du kannst verleihen Manneskraft,
Wenn müde von des Tages Werken,
Wirst Du uns stets von Neuem stärken.

Arbeit und Kunst, durch Dich gehoben,
Wird Deinen Wert frohsinnig loben.
Dein würziger Genuß wird uns mit Fröhlichkeit umfassen,
Und Frankreich woll'n wir gern das Wasser überlassen.

Du, der Gesundheit Geist, empfange unseren Dank,
Weil Du uns gleichst der Götter Trank
Und neu erweckst in jedes Briten Brust
Der Freiheit und der Liebe Lust.
Beer Street, Detail:
Pärchen und Tageszeitung
Branntwein, entsetzlich' Gift! Der Hölle Fluch!

Du hast der Menschenopfer nie genug.
Mit heimlicher Verführung wirst Du stets berücken,
Um der Gesundheit Leben gänzlich zu ersticken.

Tugend und Wahrheit bringt er auf den Weg der Sünde,
Bis er in Diebstahl und Mord die Menschen wiederfinde,
Reißt aller Pflichten Band entzwei,
Bringt unseres Gottes Ebenbild zur Raserei.

Er ist der Menschen Fluch. Ein Feind dem Leben,
Ein Dämon, der der Hölle Dienst ergeben,
Kann die Vernunft in Wahnsinn umgestalten,
Durch sein verborgnes und verderblich' Walten.

Der Kontrast der beiden Blätter, ihre aus dem Gegensatz resultierende Beziehung, verlangt nach einer synoptischen Vorstellung. Das Nacheinander der Lektüre sollte durchs Nebeneinander in der Anschauung ergänzt werden. In beiden Fällen - bei Bier und Schnaps - läßt Hogarth in eine Straßenszene blicken; wie er aber nie etwas dem Zufall und der Beliebigkeit überlassen hat, so auch hier nicht in der Kennzeichnung der Örtlichkeiten: Das Bier hat seine Domäne im königlichen Sprengel von St. Martin in the Fields, wo sich denn auch sein eigenes Haus - »The Golden Head« - befand; der Schnaps regiert im notorischen Slumviertel St. Giles' Parish in Westminster.

Der Kirchturm der Bierszene, der von St. Martin, erst in jüngerer Zeit (1721-26) von James Gibbs erbaut, ist auffällig beflaggt: Es ist der 30. Oktober, des Königs (Georgs II.) Geburtstag. Seine jüngste Thronrede (»His Majesty's Most Gracious SPEECH To both Houses of PARLIAMENT On Tuesday ye 29. Day of November 1748«) ist vorn im Bild auf dem Tisch der Zechenden - abgedruckt in The Daily Advertiser - deutlich zu lesen: »Lassen Sie mich Ihnen die Beförderung des Handels und die Ausbildung der Künste des Friedens dringlich empfehlen; Sie können sich hierbei auf meine herzliche Mitwirkung und Ermutigung verlassen«.

Beer Street, Detail: Die Fischmädchen mit der Heringsballade
Der königliche Appell scheint hier in sozialem Mikrokosmos bereits verwirklicht. Feier des Tages, Arbeit und Gewerbefleiß ergänzen sich zu einem erfreulichen Anblick. Das Wirtshaus »The Sun« floriert, das Dach und die Fassaden werden erneuert; die Dachdecker prosten einander zu. Vor dem Haus hat eine Sänfte haltgemacht, die dicke Dame darin muß - zwischen ihren hochgeklappten Reifrock geklemmt (über dieses Motiv wird noch zu sprechen sein) - in selbstverschuldeter Unbequemlichkeit ausharren, bis die Träger ihr billiges Bedürfnis, den brennenden Durst, mit Bier gelöscht haben. Im Obergeschoß des Nebenhauses sind drei Schneider am Werk - und trinken Bier. Die Pflasterer auf der Straße arbeiten teils, teils trinken sie - eines der wenigen Arbeitsmotive im Werke Hogarths und ähnlich bereits auf einem frühen Firmenschild zu finden (ca. 1725). Einer von ihnen hat Platz genommen vorn am Tisch beim Wirtshaus »The Barley Mow« (»Der Gersten-Schober«), wo er, Ramme und Bierkrug in der Rechten, einem jungen Hausmädchen - kenntlich an Marktkorb und Schlüssel - Avancen macht. Bis zum Mieder vorgedrungen, nähert er sich dem offenbar nicht sehr entschieden bewachten Schlüssel auf des Mädchens Schoß - seit den Niederländern des 17. Jahrhunderts beliebter Bildwitz über die Schwankungen zwischen Verschlossenheit und Zugänglichkeit. Der dicke Schmied daneben hält paffend und prostend eine gewaltige Hammelkeule mit seiner Linken in die Höh'. […] Ein nicht minder fülliger Schlachter ergänzt die behagliche Runde.

In der Mitte der Szene widmen ihre gesammelte Aufmerksamkeit zwei reizend gruppierte Fischmädchen einer »neuen Heringsballade« von Mr. Lockman (A new Ballad on the Herring Fishery by Mr. Lockman). John Lockman (1698-1771), genannt »The Herring Poet« und ein Freund von Hogarth, war Sekretär der national gesinnten »Society of the free British Fishery«; diesen seinen Posten verinnerlichend, besang er britische Fischerei und britischen Hering, u.a. in der Schrift The Shetland Herring and Peruvian Gold-Mine(1751), worin er den Gewinn aus ehrlicher heimischer Arbeit, sonderlich dem Fischfang, der spekulativen Profiterwartung aus exotischen (peruanischen) Goldminen entgegensetzte. Das mußte Hogarth aus der Seele gesprochen sein, der sich - graphisch -selbst mehrfach mit den peruanischen Goldminen und ähnlichen, wirre Psychosen auslösenden »bubbles« (»Seifenblasen«) beschäftigt hatte. Das Mädchen mit dem Fischkorb auf dem Kopf - es erinnert an Hogarths berühmtes Gemälde »The Shrimp Girl« (»Die Garnelenverkäuferin«, ca. 1745, National Gallery, London) oder das Milchmädchen in »The Enraged Musician« (»Der aufgebrachte Musiker«, 1741) - war ihm Inbegriff und Inkarnation gesunden und nützlichen Volkslebens.

Ganz rechts im Bild macht ein »City Porter« - als Lastträger erkennbar an dem Wappen der Stadt London - Porter trinkend, seine angesichts der gewaltigen Last wohlverdiente Pause. Die Schriften in seinem Korbe sind adressiert »For Mr Pastem the Trunk maker in Pauls Ch Yd« (»Für Mr. Pastem, den Kofferfabrikanten in St. Paul's Church Yard«), mithin ausgewiesen und bestimmt, als Fütterungsmaterial bei Mr. Pastems (= paste them = klebt sie) Kofferfabrikation bei St. Paul's Cathedral Verwendung zu finden.

Beer Street, Detail: Der City Porter
Die von Hogarths Hohn zu Makulatur verdammten Titel repräsentieren alles, was, für ihn abscheulich, gegenwärtig Konjunktur zu haben schien: Hill on Royal Societies meint John HillA Dissertation on Royal Societies (London 1750), in der sich der Autor über die Ablehnung seiner Mitgliedschaft in der »Royal Society« beleidigt Luft macht. Bei Turnbul on Ant(ient) Painting handelt es sich um George ThurnbullA Treatise upon Ancient Painting (London 1740), der die »alte« klassische Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts, die gegenwärtige Kunst dadurch in Hogarths Augen im Geschäft schädigend, übergebührlich preist: diese seine Privat-Querele hat er in »The Battle of the Pictures« - dem »Kampf der Bilder« (1745) - und zahlreichen anderen Äußerungen hartnäckig ausgetragen. Lauder on Milton, das ist William LauderAn Essay on Milton's Use and Imitations of the Moderns in his 'Paradise Lost' (London 1750), in dem der von Hogarth hochverehrte (und illustrierte) John Milton (1608-1774) in betrügerischer Absicht und mit einer Raffinesse, der selbst die Gelehrsamkeit des Dr. Johnson erlegen war, des Plagiates bezichtigt wird. Zu guter Letzt sind in des City Porters Kiepe noch Modern Tragedys Vol: 12 und Politicks Vol: 9999 zu sehen, - zeitgenössische Manien karikierende Titel sozusagen im Dutzend.

Beer Street, Detail:
Der Schildermaler
In diesem Bilde der Prosperität und des Glücks ist einzig der Pfandleiher (»N. PINCH PAWN BROKER«, pinch = pressen, quälen) mangels Nachfrage ruiniert; sein Haus, notdürftig von einem Pfosten gestützt, ist in fortschreitendem Verfall und sein Gewerbezeichen im Sinken begriffen. Augenscheinlich darf er sich der Gefahr wegen, selber als Schuldner verhaftet zu werden, nicht auf die Straße wagen, bekommt deshalb seinen Pint vom Bierjungen durch die Klappe des einst respektablen Portals gereicht. Nachdem, mit Ausnahme seiner selbst, allhier keine Seele als Schuldner zu ködern und zu fangen ist, hat er sich - man sieht die Falle im demolierten Fenster - auf die Jagd nach Mäusen verlegt. Man beachte dagegen seine 'soziale' Rolle und Geltung in der Gin-Szenerie!

Allein der Maler, der freihändig auf der Leiter mit dem Wirtshausschild »The Barley Mow« beschäftigt ist, verbleibt noch abgezehrt und abgerissen. Verliebt in seine prosaische Leistung ist er dabei, eine aufgehängte Ginflasche auf ein Schild zu kopieren, wo sie neben einem Becher wiederkehrt, in welchen sich ihr Inhalt in hohem Bogen sozusagen supranaturalistisch ergießt. […] Hier ist die Ginflasche eher der 'liquidierte' Störenfried im Reiche des Biers, das sich in der Inschrift eben dieser Tafel auffällig zu Wort meldet: »AN CALVAR(T'S) BEST BUTT (BE)ER« - »ein Faß besten Calvart-Biers«. Calvert war eine namhafte Londoner Brauerei. Auf dem zierlich gerahmten Schild des Wirtshauses hat sich dessen Name zur Szene verwandelt: »Health to the Barley Mow« - ein Haufen geernteter Gerste, den mit Hilfe einer angelehnten Leiter ein fröhlich winkender Zecher erklommen hat, um den ausgelassenes gerstensaftberauschtes Landvolk tanzt.

William Hogarth: Gin Lane. Kupferstich mit radierten Anteilen, 35,8 x 30,2 cm
Welch einen Kontrast bietet der Blick in »Gin Lane«, auf die Kehrseite des Londoner Lebens! Mit der urbanen ist auch die soziale Situation regelrecht ins Gegenteil gewendet. Das in beiden Szenen augenfälligste Motiv - des Pfandleihers Haus -, dem der bürgerliche Wohlstand so schlecht bekommen ist, macht hier im Elend eine prächtige Figur. Sein Gewerbekreuz ist hoch gereckt und scheint der Kirchturmspitze aufgesetzt - eine harsche Eröffnung an die Adresse der Amtskirche. Doch auch die staatliche Autorität ist angesprochen; der Turmhelm nämlich - St. George vom Londoner Sprengel Bloomsbury - ist hierher nach Westminster verpflanzt. Die Plazierung des als Nachbildung des Mausoleums von Halikarnass verstandenen Turmes (von Nicholas Hawksmoor, 1661-1736) setzt diesem Bild des Elends- und Seuchentodes wahrhaftig die Krone auf: Die Spitze trägt das Denkmal des gekrönten Hauptes von Britannien, König Georgs I.

Links im barock überfangenen Portal des Leihhauses sind ein Mann und eine Frau dabei, ihr wohl letztes Hab und Gut zu versetzen. Der Geschäftsinhaber »Gripe« (= Griff) ermittelt seinen Preis für die Pfänder - Rock, Säge, Teekessel, Kochtopf und Feuerzange, allesamt unentbehrliche Dinge, nach deren Aufgabe eine auch bescheidene bürgerliche Haushaltung ausgeschlossen scheint. Wieviel Wert ward dagegen in »Beer Street« aufs Präsentieren des Berufs- und Alltags-Instrumentariums gelegt! Gripe, in dessen Haus sich wertvolle Gefäße sichtbar im Fenster ansammeln, scheint alle in der Szene Versammelten bereits im »Griff« gehabt zu haben; am wirkungsvollsten wohl den Balladenverkäufer rechts unten auf der Treppe, wo ein Stützbalken seinen stillen Dienst leistet.

Von dem Hündchen, der weniger geschädigten Kreatur, begleitet und bewacht, ist er so entkräftet hingesunken, daß ihm nicht mehr anzusehen ist, ob er noch unter den Lebenden weilt. Den skelettierten Körper deckt lediglich restliche Oberkleidung - Erfüllung des populären Gin-Slogans »Stripe-me-naked«. Aus seinem Korb hängt ein Exemplar der Balladen mit dem Titel The downfall of Mdm Gin (Der Untergang von Madame Gin). Hogarths Biograph und Kommentator John Ireland will aus dem Munde ähnlicher Stadtstreicher den Ruf vernommen haben: »Buy my Ballads, and I'll give you a glass of Gin for nothing«; und noch jetzt (um 1790!) existiere an einem Barbierladen nahe der Drury Lane das inschriftliche Angebot »Shave for a penny, and a glass of Gin into the bargain« (»Die Rasur für 1 Penny und ein Glas Gin obendrein«).

Gin Lane, Detail: Die Syphilitikerin mit dem stürzenden Baby
Auf den Treppenstufen hat sich eine syphilitische Trinkerin - nicht ohne einen Anflug heruntergekommener Grazie - niedergelassen; während sie sich mit Schnupftabak versorgt, stürzt ihr Kind über das Geländer zu Tode. Sein Gesichtchen, zunächst kindlich glatt, ist seit dem 3. Druckzustand in einen Skelettkopf umgezeichnet, was wohl sagen soll, es hätte auch ohne den Unfall nicht heranwachsen können. Hinter der Brüstung nagen ein Mann und ein Hund am selben Knochen, und eine betrunkene Schläferin verharrt schon so lange unbewegt in ihrer Stellung, daß eine Schnecke sie zu beklettem vermochte, ein Motiv, das schon an der Allegorie der Faulheit in »The Lottery« (1721) erscheint. Darunter gewahrt man die Kellerspelunke »GIN ROYAL« mit der einladenden Formel:

»Drunk for a Penny
Dead drunk for two pence
Clean Straw for Nothing«

(»Betrunken für 1 Penny, zu Tode betrunken für 2 Pence, reines Stroh umsonst«).

Vor dem Ausschank von »KILMAN (= Menschentöter) DESTILLER« herrscht großes Gedränge; ein Blinder und ein Lahmer prügeln sich, zwei Waisenkinder, das »GS« von St. Giles Parish am Ärmel der Anstaltstracht, machen ihre erste Ginprobe, ein Kleinkind bekommt seinen Schnaps aus Mutterhand noch zeitiger verpaßt. Auf gleiche Weise wird auch ein herbei- oder hinweggekarrter Säufer getränkt. Ein im Delirium Tobender hat - vor den Augen der entsetzten Mutter - ein Baby aufgespießt; wie ein Tambourmajor stolziert er einher, der mitgeführte Blasebalg ist vielleicht für den Pawnbroker bestimmt. Der Barbier, erkenntlich an seinem Gewerbezeichen, dem Horn des Narwals, hat sich in seinem Haus aufgehängt. Es folgt das Anwesen des Leichenbestatters, sein Firmenschild ist der Sarg, der vergleichbar dem Faß in »Beer Street« vor der gepflegten (!) Fassade prangt. Gleich dem Pfandleiher hat er, wie man sieht, Konjunktur; unter Aufsicht des Gemeindedieners, der professionell gravitätisch wie bei einem Staatsbegräbnis sein Amt versieht, wird gerade eine nackte junge Frau eingesargt, ihr Baby hockt weinend dabei. Es ist die ebenso hoffnungslose Umkehrung der zentralen Szene, in der das Kind zu Tode kommt, während die Mutter für den Augenblick überlebt. Hinter einem Schutthaufen verschwindet gerade der vorherige Leichenzug, während rechts das letzte Haus der Gin-Straßenzeile zusammenstürzt. Im Hintergrund ziehen sich bis unter die Füße Georgs I. Trümmer und Ruinen hin.

Gin Lane, Detail:
Die Spelunke »Gin Royal«
Die Wirklichkeit: Wie der Alkoholismus verursacht und bekämpft wurde

Den unmittelbaren Anlaß für die Produktion der Blätter hatte eine im Januar 1751, d.h. einen Monat zuvor erschienene Schrift von Henry Fielding (1707-1754) gegeben; sie führte den nach damaliger Art umständlichen Titel An Enquiry into the Causes of the late Increase of Robbers, etc. with some Proposals for Remedying the growing Evil. In which the present reigning Vices are impartially exposed; and the Laws that relate to the Provision for the Poor, and to the Punishment of Felons are largely and freely examined... (Eine Untersuchung über die Zunahme von Räubern in jüngster Zeit, mit einigen Vorschlägen zur Steuerung des wachsenden Übelstandes. Hierin werden die gegenwärtig herrschenden Laster unparteiisch vorgestellt und die Gesetze, die sich auf die Fürsorge für die Armen, als auch auf die Strafe für die Missetäter beziehen, ausführlich und freimütig geprüft).

Die Wendung »reigning Vices« tritt auch auf in der öffentlichen Ankündigung Hogarths. […] Hogarth selbst erinnert sich in seinen Autobiographical Notes dieser seiner Absicht: »Beer Street und Gin Lane wurden geschaffen, als die fürchterlichen Folgen des Gin-Trinkens auf ihrem Höhepunkt waren. In 'Gin Lane' ist jeder Umstand seiner entsetzlichen Wirkung zu Gesicht gebracht, allen zum Schrecken nichts als Armutselend und Verfall zu sehen. Not bis hin zu Wahnsinn und Tod, und nicht ein Haus in erträglichem Zustand mit Ausnahme des Pfandleihers und des Gin-Ladens. 'Beer Street', Pendant von Gin Lane, war als Gegenstück gemacht, worin das belebende Getränk empfohlen wird, um das andere aus der Gunst zu drängen. Hier ist alles vergnüglich und gedeihlich. Fleiß und Heiterkeit gehen Hand in Hand. Des Pfandleihers Haus ist an diesem glücklichen Ort das einzige, das zugrunde geht, wohinein eben des Bieres kleinstes Quantum fließt, gereicht durch ein Pförtchen aus Furcht (des Inhabers) vor drohender Arretierung.« […]

Gin Lane, Detail: Waisenkinder
und Säuglinge beim Gin-Konsum
Die»Orgie des Schnapstrinkens«, wie sie in der britischen Geschichtsschreibung figuriert, erreichte ihre traurigen Rekorde zwischen den Jahren 1720 und 1751. Als man, auf sie aufmerksam geworden, 1725 eine Untersuchungskommission einsetzte, wurden in der Metropole (ohne City und das Gebiet auf dem anderen Flußufer) 6187 Verkaufs- und Ausschankstätten für destillierte Getränke gezählt (»in same parishes every tenth hause, in others every seventh, and in one of the largest, every fifth hause«). Schnaps konnte - im Gegensatz etwa zum Vertrieb von Bier - von jedwedem und an jedwedem Ort ohne Lizenz verkauft und ausgeschenkt werden; vor allem sein Einzug in die Krämerläden (Chandlers) machte ihn für jeden, der eine alltägliche Besorgung zu erledigen hatte, unmittelbar zugänglich.

Der Regierung und dem Parlament blieb dies nicht verborgen, dennoch ließ man gewähren, entsprach man doch den Interessen der vom Grundbesitz geprägten Volksvertretung. Die über Jahrzehnte anhaltend gute Versorgungslage - einzig von wenigen Mißernten der Jahre 1727/28 und 1740 unterbrochen - hatte große Getreideüberschüsse gezeitigt, die mangels Massenkaufkraft nicht konsumierbar, somit vorzugsweise durchs Brennen verwertbar waren. Über den Umweg der Destille fand dieses Korn als billigster Schnaps den Weg dennoch zu denen, die ihn als Lebensmittel nicht bezahlen konnten, denen er dann, wenn sie süchtig geworden, als Ersatz-Lebensmittel diente. […]

Die Wende, für die man von privater Seite seit den 1720er Jahren Sturm zu laufen begann, wurde von den Autoritäten erst eingeleitet, als die »Bills of Mortality«, die gesetzliche Registratur der Taufen und Bestattungen, ein zunehmend ins Ungünstige schreitendes Verhältnis zwischen Geburten und Todesfällen auswiesen: Im Jahr 1741/42 war die Zahl der Taufen auf 13571 gesunken, die der Bestattungen auf 32169 gestiegen, und seit man zusätzlich (ab 1728) auch die Lebensalter registrierte, wurde eine erschreckende Kindersterblichkeit offenkundig, die in den Jahren zwischen 1730 und 1749 durchschnittlich ca. 75% aller (getauften) Kinder unter fünf Lebensjahren betrug.

Die Ursachen schienen auf der Hand zu liegen: Es galt allgemein als ausgemacht, daß die Schnapsflut die erschreckende Todesrate ursächlich bedingte. Unter dem Druck dieser Einsicht und der bürgerlichen Öffentlichkeit beschloß das Parlament 1729 die Lizenzierung des Schnapsverkaufs (£ 20 pro Lizenz, s 2 pro verkaufte Gallone), ein Beschluß, der allerdings schon 1733 unter dem Einfluß der Landlobby wieder anulliert wurde. Eine erneute, verschärfte Prohibition im Jahr 1736 führte zu Aufständen des - wie es hieß - Straßenmobs und zu tödlichen Ausschreitungen gegenüber den Aufsichtsbeamten. Auch demonstrierte man auf vielerlei Art und Weise, beging provokante Begräbnisprozessionen für »Madame Geneva«, die nun zur Tarnung unter verschiedenen poetischen (»The Ladies' Delight«, »Cuckold's Comfort« u.a.) und sarkastischen Decknamen (»Parliament Brandy«, »Cholick Water« u. a.) gehandelt wurde. […]


Fieldings »An Enquiry«, Titelblatt
 Nach erneutem Hin und Her in der Tolerierung oder Unterbindung des Gin-Konsums schien dieser - so wird übereinstimmend berichtet - um 1750 seinen Höchststand erreicht zu haben; ein Strom von Petitionen, Denkschriften, ärztlichen Gutachten etc. drängte das Parlament zu einer endgültigen Entscheidung. Es wurden grauenhafte Details der Sucht publik, etwa der Fall der Judith Dufour, die ihr im Arbeitshaus frisch eingekleidetes zweijähriges Kind erdrosselte, um seine Kleider gegen Schnaps zu versetzen: Sie sei, sagte später ihre Mutter aus, »nie mehr klar im Kopf gewesen und unablässig herumgestrichen«.

In diese Situation fielen Fieldings literarischer und seines Freundes Hogarth graphischer Appell; gemeinsam mit den übrigen Vorstößen erwirkten sie im Sommer 1751 ein Gesetz, die Gin-Akte, das dieser extremen Weise des großstädtischen Alkoholismus nachhaltig ein Ende machte. […]

Der Umstand, daß die Graphik nicht etwa ein oder mehrere Jahre danach die vergangenen, aber noch unvergessenen Zustände zu Markte trug, sondern die Not, als sie gegenwärtig war, beschrieb, reiht sie in die vielfaltigen Spielarten der Publizistik ein, die - schreibend, spielend, zeichnend, singend - derzeit entstanden, um der Mehrheit eine Interessenvertretung gegen die Mächtigen - in Parlament, Regierung, Justiz - zu sein.

Die Ursachen des Alkoholelends haben weder Fielding noch Hogarth beim Namen genannt; beide gingen davon aus, daß der Suff der Armut vorausgehe, und nicht etwa, wie es hundert Jahre später Charles Dickens (1812-1870) sah, daß die Reihenfolge auch umgekehrt sein könnte. Staat und Amtskirche waren ihnen kritikwürdig nur wegen mangelnder Für- und Vorsorge, nicht aber, weil sie etwa an sich parteiisch und partiellen Interessen hätten hörig sein können. Ihr Land, Staat und ihre Gesellschaft erschienen ihnen als die bestmöglichen auf dieser Welt; es galt, ihren Bestand zu sichern, und nicht, sie in Frage zu stellen.

Wie er sein England ohne die Irritationen der sich abzeichnenden Klassengesellschaft sah, setzte Hogarth in »Beer Street« neben und vor das Schreckensbild des Schnapses. Das Blatt zählt mit den entsprechenden des gleichfalls antithetischen Zyklus »Industry and Idleness« zu seinen wenigen einer positiven Aussage verpflichteten Arbeiten. Wohl aufgrund des Symmetriezwanges hatte er als Leitmotiv ebenfalls ein Getränk wählen müssen, das Bier. Hiermit sollte nun nicht ausgesprochen sein, daß Bier - in jeglichem Quantum genossen - ein stets unschädlicher, ja heilsamer Trunk sei; es stand indessen nach alter Tradition - nicht viel anders als bei den Deutschen - im Ruf eines Volksnahrungsmittels, dessen Genuß Fröhlichkeit und Geselligkeit auslöse und dessen Rausch eine ehrenhafte und anständige Sache sei: »An honest drunken fellow is a character in a man's praise« (»Ein mit Anstand betrunkener Kerl ist aller Ehren wert«), wie es Defoe 1702 auszusprechen beliebte.

Quelle: Berthold Hinz: William Hogarth. Beer Street and Gin Lane. Lehrtafeln zur britischen Volkswohlfahrt, Frankfurt/Main, 1984, ISBN 3-596-23909-5, Seite 5-38

CD Info & Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 58 MB

Filepost --- Hotfile --- EmbedUpload
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files


Alban Berg – Anton Webern: Kammermusik (Arditti String Quartet)

$
0
0
Unter der Leitung von Schönberg

Schönberg war bekannt für seine hohen Anforderungen gegenüber seinen Kompositionsschülern, und so behielt er es sich vor, die Bezeichnung "opus 1" unter die Komposition eines Studenten zu setzen. Webern und Berg erhielten dieses gewichtige Prädikat nach vierjährigem Studium, Webern für die Passacaglia für Orchester und Berg für die Klaviersonate. Schönbergs Unterricht an der Privatschule Schwarzwald ab 1904 - Webern war sein erster Schüler, kurz darauf folgten Berg, Stein,Wellesz und andere mehr - basierte in erster Linie auf dem genauen Studium der musikalischen Tradition, um dadurch »eine Kunst zu vermitteln, die auf den soliden klassischen Fundamenten aufgebaut ist und die neuesten Errungenschaften mit einbezieht«.

Sowohl Webern als auch Berg bewiesen ihre Begabung schon früh und hatten jeder schon mehrere Werke in einem jedoch noch unvollendeten Stil komponiert - Webern ab 1899 und Berg ab 1901 -, den sie unter Schönbergs kundiger Führung allmählich zu ihrer persönlichen Musiksprache entwickelten. Der amerikanische Musikwissenschaftier Hans Moldenhauer führt in seinem sorgfältig recherchierten Werkverzeichnis Weberns 126 Werke vor dem Opus 1 von 1908 auf. Ebenso nennen Ulrich Krämerskürzlich erschienene Studien zu Berg eine beeindruckende Zahl von Liedern und Instrumentalpartituren - wahrscheinlich von Schönberg aufgegebene Kompositionsaufgaben. Unter diesen frühen Werken sind heute bekannt, von Webern der Langsame Satz, das Quartett 1905 sowie das Quintett für Klavier und Streicher, und von Berg die Sieben frühen Lieder, die er unter seinen 85 Liedern aus seiner Jugend auswählt und 1928 orchestriert. Neben diesen schon vollendeten Werken, erlauben die Kompositionsaufgaben die Entwicklung der beiden Komponisten zu verfolgen und zeigen wie sie allmählich ihre eigene Musiksprache schufen.

Anton Webern
Weberns frühe Werke und vor allem die hier eingespielten Partituren von 1910 und später zeigen auf eindrückliche Weise wie er mit einer erstaunlichen Schnelligkeit Schönbergs Lehren assimiliert und auf seine Art anwendet.

Mit dem zwölf Minuten dauernden Klavierquintett M.118 (1907) schuf Webern eines seiner längsten (!) Werke. Nach der Uraufführung am 7. November 1907 anlässlich eines Konzerts von Schönbergs Schülern, lobte der Kritiker Gustav Grube das Talent der beiden Schüler (Berg und Webern), beanstandete aber im Quintett »den schädlichen Einfluss von Schönbergs Kompositionen«. Das Quintett besteht aus nur einem Satz und besticht durch seine meisterlich ausgewogene Sonatensatzform. Kennzeichnend für Weberns Stil ist die Verzerrung von erlernten Modellen: die Bratsche trägt zu Beginn ein brahmsisches C-Dur vor, das dann aber gleich durch sehr entfernte Harmonien aufgelöst wird. Auch wenn sich im Quintett noch die Suche nach einem persönlichen Vokabular ausmachen lässt, überzeugt es vor allem in der Durchführung, die mit Tremolos (sul ponticello, mit Dämpfer sforzato ppp!) beginnt und endet; das Timbre wird hier raffiniert zur Strukturierung des Werkes eingesetzt.

Nach den berühmten Fünf Sätzen für Streichquartett op. 5 und den meisterhaften Sechs Stücken für großes Orchester op. 6, führt Webern die Entwicklung seiner Sprache in immer konzentrierteren Werken fort, bis hin zur sogenannten »aphoristischen« Periode der Bagatellen op. 9 und der Fünf Stücke für Orchester op. 10. Die Vier Stücke für Violine und Klavier op. 7 M.161-164 (1910) entstehen zu Beginn dieser Phase. Die vier Sätze, alternierend langsam und schnell, zeichnen sich vor allem durch den Kontrast zwischen den statischen langsamen Sätzen in den extremsten pianissimi (kaum hörbar steht am Ende des dritten Satzes) und der jähen Energie der schnellen Sätze aus.

Zu den Merkmalen von Weberns Musik gehören die Verdünnung der musikalischen Textur und die einzigartige Veränderlichkeit des Tempos (nicht weniger als zwölf Angaben in vierundzwanzig Takten). Diese beiden charakteristischen Elemente werden hier mit einer ausgeklügelten Rhythmik kombiniert, die mit irrationalen Überlagerungen den Kontrast zwischen den beiden Instrumenten betont. Das Prinzip der Konzentration in den vier Stücken - jeweils aus 9, 24, 14 und 15 Takten bestehend - entsteht aus der Folge von auf verstohlene Gesten reduzierte Fragmente, die ihre Auflösung in der Stille finden; eine Stille, die in den folgenden Werken mehr und mehr Raum einnehmen wird.

Die Sonate M.202 und die Cellostücke op. 11 M.203-205 entstanden nicht nur zur gleichen Zeit, sondern, wie Webern seinem Lehrer anvertraute, bedingten sich gewissermaßen in ihrer Entstehung: »Wie ich mit dem ersten Satz der Sonate schon weit vorangekommen war, wurde mir immer klarer, dass ich noch etwas anderes schreiben musste. So entstanden diese drei Stücke, und ich war mir selten so gewiss, dass etwas bedeutendes geschehen war.«

Alban Berg und Anton Webern
Für die Sonate waren ursprünglich zwei Sätze vorgesehen, sie besteht aber schließlich aus dem einen Satz Sehr bewegt, und scheint weniger eine Skizze als ein vorhergehender Zustand des op. 11 zu sein: während die Sonate noch den Orchesterstücken des op. 5 nahe ist, sind die Cellostücke op. 11 Klärung und Reduktion dieser Geste, die im extremsten Fall auf einen Ton reduziert ist. Noch mehr als im op. 7 (Violinstücke), erkunden diese drei Stücke (9, 13 und 10 Takte!) beinahe das Innere des Tones: Webern schreibt ein crescendo-diminuendo auf einem Ton mit Dämpfer und ppp.

Bergs Entwicklung geht etwas langsamer vonstatten, und doch entdeckt Schönberg sehr bald sein »Talent eines großartigen Komponisten. Doch wie er zu mir kam«, fährt Schönberg fort, »weigerte sich seine Imagination schlicht, etwas anderes als Lieder zu komponieren. Sogar die Klavierbegleitung seiner Lieder war eigentlich Gesang. Es war ihm vollkommen unmöglich eine Instrumentalphrase zu schreiben oder ein Instrumentalthema zu finden. Sie können sich kaum vorstellen, was ich unternehmen musste, um diesen Fehler wegzubringen.«

Zu Schönbergs Lehrprogramm gehörten eine Vielzahl von Arbeiten im Kontrapunkt sowie Stilübungen von Barock bis Romantik, bestehend aus den Studien von zahlreichen Kanons für drei- und vierstimmigen Chor (1905-07), gefolgt von Klavier- und Kammermusikstudien. Die Fuge für Streichquartett und die Doppelfuge für Klavier und Streicher »im Sinn eines Continuo« sowie das Menuett in d-Moll über ein kurzes Motiv in kanonischer Imitation zeigen wie Berg sich diese Techniken in den Jahren 1906-1907 aneignete. Im folgenden Jahr liegt der Schwerpunkt bei Studien zu Variationen. Auch in diesem polyphonen Bereich lässt sich eine sensible Entwicklung von Bergs Musiksprache von einem Abschnitt zum nächsten erkennen und mit jeder Etappe eine neue Verzerrung der anfänglich tonalen Sprache: die Variationen nach Schumann, die Variationen in D-Dur, das Thema und fünf Variationen für Violine und Klavier illustrieren dieses allmähliche sich Entfernen von einer tonalen Sprache, bis hin zum unendlich persönlicheren Adagio, den Variationen über ein eigenes Thema für Klavier und der Klaviersonate op.1.

Quelle: Alain Poirier (Übersetzung: Corinne E. Iou), im Booklet

Alban Berg
Jugendwerke von Alban Berg

Alban Berg hat die auf dieser CD zusammengestellte Auswahl von neun kurzen Stücke für unterschiedliche Streicherbesetzungen in den Jahren 1907 und 1908 für den Unterricht bei Arnold Schönberg geschrieben. Diese Stücke waren nie für eine breitere Öffentlichkeit bestimmt, auch wenn Berg anläßlich eines Schülerkonzerts am 7. November 1907 mit der Fuge mit 2 Themen für Streichquintett mit Klavierbegleitung erstmals öffentlich als Komponist in Erscheinung trat. Da sich Schönberg in seinem Unterricht stark an klassischen Modellen orientierte, wird man die Handschrift des Komponisten der Lyrischen Suite in den Kompositionen aus der Studienzeit vergebens suchen. In ihrem Tonfall, aber auch in ihrem Hang zu innerer Dichte und Komplexität gemahnen die Stücke eher an Schumann und Brahms, während sie in ihrem harmonischen Vokabular bisweilen an die Grenzen der nach-Wagnerschen Harmonik stoßen, ohne jedoch darüber hinauszugehen. Umso erstaunlicher ist, daß einige zentrale Eigenarten der Bergschen Komponierweise hier bereits vorgebildet sind.

Das gilt allerdings weniger für jene Stücke, die schon während des Kontrapunktunterrichts entstanden, der dem eigentlichen Kompositionsstudium voranging. Bei der Sarabande F-Dur und dem Menuett d-Moll- beide für Streichquartett - handelt es sich um kontrapunktische Sätze, denen als vereinheitlichendes Prinzip ein bestimmter Bewegungscharakter zugrundeliegt. Beiden Stücken gemeinsam ist die gewissermaßen versteckte Auftaktigkeit des Hauptmotivs, die zu reizvollen metrischen Verschiebungen innerhalb der Taktgrenzen führt. Die Streichquartett-Fuge und die Fuge mit 2 Themen für Streichquintett mit Klavierbegleitung in der Art eines ausgeführten Continuo - beide in C-Dur - weisen jeweils zwei mehr oder weniger deutlich ausgeprägte Themen auf, mit denen Berg sämtliche Möglichkeiten kontrapunktischer Kombinatorik ausschöpft. Aufgrund der großen Dichte der Themeneinsätze gibt es buchstäblich keinen einzigen Takt, der nicht thematisch ist.

Das bereits in der Anfangsphase des eigentlichen Kompositionsunterrichts komponierte Menuett für Streichquartett c-Moll dagegen ist vor allem ein instrumentales Charakterstück, in dem sich die Kontrapunktik auf eine Belebung der Mittelstimmen beschränkt. Zusammen mit dem Adagio F-Dur vom Sommer 1908, in dem Berg alle Register spättonalen Wohlklangs zieht, umrahmt es die für Bergs Entwicklung überaus wichtigen Variationsreihen für Streichquartett, von denen die Streichquartettvariationen über ein eigenes Thema D-Dur die wohl ambitioniertesten sind. Wie mit dem Seziermesser legt Berg in den vier Variationen bestimmte strukturelle Eigenschaften des Themas frei. In der I. Variation etwa wird die Quartenfolge des zweiten Thementaktes zu einem geschlossenen Quartenzirkel erweitert, während die auf die halbe Taktzahl verkürzte letzte Variation die viertönig absteigende Baßlinie thematisiert.

Bei den Streichquartettvariationen über ein Schumann-Thema g-Moll, die auf dem siebten der Davidsbündlertänze op. 6 basieren, richtet Berg sein Augenmerk vor allem auf das Prinzip der chromatischen Gegenbewegung, aber auch auf einen übermäßigen Dominantseptakkord, der ihm in der letzten Variation in Anlehnung an Schönbergs Harmonielehre zur Ableitung von Ganztonleitern dient. Man könnte fast meinen, daß Berg mit diesem Stück »Musik über Musik« die Fortschrittlichkeit der Schumannschen Kompositionskunst unter Beweis stellen wollte. Auch mit dem Thema mit 5 Variationen E-Dur für Geige und Klavier scheint Berg einem Vorbild nachzueifern. Vor allem in der IV. Variation mit ihrer simultanen Verbindung von 2/4- und 3/4-Takt und den ausgedehnten Terzenzügen sind die Anklänge an Brahms so deutlich, daß man beinahe von einer Hommage-Komposition sprechen könnte.

Das Verdienst, Bergs Talent, das aus diesen Übungskompositionen spricht, nicht nur erkannt, sondern zu wahrer Meisterschaft gefördert zu haben, kommt jedoch vor allem seinem Lehrer Arnold Schönberg zu, der rückblickend vor allem zwei Eigenschaften von dessen frühesten Kompositionen besonders hervorgehoben hat: »Erstens, daß Musik ihm eine Sprache war und daß er sich in dieser Sprache tatsächlich ausdrückte; und zweitens: überströmende Wärme des Fühlens.«

Quelle: Ulrich Krämer, im Booklet


Track 1: Anton Webern: Quintett für Streicher und Klavier M.118


TRACKLIST

Alban Berg - Anton Webern: Kammermusik (Arditti String Quartet)


Anton Webern 1883-1945

1 Quintett für Streicher und Klavier
Quintet for strings and piano
Quintette pour cordes et piano 11'53

Vier Stücke für Geige und Klavier
Four pieces for violin and piano
Quatre pièces pour violon et piano op.7 (1910)
2 Sehr langsam | Very slow | Très lent 1'09
3 Rasch | Fast | Rapide 1'08
4 Sehr langsam | Very slow | Très lent 1'26
5 Bewegt | lively | agité 0'54

6 Cello sonata M.202 (1914) 1'41

Drei kleine Stücke für Violoncello und Klavier
Three little pieces for cello and piano
Trois petites pièces pour violoncelle et piano op.11 (1914)
7 Mäßig | Moderato | Modéré 1'02
8 Sehr bewegt | Very lively | Très animé 0'20
9 Außerst ruhig | Very calm | Extrêmement calme 1'06


Alban Berg 1885-1935

Neun kurze Stücke für Quartett, Sextett oder Violine und Klavier
Nine short pieces for quartet, sextet or violin and piano
Neuf pièces courtes pour quatuor, sextuor ou violon et piano
10 Streichquartett-Fuge in C-Dur | C major | Ut majeur 2'32
11 Streichquartettvariationen über ein eigenes Thema in D-Dur
| in D major | en Ré majeur 2'20
12 Sarabande in F-Dur | in F major | en Fa majeur 1'17
13 Menuett in d-moll | in D minor | en Ré mineur 1'04
14 Menuett in c-moll | in C minor | en Ut mineur 1'13
15 3 Streichquartettvariationen über ein Schumann-Thema
in g-moll | in G mineur | en Sol mineur 1'38
16 Thema mit 5 Variationen für Geige und Klavier in E-Dur
| in E major | en Mi majeur 3'52
17 Fuge mit 2 Themen für Streichquintett mit Klavierbegleitung
in der Art eines ausgeführten Continuo

in C-Dur | in C major | en Ut majeur 3'34
18 Adagio in F-Dur | in F major | en Fa majeur 2'11


Total Timing: 40'21

Stefan Litwin, piano (*tracks 1,2-5,6,7-9,16,17)

arditti string quartet (*tracks 1,10-15,17-18)
Irvine Arditti, violin (*tracks 2-5,16)
David Alberman, violin
Garth Knox, viola
Rohan de Saram, cello (*tracks 6,7-9)

Thomas Kakuska, viola (*track 17)

second viennese school 8
arditti quartet edition 42

Executive producers: Claudine Pellerin Recording producer: Dr. Wilhelm Schlemm
Sound Engineer: Peter Avar, Wolfgang Zülch
Mastering: Monika Steffens, Ricarda Molder
Recorded at Studio III, Sender Freies Berlin, in January and July 1994
A co-production with Sender Freies Berlin, RadioKultur
® 1994

Track 17: Alban Berg: Fuge mit 2 Themen für Streichquintett mit Klavierbegleitung in der Art eines ausgeführten Continuo


Bilder lesen
Jacques Bonnet
Aber die Bibliotheken sind doch wie die Museen ein Zufluchtsort vor Alter, Krankheit und Tod.(Jean Grenier)


Die Bibliothek meines Arbeitszimmers ist ganz der Kunstgeschichte gewidmet. Rechts von meinem Schreibtisch stehen die Bände von normalem Format, alphabetisch geordnet nach dem Namen ihrer Autoren, von Laurie Schneider Adams (The Metholologies of Art; dies ist ganz sicher ein Fehler, denn bei genauerer Überlegung ist Schneider wohl eher der erste Teil eines Doppelnamens und nicht der zweite Vorname der Autorin, aber jetzt ist das Malheur auch schon geschehen!) bis hin zu Ludovico Zorzi (Représentation picturale et représentation théâtrale). Links stehen die Kunstbände. Diese haben mit der Zeit alle Wände besetzt, haben die Plakate, Stiche und Gemälde verjagt, um sich dann auch noch ins Nebenzimmer auszubreiten, wo sich mittlerweile thematische Kunstbände und Kataloge finden, Werke über Architektur, Fotografie und alle möglichen anderen »schönen Bücher«, die nirgendwo so recht passen wollen. Die Monographien sind alphabetisch und nach Schulen geordnet (französische, italienische, deutsche Malerei und so weiter), damit sie sich leichter auffinden lassen. Die thematischen Werke sind nach mitunter ein wenig merkwürdigen inneren Zusammenhängen geordnet. So gesellt sich Der Hund in der Kunst ohne größere Probleme zu den Metropolitan Cats und Die Maler und die Katzen. Und die Werke über den heiligen Sebastian oder Maria Magdalena stehen neben dem Ausstellungskatalog zur großen Kleopatra-Ausstellung 2004 in Genf und Massings Buch über Botticellis Die Verleumdung des Appelles. Aber die Einordnung von Die Zeit, die vierte Dimension in der Kunst oder Frédérique Tristans Essay über das Motiv der verkehrten Welt in Literatur und Kunst ist letztendlich einer willkürlichen Entscheidung geschuldet. Und von den Zeitschriften und Magazinen wollen wir erst gar nicht reden, denn gerade auf diesem Gebiet entwickelt sich das Wissen oft auf den wenigen Seiten eines Artikels weiter. Bei umfangreichen Sammlungen - wie zum Beispiel den 158 Nummern der Zeitschrift Revue de l'art - ist dieses Problem leicht zu lösen, doch was tun wir mit Einzelexemplaren wie der No. 5/6 von Macula oder den drei Ausgaben, die ich von La Part de l'œil besitze?

Dass in meinem Arbeitszimmer so viele Kunstbände stehen, hat natürlich zunächst einmal praktische Gründe: Es ist der einzige Raum im ganzen Gebäude, der zu jeder Jahreszeit vollkommen frei von Feuchtigkeit ist. Aber letztlich handelt es sich auch um eine visuelle Form des gedeihlichen Zusammenlebens, die die Einsamkeit der Arbeit ein wenig durchbricht. Denn diese Bücher haben häufig einen illustrierten Rücken und Titel, die vor dem geistigen Auge sofort ganze Bilderwelten entstehen lassen. Sitze ich an meinem Computer, so stehen mir genau gegenüber: Mantegna, La Camera degli Sposi, Der höchst eigenartige Vallotton, König René und seine Zeit, Die Tiere des Jean-Baptiste Oudry, Staël - vom Strich zur Farbe und viele andere mehr. Manchmal genügt schon der Name des Künstlers (Georges Seurat - Zeichnungen oder
Jacopo da Pontormo), um im Geiste eine visuelle Welt zu erschaffen. Kaum haben die Augen die wenigen Silben erfasst: Der Name eines Künstlers ist aufgeladen mit all seinen bekannten Werken. Textbücher produzieren nicht automatisch solche Bildwelten, denn die Bilder, die vom Vorübergleiten der Wörter evoziert werden, sind sehr viel flüchtiger. Und so ruft der Titel Madame Bovary keineswegs ein bestimmtes »Bild-Alphabet« auf, da zum einen der Leser ja über eine gewisse imaginative Freiheit verfügt, zum anderen das Buch eine ganze Reihe markanter Szenen umfasst.

Wer sich für Kunst interessiert und seine Bibliothek entsprechend zusammenstellen will, sieht sich sofort mit zwei Problemen konfrontiert. Das erste ist finanzieller Natur: Kunstbücher kosten im Durchschnitt drei- bis viermal so viel wie ein normales Buch - manchmal sogar noch deutlich mehr. Es gibt sie so gut wie nie als Taschenbücher und, sobald sie vergriffen sind, werden sie nicht mehr aufgelegt, was ihren Marktwert enorm steigert. Und wir bereuen zutiefst, dass wir sie nicht erstanden haben, als sie noch erschwinglich waren. Aus solchem Schaden klug geworden, schwören wir uns, denselben Fehler kein zweites Mal zu begehen, was unsere Ausgaben für Bücher deutlich erhöht. Ein Teufelskreis also. Was Ausstellungskataloge angeht, so werden diese schon aus Prinzip nicht nachgedruckt, sobald das entsprechende Ereignis vorüber ist. So fehlt mir - um nur ein Beispiel zu nennen - aus Gründen, an die ich mich schlicht nicht erinnere, der Katalog zur Ausstellung Paris - New York, die 1977 im Centre Pompidou stattfand. Natürlich besitze ich die Neuauflage von 1991, aber diese Behelfslösung ist in gewisser Weise schlimmer als das Fehlen des Originals, denn das Format ist ein anderes und der Einband cellophaniert, so dass sie nicht zu den anderen Katalogen dieser Ausstellungsreihe passt (Paris - Berlin, Paris - Moskau, Paris - Paris). Das Problem ist nur, dass man für die Originalausgabe mittlerweile 450 Euro hinblättern muss, also fast zwölfmal so viel wie die 250 oder 300 Francs, die der Katalog mich bei Erscheinen gekostet hätte. Wie sollte man nach einer Erfahrung wie dieser noch dem Impuls widerstehen, sich nach dem Besuch einer Ausstellung auch gleich den Ausstellungskatalog zu sichern? Schließlich stellt dies eine enorme Ersparnis dar! Wer Kunstbücher liebt, braucht im Grunde einen ebenso dicken Geldbeutel wie der bibliophile Buchfreund, doch die echten Liebhaber sind ja meist mittellos.

Die zweite Schwierigkeit beim Kunstbuch ist das keinerlei Regeln gehorchende Format, das einen nicht selten zu riskanten Stapelaktionen verleitet und alle thematischen Ordnungsversuche einmal mehr unterminiert. So bringt Le grand Tour von Antony Burgess und Francis Haskell nicht nur, was die thematische Einordnung betrifft, ein Problem mit sich. Das Buch hat auch noch zwei Autoren und ein »italienisches« Format von 34 mal 48,5 Zentimetern. Und so bin ich der Einzige, der dieses Buch findet, weil ich nämlich weiß, dass es auf einem Regalbrett steht, das den Sonderformaten vorbehalten ist und folglich in seiner Zusammensetzung etwas von einem Sammelsurium hat. Außerdem bin ich auch der Einzige, der weiß, warum es dort steht.

Aber warum gibt es überhaupt so viele »Bilderbücher«? Nun, dafür kann ich mehrere Gründe anführen. Der erste scheint - auf den ersten Blick - anekdotisch, ist aber nichtsdestotrotz recht erhellend. Als ich dreizehn oder vierzehn war, trat ich die jedem Provinzler zustehende rituelle Paris-Reise an. Methodisch klapperte ich die Sehenswürdigkeiten ab: Ich besuchte das Grab Napoleons im Invalidendom, die Place du Tertre, das Herzstück von Montmartre. Ich eroberte die zweite Etage des Eiffelturms (zu Fuß, um das Geld für den Aufzug zu sparen; der Abstieg war grauenerregend!), sah mir voller Staunen die Wasserspiele in Versailles an und verbrachte einen halben Tag im Louvre. Wieder zu Hause, war mir von all den Bildern, die ich gesehen hatte, nur eins im Gedächtnis geblieben: die Mona Lisa. Beschämt begriff ich, dass man ohne Vorbereitung, ohne Lehrzeit, ohne Lektüre Kunst nicht »sehen« kann. In der Folge wurde mir klar, dass die Kunsthistoriker uns die Vergangenheit nahebringen mit einem Ingenium, das dem »normaler« Historiker in nichts nachsteht. (Ah, wenn ich nur daran denke, welch schwindelerregende Verbindungen zwischen der Scholastik und der gotischen Architektur Panofsky aufzeigte! Oder wie Millard Meiss den Einfluss nachzeichnete, den der Ausbruch der Pest im Jahr 1348 auf die bildende Kunst in den Stadtstaaten Florenz und Siena hatte!) Und dass Maler und Bildhauer, sobald man gelernt hat, sie zu entziffern, genauso viel über das Leben und seine tiefsten Empfindungen mitzuteilen haben wie die Schriftsteller. Man musste nur einfach lernen, »Bilder zu lesen«, wie ich gelernt hatte, Buchstaben zu Wörtern zusammenzufügen, um dieses Universum für sich fruchtbar zu machen. (»Hunderte von Menschen können reden, doch nur einer unter ihnen ist auch fähig zu denken. Tausende von Menschen können denken, doch nur einer unter ihnen ist in der Lage zu sehen«, John Ruskin). Der Rest waren Reisen, Gefährten im Geiste, Gespräche und Lektüre.

Natürlich erfüllen all diese Bücher die unterschiedlichsten Zwecke. Ihr Bildmaterial kann eine bestimmte, eher spekulative als auch eine historisch ausgerichtete These untermauern. (Dabei kann es sich um eine Epoche oder einen bestimmten Künstler handeln, siehe beispielsweise die Werke von Jakob Burckhardt, Heinrich Wölfflin, Élie Faure, Charles Sterling, Henri Focillon oder Francis Haskell). Oder die Abbildungen sind sozusagen »Selbstzweck«: Sie erlauben uns eine Entdeckungs- oder Wiederentdeckungsreise zum Werk eines Künstlers, ohne dass wir uns dabei vom Sofa erheben müssten. Freilich erwachen die Bilder nicht wirklich zum Leben, wenn man das Werk nicht im Original kennt. (Der Katalog einer Ausstellung wird erst dann »lebendig«, wenn wir diese auch gesehen haben.) Aber natürlich gibt es auch Werke, die für uns aufgrund der räumlichen Entfernung unerreichbar sind beziehungsweise für den »gewöhnlichen Bilderleser« nicht zugänglich, so dass man sie im Original nie zu Gesicht bekommen wird und eine Reproduktion die einzige Möglichkeit ist, sich überhaupt eine Vorstellung von dem Bild zu machen.

Das einzig Problematische hier ist, dass der Neugier keine Grenzen gesetzt sind. Ein Bild verweist auf ein anderes, ein Künstler leitet über zum nächsten, eine Epoche ist eng mit der nächsten beziehungsweise der vorhergehenden verknüpft, was sich natürlich in den Bildern niederschlägt. Von der Höhlenmalerei bis zur Land Art, von Praxiteles über die römische Kunst, von den Mumienporträts aus Al-Fayyum über die romanischen Fresken, die Stiche der Schule von Fontainebleau, das mehr als üppige Barock, die Holzschnitte des Ukiyo-e bis hin zu den Kirchen von Minas Gerais und den amerikanischen Stillleben des 19. Jahrhunderts und all den anderen Kostbarkeiten, erweist sich die Welt der Form als unendlich. Wer mit der historischen Brille herangeht, wird feststellen, dass auch die Einschätzung der Kunstgeschichtler sich durch Neuentdeckungen (archäologischer oder dokumentarischer Natur) immer wieder verändert, vor allem, wenn verloren geglaubte Werke wieder auftauchen. Und was die Interpretation künstlerischer Werke angeht, so stößt sie, so brillant und überzeugend sie auch immer sein mag, früher oder später doch auf Widerspruch. So wurde die kongeniale Lesart des geheimnisvollen Ensembles von Agnolo Branzino Allegorie der Liebe (in der National Gallery in London) durch Panofsky von Maurice Broch 2003 rüde korrigiert. Und eines Tages wird sich jemand finden, der Maurice Broch widerlegt. Doch das ist auch nicht weiter von Bedeutung! In der Kunstgeschichte liegt der Reiz der Interpretation nicht in deren Abgeschlossenheit, sondern vielmehr darin, dass ihre Folgerichtigkeit und Bedeutung uns dazu zwingen, ein Werk gründlich zu betrachten, um es uns auf diese Weise anzueignen.  
Und dann sind da noch all die magischen Begegnungen, die mich in meinen Grundfesten erschüttert haben (es seien nur einige wenige genannt, deren Bedeutung rein autobiographisch ist, was zum einen heißt, dass jetzt keineswegs nur die berühmtesten Schönheiten über den Laufsteg defilieren, und zum anderen, dass wir vorläufig in Frankreich bleiben: die Grablegung in der Krypta der Église Saint-Jean in Chaource, der Isenheimer Altar in Colmar, das Kloster Serrabone in den östlichen Pyrenäen, die romanischen Fresken der Dorfkirche von Tavant, die Apokalypse von Angers, die Pietà von Fouquet in Nouans, die gallischen Votivtafeln im Musee Bargoin in Clermont-Ferrand, Trophime Bigots Der heilige Sebastian wird von lrene geheilt, die Kathedrale von Puy-en-Velay an einem Sommertag, an dem die untere Tür offen steht und die Treppe, die zum Längsschiff hinaufführt, sich in einen Lichtbrunnen verwandelt, und der ein oder andere Ort mehr). Die Empfindungen, die diese Werke in mir auslösten, wollen natürlich in meiner Bibliothek berücksichtigt werden, auf dass sie durch einen klugen Kommentar besser verständlich werden.

Und dann ist da noch ein gewisser Komplettierungszwang, der mich nicht eher ruhen lässt, bis ich sämtliche Bände einer Reihe angeschafft habe. Auf diese Weise gelangen auch Bücher in meinen Bestand, die mich eigentlich gar nicht interessieren bis zu dem Tag, an dem ich dieses gedruckte Mauerblümchen plötzlich zur Hand nehme und ... Eine der ungewöhnlichsten Sammlungen in meiner Bibliothek ist zweifelsohne die Histoire de l'Art, deren Bände von 1962 an regelmäßig herauskamen. Was sie so ungewöhnlich macht, ist unter anderem, dass der Herausgeber Jean-François Revel heißt, auch wenn dies die wenigsten wissen, denn von Revel kennt man meist seine Werke über Philosophie, Literatur und Gastronomie, seine journalistische Arbeit (als Herausgeber des L'Express und Kolumnist des Point), seine medialen Debatten mit Zeitgenossen und seine Bestseller Die Revolution kommt aus Amerika und Die totalitäre Versuchung. Das Thema Kunst rückte in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit, als er längere Zeit in Italien lebte und dort André Fermigier und Jacob Bean (der später Leiter der graphischen Sammlung des Metropolitan Museums of Modern Art in New York wurde) frequentierte. Er lernte auch Bernard Berenson und Roberto Longhi kennen, ebenfalls einflussreiche Kunsthistoriker.

Nach seiner Rückkehr nach Frankreich schlug er René Julliard diese Reihe vor, in der nur wirklich wichtige Autoren erscheinen sollten. Doch in dieser Reihe ist kein Band wie der andere. La théorie des arts en Italie von Anthony Blunt beispielsweise ist zwanzig Zentimeter hoch, während Max Friedländers De Van Eyck à Brueghel in der Höhe ganze siebenundzwanzig Zentimeter misst. Auch die Gestaltung der einzelnen Bände fällt höchst unterschiedlich aus: Alle sind gebunden mit Schutzumschlag, bis auf L'Histoire vue du Grand Siècle von Bernard Teyssèdre; zwei der Schutzumschläge sind illustriert (L'Architecture au siècle des Lumières von Emil Kaufmann und Philibert Delorme von Anthony Blunt), die anderen rein typographisch gestaltet; vier tragen das Signet der Reihe, die anderen fünf nicht; Kaufmann, Friedländer, ein Blunt-Band (La Théorie des arts) und L'Art du paysage von Kenneth Clark nennen den Übersetzer auf dem Titel, nicht jedoch: Michael Levey (La Peinture à Venise au XVlle siècle), John Golding (Le Cubisme), Gombrich (L'Art et son histoire) und der zweite Blunt-Band (Philibert Delorme). Was für wichtige Bücher! Wenn auch für ein nicht allzu breites Publikum! Sie wurden zwar häufig in andere Reihen integriert, die eigene jedoch zeigte einen gewissen Mangel an Kohärenz. Das waren letztlich dann doch zu viele Hürden für einen Markt, der wirtschaftlich gesehen schon immer schwierig war. Neun Titel wurden veröffentlicht, dann wurde die Reihe 1965 nicht mehr fortgesetzt.

Bücher waren also für mich eine Möglichkeit, Werke der Malerei »sehen« zu lernen, aber natürlich nicht nur solche. So habe ich beispielsweise für meine Soziologiestudenten an der Uni eine Werbekampagne von Benetton mit den Mitteln der Kunstgeschichte analysiert, das ging ganz wunderbar. Außerdem ist es nicht weiter schwierig zu verstehen, warum die heilige Barbara in der Minenregion Minas Gerais - in der es außerdem eine Stadt namens Santa Barbara gibt - besonders beliebt ist, wenn man die christliche Ikonographie kennt: Die heilige Barbara ist die Schutzheilige der Minenarbeiter, die sie vor den extremen Gefahren ihres Berufs bewahrte. Als Panofsky in den dreißiger Jahren Henri Focillon besuchte - beziehungsweise in den fünfziger Jahren seine Tochter Hélène und ihren Mann Jurgis Baltrusaitis (so genau weiß ich das nicht, und es gibt niemanden, den ich fragen könnte) -, nahm man ihn nach Colombey-les-Deux-Églises mit, und raten Sie mal, wonach er dort suchte: nach der zweiten Kirche. (P.S.: Ein jüngst erschienenes Buch - Relire Panofsky, Paris 2008 - gibt an, dass der Aufenthalt bei Focillon in Maranville im August 1933 stattfand.) Und was Bernard Berenson betrifft: Der stellte, als man ihm erzählte, Pius XII. habe eine Vision der Madonna gehabt, spontan die einzige Frage, die einen wahren Kunsthistoriker interessiert: »In welchem Stil ist sie ihm erschienen?«

Aus: Jacques Bonnet: Meine vielseitigen Geliebten. Bekenntnisse eines Bibliomanen. [Übers. von Elisabeth Liebl], München 2009, ISBN 978-3-426-27516-0, Seite 87-97 Weitere Rezensionen: [1][2][3][4][5]



Die Österreichische Gesellschaft für Musik legte als 4.Band ihrer »Beiträge« den Kongreßbericht zum 5. Internationalen Webern-Kongreß vor, der vom 13. bis 17. März 1972 in Wien stattfand. Eine PDF-Version dieser »Beiträge« liegt dem Infopaket bei.


CD Info & Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 90 MB
Filepost --- Hotfile --- EmbedUpload
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files



Johannes Ockeghem: Requiem (Ensemble Organum, Marcel Pérès)

$
0
0
Johannes Ockeghem wurde um 1420 geboren und starb am 6. Februar 1497. Guillaume Crétin beschreibt in seiner déploration, einem poetischen Nachruf, Ockeghems schöne Stimme, seine hervorragenden Kompositionen sowie seine Freundlichkeit, Ehrlichkeit, Großzügigkeit und Frömmigkeit. Im Jahre 1477 schildert Francesco Florio ihn als »eine so schöne Erscheinung, so ernsthaft und anmutig in seinem Gebaren und in seiner Rede«.

Ockeghems Geburtsort ist unbekannt; seine Familie stammt möglicherweise aus dem Dorf Ockeghem bei Alost in Ostflandern. Seine musikalische Herkunft ist franko-flämisch; Ockeghems déploration auf den Tod von Gilles Binchois (1460), den Hofkomponisten Philipp des Guten, Herzog von Burgund, läßt vermuten, daß er vielleicht ein Schüler von Binchois war. Zwei andere Meister aus Burgund waren Ockeghem ebenfalls bekannt, Guillaume Dufay und Antoine Busnoys, die gemeinsam das künstlerische Erbe der herzoglichen Kapelle von Burgund angetreten hatten. Sein berufliches Leben verbrachte er in Frankreich; dort stand er in der Zeit um 1445 einige Jahre lang im Dienst des Herzogs von Bourbon, Karl I., der in der Stadt Moulins residierte. 1553 trat er in den Dienst von Karl VII. von Frankreich, vierundzwanzig Jahre nach dessen Krönung im Beisein von Jeanne d'Arc. Vierzig Jahre lang blieb Ockeghem als premier chapelain in den Diensten französischer Könige und erlebte die Regierungszeiten von Karl VII., Ludwig XI. bis hin zu Karl VIII. Karl VII. ernannte ihn zum Schatzmeister der Abtei von St. Martin zu Tours, ein einzigartiger Beweis fur die Gunst des Königs ebenso wie für die hohe Wertschätzung, die Ockeghem genoß, der dieses Amt nahezu sein ganzes Leben lang innehatte.

Ockeghem gehörte zu den Angestellten des königlichen Haushaltes, für die schwarze Gewänder und Hüte angefertigt wurden, um sie bei den Trauerfeiern anläßlich des Todes Karls VII. im Juli 1461 zu tragen. Vermutlich hat Ockeghem sein Requiem für diese Beisetzung komponiert; es könnte sonst auch 1483 bei der Beerdigung Ludwigs XI. aufgeführt worden sein.

Im 15. Jahrhundert war die Musik, die man sowohl im Gottesdienst wie auch in Messen gewöhnlich hörte, der von allen Geistlichen vorgetragene Gregorianische Gesang. Er wurde nur zu ganz besonderen Gelegenheiten durch mehrstimmige Musik ersetzt; dies war jedoch den Musikern wie dem premier chapelain Ockeghem und seinen Choristen vorbehalten. Abgesehen von dem (verschollenen) Requiem von Dufay ist Ockeghems Requiem die erste mehrstimmige Totenmesse.

Johannes Ockeghem (c.1420-1407)
 [Diskographie]
Sein Requiemschließt die uralten und überlieferten Gesänge des Gottesdienstes nicht aus, sondern nimmt sie in sich auf; meistens werden sie von der höchsten Stimme innerhalb des mehrstimmigen vokalen Geflechtes gesungen. Mit den Gregorianischen Chorälen der Missa pro Defunctis vertraute Sänger würden in jedem Abschnitt von Ockeghems Requiem sofort die leicht verzierten und von neuen kontrapunktisch geführten Stimmen begleiteten Melodien erkennen; heutzutage bezeichnen wir ein solches Werk als Gregorianische Messe. In den franko-flämischen Messen des 15. Jahrhunderts gehörte die Verwendung von Gregorianischen Chorälen, die den einzelnen Teilen der Messe entsprachen, zur Tradition, obwohl im späteren 15. Jahrhundert neuere Kompositionstechniken in Gebrauch kamen, die für eine mehrstimmige Messe nur einen einzigen Gregorianischen Choral in allen Teilen des Werkes benutzten.

In den Einleitungsteilen der einzelnen Abschnitte von Ockeghems Requiem erscheint der Gregorianische Choral im Superius mit kleinen Verzierungen und zwei zusätzlichen Fauxbourdon-Stimmen, die fast durchgehend parallel verlaufen und an Dreiklänge in der ersten Umkehrung erinnern. Diese spezifischen Klänge sind in der Vertonung des Requiem aeternam dona eis und im ersten Kyrie eleison deutlich zu hören. Karl VII. war dieses Klangbild sicherlich aus seiner Jugend vertraut, und vielleicht erwies Ockeghem mit der Verwendung dieses dreistimmigen Fauxbourdon einem von dem alten König bewunderten Musikstil die Ehre. Die Duette im Kyrie-Teil sind von ähnlich glatter Harmonik; hier werden die Gregorianischen Melodien von schnellen kontrapunktischen Stimmen begleitet. Im abschließenden Kyrie hören wir vier gleiche Stimmen, jede mit einer eigenen Melodie, ein Kompositionsstil, den Ockeghem in seinem Alter zur vollen Reife entwickelte.

Mit dem Graduale Si ambulem in medio umbrae und dem Traktus Sicut servus verwendet Ockeghem in diesem Requiem Gregorianische Gesänge, die vor den Reformen des Tridentinischen Konzils in Gebrauch waren; 1545 hatte man sie dort durch Requiem aeternam dona eis und Absolve, Domine ersetzt. Ockeghems Vertonung enthält nur eine kurze melodische Imitation zwischen Superius und Tenorstimmen; die lange, fast ununterbrochene melodische Linie vermittelt Sängern wie Zuhörern das Gefühl einer ungeheuren Weite. Zwischen dem Sinngehalt des Textes und seiner musikalischen Gestaltung besteht eine höchst empfindsame und subtile Beziehung. Das zeigt sich zum Beispiel in der Vertonung von »Dein Stecken und Stab trösten mich« (Virga tua et baculus tuus ipsa me consolata sunt); hier erklingt, nach einem langen Duett von zwei hohen Stimmen, erst zu den letzten beiden Wörtern die volltönende Kraft aller vier Stimmen.

Eines der ältesten überlieferten Komponistenporträts,
zwanzig Jahre nach seinem Tod entstanden, zeigt
 Ockeghem im Kreise seines Ensembles als
dominierende Figur im dunklen Mantel und mit Brille.
"Damit dürfte dieses Porträt auch eines der frühesten
Bilder sein, das einen Brillenträger trägt" meint
KLASSIKer in seinem liebevoll geführten Blog.
In einem besonders reich gestalteten Teil des Requiems könnte man eine ganz persönliche Geste des Komponisten erkennen, der fur seine schöne und kunstvolle Stimme berühmt war. Bei den Worten libera anima fidelium im Rex gloriae hat der Kontratenor in Baritonlage plötzlich einen schnellen Abschnitt in Tripelmensur zu singen, eine virtuose Passage für einen meisterhaften Sänger. Eine ähnliche sogar noch anspruchsvollere Stelle hat Ockeghem bei den Worten de manu inferni et de profundo lacu ebenfalls im Part des Kontratenors komponiert. Falls Ockeghem während des Gottesdienstes sein Werk selber mitsang, könnten diese Passagen sowohl etwas über die Beweglichkeit seiner Stimme aussagen als auch sein ganz persönliches Gebet für den König dargestellt haben. Die Baritonlage der Kontratenor-Stimme enthält in der Tat die großartigsten kontrapunktischen Verflechtungen und kompliziertesten Notationsprobleme des gesamten Requiems.

In Ockeghems Requiem gab es nicht für alle während der Totenmesse gesungenen Texte kontrapunktische Vertonungen, denn für die gottesdienstliche Liturgie hätten die Gregorianischen Choräle genügt. Die vorliegende Aufnahme hat einige Gregorianischen Gesänge beibehalten; außerdem wurden Kompositionen verwendet, die Antonius Divitis (oder flämisch: de Ryke) im Occo Codex zugeschrieben werden. Divitis, ein Sänger in der Königlichen Kapelle von Ludwig XII., wird auch als Sänger bei der Trauerfeier für Ludwig XII. im Jahre 1515 erwähnt. In anderen Handschriften werden diese Vertonungen jedoch Antoine de Fevin zugeschrieben. Der Kompositionsstil ähnelt demjenigen Ockeghems insofern, als die jedem Abschnitt entsprechenden Gregorianischen Choralmelodien im Superius liegen. Diese Besetzung ergibt einen kraftvollen Vokalklang, wie er für die Generation nach Ockeghem typisch wurde, doch wird - und das ist wiederum typisch für Ockeghems Musik - nur wenig Gewicht auf melodische Imitation zwischen den einzelnen Stimmen gelegt.

In seinen Höhepunkten erreicht das Requiem Ockeghems Kompositionsstil der reiferen Jahre, wie er uns aus seinen späten Messen wie der Missa cuiusvis toni und der Missa mi mi her vertraut ist. Der volle Klang von vier selbständig geführten Stimmen, oft ohne imitatorische Verbindung untereinander, die geschmeidige Melodieführung jeder Stimme und die Phrasen, deren langer Atem nur an wenigen Kadenzpunkten unterbrochen wird - das alles zeigt den charakteristischen Fluß von Ockeghems Musik. Wenige andere Komponisten der Renaissance haben eine solche Flut von sich allmählich entwickelnden, vielfältigen und immer neuen subtilen musikalischen Einfällen hervorgebracht - eine Musik, die jederzeit den Sinn des Textes widerspiegelt, jedoch niemals seinen Inhalt vordergründig interpretiert.

Quelle: George Houle [Übersetzung Ingeborg Neumann], im Booklet

Track 4: Graduale. Si ambulem in medio umbre mortis



TRACKLIST


JOHANNES OCKEGHEM (c.1420-1497)

Requiem

[01] Introit. Requiem eternam dona eis Domine 4'35
[02] Kyrie (Solistes: Josep Benet, Stephan van Dyck) 4'31
[03] Epistola 3'30
[04] Graduale. Si ambulem in medio umbre mortis 7'34
(Solistes: Josef Benet, Josep Cabré)
[05] Tractus. Sicut servus desiderat ad fontes aquarum 6'34
Stephan van Dyek, Josep Benet (versets I,III,IV)
Josep Cabré (versets II,III,IV), Malcolm Bothwell (verset II)
[06] Evangelium 4'20
[07] Offertorium 8'29
[08] Praefatio 3'00
[09] Sanctus (ANTONIUS DIVITIS) 3'11
[10] Agnus Dei (plain-chant) 1'18
[11] Communio. Lux eterna luceat eis (ANTONIUS DIVITIS) 2'05
[12] Repons. Libera me, Domine, de morte eterna(plain-chant) 5'39
(Soliste: Marecl Pérès)

Durée Totale: 54'46

Ensemble Organum, Marcel Pérès

Josep Benet 1,2,4,5,7,10-12
Malcolm Bothwell 1,2,4,5,7,9-12
Josep Cabré 1,2,4,5,7,9-12
Stephan van Dyck 1,2,4,5,9-12
Steven Grant 1,2,4,5,7,9,10,12
Marcel Pérès 3,6,8,10,12
Antoine Sicot 2,4,10,12

Les Pages de la Chapelle 9
(Maítrise du Centre de Musique Baroque de Versailles)
Christophe Davezac, Arthur Le Mesre de Pas, Baptiste van Opstal

DDD
Enregistrement novembre 1992 au Grand Réfectoire de l'Abbaye de Fontevraud
Prise de son et direction artistique: Pere Casulleras
Couverture: anonyme (école néerlandaise, XV' siècle), Madeleine éplorée
® 1993, © 2007

Robert Campin


Das Bild als Rätsel

Robert Campin: Madonna mit dem Ofenschirm, c. 1440, 63,4 x 48,5 cm, London, National Gallery

Fünf Jahrhunderte vor Joan Mitchells Versuch, sich durch die Abwesenheit von Sprache zu artikulieren, malte ein mit den neuen Strömungen der niederländischen Malerei vertrauter Künstler eine Jungfrau mit Kind, die in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von Joan Mitchells Bemühen verkörpert. In jedem Element dieses Bildes verbirgt sich ein geheimes Zeichen, das dazu auffordert, entschlüsselt zu werden. Der Name des Malers ist unbekannt; vielfach wurde das Werk Rogier van der Weyden zugeschrieben, dem wahrscheinlich bedeutendsten niederländischen Künstler aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, oder auch Robert Campin, seinem Lehrer.

Die Madonna vor dem Ofenschirm, wie das Bild gemeinhin genannt wird, stellt eine intime häusliche Szene dar. Die heilige Maria, die den Gottessohn stillt, erscheint sehr von dieser Welt: eine junge Frau, die ihrem launischen oder satten Baby die Brust reicht. Die Restauration des Bildes in neuerer Zeit enthüllte minutiöse Details - Lichteffekte auf den Möbeln, einen Ring über dem Kopf der Jungfrau, den Kaminsims -, die sämtlich bezeugen, daß der Maler um die möglichst genaue Wiedergabe einer diesseitigen Realität bemüht war.

Wer immer er gewesen sein mag - er hatte offenbar seine Schwierigkeiten mit dem traditionellen Gebrauch der christlichen Ikonographie. Voller Neugier auf die Möglichkeiten einer Kunst, die fähig war, die Wirklichkeit mit größter Genauigkeit abzubilden, verwandelte er alltägliche Gegenstände in Symbole, die auf eine andere Ebene verweisen. Der geflochtene Ofenschirm, der an die Stelle des Heiligenscheins tritt, ist nur der auffälligste von vielen, weitaus subtileren Hinweisen. Indem der Künstler die herkömmlichen Bildmotive der religiösen Malerei durch andere ersetzte, verfolgte er einen doppelten Zweck: Er wies einer gewöhnlichen Mutter mitsamt ihrer häuslichen Umgebung einen zentralen Platz im Pantheon des Christentums zu, und gleichzeitig vermenschlichte er die Muttergottes, indem er ihre geheiligten Attribute in gewöhnliche Haushaltsgegenstände verwandelte.

Thema des Bildes ist ohne Zweifel die Mutter und nicht das Kind. Es wirft dem Betrachter einen wissenden Blick zu, die ein wenig zu lang geratenen Glieder signalisieren eine gelassene Pose, in der linken Hand scheint es eine unsichtbare Blume zu halten. Der Blick der Mutter dagegen ist nach innen gerichtet, sie scheint nicht zu merken, daß sie die rechte Brust eher dem Betrachter als dem Kind hinhält, und verweist damit auf ihre Selbstversunkenheit. Weder sitzend noch liegend, schwebt sie auf mysteriöse Weise in der Bildmitte - fest fundiert und doch nicht von dieser Welt. Ihre Oberpartie, das wellige Haar, die geschürzten Lippen, die quellende Brust sind vollkommen gegenwärtig, doch die untere Körperhälfte (in der Augustinus den Sitz der Erbsünde sah) verschwindet unter dem weiten Faltenwurf ihres Gewands, da Maria ohne Makel ist, rein wie eine Lilie. Die ganze Darstellung kreist um sie. Wir wollen wissen, wer sie ist, und es scheint so, als hätte der Maler überall im Bild geheime Hinweise versteckt, die ihre Identität erraten lassen.

Können wir diese Hinweise auch fünfhundert Jahre später noch entschlüsseln? Die entblößte Brust, der Ofenschirm, der dreibeinige Hocker, das aufgeschlagene Buch, die Flammen hinter dem Ofenschirm, der Ring an ihrer rechten Hand, die bunten Edelsteine im Saum ihres weißen Gewandes, die zwei rätselhaften, halb verdeckten achteckigen Kacheln, die Stadtansicht im Fensterausschnitt - alles scheint konkrete Hinweise sowohl auf ihre irdische als auch auf ihre himmlische Identität zu bieten, und wir sind versucht, das Bild zu lesen wie ein Buch voller Rätsel. […]

Filotesi dell'Amatrica: Maria nährt
die Seelen im Fegefeuer, c. 1508
Wie die Mutter selbst ist auch die Mutterbrust mit einer Vielzahl von teilweise widersprüchlichen Bedeutungen befrachtet. Derartige Symbole wurden von den Talmudisten als die reichsten betrachtet, da sie eine Bedeutungstotalität umfaßten. In ihrem positiven Sinn stellt die Brust das Bindeglied der Mutterschaft dar. Ein Säugling, dem die Brust gegeben wird, wird als Kind angenommen. In der griechischen, römischen und etruskischen Mythologie wird Herkules (Herakies) von Juno (Hera oder Uni) adoptiert, indem sie ihn mit ihrer Muttermilch nährt; als sie die Brust seinen gierigen Lippen entreißt, versprüht sie die Milch über den ganzen Himmel und erschafft auf diese Weise die Milchstraße. In der negativen Konnotation bezeichnet die verstümmelte Brust die Preisgabe der Mutterschaft; die Amazonen amputieren sich die rechte Brust, um ungehindert mit Pfeil und Bogen zu schießen. Sie vertauschen die Rolle der Venus mit der des Mars und werden bessere Kriegerinnen. […]

Maria nährte Christus mit ihrer Milch, und in diesem Sinne wird ihre Milch zu einem Aspekt der Menschwerdung Christi, da auch er wie andere Säuglinge der Mutterbrust bedurfte. Auf Marias Rolle als »Nährerin des Ernährers« verweist der gelehrte Amadeus von Lausanne im 12. Jahrhundert: »Glückselig sie, der es gegeben ... das Kind zu säugen, das füllt die Brust, von der es zehrt, zu nähren den Allernährer, der selbst den Vögeln Nahrung gibt.« Aber Milch ist nicht nur Nahrung, sie ist das Geschenk des Lebens, das die Mutter dem göttlichen Kind darbietet, auf daß es zum Mann werde - ein Bild, das der heilige Petrus herbeizog, um das Geschenk des göttlichen Wortes sinnfällig zu machen. »Verlangt vielmehr, so wie die neugeborenen Kinder nach Milch, nach dem unverfälschten Wort, damit ihr dadurch wachset und gerettet werdet.« Auf Maria als Nährerin und Lebenspenderin für die ganze Menschheit bezieht sich der Choral des heiligen Anselm, der im 11.Jahrhundert entstand:

Mutter unseres Bräutigams, die ihn trug in ihrem Leib
Und willig war, ihm Milch aus ihrer Brust zu geben
Bist du nicht fähig oder willig
Deine Liebe zu gewähren denen, die nach ihr verlangen?

Im 12. Jahrhundert erlebte der heilige Bernhard von Clairvaux, der Gründer des Zisterzienserordens, wegen seiner gefälligen Rhetorik als der »honigsüße Lehrer« bekannt (sein Wahrzeichen wurde der Bienenkorb), eine ungewöhnliche Marienerscheinung: Die Muttergottes nährte ihn, seine sündige Seele, mit der Milch ihrer Liebe. Drei Jahrhunderte lang geisterte Bernhards Vision durch die bildlichen Darstellungen des Fegefeuers - gequälte Seelen werden von Marias wohltätigen Brüsten erlöst. Einen fernen Nachgeschmack dieses »Liebestrunks« bietet noch heute die Weinsorte »Liebfrauenmilch«, die oft auch mit einer viel älteren Anekdote über die römische Tugend der caritas oder Nächstenliebe in Verbindung gebracht wird. In seinen Denkwürdigen Taten und Aussprüchen aus dem 1. Jahrhundert erzählt der römische Historiker Valerius Maximus die Geschichte der tugendhaften Pero, deren bejahrter Vater Cimo zu Unrecht in den Hungerturm geworfen wird. Sie ernährt ihn, indem sie ihm die Brust gibt. Dieses Motiv fand Eingang in die Kunst des Mittelalters und der Renaissance und taucht auch in Caravaggios Gemälde Die sieben Werke der Barmherzigkeit auf. […]

Alesso di Andrea: Allegorie der
Hoffnung, 14. Jahrhundert,
Kathedrale Pistoia
Wir können Marias entblößter Brust noch eine andere Bedeutung hinzufügen: In Darstellungen des Jüngsten Gerichts aus dem 15. bis 17. Jahrhundert entblößt Maria ihre Brust vor Christus, um ihn zu Milde und Barmherzigkeit zu mahnen. Er erwidert die Geste, indem er ebenfalls die Brust entblößt und dem himmlischen Vater die Wundmale seines Kreuzestodes vorweist. Beide erscheinen Seite an Seite auf einem Diptychon von 1503, das von einem unbekannten Zürcher Maler stammt. Gottvater hoch oben in der Ecke der linken Bildtafel scheint seinen Sohn zu bestärken. Die lateinische Inschrift endet mit den Worten: »Diese beiden sind Zeichen der Liebe.«

Marias schrankenlose Barmherzigkeit ist ein Attribut ihrer Heiligkeit, die traditionell durch einen Heiligenschein symbolisiert wird. Auf unserem Gemälde ist er durch einen geflochtenen Ofenschirm vertreten. Für das christliche Auge ist der damit erzeugte optische Effekt unverkennbar - ein Spiel mit der Kongruenz von Formen, das sich bis in die Frühzeit des Christentums zurückverfolgen läßt. Auch später, im römischen Kaiserreich, wurde Apollos Haupt von Sonnenstrahlen gekrönt; den feurigen Auftritt des Sonnengottes machte Kaiser Konstantin anfangs zu seinem eigenen Wahrzeichen (später vom Sonnenkönig Ludwig XIV. übernommen), dann zum Wahrzeichen Christi. Von Christus, dem Lamm Gottes, ging der Heiligenschein auf die Engel und die Heiligen über. Und es trat der seltene Fall ein, daß sich dieses Element der christlichen Ikonographie durch den Mittleren Osten und Indien bis nach China verbreitete, wo es dann das Haupt Buddhas krönte.

Papst Johannes VII., Mosaik
 aus dem 8. Jahrhundert
Heiligenscheine müssen nicht immer rund sein. Ein dreieckiges Exemplar zur Symbolisierung der Heiligen Dreieinigkeit ziert gelegentlich Gottvater, Sohn und den Heiligen Geist, der in Gestalt einer Taube auftritt. Der Kreis jedoch, das perfekte geometrische Gebilde, bot sich in erster Linie an, um Gottes Vollkommenheit zu demonstrieren. Einen viereckigen Heiligenschein etwa bekam verpaßt, wer bei der Entstehung des Bildes noch am Leben war, während mit dem seltenen Sechseck-Heiligenschein allegorische Gestalten gekrönt wurden. Manchmal aber kann der Effekt eines Heiligenscheins zufällig ins Bild geraten und diskret auf die »Heiligkeit« des solcherart Geschmückten verweisen - wie etwa in dem niederländischen Film Der vierte Mann von 1983, in dem die Mutter ihr Kind wie aus Versehen mit einer Apfelschale krönt und die Szene damit in eine christliche Ikone verwandelt.

Ein anderes Detail im Gemälde Madonna vor dem Ofenschirm bestätigt vollends die Heiligkeit der stillenden Mutter. Der Schatten des Lichts, das seitlich auf sie fällt, modelliert die Falten ihres Gewandes, verdunkelt die hinter ihr stehenden Möbel und fügt der Szene ein »Gefühl der Gegenwärtigkeit« hinzu. Aber hinter dem Ofenschirm sieht man eine helle Flamme lodern. In der mittelalterlichen Ikonographie signalisiert die Flamme über dem Kopf einer Gestalt die Gegenwart des Heiligen Geistes. Die häusliche Szene wird durch dieses unheimliche Flämmchen um eine überirdische Note bereichert.

Weitere Symbole warten darauf, entschlüsselt zu werden - zum Beispiel der schlichte dreibeinige Hocker, der in der hintersten Ecke steht und an die Gegenwart der Heiligen Dreieinigkeit gemahnt. Das Konzept der Dreieinigkeit mit dem Dogma, daß Gott in dreierlei Gestalt, aber als ein Wesen existiert, hat den Malern seit dem Anbeginn der christlichen Ikonographie Schwierigkeiten bereitet. Obwohl die Dreieinigkeit als Begriff in der Bibel nicht vorkommt und erst über hundert Jahre nach Christi Geburt durch Theophilos von Antiochia eingeführt wurde, setzte sie sich schnell als Herzstück des kirchlichen Glaubens durch. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts konnte John Duns Scotus, der für seine Aristoteles- und Bibelkommentare berühmte Oxforder Gelehrte (den man in der Reformationszeit dadurch lächerlich machte, daß man seinen Namen zu »Dunce« - Trottel- verballhornte), seine Schüler lehren, daß die Dreieinigkeit die einzig mögliche Existenzweise Gottes sei. Da Gott die vollkommene Liebe sei - das heißt der Liebende, der Geliebte und der Akt der Liebe selbst -, könne er nur in der Einheit dieser drei Dinge begriffen werden. Die Schwierigkeit, diese Dreieinigkeit rational zu verstehen, liege (so Robert Grosseteste, ein Zeitgenosse von Duns Scotus) nicht in der fehlenden Logik, sondern in unserer sündigen Natur begründet - die Erbsünde verhindere, daß wir die Dreieinigkeit kraft unseres natürlichen Verstandes erfassen können, so wie sie uns auch das Verständnis der Zeit unmöglich mache, eines Mysteriums, das dem Menschen ebenfalls unzugänglich bleibe. Aber wie soll eine Dreieinigkeit, die sich dem Verstand entzieht, bildlich dargestellt werden? […]

Hat unser unbekannter Maler gehofft, das paradoxe und temporale Wesen der Dreieinigkeit mit Hilfe eines einfachen dreibeinigen Hockers erfassen zu können? Vielleicht. Eine Ecke steht klar sichtbar wie die Gegenwart im Licht, die zweite Ecke ist in den Schatten getaucht wie die Vergangenheit, und die dritte ist uns verborgen wie die Zukunft.

Diese Simultanität der Zeit zeigt sich auch an anderer Stelle: Auf der Bank, vor der die Jungfrau auf ungewisse Weise zu schweben scheint, liegt das aufgeschlagene Buch, in dem sie gelesen hat. Obwohl das Buch oder die Schriftrolle ein Attribut der männlichen Gottheit war, erscheint es gewöhnlich in Darstellungen der Verkündigung Mariä. Mal liest Maria in einem Stundenbuch, mal liest sie Jesajas Prophezeiung des bevorstehenden Ereignisses: »Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel.« Manchmal liest sie auch die biblischen Bücher der Weisheit mit den Sprüchen Salomos, dem Buch Hiob und dem Buch der Prediger - oder die Apokryphen mit den Büchern Jesus Sirach oder Die Weisheit Salomos. In all diesen Texten wird der Leidensweg Christi vorausgesagt oder reflektiert. Die tragische Ironie besteht also darin, daß Maria in den alttestamentarischen Schriften von dem Schicksal erfährt, das ihr und ihrem Sohn zugedacht ist. Auf manchen Darstellungen erscheint das Bild des leidenden Christus an der Wand ihrer Mädchenkammer, auf anderen sieht man das Jesuskind eine Seite aus dem besagten Buch herausreißen - eine verbreitete Allegorie, die besagt, daß das Neue Testament das Alte außer Kraft gesetzt hat.

Auf dem Bild Madonna vor dem Ofenschirm liegt das Buch aufgeschlagen auf einem seidenen Bücherbeutel, mit dem wertvolle Bände vor äußeren Einwirkungen geschützt wurden. Die Mutter hat die Lektüre unterbrochen, um sich ihrem Kind zu widmen: Das fleischgewordene Wort steht über dem nur geschriebenen Wort. Gottes Wort, mit dem alles begann, verba, nimmt die Gestalt des Kindes an. Das geschriebene Wort scripta bleibt im Buch gefangen, doch es verschwindet nicht. Es wird mit Ehrfurcht behandelt und nimmt genauso viel Raum ein wie das Fleisch - was besagen will, daß wir die Schrift brauchen, um die heiligsten Dinge beim Namen zu nennen, mögen sie auch außerhalb des Sagbaren liegen. Der anonyme Maler glaubte an die Macht des geschriebenen Wortes.

Ofenschirm, Hocker, Bank und Buch: Maria lebt in einer Alltagswelt, auch der Blick aus dem Fenster zeigt es. […] Der Blick auf die Stadt ist detailfreudig wie eine Miniatur. Im Hintergrund blaue Berge und eine gewundene Straße, in der Mitte der Stadt die stolze Kirche, deren Turm in den Himmel ragt - es ist die Kirche, die aus der Passion Christi, des Säuglings auf dem Schoß der Maria, hervorgehen wird. Menschen kommen und gehen - ohne einen Gedanken daran, daß das »Martyrium seinen Lauf nehmen muß«, ohne von dem großen Ereignis zu wissen, das bereits begonnen hat. Eine Frau steht untätig vor ihrer Tür, zwei Reiter passieren mit gemächlichem Schritt, Müßiggänger stehen schwatzend herum, ein Paar plaudert an einem Fenster. Nur zwei Männer sind beschäftigt. Sie erklimmen die Leiter, die an einem Haus lehnt, und reparieren das Dach. Im Buch der Prediger 10,18, wird vor der Sünde der Trägheit gewarnt, die Häuser verfallen und Dächer einsinken läßt. Das Motiv weist darauf hin, daß wir uns nicht der Trägheit ergeben, sondern stets auf das Kommen Christi vorbereitet sein sollen. […]

Maria sitzt in ihrem Gemach und scheint sich ihrer Heiligkeit kaum bewußt zu sein. Nur wir, die Betrachter, bekommen die Hinweise auf ihre Gottgleichheit geliefert. Da ist zum Beispiel die Pracht und die Farbe ihres Gewandes. Im Lauf der Epochen hat sich dieses Gewand häufig geändert, bestimmte symbolische Qualitäten verloren und andere hinzugewonnen, aber das Himmelblau als Farbe der Himmelskönigin blieb erhalten. Noch 1649 dekretierte der spanische Maler Francisco Pacheco, dessen Schüler Velázquez war, in seinem Buch Die Kunst der Malerei, daß das Mariengewand blau zu sein habe. Auf unserem Bild hat das Gewand einen wundervollen, unwirklichen Blauschimmer, die Stickereien und Juwelen verweisen auf seine himmlische Herkunft. Der Ring, den Maria trägt, macht sie als Braut Josefs und Gottes kenntlich, zudem (nach Ansicht des Augustinus) als Angetraute ihres eigenen Kindes, das bei Augustinus als »Kind-Gemahl« bezeichnet wird.

Trotz all dieser Pracht gestaltete der Maler das Interieur weniger aristokratisch, als es sich heute darstellt. Die gotische Kommode mit dem Kelch am rechten Bildrand wurde im 19. Jahrhundert von einem übereifrigen Restaurator hinzugefügt, der es auch für geboten hielt, die allzumenschlichen Genitalien des Kindes im Schatten verschwinden zu lassen, wie sich erst neuerdings bei einer Restauration des Gemäldes herausgestellt hat.

Auch die Prüderie hat ihre Geschichte. Offenbar haben die Betrachter des 15. Jahrhunderts auf diese sorgfältig gezeichneten Details geachtet und waren an den Anblick des nackten Kindes gewöhnt, das die byzantinischen Gewänder längst abgeschüttelt hatte. Die Genitalien sind ein Hinweis auf das Menschentum Christi. Als Gottessohn erlebt er weder Sterblichkeit noch Sexualität, als Mensch wird ihm beides zuteil. Daher erscheinen die Genitalien Christi am Anfang und am Ende seines Erdenwandels, im letzteren Fall sind sie oft von seinen stigmatisierten Händen überdeckt. Leo Steinberg bemerkt in seinem Buch über die Sexualität Christi: »Die Renaissancekunst nördlich und südlich der Alpen brachte eine große Menge Devotionalkunst hervor, in der die Genitalien des Jesusknaben oder des toten Christus so auffällig hervorgehoben werden, daß man eine ostentatio genitalium konstatieren muß, der der kanonischen ostentatio vulnerum vergleichbar ist, dem Vorweisen der Wundmale.« Doch im 19. Jahrhundert war diese Nacktheit anstößig.

Der Schöpfer des Bildes hat die Genitalien des Jesuskindes deutlich sichtbar dargestellt. Die Röntgenanalyse erweist, daß er Marias linke Hand ein wenig absenkte, um den Blick auf den Penis des Kindes freizugeben, der neuerdings wieder im Dreieck zwischen ihrer Hand und dem angewinkelten Knie des Kindes zu sehen ist. […] Auf unserem Gemälde erscheint Christi Penis eindeutig unbeschnitten. Daher deutet ein anderes Symbol die bevorstehende Beschneidungszeremonie an - die zwei geheimnisvollen achteckigen Kacheln, die unter dem Mariengewand hervorschauen.

Die Beschneidung findet nach jüdischer Vorschrift am achten Tag nach der Geburt statt; die beiden achteckigen Kacheln sind halb verdeckt, weil dieser Tag noch nicht gekommen ist. Die Beschneidung symbolisiert Gottes Bund mit Abraham und stellt zugleich (nach Rabbi Oshaia dem Älteren aus dem 3.Jahrhundert) die »Vollendung« des männlichen Geschöpfes dar. »Senf muß gesüßt werden«, schrieb Rabbi Oshaia, »Erbsen müssen gesüßt werden, Weizen muß gemahlen werden, und selbst der Mensch muß vollendet werden.« Und zwar deshalb, fügte der spanische Gelehrte Maimonides im 12. Jahrhundert hinzu, »weil das Fleisch eines siebentägigen Knaben noch so zart ist, wie es im Mutterleib gewesen, aber mit dem achten Tag wird es stärker und fester«. Der achte Tag (in der jüdischen Überlieferung »Oktave« genannt) gilt als weiterer Beweis dafür, daß Christus als Mensch geboren wurde, weil er an diesem Tag beschnitten wurde und sein Blut vergoß, und nur ein irdischer Leib kann bluten. Auch Christi Bund mit der Menschheit wird so demonstriert. Im Kolosserbrief 2,11, kann man lesen: »In ihm [Christus] seid ihr auch beschnitten mit einer Beschneidung, die nicht mit Händen gemacht ist, als ihr nämlich euren fleischlichen Leib ablegtet bei der Beschneidung durch Christus.«

Der achte Tag ist eine Feier der Menschwerdung Christi. Bis zu diesem Tag waren ihm nur zwei Namen gegeben worden: »Gottes Sohn« wurde er bei der Verkündigung genannt, Christus nach seiner Geburt. Den Namen Jesus erhielt er bei der Beschneidung, und nach Bekunden des heiligen Bernhard bedeutet er Nahrung, vergleichbar der Muttermilch. »Der Name Jesus ist Speisung«, schreibt er. »Seid ihr nicht gestärkt, wann immer ihr seiner gedenkt? Was richtet den andächtigen Geist stärker auf als dieser Name? Was sonst erfrischt so sehr das müde Herz, stärkt die Tugend und nährt die keusche Liebe?« Nach der Beschneidung und versehen mit dem Namen Jesus wird Christus zum Ernährer und übernimmt, wie in vielen Darstellungen seines auferstandenen Leibes erkennbar, die lebenspendende Geste seiner Nährmutter, um den Bogen des Heilsgeschehens aufs anmutigste zu schließen.

Die Madonna vor dem Ofenschirm besteht aus mindestens zwei Gemälden: Das eine zeigt eine schlichte Szene häuslicher Geborgenheit, das andere erzählt die Geschichte eines Gottes, der einer sterblichen Frau geboren wird und der in seiner menschlichen Gestalt sowohl die Geschlechtlichkeit des Fleisches als auch das Wissen um seine Passion verkörpert. Diese Geschichte könnte ins Unendliche gehen, da jede neue Deutung weitere Lesarten hinzufügt. Betrachten wir das Bild heute, beziehen wir allerlei kuriose Umstände und Fakten ein (den nach Ostasien exportierten Heiligenschein, die archaischen Bilder der Mutterschaft, die Auswirkungen der Prüderie des 19. Jahrhunderts), die dem Schöpfer des Bildes nicht bekannt waren. Wir selbst hingegen können nicht wissen, was zukünftige Deutungen zur Bereicherung des Bildes beitragen werden. Das Rätsel bleibt immer dasselbe, nur die Antworten variieren.

Ein Gemälde wie das von Joan Mitchell, das sich absichtlich einer entschlüsselbaren Formensprache entzieht, deutet die Möglichkeit des Gegenteils an: ein Gemälde, auf dem jede Einzelheit für etwas steht, ein System von Zeichen, das einzig zum Zweck der Entschlüsselung geschaffen wurde, ein Puzzle, das der Betrachter zusammensetzen soll. Mag sein, daß jedes Bildwerk in gewisser Hinsicht ein Rätsel ist, daß jedes Gemälde die Frage nach seinem Gegenstand, seiner Lehre, seinem Inhalt, seiner Bedeutung aufwirft. Nicht jedes Gemälde hingegen bringt die Präzision auf, mit der der Schöpfer der Madonna vor dem Ofenschirm ein anderes oder neues Bild über das im Rahmen sichtbare Gemälde projiziert.

Quelle: Alberto Manguel: Bilder lesen. [Reading Pictures. A History of Love and Hate. Übersetzt von Chris Hirte] Volk & Welt, Berlin, 2001, ISBN 3-353-01150-1, Auszüge aus den Seiten 47-71

CD bestellen bei JPC


CD Info & Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 44 MB
Filepost --- Hotfile --- Depositfiles --- EmbedUpload
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files

Zwei Wege ins Exil: Adolf Busch und Walter Braunfels

$
0
0
Exildasein ist nicht immer notwendigerweise mit Auswanderung verbunden. Diejenigen, die durch die Rassengesetze der Nazis diskriminiert wurden, wurden oft genug zu Exilanten in ihrem eigenen Land. Institutionalisierte Intoleranz, legalisierte Diskriminierung und der allmähliche Entzug von Rechten führten dazu, dass die Betroffenen öffentliches Leben nur völlig zurückgezogen als Außenstehende betrachten konnten.

Diese Aufnahme erweckt die Kammermusik zweier Komponisten zu neuem Leben, deren Exilschicksale ganz unterschiedliche Hintergründe haben. Adolf Busch, »unser deutscher Geiger«, wie Hitler ihn stolz bezeichnete, war zumindest oberflächlich gesehen der Inbegriff des arischen Musikerideals: blond, blauäugig, markantes Kinn; sein Repertoire war fest in der deutsch-österreichischen Tradition verwurzelt: Bach, Mozart, Beethoven, Schumann und Brahms. Obwohl aus einfachen westfälischen Verhältnissen stammend, war Busch ein wahrer Kosmopolit, tolerant und aufrichtig, ein Mann, der von seinen jüdischen Freunden zweifellos liebevoll als »Mensch« bezeichnet worden wäre. Sein Freund und Kollege Rudolf Serkin, der später Buschs Tochter Irene heiratete, und Karl Doktor, der Bratschist des legendären Busch-Quartetts, waren beide Juden. Adolfs Bruder Hermann, der Cellist des Quartetts, heiratete in eine jüdische Familie ein.

Busch reagierte auf Hitlers Machtübernahme 1933 mit heftiger persönlicher Scham und Verlegenheit. Er schrieb in jenem Jahr: »Die antisemitische Bewegung in Deutschland verschließt mir mein Vaterland - ich fühle mich als Deutscher von dem, was […] in dieser Beziehung geschieht, so angewidert, dass mir in der Atmosphäre die nötige Freude am Musizieren vergangen ist.« Eine Zusammenarbeit irgendeiner Art mit den Nazis war für ihn undenkbar. Nach einer Konzertaufführung des Quartetts in Berlin am 1. April 1933, dem ersten Tag der systematischen Angriffe auf jüdische Geschäfte, sagte Busch den Rest der geplanten Deutschlandtournee des Quartetts ab. Er verließ Deutschland und übersiedelte nach Basel. Nach Ausbruch des Krieges ging er in die USA, wo er mit dem Quartett und einem Kammerorchester große Tourneereisen unternahm. Mit Serkin zusammen gründete er die Marlboro Music School.

Während Busch heute primär als Interpret bekannt ist, war seine Karriere als Komponist und Musiker in den 20er-Jahren von durchaus gleichrangiger Bedeutung. Adolfs Bruder Fritz, der berühmte europäische Dirigent, der erster Kapellmeister von Glyndebourne war, brachte einige Orchesterwerke des Bruders zur Uraufführung. Adolfs Kammermusikwerke waren integraler Bestandteil des Repertoires des Busch-Quartetts. Berühmte Orchesterchefs wie Hermann Scherchen, Wilhelm Furtwängler, Hermann Abendroth und Felix Weingartner dirigierten seine Werke. 1929 spielten Toscanini und die New Yorker Philharmoniker seine Mozartvariationen für großes Orchester op. 41, viermal. Drei bedeutende Musikverlage, Eulenburg, Breitkopf & Härtel und Simrock, publizierten seine Werke.

Adolf Busch
Ironischerweise führte Buschs Haltung in den 30er-Jahren zu einer gewissen Feindseligkeit von Seiten derer, die es leichter fanden, sich opportunistisch anzupassen als fest zu ihren Prinzipien zu stehen. Der Busch-Biograph Tully Potter merkt hierzu an: »Busch machte sich mit seiner aufrichtigen Haltung bei seinen Zeitgenossen, die Schande über sich brachten, nicht beliebt.« Nach dem Krieg betrachteten tatsächlich einige Deutsche Busch als Verräter. Das Verhalten des Dirigenten Herbert von Karajan hingegen, der der NSDAP gleich zweimal beigetreten war (zum ersten Mal 1933, als der Exodus jüdischer Musiker günstige Gelegenheiten eröffnete), wurde als nur den Umständen geschuldet eingestuft. Er wurde schnell rehabilitiert.

Adolf Buschs legendärer Status als Violinist und Kammermusiker hat seine Parallelbegabung als Komponist überschattet. Seine eigenen Kompositionen führen noch immer ein Schattendasein. Sein selbstauferlegtes Exil führte dazu, dass kein bestimmtes Land, weder Deutschland noch die Schweiz oder die USA, Anspruch auf ihn erhob. Nachdem er sich in Vermont niedergelassen hatte, unternahm Busch wenig Anstrengungen, sein eigenes Werk zu fördern. Die Tatsache, dass er weder Jude noch Opfer des Holocaust oder Komponist »entarteter Musik« war, schließt ihn von heutigen Programmen und Serien, die sich solchen Themen widmen, aus. Sein Streichsextett op. 40 wurde am 25. September 1928 in Bonn uraufgeführt und 1933 noch einmal beträchtlich überarbeitet. Das Werk ist nie im Druck erschienen, das Manuskript befindet sich in der Sammlung des Brüder-Busch-Archivs in Karlsruhe. Es ist das überschwengliche Manifest eines Meisters, der in der Schöpfung instrumentaler Herausforderungen, kunstvoller Streicherklangfarben und virtuoser kontrapunktischer Führungen schwelgt.

Adolf Busch kannte Walter Braunfels gut. Beide hatten Beziehungen zur Kölner Musikhochschule. Busch hatte dort studiert (damals noch »Kölner Konservatorium«) und Braunfels wurde dort 1925 zum Ko-Rektor berufen. Ebenso wie Busch war Braunfels eine bedeutende Figur des deutschen Musiklebens mit direkten Verbindungen zu dessen Tradition. Seine Mutter Helene, geborene Spohr, war Pianistin, Großnichte des Geigers und Komponisten Louis Spohr und Bekannte von Liszt und Clara Schumann. Der Uraufführung seiner Oper Die Vögel 1921 unter Bruno Walter folgten in München allein fünfzig weitere Vorstellungen mit zusätzlichen Inszenierungen in Berlin, Wien und Köln. Bruno Walter dirigierte auch Braunfels elektrisierendes Te Deum (1922), das an die einhundert Mal aufgeführt wurde.

Walter Braunfels
Aber mit dem Jahr 1933 war auch seine Karriere beendet. Als sogenannter »Halbjude« wurde Braunfels, obwohl praktizierender Katholik, seines Amtes an der Musikhochschule enthoben. Statt zu emigrieren, traf er die gefährliche Entscheidung, in Deutschland zu bleiben, wo er im Herbst 1937 in die Nähe des idyllischen Überlingen am Bodensee zog. In den nachfolgenden Jahren waren öffentliche Aufführungen seiner Werke verboten. Wie so viele vom Naziregime als »Voll-«, »Halb-« oder »Vierteljuden« rassistisch kategorisierte Menschen fühlte sich Braunfels durch die Verbundenheit zu seiner Heimat in Deutschland festgehalten und von der Vorstellung, sich im Ausland neu etablieren zu müssen, überfordert. Glücklicherweise hatte er ausreichende finanzielle Mittel, um sich über Wasser halten zu können. Völlig ausgeschlossen vom Berufsleben, zog er sich in die innere Emigration zurück. Braunfels flüchtete sich in die Fertigstellung seiner Oper Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna und widmete sich zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben auch der Kammermusik: 1944 komponierte er zwei Streichquartette und 1945 das Streichquintett in fis-moll op. 63. Ein drittes Streichquartett entstand 1947.

Von Beziehungen zum Naziregime unbelastet wurde Braunfels 1946 zum Direktor der Kölner Musikhochschule wiederberufen. Dennoch ist er nach seinem Tod 1954 fast völlig in Vergessenheit geraten. Erst in den letzten zehn Jahren ist das Interesse an seinem Werk wiedererwacht, insbesondere auch durch erwähnenswerte Aufführungen und Aufnahmen der Oper Die Vögel und des Te Deum. Sein Streichquintett hingegen ist bisher übersehen worden, und so ist diese Aufnahme die Ersteinspielung des Werkes. Ekstatisch-lyrischer Gefühlsausdruck, harmonische Opulenz und konzentrierte musikalische Entwicklungen wiegen die enorme praktische Komplexität des Werkes, das eine zentrale Stellung innerhalb der Kammermusikliteratur verdient, mehr als auf.

Nach dem Krieg entstand verständlicherweise das Bedürfnis, von den Nazis verbotene Musik zu fördern. Die Gründung der Darmstädter Schule, die Förderung ihrer Komponisten und Anhänger und die allmähliche Vorherrschaft der Avantgarde, insbesondere in den Hochschulen, führten dazu, dass die Komponisten, die eher traditionelle Wege gegangen waren, als reaktionär angesehen wurden. Zu den stilistischen Einflüssen auf Braunfels zählen Strauss, Pfitzner, Bruckner, Wagner und Beethoven; Busch ist von Reger, Brahms und Bach beeinflusst. So empörend es auch heute erscheinen mag, der sicherste Weg, diese Komponisten zu verunglimpfen, war in jener Zeit, sie mit dem musikalischen Konservatismus der Nazis zu assoziieren und ihnen damit ein künstlerisches und implizit auch politisches Sympathisantentum zu unterstellen. Die »Neue Musik«, welche die Nazis mit größter Wahrscheinlichkeit als »entartet« bezeichnet hätten (so die Werke von Leibowitz, Nono, Stockhausen und Boulez), definierte ihre Komponisten hingegen unabhängig von deren tatsächlicher politischer Einstellung als ihrem Wesen nach wertvoll. Mit der Zeit verebbte der Streit zwischen den musikalisch und ästethisch entgegengesetzten Lagern. Eine Verständigung ist gefunden worden, die den Wert des Werks an sich in den Vordergrund treten lässt. Das neu erwachte Interesse für die beiden bedeutenden Streicher-Kompositionen von Adolf Busch und Walter Braunfels bezeugt diesen Prozess.

Quelle: Simon Wynberg, im Booklet (Übersetzung: Helmut Reichenbächer)

Track 8: Walter Braunfels: Streichquintett op. 63 - IV. Finale - Rondo




TRACKLIST

TWO ROADS TO EXILE
Adolf Busch / String Sextet
Walter Braunfels / String Quintet
ARC ENSEMBLE
(Artists of The Royal Conservatory)

ADOLF BUSCH (1891-1952)

STRING SEXTET IN G MAJOR, OP. 40
1 Allegro 9:51
2 Molto adagio e cantabile 6:38
3 Presto 3:25
4 Allegro con. spirito 5:37

Marie Bérard & Benjamin Bowman violins
Steven Dann & Carolyn Blackwell violas
Bryan Epperson & David Hetherington cellos

WALTER BRAUNFELS (1882-1954)

STRING QUINTET IN F-SHARP MINOR, OP. 63
5 Allegro 13:41
6 Adagio 11:42
7 Scherzo 6:25
8 Finale - Rondo 8:10

Benjamin Bowman & Marie Bérard violins
Steven Dann viola
Bryan Epperson & David Hetherington cellos

Total Running Time: 66:02

Recorded in Koerner Hall, The Royal Conservatory, Toronto,
November 16-18, 2009
Executive Producer/Artistic Director, ARC: Simon Wynberg
Producer: David Frost - Recording Engineer: Carl Talbot
Mixing Engineer: Tom Lazarus - Mastering: Silas Brown

Cover picture: "Neanderthal Motorway Bridge", c.1938, August Sander
August Sander (1876-1964) worked in Cologne for much of his life.
When the Nazis banned his portraits during the 1930s,
he turned to nature and architecture for his photographic subjects.

(c)+(p) 2010

Der Anzug und die Photographie
August Sander: Jungbauern, Westerwald. 1914

Was hat August Sander den Leuten gesagt, bevor er Aufnahmen von ihnen machte? Und wie drückte er sich aus, daß sie ihm alle in gleicher Weise glaubten? Jeder von ihnen blickt mit dem gleichen Ausdruck in den Augen auf die Kamera. Soweit Unterschiede bestehen, ergeben sie sich aus Erfahrung und Charakter des Betreffenden - der Priester hat ein anderes Leben geführt als der Tapezierer; aber für sie alle stellt Sanders Kamera den gleichen Gegenstand dar.

Sagte er einfach, ihre Photographien würden ein dokumentiertes Teilstück der Geschichte sein? Und benutzte er den Begriff »Geschichte« so, daß ihre Eitelkeit und Scheu wegfielen, daß sie in das Objektiv blickten, und sich - eine seltsame historische Zeitform benutzend - sagten: So sah ich aus? Wir können es nicht wissen. Wir können nur die Einmaligkeit seines Werkes anerkennen, das er unter dem Gesamttitel »Menschen des Zwanzigsten Jahrhunderts« zu veröffentlichen plante.

Sein eigentliches Ziel bestand darin, in der Gegend von Köln, wo er 1876 geboren worden war, archetypische Repräsentanten für jeden möglichen Typus, jede soziale Klasse, jede Unterklasse, jede Beschäftigung, jede Berufung und jedes Privileg zu finden. Er wollte alles in allem 600 Portraitaufnahmen machen. Das Projekt wurde durch Hitlers Drittes Reich vorzeitig abgebrochen.

Sein Sohn Erich, ein Sozialist und Antinazi, wurde in ein Konzentrationslager verschickt, wo er starb; der Vater versteckte seine Archive auf dem Land. Was heute geblieben ist, ist ein außerordentliches soziales und menschliches Dokument. Kein anderer Photograph, der Portraitaufnahmen seiner eigenen Landsleute machte, hat je auf so klare Weise dokumentarisch gearbeitet.

Walter Benjamin schrieb 1931 über die Arbeit von Sander: »Der Autor ist an diese ungeheure Aufgabe nicht als Gelehrter herangetreten, nicht von Rassentheoretikern oder Sozialforschern beraten, sondern, wie der Verlag sagt, 'aus der unmittelbaren Beobachtung'. Sie ist bestimmt eine sehr vorurteilslose, ja kühne, zugleich aber auch zarte gewesen, nämlich im Sinne des Goetheschen Wortes: 'Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird.' Demnach ist es ganz in der Ordnung, daß ein Betrachter wie Döblin gerade auf die wissenschaftlichen Momente in diesem Werk gestoßen ist und bcmerkt: 'Wie es eine vergleichende Anatomie gibt, aus der man erst zu einer Auffassung der Natur und der Geschichte der Organe kommt, so hat dieser Photograph vergleichende Photographie getrieben und hat damit einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb des Detailphotographen gewonnen.' Es wäre ein Jammer, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse die weitere Veröffentlichung dieses außerordentlichen corpus verhinderten. (...) Sanders Werk ist mehr als ein Bildbuch: ein Übungsatlas.«

Im forschenden Sinne von Benjamins Bemerkungen will ich Sanders bekannte Photographie von drei jungen Bauern untersuchen, die am Abend auf der Straße unterwegs zum Tanz sind. Es gibt soviel beschreibende Information in diesem Bild wie im Werk von Zola, einem Meister der Beschreibung. Doch will ich nur eine Sache betrachten: ihre Anzüge.

August Sander: Jungbauern. 1926
Es ist 1914. Die drei jungen Männer gehören, bestenfalls, der zweiten Generation an, die in Europa auf dem Land je solche Anzüge trug. Zwanzig oder dreißig Jahre früher gab es solche Kleidung nicht zu Preisen, die Bauern sich hätten leisten können. Bei den Jungen von heute sind steife dunkle Anzüge seltener geworden, zumindest in den Dörfern Westeuropas. Aber in einem Gutteil dieses Jahrhunderts trugen die meisten Bauern - und die meisten Arbeiter - bei feierlichen Gelegenheiten, an Sonn- und Festtagen einen dunklen, dreiteiligen Anzug.

Wenn ich im Dorf, in dem ich wohne, zu einem Begräbnis gehe, haben ihn die Männer meines Alters und Ältere immer noch an. Natürlich gab es modische Veränderungen: Die Weite der Hosen und Aufschläge, die Länge der Jacken ändern sich. Aber äußeres Erscheinungsbild und Aussage ändern sich nicht.

Betrachten wir zunächst die äußere Erscheinung. Oder, genauer, die äußere Erscheinung, wenn der Anzug von Dorfbauern getragen wird. Und um die Verallgemeinerung überzeugender zu gestalten, sehen wir uns eine zweite Photographie an, von Dorfmusikanten.

Sander machte dieses Gruppenportrait 1913. Es hätte sich dabei sehr wohl um die Musikanten des Tanzabends handeln können, zu dem die drei mit ihren Spazierstöcken unterwegs sind. Jetzt mache man ein Experiment: Man decke die Gesichter der Musikergruppe mit einem Stück Papier ab und betrachte nur ihre bekleideten Körper.

Auch wenn man seine Phantasie noch so sehr bemüht, man wird nicht auf die Idee kommen können, daß diese Körper zur Mittel- und Oberklasse gehören. Vielleicht daß sie eher Arbeitern als Bauern gehören; aber sonst ist man sich seiner Sache sicher. Auch die Hände geben keinen Anhaltspunkt - man kann sie ja nicht berühren. Warum also ist die Klassenzugehörigkeit so deutlich sichtbar?

Ist es eine Frage der Mode und der Stoffqualität? Im wirklichen Leben wären solche Einzelheiten bezeichnend. Auf einer kleinen Schwarzweißphotographie sind sie kaum zu erkennen. Doch die statische Photographie zeigt, vielleicht auffälliger als im Leben, die entscheidende Ursache dafür, daß ein Anzug die soziale Klasse seines Trägers nicht verdeckt, sondern, im Gegenteil, unterstreicht und betont.

Ihr Anzug entstellt sie. Sie sehen darin aus, als seien sie körperlich mißgestaltet. Nun sieht ein vergangener Kleidungsstil oft so lange absurd aus, bis er wieder in die Mode integriert wird. Und in der Tat beruht die ökonomische Logik der Mode darauf, das Altmodische absurd wirken zu lassen. Aber hier werden wir nicht in erster Linie mit dieser Art von Absurdität konfrontiert; hier wirken die Kleider weniger absurd, weniger »abnorm«, als die Körper der Männer, die in ihnen stecken.

Die Musiker sehen aus, als wären sie schlecht zusammengesetzt, mit krummen Beinen, tonnenformigen Brustkästen, zu tief hinabgezogenem Hintern, verdreht oder verwinkelt. Man könnte fast meinen, der Geigenspieler rechts sei ein Zwerg. Ihre Abnormitäten sind nirgendwo extrem. Sie erwecken kein Mitleid. Sie reichen gerade aus, um der körperlichen Würde Abbruch zu tun. Wir sehen auf Körper, die plump, ungeschlacht, tierisch-derb erscheinen. Ohne daß man dies irgendwie ändern könnte.

Jetzt mache man das umgekehrte Experiment. Man bedecke die Körper der Musikanten und sehe nur ihre Gesichter an. Es sind Gesichter vom Lande. Niemand könnte auf die Vermutung kommen, es handle sich bei diesen Leuten um eine Gruppe von Rechtsanwälten oder Aufsichtsräten. Es sind fünf Männer aus einem Dorf, die gerne Musik machen, und das mit einer gewissen Selbstachtung tun. Wenn wir die Gesichter betrachten, können wir uns vorstellen, wie die Körper auszusehen hätten. Und was wir uns vorstellen, ist ziemlich anders als das, was wir gerade gesehen haben. Wir stellen sie uns so vor, wie etwa ihre Eltern sich vielleicht an sie erinnern würden, wenn sie abwesend sind. Wir gestehen ihnen die normale Würde zu, die sie besitzen.

August Sander: Bauernkapelle. 1913
Um deutlicher zu machen, um was es geht, wenden wir uns nun einem Bild zu, in dem Herrenanzüge die körperliche Identität und damit die natürliche Autorität der Leute, die sie tragen, nicht deformieren, sondern erhalten. Ich habe mit Absicht eine Photographie von Sander gewählt, die altmodisch aussieht und sich ohne weiteres zur Parodie eignen würde: die Photographie von vier protestantischen Missionaren aus dem Jahre 1931.

Obwohl sie sich so gewichtig geben, kann man auf das Experiment mit den abgedeckten Gesichtern verzichten. Es ist klar, daß die Anzüge hier wirklich die körperliche Präsenz der Leute, die sie tragen, unterstreichen und verstärken. Die Kleider vermitteln denselben Eindruck wie die Gesichter und die Geschichte der Körper, die sie bedecken. Anzug, Erfahrung, soziale Formation und Funktion sind eins.

Sehen wir uns jetzt nach den dreien auf ihrem Weg zum Tanzabend um. Ihre Hände wirken zu groß, ihre Körper zu dünn, ihre Beine zu kurz. (Sie halten ihre Spazierstöcke, wie wenn sie Vieh treiben würden.) Wir können das Experiment mit den Gesichtern wiederholen, und das Ergebnis ist genau dasselbe wie bei den Musikanten. Nur ihre Hüte können sie so tragen, als ob sie zu ihnen paßten.

Wohin führt uns das? Nur zu der Schlußfolgerung, daß Bauern keine guten Anzüge kaufen können und nicht wissen, wie man sie trägt? Nein, hier geht es um ein bezeichnendes, wenn auch kleines Beispiel (vielleicht das bezeichnendste überhaupt) für das, was Gramsci »Klassen-Hegemonie« nannte. Sehen wir uns die Widersprüche, die dabei eine Rolle spielen, genauer an.

Die meisten Bauern sind, wenn sie nicht an Unterernährung leiden, körperlich stark und kräftig gebaut. Kräftig gebaut wegen der vielfältigen schweren körperlichen Arbeit, die sie leisten. Es wäre zu einfach, eine Liste körperlicher Merkmale aufzustellen - breite Hände, da man schon von klein auf mit ihnen arbeitet, im Verhältnis zum Körper breite Schultern, weil man gewohnt ist, Lasten zu tragen, und so weiter. Tatsächlich gibt es daneben viele Abweichungen und Ausnahmen, aber man kann von einem bestimmten körperlichen Rhythmus sprechen, den sich die meisten Bauern, Frauen wie Männer, aneignen.

Dieser Rhythmus hängt direkt mit der Energie zusammen, die man aufbringen muß, um die an einem Tag anfallende Arbeit zu leisten, und er drückt sich in typischen Körperbewegungen und einer bestimmten Haltung aus. Es ist ein weit ausholender Rhythmus. Nicht unbedingt langsam. Die traditionellen Tätigkeiten des Mähens mit der Sense oder des Sägens können als Beispiel dienen. Er wird deutlich in der Art und Weise, wie Bauern auf Pferden reiten, oder wie sie gehen; so, als ob sie die Erde mit jedem Schritt prüfen wollten. Zusätzlich besitzen Bauern eine spezielle körperliche Würde: Sie beruht auf einer Art Funktionalismus, darauf, sich in der Anstrengung völlig heimisch zu fühlen.

Der Anzug, so wie wir ihn heute kennen, entwickelte sich im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in Europa zum professionellen Kostüm der herrschenden Klasse. Beinahe so anonym wie eine Uniform, war er das erste Kostüm, das eine ausschließlich ruhende Machtausübung idealisieren sollte: die Macht des Administrators und des Konferenztisches. Der Anzug war im wesentlichen für die Gesten des Sprechens und des abstrakten Kalkulierens gemacht. (Im Unterschied zu früheren Oberklassen-Kostümen, die den Gesten des Reitens, Jagens, Tanzens und Fechtens entsprachen.)

August Sander: Missionare der Evangelischen
Kirche Köln. 1931
Es war der englische Gentleman - ganz im Sinne des neu entstandenen Klischees der demonstrativen Zurückhaltung -, der den Anzug lancierte. Er war ein Kleidungsstück, das kräftige Bewegungen hemmte, ja, das von Bewegung eher zerknittert, verbeult und verdorben wurde. »Pferde schwitzen, Männer transpirieren und Frauen glühen.« Um die Jahrhundertwende, und mehr noch nach dem Ersten Weltkrieg, wurde der Anzug ein Massenprodukt für städtische und ländliche Märkte.

Der materielle Gegensatz ist offensichtlich. Einerseits Körper, die in der Anstrengung völlig heimisch sind, Körper, die an weit ausholende Bewegungen gewöhnt sind; andererseits Kleider, die das Ruhende idealisieren, das Diskrete, das Mühelose. Ich will hier keineswegs für einen Rückgriff auf das traditionelle Bauerngewand plädieren. Jeder derartige Rückgriff muß eskapistisch bleiben, denn solche Gewänder stellten einmal eine Form von Kapital dar, das von Generation zu Generation weitergereicht wurde, und in der Welt von heute, wo jeder Winkel vom Markt beherrscht wird, ist ein solches Prinzip anachronistisch.

Wir können jedoch sehen, wie die traditionelle bäuerliche Arbeits- und Festtagskleidung die besondere Eigenart der Körper, die sie bekleidete, respektierte. Sie war im allgemeinen lose, und eng nur da, wo sie gerafft war, um freiere Bewegungen zu ermöglichen. Sie war das Gegenteil von Herrenanzügen, von Kleidern, die so zugeschnitten sind, daß sie der idealisierten Form eines mehr oder weniger unbeweglichen Körpers folgen und von ihm herunterhängen.

Und doch hat niemand die Bauern dazu gezwungen, diese Kleidungsstücke zu kaufen, und die drei auf ihrem Weg zum Tanz sind offensichtlich stolz auf ihre Anzüge. Sie tragen sie mit einem gewissen Schneid. Dies ist genau der Grund dafür, daß der Anzug vielleicht ein klassisches und leicht zu vermittelndes Beispiel für Klassen-Hegemonie werden könnte.

Dorfbewohner - und, in anderer Weise, städtische Arbeiter - wurden dazu überredet, sich für Anzüge zu entscheiden. Durch Publicity. Durch Bilder. Durch die neuen Massenmedien. Durch Handelsvertreter. Durch Vorbilder. Dadurch, daß sie eine neue Art von Reisenden zu Gesicht bekamen. Und auch durch die politische Entwicklung der allgemeinen Angleichung und der staatlichen Zentralorganisation. Ein Beispiel: Im Jahr 1900, anläßlich der großen Weltausstellung, wurden alle Bürgermeister von Frankreich zum erstenmal zu einem Bankett nach Paris eingeladen. Die meisten von ihnen waren bäuerliche Bürgermeister aus Dorfgemeinschaften. Fast 30 000 kamen! Und natürlich trug die große Mehrheit bei dieser Gelegenheit Anzüge.

Die arbeitenden Klassen - Bauern waren in dieser Beziehung einfacher und naiver als Arbeiter - akzeptierten schließlich bestimmte Normen der herrschenden Klasse als die ihren. Hier waren es die Normen des Chic und des Gutangezogenseins. Aber gerade daß sie diese Normen akzeptierten, daß sie Normen zu entsprechen versuchten, die weder mit ihrem eigenen Erbe noch mit ihrer täglichen Erfahrung das geringste zu tun hatten, gerade das verdammte sie dazu, innerhalb dieses Normsystems stets - und für die ihnen übergeordneten Klassen deutlich erkennbar - zweitklassig, plump, ungeschlacht, defensiv zu sein. Das heißt in der Tat, sich einer kulturellen Hegemonie beugen.

Vielleicht kann man sich trotzdem folgendes vorstellen: Als die drei angekommen waren, ein Bier oder zwei getrunken und die Mädchen (deren Kleider noch nicht so drastisch verändert waren) begutachtet hatten, zogen sie ihre Jacken und ihre Krawatten aus und tanzten, die Hüte vielleicht noch auf dem Kopf, bis zum nächsten Morgen und der Arbeit des nächsten Tages.

Quelle: John Berger: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin, 1989, ISBN 3 8031 1114 5, Seite 36-44

CD Info & Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 55 MB
Filepost --- Hotfile --- Depositfiles --- EmbedUpload
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files

Bohuslav Martinů in Paris, Frühling 1932

$
0
0
Bohuslav Martinů hinterläßt eine bunte Fülle von kammermusikalischen Werken, die in ihrer leuchtenden Transparenz zwar anspruchslos zu sein scheinen, deren tiefere Bedeutung aber - ähnliches kommt auch bei Mozart manchmal vor - sich nur dem erschließt, der sich längere Zeit mit der Kommunikations- und Kompositionsweise des Musikers befaßt. Martinůs Herkunft (er wurde 1890 geboren), seine frühe Kindheit, die er an der tschechisch-mährischen Grenze im Dörfchen Polička verbrachte, sein Zuhause als Sohn eines Mesners 35 Meter über dem Marktplatz im Turm bzw. Wachtturm der Dorfkirche haben ihn zu sehr persönlichen Lebensansichten geführt:

»Nicht das, was die Leute unmittelbar berührte, ihre Sorgen, Freuden und Kummer konnte ich aus dieser Entfernung - besser gesagt aus dieser Höhe -wahrnehmen; es war viel eher die Weite, die grenzenlose Weite, die sich immer zu meinen Füßen und bis zum Horizont hin erstreckte. Diese habe ich in meiner Musik immer auszudrücken versucht. Die Weite und die Natur, nicht etwa die Tätigkeit der Menschen!«

Dank einem Stipendium konnte sich Martinů am Prager Konservatorium einschreiben. Sein Studium, zunächst in der Violinklasse, dann in der Orgelklasse verlief nicht gerade glänzend. Er wurde schließlich wegen unheilbarer Faulheit von der Anstalt verwiesen. Später wird er sich folgendermaßen dazu äußern:

»Das Lernen um des Lernens willen lag mir überhaupt nicht. Ich mußte die Dinge selbst entdecken, ich mußte sie selbst fühlen. Im Kontrapunktunterricht habe ich nie wirklich begreifen können, was erlaubt war, und was nicht.«

Eine Vertretung als zweiter Geiger der Tschechischen Philharmonie gab ihm Gelegenheit, Ravels Musik zu entdecken: Die französische Musik wurde ihm zum entscheidenden Erlebnis. Debussy entdeckte er anläßlich einer Aufführung von Pelléas und Mélisande. 1922 hospitiert Martinů erfolglos in der von Josef Suk geleiteten Kompositionsklasse. Ein Jahr später begibt er sich nach Paris, um dort sein Glück zu versuchen. Bei der Verwaltung der Philharmonie bittet er nur um unbesoldeten Urlaub. Er wird in Wirklichkeit niemals nach Prag zurückkehren.
Bohuslav Martinu in der rue Delambre, Paris,
 1932. Fotograf: Silvestr Hippmann,
Tschechisches Musikmuseum, Prag

Bohuš sucht ohne langes Besinnen Albert Roussel auf, der ihn als Privatschüler annimmt. Martinů entdeckt nun Strawinsky und die Gruppe der Sechs. Zum jungen Mitglied der Pariser Schule geworden, paßt er sich mühelos an das Kulturleben der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen an. Er verkehrt lieber in den Künstlerkreisen des avantgardistischen Theaters oder in Malerkreisen als in Musikerkreisen, interessiert sich für alles Neue, sei es in der Filmkunst oder im Rundfunk. Das Manuskript eines neuen Stückes zu verschenken ist ihm oft ein geeignetes Mittel, um sich bei Gastgebern zu bedanken oder jemanden günstig zu stimmen. Seine Produktion zeigt bereits deutlich eine vierfache Beeinflussung: durch die tschechisch-mährische Volksmusik, durch die modale Harmonik und die postdebussysche Technik der Durchführung mittels einer Reihe kurzer Motive, durch das englische Renaissance-Madrigal im Bereich des Kontrapunkts, schließlich durch das unablässige Suchen nach möglichen Übertragungen in die moderne Musik der ursprünglichen Form desconcerto grosso.

Im Sommer 1931 beginnt Martinů eine Sonate für Violine und Klavier, eine lichtvolle und kurze Komposition, die er Hortense de Sampigny-Bailly widmen will. Insbesondere das Allegro moderato, das an die Sonate Nr. 2 op. 28 von Albert Roussel erinnert, kann als eine diskrete Huldigung des Komponisten an seinen früheren Lehrer und jetzigen Freund angesehen werden. Der Mittelsatz Larghetto klingt an Smetanas Aus der Heimat an, während der knappe Schlußsatz Poco allegretto mit seinen eleganten punktierten Rhythmen einem stilisierten Rondo ähnlich ist. Dieses kurze Stück wurde im April 1932 im Rahmen der Concerts du Triton uraufgeführt.

Špaliček ist die Verkleinerungsform von špalek. Dieses Wort bedeutet Holzklotz, oder gar Baumstumpf, wie aus der volkstümlichen Redensart »spáti jako špalek« (schlafen wie ein Klotz) erhellt. Im übertragenen Sinne bedeutet špaliček ein dickes Buch, einen Almanach, bzw. »Das tschechische Jahrbuch«, das von den Hausierern verkauft wurde, die zur Zeit der Doppelmonarchie, der drei Jahrhunderte währenden österreichisch-ungarischen Herrschaft, durch die böhmischen Lande zogen. Špaliček ist ebenfalls der Titel einer herrlichen Sammlung von Texten und von Zeichnungen, die volkstümliche Sprüche, Sprichwörter, Volksmärchen und Volkslieder illustrieren. Diese Sammlung wurde von Mikolaš Aleš (1852-1913) herausgegeben. Unter demselben Titel entsteht ab Januar 1931 eine Kantate mit großem Orchester, die ursprünglich von der Legende der Heiligen Dorothea ausgeht. Nach seiner Rückkehr nach Polička, die im Herbst stattfindet, setzt Martinů seine Arbeit fort und entlehnt den Stoff zu seiner bunten Folge von volkstümlichen Spielen, Liedern und Beschwörungsformeln entweder aus berühmten Märchen (Aschenputtel, Der gestiefelte Kater, Der Wassermann, Der kleine Wolf …) oder aus spezifisch tschechischen Märchen (Die sieben Raben, Der Wunderranzen). Dieser zweite Teil wurde in seiner ursprünglichen Ballettfassung für gemischten Chor, Kinderchor, Solisten und Kammerorchester geschrieben und am 1. Februar 1932 vollendet. Bohuš macht davon einen Klavierauszug und nimmt zwei Tänze heraus, die die Erzählung Aschenputtel beleben: einen Ritornell-Walzer und eine Hochzeitspolka. Beide Stücke sind von schlichter und zeitloser Schönheit, zwei Miniaturwerke, die erst 1950 im Orbis-Verlag (Prag) veröffentlicht wurden.

Bohuslav Martinu, Paris, Juni 1932. Fotograf:
Silvestr Hippmann. Archiv: CBM Policka
Mitte Januar schreibt Martinů in wenigen Tagen eine Sonate für zwei Violinen und Klavier, die er den »Mozart Sonata Players: Mary Ramsay und Betty Lindsay« zugedacht hat. Es handelt sich um ein neuklassizistisches Werk, das an Händels Triosonate anknüpft und einer strahlenden Kirchensonate nähersteht als den kürzlich von Strawinsky wiederbelebten italienischen Modellen (Pergolesi). Anfang Februar komponiert Martinů Zwei Lieder für Altstimme, die er Magdalena Matejovská widmet. Das erste Lied »Chorý Podzim« ist eine Vertonung des Gedichts Guillaume Apollinaires»L'automne malade« in einer Übertragung von Blanka Patková; das zweite Lied, betitelt »Květ broskvi« (Pfirsichbaumblüte), ist eine Wiederaufnahme des zweiten Liedes aus Zaubernächte(Kouzelné noci H 119, vom November 1918) . Hier wird ein chinesischer Text vertont.

In der Zeit von Mitte Februar bis Anfang April entstehen vier kurze Serenaden. Sie stellen gleichsam die geläuterte Form der A. Roussel gewidmeten Serenade für Kammerorchester (H 199) dar, die am 16. April 1931 von Walter Straram in Paris uraufgeführt wurde. Die Serenade Nr.4, die als Divertimento bezeichnet wird (H 215), wird der Pariser »Société d'Etudes mozartiennes« gewidmet. Die Serenade Nr.2 für zwei Violinen und Bratsche reiht mühelos verschiedenartige Sätze aneinander: das erste Allegro ist eine Huldigung an Mozart. Das Poco andante, das den beschwingten Charakter und den melodischen Einfallsreichtum der Musik Dvořáks besitzt, erinnert an das Larghetto aus dessen Terzett op.74, während der 3. Satz Allegro con brio von Strawinskys klassizistischem Stil beeinflußt ist.

Das Ende des Monats April wird zum größten Teil von einer ungleich anspruchsvolleren Komposition in Anspruch genommen: Martinů schreibt eine Konzertante Sinfonie für zwei Orchester, die er Serge Kussewitzki zueignet. Sie wird 1953 überarbeitet, erscheint dann im Schott-Verlag und wird 1955 von Paul Sacher in Basel uraufgeführt.

Bohuslav Martinu, Vieux Moulin, August 1937
 Archiv: CBM Policka
Ende Mai 1932, in der Zeit vom 20. bis zum 27., schreibt Bohuš ganz unvermittelt sein Streichsextett, dessen Manuskript noch rechtzeitig eingereicht wird und dem Komponisten erlaubt, den Elisabeth Sprague Coolidge-Preis (1000 Dollar) zu erhalten. Dieses Werk weist eine bewundernswerte Ausgewogenheit und Symmetrie auf. Das Hauptstück ist dessen melodiöser Mittelsatz, ein Andantino, an welches sich das kurze, lebhafte Scherzo (Allegretto scherzando im 3/8-Takt) unmittelbar anschließt. Zwei Diptychen rahmen den Mittelsatz ein: das erste besteht aus einem einleitenden Lento, auf welches ein Allegro poco moderato folgt, dem das enge Zusammenspiel kurzer Motive einen dynamischen, sich stets wandelnden Charakter verleiht; das zweite besteht aus einem lebhaft geführten Allegretto poco moderato, das der heiteren, durchsicbtigen musikalischen Sprache Martinůs gleichsam neuen Schwung gibt, und einer besänftigten Koda von großer harmonischer Schlichtheit.

Martinů muß dann noch einen Auftrag des Schottverlags ausführen, und zwar zwei Zyklen von kurzen Klavierstücken: die dazugehörenden fünf Tanzskizzen(Taneční črty H 220) werden Ende Mai vollendet. Im November werden die sechs Ritornelle vollendet. Fünf darunter, die im langsamen Tempo geschrieben sind, gleichen Miniaturbildern und huldigen sowohl Debussy als auch Janáček; das sechste, Allegro vivo, stellt gleichsam eine geistvolle Pirouette dar und markiert das Austreten aus der impressionistischen und feenhaften Welt der ersten Stücke. Bohuslav Martinů, der ewige Wanderer, der kuckucksartige Schmarotzer, der sich gerne bei anderen einnistet, wie zum Beispiel im Montparnasse-Viertel bei Nebeskys (rue Delambre), richtet sich im Herbst zum erstenmal in einem eigenen Studio in der rue de Vanves ein. Seine Wohnung befindet sich in einem sonst Kunstmalern vorbehaltenen Komplex aus Holzbungalows. Hier bleibt er in engem Kontakt mit seinen avantgardistischen Freunden, in erster Linie den Malern Stána, Zrzavý, Tichý … dann auch mit den Schriftstellern Vítězslav Nezval, Karel Čapek oder mit den Schauspieler-Chansonniers und Conferenciers des »Befreiten Theaters«Voskovec und Werich.

Wegen der im Frühling 1932 erblühten Meisterwerke wird Bohuslav Martinů als der originellste tschechische Komponist der Pariser Schule angesehen. Die Pariser Atmosphäre hat ihm ermöglicht, die Modernität des Stils mit dem böhmischen Erbe zu verbinden, mit den geistigen Wurzeln, die er in seiner Kindheit findet … und bei Mozart.

Quelle: Pierre E. Barbier: im Booklet [Deutsche Fassung: Jean Isler]

Track 22: Streichsextett H 224, II. Andantino



TRACKLIST

BOHUSLAV MARTINU (1890-1959)

PARIS, SPRING OF 1932

Two Dances for piano, from the ballet Spalicek
Zwei Tänze für Klavier, nach dem Ballett Spalicek
Deux Danses pour piano, tirées du ballet Spalicek H 214 C 07:53
01. Waltz / Walzer / Valse - Allegro moderato 05:44
02. Polka - Moderato 02:00

Sonata no. 2 for violin and piano
Violinsonate Nr. 2
Sonate pour violon et piano no 2 H 208 13:24
03. I. Allegro moderato 04:30
04. II. Larghetto 04:13
05. III. Poco allegretto 03:26

Ritournelles - Six Pieces for piano
Sechs Klavierstücke
Six Pièces pour piano H 227 10:43
06. I. Andante. Poco allegro 01:25
07. II. Andante moderato 01:42
08. III. Intermezzo I. Andantino 01:42
09. IV. Andante. Poco allegro 01:41
10. V. Intermezzo II. Andante 02:24
11. VI. Allegro vivo 01:27

Sonata for two violins and piano
Sonate für zwei Violinen
Sonata pour deux violons et piano H 213 13:31
12. I. Allegro poco moderato 04:37
13. II. Andante 05:01
14. III. Allegretto 00:24
15. IV. Allegro 03:09

Two Songs / Zwei Lieder / Deux chansons pour contralto et piano 07:16
16. I. Chorý podzim (L'Automne malade, de Guillaume Apollinaire) 04:16
17. II. Kvet broskvi (Fleur du pêcher) 02:46

Serenade no. 2 for two violins and viola
Serenade Nr. 2 für zwei Violinen und Bratsche
Sérénade no. 2 pour deux violons et alto H 216 06:58
18. I. Allegro 01:45
19. II. Poco andante 02:54
20. III. Allegro con brio 02:09

String Sextet / Streichsextett / Sextuor a cordes H 224 17:23
21. I. Lento - Allegro poco moderato 06:49
22. II. Andantino 06:16
23. III. Allegretto poco moderato 04:08

TOTAL PLAYING TIME: 77:33

KOCIAN QUARTET:
Pavel Húla, violin (3-5, 12-15, 18-23)
Jan Odstrcil, violin (18-23)
Zbynek Padourek, viola (18-23)
Václav Bernásek, cello (21-23)

PRAZAK QUARTET members:
Josef Klusón, viola (21-23)
Michal Kanka, cello (21-23)

Olga Svobodová, mezzo soprano (16-17)
Boris Krajný, piano (3-17)
Daniel Wiesner, piano (1-2)

DDD
Studio Recordings, Prague, February 17-26, 1997
Recording Producer: Zdenek Zahradník - Balance Engineer: Tomás Zikmund
(C) 1997, (P) 1998

Eine neue Erklärung der Menschenrechte

Max Ernst: Das Rendezvous der Freund, 1922, Öl auf Leinwand, 130 x 195 cm, Köln, Museum Ludwig
Dargestellte Personen: 1. René Crevel, 2. Philippe Soupault, 3. Hans Arp, 4. Max Ernst, 5. Max Morise, 6. Fjodor Dostojewski, 7. Rafael Sanzio, 8. Théodore Fraenkel, 9. Paul Eluard, 10. Jean Paulhan, 11. Benjamin Péret, 12. Louis Aragon, 13. André Breton, 14. Johannes Theodor Baargeld, 15. Giorgio de Chirico, 16. Gala Eluard, 17. Robert Desnos
Was ist Surrealismus? Bei dem Versuch einer Definition greift André Breton 1924 im "Ersten Manifest des Surrealismus" zu einer dem Stil von Lexika und Wörterbüchern angeglichenen Formulierung:

"SURREALISMUS, Subst., m. - Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.

ENZYKLOPÄDIE. Philosophie. Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen. Zum absoluten Surrealismus haben sich bekannt: Aragon, Baron, Boiffard, Breton, Carrive, Crevel, Delteil, Desnos, Eluard, Gérard, Limbour, Malkine, Morise, Naville, Noll, Péret, Picon, Soupault, Vitrac."

Mit diesem pseudowissenschaftlichen Textelement ergänzt Breton sein stilistisch immer wieder gebrochenes, jeder logischen Gliederung widerstrebendes "Erstes Manifest des Surrealismus" durch eine weitere Stilvariante, durch ein neues Schlaglicht auf die Kunstform, die er als "Surrealismus" vorstellt.

Liest man den Namen derer, die nach Breton den "absouten Surrealismus" repräsentieren, so gewinnt man den Eindruck, es handele sich hier um eine rein literarische Bewegung, jedoch gewährt Breton in Form einer Fußnote auch den bildenden Künstlern Einlass in diese neue, der Kunst erschlossenen Domäne. Einige von ihnen, nämlich Uccello, Seurat, Moreau, Matisse, Derain, Picasso, Braque, Duchamp, Picabia, de Chirico, Klee, Man Ray, Ernst, Masson, nimmt er in die Gruppe derjenigen auf, die - ohne die "surrealistische Stimme" je gehört zu haben - in irgendeiner Weise dennoch der neuen Bewegung nahe standen.


Man Ray: Büro für surrealistische Forschung
Die Mitglieder in den Räumen der "Surrealistischen Zentrale", Rue de Grenelle,
Paris, Dezember 1924. Von links nach rechts (stehend): Charles Baron,
 Raymond Queneau, Pierre Naville, André Breton, Jacques-André Boiffard,
Giorgio de Chirico, Paul Vitrac, Paul Eluard, Philippe Soupault, Robert Desnos,
 Louis Aragon; sitzend: Simone Breton, Max Morise, Marie-Louise Soupault
Erstaunlicherweise besinnt Breton sich nicht nur auf Zeitgenossen, sondern mit Uccello, Seurat oder Moreau zitiert er - ebenso wie im Bereich der Dichtung mit Dante, Hugo oder Chateaubriand auch Vertreter früherer Generationen, so, als sei der Surrealismus eine gedankliche Grundhaltung, die von jeher, über Jahrhunderte hinweg, bestanden habe. Die Auseinandersetzung mit den historischen Tatsachen verdeutlicht jedoch, dass - wenngleich es immer Künstler gegeben hat, deren Werke durch den Traum, durch Übersinnliches, Irrationales oder Absurdes inspiriert waren - der Surrealismus sich einem genaueren Verständnis nur erschließt, wenn man ihn als künstlerische Bewegung betrachtet, die an eine bestimmte Epoche, die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, gebunden ist.

Es war Guillaume Apollinaire, der 1917 den Begriff "Surrealismus" ins Leben rief. Er verwandte ihn zunächst im Programmheft zu Erik Saties Ballett "Parade", um dann sein eigenes Theaterstück, "Les Mamelles de Tirésias" als ein "surrealistisches Drama" zu bezeichnen.

Kritik an der saturierten Gesellschaft

Abgesehen von dieser zu datierenden Begriffsschöpfung, waren für die Entstehung der surrealistischen Bewegung zwei historische Tatsachen grundlegend.

Die Künstler, die sich zu Beginn der zwanziger Jahre in Paris zusammenfanden, teilten die tiefe Verachtung der bürgerlichen, materialistischen Gesellschaft, die ihrer Meinung nach nicht nur den Ersten Weltkrieg mit seinen furchtbaren Wirkungen und Folgen zu verantworten hatte, sondern, die, in der selbstzufriedenen Oberflächlichkeit ihrer Lebensführung, in ihrem Glauben an die Allmacht der technischen und naturwissenschaftlichen Errungenschaften, einer Degeneration zum Opfer gefallen war, der man nur noch durch eine revolutionäre, neue Anti-Kunst entgegentreten konnte. Gegen die Unumstößlichkeit anachronistischer Überzeugungen, auch und gerade in Bezug auf die Kunst, hatten sich schon die anarchistischen Aktionen der Dadaisten gewandt. Die Surrealisten schlossen an diese Bewegung an, allerdings mit dem Willen zu einem organisierteren, in gewissem Maße realitätsbezogeneren Vorgehen. André Breton, der im Laufe der folgenden zwei Jahrzehnte als Integrationsfigur und charismatischer Anführer die Kräfte bündeln und dirigieren sollte, schwebte eine Bewegung vor, die mit ihren Aktivitäten tatsächlich eine Veränderung anstrebte. Der Surrealismus sollte nicht nur Kunst und Dichtung erfassen, sondern er war zur "Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme" angetreten, wie es im "Ersten Manifest" hieß. Er sollte sich an alle richten, er sollte gesellschafts- und bewusstseinsverändernd wirken.

Zentral für dieses Konzept waren die Erkenntnisse Sigmund Freuds, den André Breton in einer den eigenen Zwecken dienlichen Art und Weise rezipierte. Er betrachtete die Erkenntnisse Freuds als eine zufällige Wiederentdeckung der Kräfte der Imagination und des Traums, die lange hinter der die Gegenwart beherrschenden rein rationalen Sichtweise verborgen gewesen seien und die laut Breton jetzt wieder zu ihrem Recht zu kommen schienen. Eine neue Strömung des Denkens sollte sich hieraus entwickeln, eine Perspektive, aus der heraus auch der Künstler sich der Kontrolle der Vernunft würde entziehen können. War es das Verdienst Sigmund Freuds, das Unterbewusstsein als Realität zu definieren und zu beschreiben, die unser Handeln und Denken beherrscht, so setzte Breton diese Einsicht in eine künstlerisch-literarische Methode um, die auf dem Unterbewusstsein oder der "Imagination" basierte, die - so Breton - durch Rationalismus, Zivilisation, Fortschritt unterdrückt worden war. Breton setzte die Thesen Freuds um in Kampfbereitschaft gegenüber einer Kultur, die er von einem zensierenden Über-Ich bedroht sah.

Max Ernst: Telegramm von Tristan Tzara an Max Ernst, 19. Juli 1921
 (Vorder- und Rückseite), Frottage, Bleistift auf Papier, 18,5 x 22 cm,
Basel, Kunstmuseum, Kupferstichkabinett
1916 hatte Breton als Assistenzarzt in der neurologischen Abteilung des Hospitals in Nantes Jacques Vaché kennengelernt, der in seiner Verehrung des Dichters Alfred Jarry und mit dadaistischen Nonsensaktionen eine antibürgerliche Haltung an den Tag legte. Breton seinerseits interessierte sich insbesondere für Träume und gedankliche Assoziationsketten von Geisteskranken, die er aufzeichnete. Nach dem Selbstmord Vachés, 1919, schrieb Breton gemeinsam mit Philippe Soupault auf dem Weg der freien Assoziation Texte, die 1919 unter dem Titel "Les champs magnétiques" veröffentlicht wurden. Man darf sie als eine der ersten Manifestationen der "écriture automatique" betrachten, die Breton im "Ersten Manifest des Surrealismus" in folgender Weise beschreibt: "Ich beschäftigte mich damals noch eingehend mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Kriege gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können, und beschloß nun, von mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen haben wollte: nämlich einen so rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der sich infolgedessen keinerlei Zurückhaltung auferlegt und der so weit wie nur möglich gesprochener Gedanke wäre."

"Dada Max Ernst" - Vernissage der Ausstellung in der Galerie Au Sans Pareil,
 Paris, 2. Mai 1921. Von links nach rechts: René Hilsum, Benjamin Péret,
Serge Charchoune, Philippe Soupault, Jacques Rigaut (mit dem Kopf nach
 unten), André Breton
Die zufällige Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm auf einem Seziertisch

Dieser, im Zusammenhang mit dem Surrealismus so häufig zitierten Methode der "écriture automatique" lässt sich eine weitaus größere symbolische denn praktische Bedeutung beimessen. Auf die dichterische Tätigkeit bezogen, steht die "écriture automatique" für den Anspruch, Kreativität aus den Tiefen des Unterbewusstseins, aus Traum und Halluzination zu speisen, gleichzeitig aber die rationalen Kräfte soweit als möglich auszuschalten. In der bildenden Kunst treten an ihre Stelle Vorgehensweisen, die, dem jeweiligen Medium entsprechend, ebenfalls neue, antirationale Quellen der schöpferischen Tätigkeit ausloten.

In seinem Traktat "Was ist Surrealismus" schrieb Max Ernst 1934 rückblickend: "Für Maler und Bildhauer schien es anfangs nicht leicht, der ,écriture automatique' entsprechende, ihren technischen Ausdrucksmöglichkeiten angepaßte Verfahren zur Erreichung der poetischen Objektivität zu finden, d.h. Verstand, Geschmack und bewußten Willen aus dem Entstehungsprozeß des Kunstwerks zu verbannen. Theoretische Untersuchungen konnten ihnen dabei nicht helfen, sondern nur praktische Versuche und deren Resultate. 'Die zufällige Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm auf einem Seziertisch'(Lautréamont) ist heute ein altbekanntes, fast klassisch gewordenes Beispiel für das von den Surrealisten entdeckte Phänomen, daß die Annäherung von zwei (oder mehr) scheinbar wesensfremden Elementen auf einem ihnen wesensfremden Plan die stärksten poetischen Zündungen provoziert. Zahllose individuelle und kollektive Experimente haben die Brauchbarkeit dieses Verfahrens erwiesen. Es zeigte sich dabei, daß je willkürlicher die Elemente zusammentreffen konnten, umso sicherer eine völlige oder partielle Umdeutung der Dinge durch den überspringenden Funken Poesie geschehen mußte."

Typisches Beispiel für diesen Prozess ist die Collage, die in Max Ernst ihren bedeutendsten Vertreter fand. Schon 1919, als der Künstler in Köln noch als einer der Protagonisten von Dada auftrat, entdeckte er die halluzinatorische Wirkung, die aus der Kombination von - in diesem Fall bildhaften - Elementen, die aus unterschiedlichen Sinnzusammenhängen stammten, hervorging. Motive aus Warenhauskatalogen, anatomische Darstellungen, alte Radierungen lieferten ihm das Rohmaterial für seine Collagen. Er zerschnitt sie, kombinierte sie neu und präsentierte diese überraschenden Zusammenstellungen vor einem neuen Hintergrund.

Allerdings: "Gefieder kommt von Feder, Collage jedoch nicht von Kleister", so wehrt Max Ernst in dem Text "Was ist Surrealismus" eine rein technische Definition dieser Erfindung ab, denn es handelt sich für ihn um einen Prozess, der den Bereich des Bildes weit überschreitet, um paradigmatisch für die surrealistische Denkweise zu stehen.

Max Ernst: L'évadé, Histoire Naturelle, Blatt 30. 1925, Frottage, Bleistift auf
 Papier, 26 x 43 cm, Stockholm, Moderna Museet
"Allein dadurch, daß eine fest umrissene Realität, deren natürliche Bestimmung ein für alle Mal festzuliegen scheint (ein Regenschirm), sich unvermittelt neben einer zweiten, weit entfernten und nicht weniger absurden Realität (einer Nähmaschine) an einem Ort findet, wo beide sich fremd fühlen müssen (auf einem Seziertisch), tritt sie aus ihrer natürlichen Bestimmung und ihrer Identität heraus; auf dem Umweg über einen relativen Wert geht sie von ihrer falschen Absolutheit über in eine neue, wahre und poetische Absolutheit: Regenschirm und Nähmaschine begatten sich. Durch dieses recht einfache Beispiel scheint mir der Mechanismus des Verfahrens enthüllt. Die völlige Transmutation als Folge einer reinen Handlung wie dem Liebesakt wird sich zwangsläufig erweisen, sooft die Vereinigung zweier scheinbar unvereinbarer Wirklichkeiten auf einer Ebene, die ihnen scheinbar nicht entspricht, die nötigen Voraussetzungen schafft."

1936, als Max Ernst diese Gedanken zur Collage in seinem Essay "Jenseits der Malerei" äußerste, konnte er im Rückblick auch die übergreifende Bedeutung dieser Kombinationstechnik im Denken und in der künstlerischen Praxis für den Surrealismus erkennen. Die Errungenschaft der Collage liegt für ihn in der Erschließung des Irrationalen für alle Bereiche der Kunst, der Poesie, je sogar der Wissenschaft und der Mode. "Mit Hilfe der Collage hat das Irrationale sich", so Max Ernst, "Eingang in unser privates und unser öffentliches Leben verschafft." Der surrealistische Film ist ohne sie nicht zu denken, und einen nicht zu unterschätzenden Einfluss hat sie darüber hinaus auf die weitere Entwicklung der surrealistischen Malerei ausgeübt, wobei er vor allem an die Bilder Magrittes und Dalis denkt.

1925 entdeckte Max Ernst die Frottage, ein bei Kindern wohlbekanntes Verfahren, das wie die Collage dem Zufälligen in der kreativen Arbeit des Künstlers breiten Raum gewährt: Der Maler reibt den Bleistift oder fast trockenen Pinsel auf einer Fläche aus Papier oder Stoff, die auf einer rauen Unterlage liegt. So wird die Maserung der Unterlage sichtbar. Über die Entstehung der "Histoire Naturelle" mit Hilfe dieser Technik berichtete Max Ernst wiederum ein Jahrzehnt später, 1936 in "Jenseits der Malerei", - in dem gleichen Tenor, der auch seine Erinnerungen zur Collage charakterisiert: "Der halbautomatische Vorgang intensiviert die visionären Fähigkeiten des Malers und prägt die entstandene Darstellung mehr als das bewusste, aktive Eingreifen des Künsllers. Meine Neugier war geweckt, staunend und unbekümmert begann ich, alle möglichen Materialien in meinem Gesichtskreis auf die gleiche Weise zu befragen: Blätter und ihre Rippen, ausgefranstes Sackleinen, die Pinselstriche eines ,modernen' Gemäldes, einen von der Rolle abgespulten Faden usw., usw. Meine Augen sahen jetzt menschliche Köpfe, verschiedene Tiere, eine Schlacht, die mit einem Kuß endete. … Das Durchreibeverfahren beruht folglich auf nichts anderem als der Intensivierung der Reizbarkeit geistiger Fähigkeiten mit geeigneten technischen Mitteln. Es schließt jede bewußte mentale Steuerung (Vernunft, Geschmack, Moral) aus und beschränkt den aktiven Teil dessen, den man bisher Autor des Werkes nannte, aufs äußerste."

Alberto Giacometti: Bewegte und stumme Gegenstände.
 In "Le Surrealisme au Service de la Révolution", Dezember 1931
Ein "Büro für surrealistische Forschung"  

Grundsätzlich beschränkte sich die Aktivität der Surrealisten nicht auf Literatur, Dichtung und bildende Kunst, sondern kurz vor dem Erscheinen des "Ersten Manifest des Surrealismus", 1924, wurde in Paris in der Rue de Grenelle das "Büro für surrealistische Forschung" eröffnet und später mit der folgenden, aufschlussreichen Anzeige in der Zeitschrift, "La Révolution surréaliste", dem ebenfalls seit 1924 erscheinenden publizistischen Organ der Surrealisten vorgestellt: "Das Büro für surrealistische Forschung setzt sich dafür ein, mit allen adäquaten Mitteln, Äußerungen im Hinblick auf die verschiedenen Formen, die die unbewußte Aktivität des Geistes anzunehmen imstande ist, zusammenzutragen."

Dass es sich um eine Initiative handelte, die auf eine praktische Wirkung des Surrealismus abzielte, unterstreicht die Beschreibung aus Louis Aragons Text "Une vague de rêves": "Die Plastik einer Frau hatten wir an die Decke des leeren Zimmers gehängt, in dem uns jeden Tag Menschen aufsuchen, die sich mit geheimen Ideen quälen und von Unruhe getrieben sind. … Die aus fernsten Landstrichen stammenden oder auch mitten in Paris geborenen Besucher helfen mit, die riesige Kriegsmaschinerie auszuarbeiten und auszubauen, mit der vernichtet werden soll, was ist, damit herbeigeführt und vollendet werden könne, was nicht ist. In der Rue de Grenelle 15 haben wir ein romantisches Asyl für all jene Ideen, die sich jeder Einordnung in landläufige Ideen widersetzen, und alle verbissenen Revolten eingerichtet. Alles, was in dieser verzweifelten Welt noch an Hoffnung übriggeblieben ist, richtet seine letzten verzückten Blicke auf unseren armseligen Laden: Eine neue Erklärung der Menschenrechte muß irgendwie auf die Beine gebracht werden, das ist das Ziel."

Die Betreiber dieser umfassenden gesellschaftlichen Erneuerungsidee zeigt eine im Dezember 1924 entstandene Gruppenaufnahme von Man Ray. Man sieht die Surrealisten unter der von Aragon erwähnten Plastik, vor einem Gemälde de Chiricos.

Man Ray: Exposition surréaliste d'objets. Blick in die Ausstellung
surrealistischer Objekte in der Gallerie Charles Ratton, Paris, Mai 1936
Der Surrealismus und die Malerei

Giorgio de Chirico, den Breton im Manifest von 1924 in etwas zweideutiger Weise als "so lange bewundernswert" hervorhob, zog als einer der ersten Maler das Interesse Bretons auf sich, als es sich darum handelte, auch die bildende Kunst in die zunächst betont literarischen und dichterischen Aktivitäten der Surrealisten einzubeziehen. Breton, der in der "Révolution surréaliste" seit 1925 eine Geschichte der modernen Malerei in mehreren Folgen zusammenstellte und deren Zusammenhänge mit dem Surrealismus untersuchte, ging hier auch auf de Chirico ein, dessen frühe Werke schon vereinzelt in der Zeitschrift abgebildet worden waren. Breton stand de Chirico jetzt, nachdem der Maler sich von der "Pittura metafisica" abgewandt hatte, kritisch gegenüber. Seine Interpretation zielte dennoch darauf ab, de Chirico zumindest bis zu dessen "Sündenfall" - der Rückkehr zu einer naturalistischen Malerei - in den Surrealismus zu integrieren, denn gerade bei diesem Künstler sah Breton sich einer Kunst gegenüber, die seinem Hauptkriterium für den "Surrealismus in der Malerei" entsprach: der konsequenten Abkehr von der Realität.

"Es ist der größte Wahnsinn dieses Malers", schrieb er über de Chirico im "Ersten Manifest des Surrealismus", "sich auf die Seite der Belagerer einer Stadt verirrt zu haben, die er selbst aufgebaut hat und die er uneinnehmbar machte! Sie wird sich ihm wie so vielen anderen auf ewig mit ihrer furchtbaren Stärke widersetzen, denn er hat sie so gewollt - das was dort geschieht, kann nicht an einem anderen Orte geschehen. … Wie oft habe ich versucht, mich darin zurechtzufinden, den unmöglichen Rundgang durch diese Gebäude zu machen, mir das eherne Auf- und Untergehen der Sonnen des Geistes vorzustellen! Zeit der Säulenhallen, Zeit der Gespenster, Zeit der Gliederpuppen, Zeit der Innenräume, in der geheimnisvollen, chronologischen Ordnung, in der ihr mir erscheint …".

Salvador Dalí: Aphrodisische Jacke. 1936,
Smokingjacke mit Likörgläsern, Hemd und Plastron
auf Kleiderbügel, 88 x 76 x 6 cm, Privatbesitz
Geheimnis und Realitätsferne ließen sich für Picasso, dessen Arbeiten in der "Révolution surréaliste" großzügig abgebildet wurden, nicht unbedingt in Anspruch nehmen, und Breton hütete sich denn auch, Picassos Werke ausdrücklich als surrealistisch auszugeben. Aber konnte man Picassos Werke nicht auch so ansehen, als ob sie über die Malerei hinausgingen und damit bewiesen, dass es so etwas wie surrealistische Malerei überhaupt geben konnte? Wenn Breton der Malerei eine Ausdruckskraft zuerkannte, die der Ausdruckskraft der Sprache gleichkommt, wenn er feststellte, es sei schon ein ganz neuer Weg beschritten, sobald der Maler nicht mehr die Außenwelt nachbildete, sondern sich auf sein inneres Bild konzentrierte, dann steckte er einen weiten Rahmen ab für die Mahlerei als surrealistischer Kunstäußerung.

Offenbar war Breton sich bewusst, welche Bedeutung die Integration Picassos in das surrealistische Lager für die Popularität der Bewegung haben konnte, und in seinem Text "Der Surrealismus und die Malerei" widmete er Picasso 1925 einige ausführliche Reflexionen: "Man muß sich schon keinerlei Vorstellung machen von der außergewöhnlichen Bestimmung Picassos, um von ihm eine gewisse Abtrünnigkeit zu fürchten oder zu erhoffen. Daß er, um unerträgliche Nachahmer zu entmutigen oder um dem reaktionären Ungeheuer einen Seufzer der Erleichterung zu entlocken, von Zeit zu Zeit so tut, als bete er an, was er eben verbrannte - nichts scheint mir vergnüglicher und nichts gerechtfertigter. Aus der nach oben geöffneten Werkstatt werden bei sinkender Nacht immer wieder Gestalten von göttlicher Ungewohntheit aufsteigen, Tänzer mit Bruchstücken von marmornen Kaminen, Tische, die prächtig beladen sind, neben denen eure wie soeben abgedeckt aussehen, und all das was in der unausschöpflichen Zeitung Le Jour hängen geblieben ist … Man hat gesagt, es könne keine surrealistische Malerei geben. Malerei, Literatur, was ist das schon, da Sie, Picasso, den Geist auf seine höchste Höhe trugen, auf der nicht mehr der Widerspruch gilt, sondern das Darüberhinaus!"

Marcel Duchamp: Flaschentrockner. 1914,
Ready-made, galvanisiertes Eisen, Höhe 64 cm,
 Durchmesser 42 cm. Paris, Musée National
d'Art Moderne, Centre Pompidou
Die Surrealisten und die bildenden Künstler in ihrem Umfeld

Seit 1920 fanden sich eine ganze Reihe von bildenden Künstlern in Paris im Umkreis der Surrealisten zusammen. So zeigte Max Ernst, der in Köln zunächst zahlreiche dadaistische Aktivitäten initiiert oder an ihnen teilgenommen hatte, 1921 erste Collagen in Paris in der Galerie Au Sans Pareil.

In seinen 1936 formulierten Gedanken "Au-delà de la peinture" bezeichnete er diese Werke als "Das Wunder der vollständigen Verwandlung der Lebewesen und Gegenstände, mit oder ohne Veränderung ihrer physischen oder anatomischen Gestalt." - Worte, die den überraschenden und im surrealistischen Sinn mysteriösen Charakter dieer Arbeiten in sich fassen. Max Ernst hatte im gleichen Jahr auch Kontakt zu Paul Eluard geknüpft, dem er in Köln begegnet war. Hieraus entwickelte sich eine dauerhafte Freundschaft. Paul Eluard erwarb eine Reihe früher Werke von Max Ernst, der auch Eluards Haus in Eaubonne mit bedeutenden Wandbildern ausstattete.

Die Freundschaft zwischen Dichter und Maler bewährte sich nicht nur in schwierigen Situationen - Max Ernst reiste 1922 mit dem Pass Eluards nach Paris, und Eluard hatte er auch seine Befreiung aus einem Internierungslager im Süden Frankreichs zu Beginn der deutschen Okkupation zu verdanken -, sie führte darüber hinaus zu wichtigen Buchprojekten des Surrealismus, die Text und Illustration kongenial verbanden. Am Anfang stand "Les malheurs des immortels" von 1922. Weitere Publikationen, wie "Une semaine de bonté", in den dreißiger Jahren, folgten. Sie legten Zeugnis ab für das tiefe gegenseitige Verständnis zwischen Max Ernst und Paul Eluard sowie für die enge Verbindung von Dichtung und Malerei im Surrealismus.

Es gab auch andere charakteristische Freundschaften wie die des Malers Yves Tanguy mit dem Herausgeber der "Fantômas"-Romane, die von den Surrealisten geschätzt wurden, Marcel Duhamel, mit dem zusammen Tanguy einige Zeit einen kleinen Pavillon in der Rue du Château in Paris bewohnte und mit dessen finanzieller Unterstützung er sich seiner künstlerischen Tätigkeit widmen konnte. 1927 wurden die Werke dieses Autodidakten in der Galerie surréaliste in Paris präsentiert, begleitet von einem Katalog, den Andre Breton mit einem Vorwort versehen hatte.

1922 wurde auch Tristan Tzara, 1916 ein Mitbegründer der Dada-Bewegung in Zürich, von den Surrealisten begeistert aufgenommen. Gemeinsam mit Man Ray gab er den Band "Champs délicieux" heraus. Man Ray hatte 1921 die Rayographie erfunden, eine fotografische Methode, bei der der Gegenstand, der reproduziert werden soll, direkt auf das lichtempfindliche Papier gelegt wird, so dass nicht er selbst, sondern seine Negativ-Aura, eine Art Schattenbild, entsteht. Ihr Buch verband Texte Tzaras mit den Rayographien Man Rays.

Salvador Dalí: Hummer-Telefon oder Aphrodisisches Telefon.
1936, Telefon mit Hummer aus bemaltem Gips, 18 x 12,5 x 30,5 cm
 Frankfurt a.M., Museum für Kommunikation
André Masson lernte Breton 1924 im Anschluss an die erste Einzelausstellung des Künstlers bei dem Galeristen Daniel-Henry Kahnweiler kennen. Schon in den ersten Nummern von "La Révolution surréaliste" wurden Massons "dessins automatiques", deren Titel die "écriture automatique" Bretons und Soupaults variierte, abgedruckt. Seit Beginn der zwanziger Jahre war Masson in einen Kreis von Freunden aufgenommen - Antonin Artaud, Robert Desnos und Michel Leiris gehörten dazu -, die sich regelmäßig bei ihm in der Rue Blomet in Paris trafen. Neben dem Atelier Massons, in der Rue Blomet 45, lag die Wohnung Joan Mirós, was die beiden Maler zufällig bei einer Abendgesellschaft 1923, auf der sie sich kennen lernten, entdeckten. "Masson las immer viel und war voller Ideen", erinnerte sich Miró an ihre Freundschaft, "er war mit fast allen jungen Dichtern der der damaligen Zeit befreundet. Durch Masson lernte ich sie kennen … Sie interessierten mich mehr als die Maler, denen ich in Paris begegnet war. Ich war hingerissen von den neuen Ideen, die sie verkündeten, und vor allem von der Dichtung, über die sie sprachen. Ich verschlang sie Nächte hindurch."

Einige dieser Maler und Fotografen, die zum Kreis der Surrealisten gehörten, waren vertreten in einer Ausstellung, die vom 14. bis 25. November 1923 in der Galerie Pierre in Paris unter dem Titel "La Peinture surréaliste" stattfand. Hinzu kamen Miró, Klee und Arp sowie Picasso und de Chirico. Es handelte sich um die erste der Malerei gewidmete Aktion, die die wichtigsten surrealistischen Künstler zusammenfasste. Sie repräsentierten die erste Phase des Surrealismus in der Malerei, wie sie sich in ihrer "heroischen" Zeit - zwischen dem Ersten (1924) und dem Zweiten Manifest (1929) - ausformte.

Wichtigstes gedankliches Konzept war der Automatismus (das zeichnerische Gegenstück zu der freien Assoziation mit Wörtern), der zum "abstrakten Surrealismus" Massons, Mirós und Arps führte. Hier herrschten biomorphe, weiche Formen und eine zum Teil ungewöhnliche, haptische Materialität vor. Die Veranschaulichung von Traumbildern bestimmte dagegen stilistisch den Surrealismus von Magritte, Tanguy und Dalí, Malern, die erst später zum surrealistischen Kreis stießen. Der gemeinsame Nenner all dieser Künstler jedoch war die Beschäftigung mit Gegenständen visionärer, poetischer, metaphorischer Art. Die Surrealisten malten keine ungegenständlichen Bilder. Alle Werke Mirós, Massons oder Arps, mögen sie auch noch so abstrakt wirken, beziehen sich immer zumindest andeutungsweise auf ein Sujet. Man versuchte, auf ein inneres Bild hinzuarbeiten, das entweder durch Automatismus improvisiert wurde oder das illusionistische Vision des innerlich Erschauten war.

Salvador Dalí: Das Phänomen der Extase. In: "Minotaure",
 Dezember 1933, Fotomontage, 27 x 18,5 cm, Privatbesitz
"Das Rendezvous der Freunde"

Ein Gruppenbild der Surrealisten, das 1922 entstandene Rendezvous der Freunde von Max Ernst, zeigt den engen Kontakt zwischen Dichtern und bildenden Künstlern, obwohl die Maler auf diesem Gemälde weniger stark repräsentiert sind. Neben Max Ernst selbst sehen wir hier Hans Arp und de Chirico sowie das collagenartig eingefügte Selbstbildnis von Raffael. Daneben erscheinen die surrealistischen Schriftsteller und Poeten, ergänzt durch Fjodor Dostojewski, den Breton schon im "Ersten Manifest" erwähnt, und der als Pendant zu Raffael fungiert.

Die Dargestellten wirken entfremdet. Jeder blickt in eine andere Richtung ohne Kontakt zu den anderen. Johannes Baargeld erscheint in weiter Schrittstellung und mit sinnlos-beschwörender Geste, während Breton hinter ihm den Betrachter fixiert und die Gruppe mit der Rechten zu segnen scheint. Nicht zuletzt dieses Gruppenbildnis von Max Ernst, eine "Momentaufnahme" des Jahres 1922, lässt die Frage nach dem Zusammenhalt, nach dem Bindeglied zwischen den so unterschiedlichen Beteiligten entstehen.

Ein Indiz für die Beantwortung dieser Frage enthält der Hinweis auf die vielen gemeinsamen Aktivitäten der Surrealisten, auf die von allen geteilte Faszination für die gleichen Phänomene. Es handelte sich um Vorgänge, die jeweils den gewohnten Rahmen der Existenz sprengten und über Rationalität und Vernunft hinaus Bereiche des Denkens erschlossen, die neu, unbekannt oder auch amüsant waren. 1926 erfand man das Spiel des "Cadavre exquis", bei dem ein Blatt Papier zusammengefaltet wird und mehrere Personen an der Entstehung eines Satzes oder einer Zeichnung mitwirken, ohne dass eine von ihnen die Ausführungen des Vorgängers sehen kann. Der Prototyp, der dem mittlerweile klassisch gewordenen Spiel seinen Namen gegeben hat, enthält im ersten Satz, der auf solche Weise entstanden ist, die Worte: "Le - cadavre - exquis - boira - le vin nouveau" (Der köstliche Leichnam wird den neuen Wein trinken).

FORTSETZUNG FOLGT

Quelle: Eine neue Erklärung der Menschenrechte. In: Cathrin Klingsöhr-Leroy: Surrealismus. Taschen, Köln, 2011. ISBN 978-3-8365-1416-3. Seite 6 bis 25.

Dem Infoset liegt der Artikel von Rainer Zuch: Max Ernst, der König der Vögel und die mythischen Tiere des Surrealismus bei. (Sonderdruck aus »kunsttexte.de« 2/2004)

CD Info & Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 53 MB
Filepost --- Hotfile --- Depositfiles --- EmbedUpload --- Rapidgator
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files

Sergei Prokofjew: Streichquartette Nr. 1 + 2, Cellosonate

$
0
0
Verdienter Held der Sowjetunion, Künstler des Volkes, Spottdrossel, rabiater Modernist, Skandalproduzent: Die Auswahl der Titel, die man Sergei Prokofjew verleihen kann (und die ihm zum Teil auch verliehen worden sind), ist groß. Zutreffend sind sie überdies, je nachdem, welche Schaffensphase gerade gemeint ist. Der junge, unbekümmerte Haudegen, der dem russischen Publikum seine Symphonie classique oder sein zweites Klavierkonzert um die Ohren schlug; der brutale Schöpfer der Skythischen Suite und der zweiten Symphonie; der klassisch-gezügelte (gleichwohl immer noch herrlich ironische) Virtuose des dritten Klavierkonzerts und der fabelhaften fünften Symphonie; und schließlich der angepaßte Heimkehrer, der unter dem Druck bornierter Kulturbonzen schmerzfreie Verherrlichungspartituren schreibt und schließlich wie ein zahnloser Tiger noch eine siebte Symphonie notiert - das alles ist Sergei Prokofjew. Und er ist, trotz mancher Abstriche, einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts geworden und bis heute geblieben.

Als er bereits eine bekannte internationale Größe und besonders auch als Pianist gefragt war, ging Prokofjew im Jahre 1930 auf eine ausgedehnte Konzertreise durch die USA (24 Konzerte) und Westeuropa (neun Konzerte). Ein Freund wollte von ihm wissen, wie er eigentlich trotz so wenigen Übens ein derart vorzüglicher Klavierspieler sei. Die Antwort war typisch: Prokofjew antwortete, er übe »eine Woche lang zwei Stunden für ein Konzert in Paris, zwei Wochen für ein Konzert in Amerika.« Und er begründete diesen Unterschied mit einem einfachen Rechenexempel: »Da in Frankreich die Durchschnittsgeschwindigkeit eines Wagens 40 Stundenkilometer beträgt, in Amerika aber 80, muß man in Amerika die Achtelnoten zweimal so schnell spielen wie in Frankreich.«

Der amerikanische Teil der Tournee ging dann wirklich mit Höchstgeschwindigkeit über die Bühne. Doch sie lohnte sich. Von dem Dirigenten Sergei Kussewizki erhielt er den Auftrag für ein neues Orchesterstück, das zum 50jährigen Bestehen des Bostoner Symphonieorchesters uraufgeführt werden sollte. Prokofjew verfaßte seine vierte Symphonie op. 47 (bei deren Komposition er auf seine Ballettmusik »Der verlorene Sohn« zurückgriff), die am 4. September 1930 ihre Premiere erlebte. (Das 50. Jubiläum der Boston Symphony brachte übrigens einige bedeutende Neuheiten hervor. Unter anderem komponierte Igor Strawinsky zu dem Ereignis seine »Psalmensymphonie« für Chor und Orchester.)

Sergei Prokofjew am Klavier, 1910
Der zweite Auftrag kam von der Kongreßbibliothek in Washington, die sich vorgenommen hatte, ihre Sammlung von Musikerhandschriften zu erweitern. So entstand Prokofjews erstes Streichquartett, das am 25. April 1931 uraufgeführt wurde und dessen Manuskript seither die berühmte Library of Congress bereichert.

Das dreisätzige Werk fand offenbar auch in der Heimat Anklang. Der Freund Nikolai Mjaskowskiäußerte sich in einem Brief an einen Kollegen:

»Ad eins ist das Werk völlig ohne Effekte, was bei Prokofjew überrascht. Zweitens besitzt es echte Tiefe bei großer melodischer Linie und Intensität im Finale. Dieser Teil prägt sich stark ein … ich wäre froh, wenn sich dieser Zug bei ihm festigte …« Und Mjaskowski konnte sich tatsächlich freuen, denn Prokofjew begann, sich allmählich von den Experimenten früherer Jahre abzuwenden.

Rund ein Jahrzehnt nach diesem Quartett entstand das Schwesterwerk op. 92, das nun den himmelweiten Weg des Sergei Prokofjew in wiederum drei Sätzen überdeutlich macht. Inzwischen war er längst in die Sowjetunion zurückgekehrt, und er genoß - wie andere verdiente Künstler des Volkes - das Privileg, Anfang August 1941 wegen der anhaltenden deutschen Luftangriffe auf Moskau vorübergehend in den nördlichen Kaukasus übersiedeln zu dürfen. Dort, in der Kabardino-Balkarischen Autonomen Sowjetrepublik, gab es allerlei Inspirationen: »Wir fanden das musikalische Material dieser Provinz frisch und originell, und wir Komponisten gingen alle mit Eifer daran, es in unsere Arbeit einzubeziehen. Bald hatte Mjaskowski den Entwurf der 23. Symphonie op. 56 fertig, ich selbst formulierte die Gedanken eines Streichquartetts. Es schien mir, daß eine Verbindung der unerforschten östlichen Folklore mit einer so klassischen Form wie der des Streichquartetts überraschende und interessante Ergebnisse hervorbringen könnte.«

Ein etwas älterer Sergei Prokofjew, wiederum am Klavier
Das war dann auch der Fall. Zwar bediente sich Prokofjew des melodischen Materials, doch begnügte er sich nicht damit, eine Art kammermusikalischer Volksmusik zu arrangieren. Vielmehr verband er die Themen mit seiner ganz persönlichen Tonalität; außerdem bemühte er sich, die klanglichen Eigenarten der kaukasischen Instrumente nachzuahmen. So kann man am Anfang des zweiten Satzes die Imitation des Streichinstruments Kjamantschi hören, und überall in der Partitur begegnet man eigenartigen Effekten, die sich den Charakteristika der folkloristischen Schlag- und Zupfinstrumente annähern. Das zweite Streichquartett wurde am 7. April 1942 vom Beethoven-Quartett in Moskau uraufgeführt und fand in den vier großartigen Musikern engagierte Anwälte, die es bald weithin bekannt machten.

Wiederum vergingen etliche Jahre, bis Sergei Prokofjew 1949 seine einzige Sonate für Violoncello und Klavier op. 119 komponierte. Das Werk wurde im März 1950 mit großem Erfolg im Moskauer Komponistenverband uraufgeführt und war schon bald auch auf den internationalen Podien zu hören. Vergleicht man diese Sonate mit den Kompositionen der frühen Schaffensphase, so bestätigt sich noch einmal das eingangs Gesagte: Anstelle der furiosen Frechheiten steht jetzt eine abgeklärte, ruhige Musik, an der prinzipiell nichts auszusetzen wäre - gäbe es da nicht den Hintergrund des widerwärtigen Beschlusses von 1948, den bedrohlichen Rüffel für die Crème der sowjetischen Komponisten, der auf das Konto eines gewissen Herrn Shdanow ging und mit deutlichen Worten zu handzahmem Tonsatz aufforderte. Kennt man diesen Sachverhalt, so erscheint die Sonate dann doch trotz ihrer einwandfreien Schönheiten als das Zeugnis eines Wolfes, der zum Schoßhündchen umerzogen wurde.

Die sozialistischen Biographen hatten an Werken dieser Art freilich ihre helle Freude: »Alle Schönheit des neuen Lebens scheint eingefangen in diesem neuartigen Werk zeitgenössischer Kammermusik,« schrieb Friedbert Streller in seiner VEB-Publikation von 1960. »Überall umgibt den Komponisten die friedliche Welt des sojwetischen Aufbaus und bestimmt seine schöpferischen Pläne.« Und das, während das Monster Stalin noch immer sein Unwesen trieb! Es war wohl mehr eine erzwungene Ruhe, unter der nicht nur Prokofjew, sondern in ganz besonderem Maße auch Dimitri Schostakowitsch - und sogar Aram Chatschaturjan - zu leiden hatten. Der charakterliche Unterschied der drei sowjetischen Kulturaushängeschilder zeigt sich daran, wie sie den keineswegs sanften Druck bewältigten.

Quelle: Anonymus, im Booklet

Track 5: String Quartet No 2 in F Major op. 92 - II. Adagio



TRACKLISTSergei Sergejewitsch Prokofjew (1891-1953)(Sergei Sergeyevich Prokofiev)

String Quartet No. 1 in B Minor, Op. 50

(1) I. Allegro 6:49
(2) II. Andante molto 6:46
(3) III. Andante 9:29

String Quartet No. 2 in F Major, Op. 92

(4) I. Allegro sostenuto 5:52
(5) II. Adagio 7:00
(6) III. Allegro 7:52

AURORA STRING QUARTET:
Sharon Grebanier, Violin
Mariko Smiley, Violin
Don Ehrlich, Viola
Margaret Tait, Cello

Sonata in C Major for Cello and Piano, Op.119

(7) I. Andante grave 10:55
(8) II. Moderato 4:58
(9) III. Allegro ma non troppo 7:49

Michael Grebanier, Cello
Janet Guggenheim, Piano

Playing Time: 68:36

DDD
Recorded at Fisher Hall, Santa Rosa. California.
from 9th to 12th February, 1994 (Tracks 1-6)
from 3rd to 4th December, 1993 (Tracks 7-9)
Producers: Victor and Marina A. Ledin
Engineers: Lolly Lewis and Stuart A. Rosenthal
Cover Painting: Hilda Husik: Trio (c. 1930s)
(P)+(C) 1994


Eine neue Erklärung der Menschenrechte (Teil 2 von 2)
Die Surrealisten in Paris. Um 1930, von links: Tristan Tzara, Paul Eluard, André Breton, Hans Arp, Salvador Dalí, Yves Tanguy, Max Ernst, René Crevel, Man Ray
Pariser Kaffeehäuser - Schauplätze erster surrealistischer Skandale

Wechselten die Mitglieder der Gruppe auch immer wieder und erstreckten sich die Interessensgebiete der Surrealisten von rein künstlerischen oder literarischen Fragen über politische Stellungnahmen bis hin zu gesellschaftlichen Problemen, so blieb eine Konstante der Bewegung das ganz spezifische Gruppengefühl der Surrealisten, das der erst im Laufe der dreißiger Jahre zu den Surrealisten gestoßene Matta in einem späten Interview beschreibt: "Wir trafen uns im Flore", erinnert er sich in einem Interview, "da war außer uns niemand - also immer dieselben Leute. Damals erkannten wir, daß wir eine bestimmte Stellung einnahmen. Nicht so, daß von einem verlangt wurde, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten, nämlich sich als Kerl zu geben, der im Sinne hat, die Struktur der bourgeoisen Intelligenz zu zerbrechen. Das war es nicht. Vielmehr trachteten wir danach, eine andere Art von Intellektualität zu erreichen - eine Kollektivintellektualität. Die Surrealisten hatten ein starkes Gruppengefühl - man bearbeitete Probleme gemeinsam. Das ist es, was neu war."

Betrachtet man die Geschichte des Surrealismus, so gewinnt man tatsächlich den Eindruck, dass bestimmte Themen und Fragen jeweils die gesamte Gemeinschaft beschäftigen. Ob es sich um den Fall der Vatermörderin Violette Nozière handelt, für die Surrealisten eintraten, um Fragen der Sexualität, um die des politischen Engagements, oder um das Phänomen von Traum, Halluzination und freier Assoziation, jeweils gibt es Beiträge, Gedanken, Werke aus allen künstlerischen Bereichen.

Der Surrealismus galt den Beteiligten als eine Lebensform, als eine Art der Existenz, die dem Spielerischen und dem Kreativen Raum ließ, die der Intensität des Augenblicks gewidmet war, die in ihrer Spontaneität eine innere, gedankliche Freiheit und materielle Ungebundenheit bourgeoisen Werten gegenüberstellte. Bevorzugter Versammlungsort der Surrealisten war das Café.

Salvador Dalí: Anzeige für die Veröffentlichung des Drehbuchs
"Babaouo". 1932, geschrieben von Salvador Dalí, Gouache
 und Collage, 27 x 37 cm, Privatbesitz
 Das Experiment der kollektiven Individualität fand seinen Ort in einer der typischen Institutionen der Großstadt, charakteristisch für das dynamische Leben der Metropole Paris, anonym und geräuschvoll, ein öffentlicher Ort, jederzeit und für jeden zugänglich.

Die Surrealisten trafen sich im "Certâ", im "Le Petit Grillon" in der Passage de l'Opéra oder auch im "Cyrano" an der Place Blanche in der Nähe von Bretons Wohnung. Dieses Café hatte nichts gemein mit den Künstlercafés auf dem Montmartre und am linken Seineufer, die wir mit Toulouse-Lautrec oder der Blauen Periode Picassos verbinden. Das "Cyrano" wurde von Zuhältern, Prostituierten, Geldwechslern und Rauschgifthändlern bevorzugt, die, wie die Surrealisten selber, auf der anderen Straßenseite eine Vorstellung des Grand Guignol besucht hatten. Das "Cyrano" zog die Surrealisten als gesellschaftlicher Randbezirk an, als ein Ort, an dem sie sich unter Außenseitern und Exzentrikern zusammenfanden.

Ein Café, die "Closerie des Lilas" am Boulevard Montparnasse, war auch Schauplatz eines der ersten, von den Surrealisten ausgelösten Skandale, des von ihnen boykottierten literarischen Banketts des "Mercure de France" zu Ehren des Dichters Saint-Pol-Roux am 2. Juli 1925. Es wurden Tische umgeworfen, Geschirr zertrampelt, die Surrealisten skandierten aufrührerische Parolen, Schläge wurden ausgeteilt, Scheiben zerbarsten; es folgten diverse Festnahmen.

Am Tag nach diesen Zwischenfällen prangerte das Komitee der Sociéte des Gens de Lettres das "skandalöse Verhalten der Surrealisten" an, verurteilte sie das Komitee der Association des Écrivains Combattants zur "Missachtung durch die Öffentlichkeit", und die Kritiker verpflichteten sich, weder den Namen zu schreiben, noch den auf ismus endenden Namen der Gruppe zu schreiben. Der Vorfall ist charakteristisch für die anarchistische, antibürgerliche Haltung der Surrealisten. Ihre Aktionen waren ein Affront des allgemein Anerkannten und Verehrten, es ging um einen Angriff auf die etablierte bürgerliche Ordnung.

J. J. Grandville: Erster Traum, Verbrechen
und Buße. 1847, Holzstich
Schmetterlinge mit Botschaften: "Eltern, erzählt euren Kindern eure Träume"

Seit 1925 zeichnete sich eine Neuorientierung dieser weitgehend noch aus dem Dadaismus gespeisten Aktionen in Richtung einer mehr realitätsorientierten, politischen Perspektive ab. Ein erster Ansatz hierzu war die Gründung des "Büros für surrealistische Forschung", wo jedoch zunächst auf geistig-literarischer Ebene gearbeitet wurde. Von hier aus verschickte man die berühmten surrealistischen "Papillons" (Schmetterlinge), kleine bunte Zettel mit Schlagworten wie: "Eltern, erzählt euren Kindern eure Träume" oder: "Wenn Sie für Liebe sind, sind Sie auch für den Surrealismus". Sie waren bald in ganz Paris bekannt.

Diese phantasievollen, geistreichen Aktionen bedeuteten für die Bourgeoisie, deren Wertvorstellungen sie ironisch in Frage stellten, jedoch keinen wirklichen Affront, so sah es schon der surrealistische Dichter Pierre Naville in seinen Reflexionen über die gesellschaftspolitische Relevanz des Surrealismus. Denn gerade weil sich die surrealistischen Aktionen auf "moralischer" Ebene bewegten, konnte die angegriffene Gesellschaftsschicht sicher sein, dass die Manifestationen des Surrealismus nie ausreichen würden, um soziale oder gar moralische Werte zu vernichten.

Es gab nur zwei Alternativen. Das Verharren in einer negativen, anarchistischen Haltung oder das entschlossene Einschlagen eines revolutionären Weges, den Weg des Marxismus. "La Révolution surréaliste" fasste eine Zusammenarbeit mit der kommunistischen Zeitschrift "Clarté" ins Auge, und ganz grundsätzlich fand unter den Surrealisten gegen Ende der zwanziger Jahre eine Auseinandersetzung mit dem Marxismus statt.

Wenn auch alle Mitglieder der Bewegung den Marxismus guthießen oder doch zumindest auf der Seite der politischen Linken standen, so bezog sich der Ausdruck "Revolution" im Titel der Zeitschrift "La Révolution surrealiste" doch nicht auf die russische Revolution, sondern auf etwas völlig anderes und in mancher Hinsicht sogar Entgegengesetztes, indem Individualität für die Surrealisten weit über dem kollektiven Zusammenschluss stand. Die neue, politische Orientierung führte naturgemäß zu Spannungen innerhalb der Gruppierung, zu einer Krise, die durch die innere Widersprüchlichkeit des Surrealismus vorprogrammiert war: Nach Breton war es das Ziel der Bewegung, der geistigen Verwandtschaft zwischen selbstständig arbeitenden Künstlern spontanen Ausdruck zu geben.

Luis Bunuel: Un chien andalou. 1929, Filmszene
Eine Gruppe jedoch, die psychologische und literarische Experimente durchführte, Manifeste zu Tagesfragen herausgab, Bücher und Zeitschriften veröffentlichte, Kundgebungen organisierte und Kunstausstellungen veranstaltete, konnte nicht wirklich spontan arbeiten. Sie brauchte eine zentrale Organisation und musste schließlich auch auf einer offiziellen Haltung beharren: "Läßt man aber die Detailfragen, die persönlichen Schwierigkeiten und die Unvereinbarkeiten bezüglich Stimmung und Fähigkeiten beiseite, die zwischen Individuen nicht fehlen und die sich zwischen Gruppen noch verschärfen, so stellt man fest, daß es im Moment gilt, eine allgemeine geistige Einstellung zu definieren, aus der sich viele unserer Aktionen ableiten, auch auf die Gefahr hin, daß sie sich schnell und von Grund auf verändert", so Naville 1927 in seinem Essay "Mieux et moins bien", der für eine Zusammenarbeit mit der kommunistischen Partei plädierte, worauf Breton erwiderte, die Kommunisten versagten psychologisch, weil sie versuchten, die Leute durch die Hoffnung auf ein zukünftiges besseres Leben zum Handeln zu bewegen.

"Es gibt unter uns keinen", so Breton 1926 in "Légitime défense", "der die Macht nicht gern aus den Händen der Bourgeoisie auf das Proletariat übergehen sehen würde. Inzwischen ist es aber genauso notwendig, daß unsere, das innere Leben betreffenden Experimente weitergehen, und zwar ohne jede Kontrolle von außen, auch nicht von marxistischer Seite."

Angesichts dieser Divergenzen, die natürlich auch in den unterschiedlichen Standpunkten der einzelnen Mitglieder zum Ausdruck kamen, sind die Angriffe auf verschiedene Persönlichkeiten des Surrealismus im "Zweiten Manifest" André Bretons, 1929, nicht verwunderlich. Dichter und Schriftsteller der Vergangenheit, wie Baudelaire, Poe, Rimbaud und de Sade, zuvor wichtige Bezugspersonen für die Surrealisten, wurden nun von Breton abqualifiziert, der auch unter seinen Zeitgenossen eine Art von "Säuberung" durchführte und unter anderen Francis Picabia, Tristan Tzara, Antonin Artaud, Philippe Soupault, André Masson und Robert Desnos aus der Bewegung ausschloss.

Eine Versammlung, die Breton am 11. März 1929 in der "Bar du Château" in der Rue du Château einberufen hatte, um über das Schicksal des exilierten Trotzki zu debattieren, wurde zu einer Art Gerichtsverfahren über die Gesinnung der einzelnen Surrealisten. Breton hatte nicht nur einen dementsprechenden Fragebogen an alle der Gruppe Nahestehenden versandt, sondern er verlas während der Versammlung in herablassender oder beleidigender Weise auch einige Antworten von Abwesenden, so dass das Treffen zu einer Diskussion über die inneren Schwierigkeiten der surrealistischen Gruppe geriet, ohne eine Lösung für die politische Fragestellung zu finden.

Luis Bunuel: Un chien andalou. 1929, Filmszene
Mystizismus des Unbeseelten

Das 1929 veröffentlichte "Zweite Manifest" Bretons ist im Ton so mystisch und spekulativ, dass es nicht überrascht, wenn Teile dieses Textes sich tatsächlich mit Alchemie befassen. Breton betrachtete sich dabei als den Erben einer Tradition, die von Nicolas Flamel und den Alchemisten des 14. Jahrhunderts ausging. Der Surrealismus suchte nun nach dem "Stein des Weisen", der es der menschlichen Phantasie möglich machen sollte, "glänzende Rache am Unbeseelten zu nehmen".

Diese Neuorientierung löste jenen Mystizismus des Unbeseelten aus, der für die Spätphasen des Surrealismus so charakteristisch ist und schon in den Gemälden Magrittes seinen Ausdruck fand. Von der "Enthüllung des merkwürdigen symbolischen Lebens ganz gewöhnlicher und klar zu bezeichnender Gegenstände" - die Breton im "Zweiten Manifest" des Surrealismus forderte - war es nur ein kleiner Schritt zur Schaffung eigener surrealistischer Objekte.

1936 fand in der Galerie Charles Ratton in Paris die "Exposition surréaliste d'objets" statt, die die von den Surrealisten immer wieder geforderte und angestrebte Mystifizierung des Alltäglichen, die Zusammenstellung des Heterogenen in äußerst komplexer Weise vorführte. Eine Installationsaufnahme der Ausstellung zeigt eine Vitrine, in der die unterschiedlichsten und rätselhaftesten Dinge nebeneinander präsentiert werden. In der Mitte der Flaschentrockner von Marcel Duchamp, ein zum Kunstwerk erklärter Alltagsgegenstand (1914), links davon eine Plastik von Max Ernst, 1934 entstanden. Darunter das Frühstück im Pelz, die Pelztasse von Meret Oppenheim (1936), neben afrikanischen Plastiken, Fundstücken und komplizierten Drahtkonstruktionen.

Liest man die Reflexionen Salvador Dalís zu einzelnen dieser Erfindungen und zum surrealistischen Objekt allgemein, so wird deutlich, dass das in den dreißiger Jahren einsetzende Interesse am Objekt eng gebunden ist an eine sich - nicht zuletzt durch den Einfluss Dalís selbst - verrätselnde und verkomplizierende Methode des Surrealismus, das Unterbewusstsein zu erforschen. In "Le Surréalisme au Service de la Révolution" veröffentlichte Dalí im Dezember 1931 Aufzeichnungen, die durch ein absurd bis poetisch inspiriertes Ordnungssystem eingeleitet wurden: Dalí unterschied hier beispielsweise zwischen "symbolisch funktionierenden Objekten (automatischen Ursprungs)", "transsubstantiierten Objekten (affektiven Ursprungs)" oder "zu entwerfenden Objekten (traumhaften Ursprungs)". In Bezug auf die erste Kategorie führte er dann aus: "Diese Objekte, die in überaus geringem Maße geeignet sind, mechanisch zu funktionieren, beruhen auf Trugbildern und Vorstellungen, die bei der Verwirklichung unbewußter Akte hervorgerufen werden können. Akte der Verwirklichung, deren Lustgewinn man sich nicht erklären kann oder die über irrige, von Zensur und Verdrängung ausgeheckte Theorien informieren. In allen analysierten Fällen entsprechen diese Akte deutlich ausgeprägten Phantasien und Wünschen."

Dalís betont sachlich gehaltene Beschreibungen komplizierter und rätselhaft bis absurd wirkender Gegenstände finden ein Pendant in einer Reihe von Zeichnungen, die Objekte von Giacometti zeigen und deren Abbildung ebenfalls in der Dezembernummer von "Le Surréalisme au Service de la Révolution" von einem träumerisch-poetischen Traumtext begleitet wird, den Giacometti selbst formuliert hatte. Auch hier standen Text und Bild in einem gegensätzlichen Verhältnis zueinander.

Die "paranoid-kritische Methode" des Salvador Dalí
Brassai: Das Atelier von Pablo Picasso in Boisgeloup bei Nacht, 1932

Ebenso wie der Bildhauer Alberto Giacometti oder wie René Magritte gehörte Salvador Dalí zu den Künstlern, die den Surrealismus der dreißiger Jahre prägten. Seine "paranoid-kritische Methode" führte zu künstlerischen Neuansätzen, die vor allem im Bereich des surrealistischen Objekts überraschende Ergebnisse zu Tage förderten. Sie leistete einen wichtigen Beitrag zu einer Verrätselung des Alltäglichen. Mit den Worten Bretons: "Die kontinuierlichen, unaufhaltsamen Metamorphosen, denen der Gegenstand seines geistigen Interesses für den Paranoiker unterworfen ist, führt dazu, dass der Paranoiker sämtliche Erscheinungen der Außenwelt für unbeständig, rasch von einem Zustand in einen anderen überwechselnd, wenn nicht gar für fragwürdig und unzuverlässig hält. Entscheidend aber ist, dass der Paranoiker in der Lage ist, diese, seine Sicht der Welt auch seinen Mitmenschen plausibel zu machen." Diese Macht äußert sich in der Kunst Dalís in einer "Art von bundfarbigem, handbetriebenem, d. h. apparatfreiem Fotografieren der konkreten Irrationalität und der Welt der Phantasie überhaupt." Sie zeigt sich in dem spezifischen Blick, mit dem Dalí die Welt betrachtet und verformt, so dass er, wie der Fotograf Brassai sich 1964 in autobiographischen Aufzeichnungen erinnerte, die Realität mit geheimnisvollen, bisher nicht entdeckten Dimensionen befrachtet. "Ich arbeitete mit Dalí auch bei dem ,Phänomen der Extase' und den ,unfreiwilligen Skulpturen' zusammen: Autobusfahrscheine, aufgerollte U-Bahntickets, gedankenlos zerdrückt; Seifenstücke, Watte, durch den ,Automatismus' plastisch geformt ..."


Pablo Picasso: Minotaure. Titelseite der ersten
Ausgabe, 15. Februar 1933
Auch Breton übte einen unschuldigen, nicht vorgeprägten, wenn nicht gar verzerrten Blick auf die Realität. Eine seiner größten und ertragreichsten Vergnügungen scheint der Besuch des Trödelmarktes gewesen zu sein, an die Breton sich so erinnert: "Der erste unter all diesen Gegenständen, der uns wirklich anzuziehen vermochte, die Faszination des noch nie Gesehenen auf uns ausübte, war eine metallene Halbmaske. Sie fiel uns wegen ihrer Starrheit, zugleich aber auch dadurch auf, dass sie die Fähigkeit zu haben schien, sich für uns unbekannte Verwendungszwecke anzueignen. Der erste, ganz phantastische Einfall, der einem bei ihrem Anblick kam, war, sie sei ein später, hochgezüchteter Abkömmling des mittelalterlichen, den ganzen Kopf umschließenden Ritterhelms, der sich in einen Flirt mit einer samtenen Halbmaske eingelassen hätte."

Das Hintergründige der Alltagswelt, die magische Wirkung des Bekannten in neuen Zusammenhängen, beschäftigte auch René Magritte in seiner Malerei, deren überraschende, rational kaum zu ergründenden Effekte sich oft erst auf den zweiten Blick erschließen. Sein spezifischer Beitrag liegt im Bereich der Sprache oder vielmehr in der Bild gewordenen Reflexion über den Zusammenhang von Zeichen und Benennung. In der Zeitschrift "La Révolution surréaliste" veröffentlichte Magritte 1929 eine kommentierte Bilderfolge, von der ausgehend sich die besondere Problematik dieser Beziehungen erschließt. Die diese Bilder begleitenden Unterschriften wie, "Es gibt Gegenstände, die ohne Namen auskommen"über der Zeichnung eines Kahns oder "Ein Wort dient manchmal nur dazu, sich selbst zu bezeichnen" über dem von einer Kreislinie gerahmten Wort "ciel", führen zu einer Verunsicherung, die über einen rein intellektuellen Zweifel hinausgeht. Was in Frage gestellt wird, ist die Sicherheit, die eine Benennung, vergleichbar einem Besitzergreifen vermittelt. Wie lässt die Welt sich erfassen, verstehen, ordnen, beherrschen, wenn wir ihrer Namen nicht mehr sicher sein können, fragt Magritte. In seinen Wortbildern nutzt er die durch falsche, ungewohnte Benennungen ausgelöste Verunsicherung, um dem Betrachter die Komplexität und Absurdität des Normalen vor Augen zu führen.

La Révolution Surréaliste, 1929, Umschlag der
 Zeitschrift, in der "Un chien andalou" erschien
"Minotaure"

"Eines Nachmittags, als ich zu Picasso ging," berichtet Brassai in "Gespräche mit Picasso", seinen Erinnerungen an den Künstler, "überraschte ich ihn beim Komponieren der ersten Titelseite von ,Minotaure'. Es gelang ihm eine selten glückliche Montage. Auf einem Brett befestigte er mit Heftzwecken ein Stück Wellpappe, ähnlich denen, die er auch für seine Skulpturen benutzte. Darauf heftete er einen seiner Stiche, die das Monster zeigten, um den er Bänder arrangierte, Spitzen aus Silberpapier und außerdem etwas abgenutzte künstliche Blätter, die, wie er mir anvertraute, von einem nicht mehr modischen, abgelegten Hut Olgas stammten. Bei der Reproduktion der Montage bestand er darauf, daß die Heftzwecken auch zu sehen waren." Mit dieser schönen Titelseite erschien am 25. Mai 1933 die erste Nummer von ,Minotaure'.

"In diesem Augenblick", so fährt Brassai fort, "stand die surrealistische Gruppe an einem Wendepunkt. Das erste surrealistische Manifest war schon neun Jahre alt. Die Skandale, die Exzesse, die Streitereien fanden nicht mehr statt. Man war weit entfernt von der heillosen Verzweiflung, von dem Zustand der Wut, der regelmäßigen Sabotage ... Man sprach nicht mehr von den erinnerungswerten Zusammenkünften zur ,écriture automatique', den hypnotischen Schlafzuständen, den Traumberichten, die - so hoffte Breton - die ganze zukünftige Poesie befruchten sollten. In wenigen Jahren war diese für geheimnisvoll, unerschöpflich gehaltene, ,jedem zugängliche' Quelle erschöpft ... 1933 war der Surrealismus keine wilde Revolution mehr, sondern eine erfolgreiche Revolution, deren Betreiber Macht erlangt hatten. Mit neuer Verantwortung mußten André Breton und Paul Eluard versuchen, die Grundlagen der Bewegung zu festigen ... Wenn in ,Minotaure' der surrealistische Geist aufrechterhalten werden konnte, so mußte dennoch auf die kämpferische Attitüde verzichtet werden, die früher ihre Zeitschriften gekennzeichnet hatte ... und diese luxuriöse Publikation, deren Auflage auf dreitausend Exemplare begrenzt war - bei den weiteren Nummern waren es 1500 - war unerreichbar für proletarische Geldbörsen, konnte sich nur an ein Milieu von Snobs mit Titeln und Geld richten, an die ersten Mäzene und Sammler surrealistischer Werke.

André Breton: Zweites Surrealistisches Manifest. 1930,
Originalausgabe Paris, Bibliothèque Paul Destribats
Die Tatsache, dass 1929 die Zeitschrift "Le Surréalisme au Service de la Révolution" gegründet worden war und an die Stelle von "La Révolution surréaliste" rückte, während im gleichen Jahr die erste Nummer der von George Bataille herausgegebenen "Documents" erschien, bestätigt die oben zitierten Gedanken, mit denen Brassai die Herausgabe von "Minotaure" 1933 kommentierte. Der Surrealismus erlebte in den dreißiger Jahren einen Umbruch, der sich auch in der Zweigleisigkeit seiner Publikationsorgane äußerte. Auf der einen Seite hielt man den kämpferischen Surrealismus aufrecht, auf der anderen Seite betonte man den Surrealismus als Kunstbewegung, die sozusagen "autark" ihren Forschungen nachging.

"Documents" erscheint als Forum einer internationalen und gattungsübergreifenden Diskussion, an der sich unter anderen Georges Bataille mit zahlreichen Beiträgen beteiligte. Bedeutende Spezialisten, darunter Carl Einstein und Georges Babelon, äußerten sich über Ethnographie, mittelalterliche Kunst, über Paul Klee, Pablo Picasso oder Karl Blossfeldt. Es handelte sich nicht um eine Zeitschrift der Surrealisten, sondern um eine Publikation, deren Themenspektrum und deren Stil ohne den Surrealismus allerdings nicht denkbar gewesen wäre. Dennoch steht die Zeitschrift auch für einen neuen Abschnitt des Surrealismus. Vergleicht man "Documents" mit "La Révolution surréaliste", so fällt nicht nur die klarere Seitengestaltung auf, die mit dem Stil eines naturwissenschaftlichen, rein informativen Journals, wie er für "La Révolution surréaliste" bewusst angestrebt wurde, kontrastiert. Man bemerkt auch die Dominanz des Bildes, das Dichtung und Literatur ihren Platz streitig macht.

Neben dem neuen Charakter der surrealistischen Zeitschriften, trat der surrealistische Film als neue Gattung mit "L'Âge d'or" und "Un chien andalou" von Salvador Dalí und Luis Bunuel 1929 zum ersten Mal auf den Plan. "Un chien andalou" setzt ein mit einer berühmten Szene, in der eine Rasierklinge ein Auge durchschneidet - ein Bild, das Georges Bataille 1929 in "Documents" zu einigen grundlegenden Überlegungen inspiriert: "Denn das Auge - nach Stevensons köstlicher Formulierung ein kannibalischer Leckerbissen - ist für uns Gegenstand so großer Beunruhigung, daß wir niemals auf es beißen werden. Das Auge, das ja unter anderem das Auge des Gewissens ist, nimmt auch hinsichtlich des Entsetzens einen extrem hohen Rang ein. Allgemein bekannt ist ja das Gedicht Victor Hugos, das besessene unheimliche Auge, das lebende und von Grandville, in einem seinem Tod unmittelbar vorausgehenden Alptraum, grauenhaft imaginierte Auge …".

Yves Tanguy, Victor Brauner, Jacques Herold:
 Cadavre exquis. 1934, Bleistift und Collage auf Papier,
 26 x 19,5 cm, Privatbesitz
Surrealismus - Denk-Diktat ohne jede Kontrolle?

Bataille fasst hier am Ende des zweiten surrealistischen Jahrzehnts Wesentliches über den Surrealismus und die visuellen Künste zusammen: Im Vergleich zu anderen Avantgarde-Bewegungen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geht der Surrealismus über die Auseinandersetzung mit der Definition des Bildes und seiner Funktion hinaus.

Das physiologische Sehen und die normale Funktion des Auges haben keine Bedeutung; entscheidend ist das nach innen gerichtete Sehen und damit die Imagination. In diesem Sinn kann das Auge personifiziert werden und sich als albtraumhafte Erscheinung gebärden. Das Sehen ist neuen Bedingungen unterworfen und damit auch die Produktion des surrealistischen Künstlers, der der inneren Stimme, der Vision, der Halluzination, dem Traum folgt.

Als eine der letzten Manifestationen dieses surrealistischen Mythos darf man die Décalcomanie betrachten. Es handelt sich um eine Art Monotypie, bei der Farbe auf eine glatte Fläche gestrichen wird. Man drückt dann ein Blatt Papier darauf und löst es wieder ab: das so entstandene Werk kann man umändern, in eine neue Komposition verwandeln, oder es als eigenständiges Werk betrachten. Ob man für diese neue Technik, wie ihr Erfinder, Óscar Domínguez, Papier nutzt oder gebrauchte Leinwand, wie Max Ernst; auch hier stellt sich die zentrale Frage nach der Rolle des Zufalls und des Unbewussten. Denn in den meisten Fällen wird das Ergebnis dieses Prozesses, der denen von Collage und Frottage verwandt ist, nicht, wie Max Ernst 1936 in "Jenseits der Malerei" behauptete, ohne bewusstes Eingreifen des Künstlers erzielt.

Ebenso wie im Bereich der Dichtung die "écriture automatique" stehen in der bildenden Kunst Collage, Frottage oder Décalcomanie für ein Konzept, für ein Programm, das sich nicht völlig in die Realität umsetzen lässt - zumindest nicht in dem Sinn, in dem Breton es im Ersten Manifest propagierte, als "Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung". Die Mittel und Wege, die die Surrealisten wählten, um Rationalität und Vernunft im kreativen Prozess auszuschalten, konnten immer nur vermittelnd wirken. Sie konnten Assoziationen, Traumvorstellungen, unbewusste Empfindungen, instinktives Handeln aktivieren und den Zufall einbeziehen; immer setzte der Künstler diese Vorgaben jedoch in ein Werk seiner Erfindung um.

"First Papers of Surrealism". Philadelphia Museum of Art,
Oktober 1942, Installation in der Ausstellung,
451 Madison Avenue, New York, Marcel Duchamp Archive,
 Gift of Jacqueline, Peter and Paul Matisse
Das Erschließen des Unterbewusstseins war Programm und Idee, die es erst ermöglichten anders zu denken, die "Hochkultur", gegen die die Surrealisten sich richteten zu hinterfragen und zu unterlaufen. In diesem Sinn liegen die Errungenschaften des Surrealismus und insbesondere die der surrealistischen Malerei nicht nur im Bereich der neuen technischen Entdeckungen dieser Bewegung, sondern sie haben vor allem auf der Ebene eines neuen Verständnisses von Kunst ihre Bedeutung. An die Stelle des abgeschlossenen, perfekten Werks trat für die Surrealisten der Prozess, der das Werk entstehen ließ und die Idee, die es repräsentierte. Nicht nur die enge Verbindung von Malerei und Dichtung im Surrealismus sind aufschlussreich für diese Dominanz von Gedanke und Thema eines Gemäldes, auch die große Bedeutung der Werktitel, ohne den das betreffende Bild oft unverständlich bliebe - man denke nur an Magritte - unterstreichen diesen Gedanken.

Der Surrealismus verstand sich als gattungsübergreifende Bewegung, als "Denkfabrik", deren Produkte aus gesellschaftlichen, künstlerischen oder literarischen Fragestellungen heraus entwickelt wurden. Es handelte sich um eine kollektive Erfahrung, die mit Einbruch von Faschismus und Zweitem Weltkrieg, als viele der Surrealisten ins Exil gehen mussten, ein abruptes Ende fand.

Nach der Kapitulation Frankreichs flohen viele Surrealisten in das unbesetzte Gebiet des Landes und hofften, von dort aus nach Amerika zu kommen. Amerikanische Freunde bildeten ein Hilfskomitee, das ihnen die Unterkunft in einem Schloss bei Marseille bot und ihre Ausreise in die Vereinigten Staaten vorbereitete. Breton, Wifredo Lam, Masson und Claude Lévi-Strauss fuhren im Frühjahr 1941 nach Martinique. Lam reiste von dort aus weiter nach Santo Domingo, die anderen gingen nach New York. Max Ernst gelang es, im Juli 1941 nach New York auszureisen. Man Ray war schon im August 1941 in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt und ließ sich bald darauf in Kalifornien nieder.

Um 1942 waren New York und seine Umgebung zum Zentrum neuer surrealistischer Aktivitäten geworden. Es war eine historisch einzigartige Situation, in der sich dort die Surrealisten mit anderen ausgewanderten Künstlern wie Chagall,Léger, Lipchitz und Mondrian zusammenfanden. Aber die Pariser Atmosphäre ließ sich nicht verpflanzen. Sie war historisch geworden. Alle fanden es schwer, miteinander in Kontakt zu bleiben. "Das Leben im Café fehlte uns", schreibt Max Ernst im Rückblick. "So hatten wir Künstler in New York, aber keine Kunst. Einer allein kann keine Kunst machen. Sie ist weitgehend davon abhängig, daß man seine Ideen mit anderen austauschen kann."

Quelle: Eine neue Erklärung der Menschenrechte. In: Cathrin Klingsöhr-Leroy: Surrealismus. Taschen, Köln, 2011. ISBN 978-3-8365-1416-3. Zitiert wurden Seite 6 bis 25.

Im Infoset zur CD befindet sich der Text »Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Europäische Avantgardebewegungen im Vergleich«(Unterlage zu einer Vorlesung von W. Eckel, Universität Mainz)


CD bestellen bei JPC

CD bestellen bei Amazon

CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 50 MB

Filepost --- Hotfile --- Depositfiles --- EmbedUpload --- Rapidgator
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files

Das Glogauer Liederbuch: Lieder, Schwänke und Schwänze

$
0
0
Die musikalische Vergangenheit Zentraleuropas ist überreich an unbekannten Schätzen. Die Musik des "Glogauer Liederbuchs" gehört dazu. In dieser Handschrift stehen 292 Lieder, Kirchengesänge und Instrumentalstücke, die um das Jahr 1480 einer kleinen klösterlichen Gemeinschaft in Niederschlesien zu alltäglicher Unterhaltung dienten. Oder auch zu sonntäglicher Andacht - man machte da offenbar keinen großen Unterschied. Die Sammlung selbst vermittelt eine Freude am privaten Musizieren, wie sie heute wohl selten geworden ist.

Es herrscht ein intimer Ton. Fast alle Stücke sind dreistimmig, auf drei Saiteninstrumenten oder mit Singstimmen in den Lagen SAT oder ATB ausführbar, auch transponiert und vokal-instrumental gemischt wenn nötig. Viele Stücke, vor allem die textierten Lieder, sind sehr kurz, so als ob sie nur eine Anregung für längeres Improvisieren geben sollten. Auch weitere Strophen, die in der Handschrift oft fehlen, konnten aus dem Gedächtnis gesungen werden. Die Sammlung enthält viele Vertonungen damals verbreiteter Lieder, deren bekannte Grundmelodie entweder in der Oberstimme (Discantus) oder in der mittleren Hauptstimme (Tenor) vorgetragen wird, während die anderen Stimmen Kontrapunkte, Ornamente und harmonische Begleitung ausführen. Einige Melodien kommen mehrmals vor, in verschiedenen kontrapunktischen Bearbeitungen. Die Stücke sind nicht nach Gattungen oder Funktionen geordnet oder gar nach geistlichen oder weltlichen Inhalten, sondern bunt vermischt niedergeschrieben. Man sang oder spielte sozusagen quer durch den Garten, und genoss dabei Wechsel und Wiederkehr musikalischer Gestalten.

Wichtig ist, dass das "Liederbuch" nicht aus einem einzigen Band besteht, sondern aus drei separaten Stimmbüchern (Discantus, Tenor, Kontratenor). Das "Glogauer Liederbuch" ist der älteste bekannte Stimmbuchsatz aus Zentraleuropa. Diese Form eines Musikbuchs diente einer kleinen Gruppe gleichberechtigter Musiker, nicht etwa einer Domkapelle oder einem höfischen Instrumentalensemble; es wurde nicht auswendig musiziert, sondern vom Stimmbuch abgelesen. Die Benutzer waren musikalische Amateure: nicht Berufsmusiker, die gewöhnlich auswendig spielten, sondern gebildete Liebhaber oder Studenten, die mensurale Notation lesen konnten. Ikonographische Belege für diese Praxis sind im 15. Jahrhundert noch sehr selten; Abbildungen nach 1500 zeigen meist gutgekleidete Herren und Damen, die sich zum Singen und Spielen bei einem "Hauskonzert" zusammengefunden haben. Kurz nach 1500 entstanden in Italien und Süddeutschland auch die ersten Musikdrucke in Stimmbüchern.

Unsere drei Stimmbücher sind im wesentlichen von einer einzigen Hand geschrieben. Anzeichen von Sachverständnis und Sorgfalt sind die immer klare Schrift, das Vorhandensein eines genauen alphabetischen Inhaltsverzeichnisses, und die deutliche Markierung von Stückanfängen mit oft farbigen Initialen. Die musikalische Notation ist sehr kompetent. Wer war dieser Schreiber und Hersteller der Handschrift, und wer waren die ersten Benutzer?

Quentin Massys: Der Geldwechsler und seine Frau,
 1514, 71 x 68 cm, Paris, Louvre
Das "Glogauer Liederbuch" wurde 1874 in der Königlichen Bibliothek Berlin bemerkt und erstmalig beschrieben. Später erhielt es den Namen "Glogauer Liederbuch", weil es einen im 16. Jahrhundert geschriebenen Besitzvermerk des Doms von Glogau (Glogów) enthält. Lange hat man geglaubt, die Handschrift sei in Glogau entstanden und habe vielleicht der dortigen Lateinschule gehört. Sie war nach 1945 verschollen, tauchte aber 1977 in der Biblioteka Jagiellonska, Kraków, wieder auf, wo sie heute verwahrt wird. Eine vollständige Edition in vier Bänden und eine Faksimile-Ausgabe sind erschienen.

Schon in den 1930er Jahren wurde vermutet, dass die Handschrift mit einem bestimmten geistlichen Benutzer zusammenhängt: dem aus Grünberg (Zielona Góra) stammenden Andreas Ritter (ca. 1445-1480). Auf ihn bezieht sich nämlich eine humorvoll-satirische Motette der Handschrift (Probitate eminentem), eine Komposition des böhmischen Musikers Petrus Wilhelmi de Grudencz (geb. 1392). Zwar ist nicht auszuschließen, dass Wilhelmi die Motette auf jemand anderen schrieb und der Name Andreas Ritters erst im Text unserer Handschrift substituiert wurde, doch stimmen die ironischen Aussagen der Motette über diesen "hervorragenden Ehrenmann" mit Ritters bekannter Biographie auffallend überein. Er soll nämlich dem Alkohol und den Frauen mindestens ebenso zugetan gewesen sein wie dem klösterlichen Leben. Ritter wirkte bis ca. 1465 an der Domschule in Glogau und wurde anschließend Kanonikus im Augustiner-Chorherrenstift Sagan (Zagan). Grünberg, Glogau und Sagan liegen nahe beieinander im Bereich der damaligen niederschlesischen Piastenherzogtümer, heute Provinzen Westpolens. Eine andere Motette der Handschrift (Sempiterna ydeitas) wurde zur Feier der Geburt eines Piastenherzogs (Jan, Sohn von Friedrich und Ludmila) im Jahre 1477 komponiert; da die Handschrift also nicht lange vor diesem Jahr begonnen worden sein kann, dürfte sie aus dem Stift Sagan selbst stammen, falls sie etwas mit Andreas Ritter zu tun hatte.

Eine entscheidende Figur scheint auch der damalige Abt des Chorherrenstifts, Martin Rinkenberg, zu sein. Er starnmte aus Breslau (Wroclaw) und erwarb 1441 den Magistergrad an der Universität Leipzig. Seit 1468 war er Abt von Sagan, wo seine Gelehrsamkeit und Musikliebe, gerade im privaten und weltlichen Bereich, ihn regelmäßig mit Ritter zusammengebracht haben muss. Am 4. März 1480 kam es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen den beiden, nachdem Ritter von einer Sauftour aus der Stadt zurückgekehrt und von Rinkenberg zur Rede gestellt worden war. Im Glauben, den Abt getötet zu haben, stürzte sich Ritter aus dem Fenster und starb. Rinkenberg selbst wurde 1482 vom Schlag getroffen und blieb bis an sein Lebensende (1489) halbseitig gelähmt. Die Chronik der Äbte von Sagan, deren Abschnitt über Rinkenberg von einem frömmeren Nachfolger stammt als er es war, kritisiert ihn wegen seiner weltlichen Gesinnung: Mehrstimmige Musik sei traditionell im Kloster unzulässig, und Frauen dürften den Klosterbereich schon gar nicht betreten. Im frühen 16. Jahrhundert führte der Saganer Abt Paul Lemberg in Grünberg die Reformation ein. Wir vergessen heute leicht, dass der Reformation eine Periode lockeren Klosterlebens vorausgegangen war, in der eine gebildete Elite lebensfreudigen Interessen frönte.

Endgültige Beweise, ob Ritter oder Rinkenberg Besitzer bzw. Auftraggeber der Stimmbücher waren, und wer sie eigentlich geschrieben hat, gibt es freilich bisher nicht. Doch eine von Zeitgenossen beachtete musikalische Stiftung Rinkenbergs hat darin einen Niederschlag gefunden. Denn bei dem dreistimmigen Ave regina celorum, mater regis angelorum, das entsprechend dem Stiftungstext von den Schülern der Stadtschule regelmäßig im Kloster vorgetragen werden sollte, handelt es sich um die berühmte Antiphon dieses Titels von dem Engländer Walter Frye, die in der Handschrift notiert ist.

Tatsächlich stammen die Musikstücke der "Glogauer" Sammlung aus vielen Ländern und vermitteln einen hohen Standard europäischer Mehrstimmigkeit. Sicher wurden nicht alle in Niederschlesien komponiert. Woher kommen die importierten Kompositionen? Eine oder mehrere Vorläufer-Sammlungen, aus denen geschöpft wurde, dürften an den Universitäten von Leipzig und Kraków existiert haben, wo Rinkenberg, Ritter und vermutlich andere schlesische Musikfreunde studierten. Die etwa 66 Konkordanzen mit anderswo erhaltenen Stücken weisen nach Sachsen, Süddeutschland, Frankreich, England, Italien und den Niederlanden; ein paar textlose bzw. lateinisch textierte Lieder dürften böhmischen oder polnischen Ursprungs sein. Viele textlose Stücke, und auch manche mit so hübschen Phantasienamen wie "Pfauenschwanz" und "Seidenschwanz" konnten als ursprünglich vokale Kompositionen französischer Herkunft identifiziert werden. Die deutschen Texte von etwa 70 Liedern sind u.a. in Schlesien, Sachsen, Böhmen/Mähren, Nord- und Süddeutschland überliefert. Jedoch neben vielen importierten Stücken gibt es auch "Nachfolgestücke", die diesen ähneln und die nur hier überliefert sind, also lokalen Ursprungs sein dürften. Man schöpfte aus dem internationalen Fundus und komponierte dazu Neues in ähnlichen Stilarten. Das ergab musikalische "clusters" ähnlicher oder auf derselben Melodie beruhender Stücke. Die Anordnung der vorliegenden Einspielung in "Suiten" verwandten Inhalts reflektiert diese Zusammengehörigkeit.

I. Das älteste geistliche Lied der Sammlung ist "Christ ist erstanden". Die Melodie im "dorischen" (d-)Modus war ursprünglich von der lateinischen Ostersequenz "Victimae paschali laudes" abgeleitet. Sie ist hier in zwei Vertonungen unterschiedlich verarbeitet. Der dritte Satz mit diesem Text, der an zweiter Stelle gespielt wird (GLOG 127), verwendet eine andere Grundmelodie, die dem evangelischen Kirchenlied "In dich hab ich gehoffet, Herr"ähnelt.

II. Die Sammlung enthält mehrere als "Schwanz" bezeichnete Stücke, die wahrscheinlich als Tänze galten ("schwanzen" war eine Wortform für "tanzen"). "Der Rattenschwanz" ist wohl für Instrumente bestimmt: Er hat keine Liedform, sondern besteht aus drei unterschiedlichen Abschnitten, die hintereinander weg gespielt werden. Solche aneinandergereihten Tanzabschnitte hießen puncta ("Perioden"). Im zweiten Abschnitt, der zweistimmig ist, werden verschiedene Arten kanonischer Imitation erprobt. Im dritten Abschnitt breitet sich ein einfaches rhythmisches Motiv aus.

III. Der dreistimmige Satz von GLOG 237 ist wahrscheinlich französischer Herkunft. Man unterlegte der Mittelstimme das deutsche Liebeslied „O wie gern und doch entbern"; so wurde ein "Tenorlied" daraus. Um es geistlich zu "verkleiden" (und so im Kloster weniger Anstoß zu erregen?), schrieb man darunter noch einen Hymnus auf St. Barbara. Eine textlose Bearbeitung in unserer Handschrift ("Beth") steht in einer nach dem hebräischen Alphabet geordneten Gruppe. Hier wird die später so genannte "äolische" (a-)Tonart, die für viele Stücke der Handschrift typisch ist, durch imitierende Motive hervorgehoben.

IV. Ein weitbekanntes deutsches Schwanklied mit der Mahnung "Rumpel an der Türe nicht" erhielt in den Niederlanden und Italien den abgekürzten Namen "Rompeltier". Die Frau lässt ihrem Liebhaber ausrichten, ihr Ehemann sei nicht, wie geplant, zur Mühle gefahren, er solle also nicht kommen und an die Tür donnern! Der Liebhaber kann dementsprechend kaum anderes tun als sich "All voll" besaufen.

V. Zartere Töne schlagen die im "dorischen" Modus gehaltenen Morgenstern-Lieder an. In der Gattung des Tagelieds beklagen die Liebespaare das Erscheinen des Morgens, der sie trennen wird. Der Morgenstern diente in vielen Liedern zum Ausdruck allgemeiner Liebessehnsucht (wie in "Ich sach einsmals den lichten Morgensterne") oder auch religiöser Erwartung.

VI. Diese Gruppe steht im "lydischen" (F-)Modus. Das deutsche Strophenlied "Zu aller Zeit" (eine sogenannte "Hofweise" wird mit seinem vollen Text vorgetragen, der aus einer anderen Quelle ergänzt ist. Das wunderbare Rondeau "Helas, que pourra devenir" des Nordfranzosen Firminus Caron ist in der Handschrift mit dem hübschen Phantasienamen "Seidenschwanz" ausgezeichnet, als eines der "Schwanz" genannten Tanzstücke. Es erhielt dazu noch den Text eines Marienhymnus. Das Stück ist bei genauem Hinsehen oder -hören ein unglaubliches Puzzle aus Imitationen im engsten Stimmabstand.

VII. "Elende du hast umfangen mich" ist textlich ebenfalls eine Hofweise, deren Melodie aber auch mit französischem Text ("Vive, madame, par amours") bekannt war; zudem gab es mehrere verschiedene Stücke unter dem allgemeinen Titel "Elend" - was sich auf den in der Ferne (im "Ausland") weilenden Liebenden bezieht.

VIII. Das berühmteste Lied des mittleren 15. Jahrhunderts war ohne Zweifel Leonardo Giustinianis italienische ballata"O rosa bella" allerdings in der Vertonung des Engländers John Bedyngham (ca. 1440). Jahrzehntelang hat man an dem Stück mit vokalen und instrumentalen Bearbeitungen herumgebastelt. In unserer Handschrift erscheinen gleich vier Quodlibets (Potpourris) über die Hauptmelodie, die insgesamt vierzig weitere bekannte Melodien wie einen Blumengarten um sie herumgruppieren.

IX. Der Text der Hofweise "Ich bins erfreut" ist in einer anderen Quelle "Anno 67" datiert. Das schöne vierstimmige Stück im "lydischen" Modus scheint jedoch wieder einmal eine französische Chanson zu sein, nach der Form zu urteilen. Aus dem deutschen Sprachraum stammt hingegen das Tenorlied "Die libe ist schön" (weiterer Text unbekannt), In einer stolligen AAB-Form.

X. Stücke mit dem Namen "Pfauenschwanz" gab es seinerzeit mehrere. In unserer Handschrift stehen zwei: der vermutliche Ahnherr der gesamten "Schwanz"-Familie, eine vierstimmige Komposition des Franzosen Barbingant (Vorname unbekannt, ca. 1460). Dieselbe Tenormelodie wird ganz anders bearbeitet von dem Niederländer Paulus de Broda (eigentlich de Rhoda). Beide Stücke sind jedoch ausgeschriebene instrumentale Improvisationen über eine Tanzmelodie.

Quentin Massys: Erasmus von Rotterdam,
1517, 59 x 47 cm, Rom, Palazzo Barberini,
Galleria Nazionale d'Arte Antica
XI. In dieser "lydischen" Gruppe hören wir einen damaligen Schlager, das Tenorlied "In Feuers Hitz so brennet mein Herz". Die Worte sind in einer mitteldeutschen Quelle zu einer geistlichen Komposition Heinrich Isaacs als Alternativtext eingetragen; daneben steht am Rand die Zeichnung eines Mönchs mit einer Frau am Arm. Der vierstimmige Satz unserer Handschrift hat auch ein lateinisches Mariengebet als geistliche Verkleidung ("Kontrafaktur") erhalten. Das Stück mit dem Liedtext "Ach reine zart" erscheint wie eine - sehr gekonnte - Improvisation über "In Feuers Hitz".

XII. Das französische Rondeau "Entrepris suis" des Italiener Bartholomeus Bruolo ist wahrscheinlich die älteste mehrstimmige Komposition der Handschrift (ca. 1430). Niemand weiß genau, warum das (umfangreiche) Stück allerorten beliebt war - wahrscheinlich aber, weil die imitative Satztechnik und die ziselierte Ornamentik etwas echt Geniales haben. Der Komponist ist nicht weiter bekannt.

XIII. Diese beiden "dorischen" Lieder ranken sich um Frauennamen. "Laetare Germania" ist eine Versantiphon auf die Hl. Elisabeth, Schutzpatronin Deutschlands, in einer sanglich gesetzten Choralmelodie. "Elslein, liebstes Elselein" ist ein volkstümliches Dialoglied zwischen zwei "durch tiefe Wasser getrennte" Liebenden.

XIV. Hier sind im "mixolydischen" (G-)Modus zwei Schwanklieder geläufigster Thematik vereint. "Auf rief ein hübsches Fräuelein" ist ein echtes Reigenlied, in auffallendem Dreierrhythmus und mit dem typischen Ruf "Hoiho", der ursprünglich ein zur Tanzregie gehörendes Signal war. "Zenner, greine!" gehört zu den verbreiteten Spottliedern auf den gehörnten Ehemann, der der Untreue seiner Frau hinterher "greint".

XV. "Groß Sehnen" war damals ein Standardtitel für Dutzende von Stücken, denen verschiedene Melodien zu Grunde lagen. Die hier gewählte Komposition basiert auf dem berühmten anonymen Rondeau "J'ay pris amours a ma devise" Die zwei Oberstimmen des Originals werden als Unterstimmen (Tenor und Bass) verwendet, während anstelle der ursprünglichen Tiefstimme eine neue Oberstimme hinzugefügt ist. "Die Welt" ist eine volkstümliche Ballade, von der leider nur die erste Strophe bekannt zu sein scheint.

Quentin Massys: Bild des Kanonikus Stephan
Gardiner. 73 x 60 cm, Wien, Palais Lichtenstein
XVI. Auch der "jonische" (C-)Modus kommt in der Sammlung vor, obwohl auch dieser Begriff erst später geprägt wurde. "Die Katzenpfote" - ein Name, der die "Schwanz"-Namen bereits voraussetzen dürfte - ist ein ingeniös komponiertes Instrumentalstück mit unzähligen Kurzimitationen und Sequenzen. Das titellose Stück (GLOG 100) ist eine in mehrere puncta gegliederte Komposition mit liedartiger Oberstimme, aber nicht in Liedform: vergleichbar der instrumentalen fantasia, wie sie damals schon in Italien gepflegt wurde.

XVII. Die Leise "Nu bitten wir den heiligen Geist" stammt aus dem 13. Jahrhundert. Die Vertonung legt die alte Melodie relativ unverziert in die Oberstimme, wie bei anderen geistlichen Gesängen unserer Sammlung, und begleitet sie mit bewegteren Unterstimmen. Das abschließende "Kyrieleis" ist im Dreierrhythmus reich ausgearbeitet. Der Innigkeit dieses Pilgerliedes hatte auch Martin Luther nichts hinzuzufügen, außer dass er drei weitere schöne Strophen hinzudichtete.

XVIII. "Der Vöglein Art" ist eine Hofweise mit drei langen Strophen (aus anderer Quelle hier ergänzt), im "mixolydischen" Modus. Wegen der engen Bindung zwischen musikalischem und textlichem Rhythmus ist vorstellbar, dass das Lied mehrstimmig komponiert wurde, also nicht auf einer vorher bekannten Grundmelodie aufbaut.

XIX. Als man in Sagan keine "Schwänze" mehr als Namen für Unterhaltungsmusik übrig hatte, musste man sich neuartige Phantasienamen einfallen lassen, darunter die "Katzenpfote" und die "Eselskrone", womit man potentiell im Reich des Spottes angekommen war. Die beiden Stücke sind im gleichen imitierenden Stil geschrieben, der blitzsauberes Zusammenspiel erfordert.

XX. Drei Lieder im "dorischen Modus" beschließen unsere Auswahl. "Tärste ich" und "Ach Gott, wie sehr" handeln von Liebessehnsucht; ersteres hat stollige AAB-Form und mag auf einer präexistenten Grundmelodie beruhen - die sehr an die Unterstimme von "J'ay pris amours" gemahnt. "Ach Gott" könnte eine Originalkomposition auf diesen Text darstellen. "Der Wächter an der Zinnen" (weiterer Text unbekannt) ist sicher ein Tagelied, vielleicht auf eine volkstümliche Melodie. Die diminutive Form der letzten beiden Lieder regt zum Weiterspinnen, Ornamentieren und Improvisieren an.

Quelle: Reinhard Strohm, im Booklet

Diese Aufnahme ist dem Andenken von Dietrich Schmidtke gewidmet, einem Kenner und Liebhaber früher deutscher Literatur und des Glogauer Liederbuches.

Track 5: Gloggauer Liederbuch 237: O wie gern und doch entbern



TRACKLIST
DAS GLOGAUER LIEDERBUCH (THE GLOGAU SONG BOOK)


Suite I
01. Christ der ist erstanden (GLOG 124) [00:36]
02. Christ ist erstanden (GLOG 127) [00:46]
03. Christ ist erstanden (GLOG 94) [01:12]

Suite II
04. Der ratten schwanz (GLOG 113) [01:53]

Suite III
05. In praeclare Barbarae (GLOG 237)
Beth - O wie gern (GLOG 285)
O wie gern und doch entbern (GLOG 237) [04:11]
Suite IV
06. Es sollt ein man kein möle fern (GLOG 80)
Rompeltier (ODH 25) [01:08]
07. All voll (GLOG 183) [01:10]

Suite V
08. Der morgenstern, der ist uns aufgedrungen (GLOG 253)[02:01]
09. Ich sachs eins mals, den lichten morgensterne
(GLOG 189, 53) [02:48]
10. Die nacht, die wil verbergen sich (GLOG 249) [02:41]

Suite VI
11. Der seiden schwanz (GLOG 8) [01:08]
12. Zu aller zeit (GLOG 224) [03:03]

Suite VII
13. Elende du hast umfangen mich (GLOG 134) [02:54]
14. O rosa bella (1. Str., CORD 7) [01:56]
15. O rosa bella (BUX 103) [01:49]
16. O rosa bella / In feuers hitz (GLOG 119) [01:37]
17. O rosa bella (BUX 39) [01:29]
18. O rosa bella / Hastu mir die laute bracht (GLOG 117)[01:32]
19. O rosa bella / Hastu mir die laute bracht
(diminutions by Uri Smilansky) [01:45]
20. O rosa bella / Wer da sorget (GLOG 118) [01:34]
21. O rosa bella (BUX 104) [01:29]
22. O rosa bella (2. Str., TR89 575) [01:50]

Suite IX
23. Ich bins erfreut (GLOG 246)
Die libe ist schön (GLOG 227) [02:55]

Suite X
24. Der pfauen schwanz - Paulus de Broda (GLOG 22) [01:50]
25. Der pfauen schwanz (GLOG 208) [00:57]

Suite XI
26. In feuers hitz (GLOG 221)
Ach reine zart (Glog 243)
Mole gravati criminum (GLOG 221) [04:00]

Suite XII
27. Der entrepris (GLOG 102) [02:19]

Suite XIII
28. Laetare, Germania (GLOG 21) [01:04]
29. Elslein, liebstes Elslein (GLOG 250) [02:21]

Suite XIV
30. Auf rief ein hübsches freuelein (GLOG 251) [01:02]
31. Zenner, greiner, wie gefelt dir das (GLOG 88) [00:39]

Suite XV
32. Groß senen / [J'ay pris amours] (GLOG 285) [01:14]
33. Die welt, die hat einen tummen sin (GLOG 256) [04:18]

Suite XVI
34. Die katzenpfote (GLOG 13) [01:02]
35. [untitled] (GLOG 100) [03:13]

Suite XVII
36. Nu bitten wir den heiligen geist (GLOG 123) [01:35]

Suite XVIII
37. Der vöglein art (GLOG 217) [02:38]

Suite XIX
38. Die eselskrone (GLOG 147) [01:44]

Suite XX
39. Tärste ich mit libe kosen (GLOG 220) [01:44]
40. Ach got, wie ser zwingt mich die not (GLOG 252) [01:48]
41. Der wächter an der zinnen (GLOG 248) [00:58]

Playing Time: [78:17]

Abbreviations of Sources:

GLOG = Glogauer Liederbuch / Glogau Song Book
(Kraków, Biblioteka Jagiellonska, Ms. Mus 40098)
BUX = Buxheimer Orgelbuch / Buxheim Organ Book
(Munich, Bayerische Staatsbibliothek, Cim. 352b)
ODH = Harmonice musices odhecaton A
(Venice: Ottaviano Petrucci, 1501)
CORD = Chansonnier Cordiforme
(Paris, Bibliothèque Nationale de France, Rothschild 2973 (I.5.13))
TR89 = Trent Codex 89 (Trento, Castello de Buonconsiglio,
Monumenti e Collezioni Provinciali, (formerly MS 89) MS 1376.)

The Early New High German sung texts, along with Modern German and
English translations, are included in the infoset ("Libretto.Pdf")Martin Hummel, Baritone 1,3,5,6,7,12,16,18,20,23,26,30,31,33,37,40
Sabine Lutzenberger, Soprano 2,3,7,9,14,16,20,22,28,29,36

ENSEMBLE DULCE MELOS:
Yukiko Yaita, Recorder, Chekker
Margit Übellacker, Dulcemelos, Hackbrett
Elizabeth Rumsey, Renaissance gamba, Viola d'arco
Uri Smilansky, Viola d'arco
Marc Lewon, Plectrum lute, Gittern, Viola d'arco, Renaissance guitar

Recorded at the Refektorium, Heilsbronn, Germany, from 9th - 12th August, 2010
Executive producer: Thorsten Preuss - Producer and Editor: Johannes Müller
Engineer: Klaus Brand
Cover: Quentin Massys (1466-1530)Portrait of a Canon, Liechtenstein Museum,Vienna

DDD
(P) + (C) 2012


Track 33: Gloggauer Liederbuch 256: Die welt, die hat einen tummen sin



Europäische Literatur: Über die Kontinuität in der Dichtkunst von Homer bis heute

Quentin Massys: Die Beweinung Christi, (Mittelstück des Johannes-Altars), 1508-11, 260 x 273 cm,
Antwerpen, Museum der Schönen Künste (bis 2017 in der Kathedrale Antwerpen)
Wer nicht von dreitausend Jahren
sich weiß Rechenschaft zu geben,
bleib' im Dunkeln unerfahren,
mag von Tag zu Tage leben.

1827 bildete Goethe das Wort »Weltliteratur«. »Nationalliteratur«, sagte er wenig später zu Eckermann, »will jetzt nicht viel sagen; die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.«

Vor Goethe hat es den Begriff nicht, die Sache kaum gegeben, zum mindesten nicht, wie wir sie heute verstehen. Sie ist ohne die Romantik so undenkbar wie ohne des alten Goethe unermüdete Lust, Fremdes zu ergreifen und sich anzuverwandeln. Dante und Shakespeare, Cervantes und Calderon, aber auch die Dichtung der Inder und Araber mußten entdeckt sein, um Goethe den Reichtum seiner Anschauung zu geben. Er sah sich erst entwickeln, was er Weltliteratur, oder auch wohl europäische Literatur, nannte. Eine Weltliteratur im vollen Sinne seiner Vorstellung hat sich allerdings auch später nicht bilden können.

Die Betrachtung der Literatur ging von den Dichtern und Kritikern in die Hände der Gelehrten über; aus Literaturkritik und Literärgeschichte wurde unter den Impulsen der Historischen Schule eine historische Wissenschaft, die Literaturgeschichte. Ihr erstes bedeutendes Zeugnis in Deutschland war Gervinus' Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen (1835). Seitdem sind über hundert Jahre vergangen, aber niemals hat der Gedanke der Weltliteratur Einfluß auf die Literaturgeschichtsschreibung gewinnen können. Mit den Nationalstaaten haben die Nationalliteraturen und ihre Geschichten den Siegeszug angetreten. Goethe hatte unrecht behalten.

Nur in der Geschichtswissenschaft hat sich der Gedanke der Weltgeschichte erhalten. Ranke starb über seinem Alterswerk, aber Lamprecht gründete ein »Institut für Kultur- und Universalgeschichte«. Der Weg führte über Spengler zu Toynbee. Keinem dieser Versuche hat die Literaturwissenschaft etwas Vergleichbares an die Seite stellen können. Waren in der Geschichte Zusammenhänge sichtbar, die dem Literaturhistoriker entgehen mußten?

Hätten vergleichbare Gedanken ihren Einzug in die literarhistorische Forschung gehalten, dann hätten sie diese von Grund auf revolutionieren müssen. Es hätte sich etwas ereignet, was sich hundert Jahre lang nicht ereignet hatte. Eine neue Wissenschaft wäre entstanden, die wir bis dahin nicht kannten.

Quentin Massys: Johannes-Altars (Linker Flügel)
Und nun gibt es diese Wissenschaft! In einem Augenblick, in dem das Wort Europa immer wieder als letzte, rettende Möglichkeit zitiert wird, begegnen wir einem Buche, das Europa als Wesenheit, nicht als Utopie erweist, in dem Europa mehr als ein Name, in dem es historische Anschauung geworden ist: E. R. Curtius Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, A. Francke, Bern, 1948.

Man liest, atemlos vor dem Zauber des Neuen, das sich auftut; man wird Zeuge von Entdeckungen, erlebt eine neue Wissenschaft, sieht sie sich entfalten, an den gewaltigsten Problemen sich bewähren, begegnet ganz neuen Fragen, die mit ganz neuen Methoden beantwortet werden und man wird dieser Wissenschaft verfallen. Aber bei der nächsten Lektüre wird der Eindruck vielleicht ein ganz anderer sein. Das Bewußtsein: »so muß es gemacht werden« wird sich in Unsicherheit verwandeln, denn diese neue Wissenschaft ist nicht lehrbar; man wird ihr nicht gewachsen sein. Und so werden Begeisterung und Entmutigung einander die Hand reichen.

Was ist dieses Buch? Es ist keine Geschichte der Europäischen Literatur, keine Methodenlehre, keine Systematik. Aber wenn wir es gelesen haben, besitzen wir einen neuen Reichtum an Anschauungen und Kenntnissen über die Geschichte der Europäischen Literatur, über Wesen und Formen dieser Geschichte wie der Literatur selbst und über unsere Erkenntnismöglichkeiten.

Der historischen Idee, die das Buch hat entstehen lassen, liegt eine ontologische zugrunde. Alle Literatur kann überall und jederzeit gegenwärtig sein. Das ermöglicht einen Lebensbezug, den keine andere Kunst in demselben Maße zu vermitteln in der Lage ist. Es bedeutet aber zugleich, daß »die Literatur der Vergangenheit in der jeweiligen Gegenwart stets mitwirksam sein kann«. Homer in Virgil, Virgil in Dante, Calderon in Hofmannsthal. Und hier setzt nun der Gedanke der Kontinuität ein. Es gibt ein geschichtliches Gebilde, das von Homer zu Hofmannsthal reicht. Zwischen beiden hat sich eine Entwicklung vollzogen, die durch Kulturkatastrophen gestört, aber nie unterbrochen worden ist, die beide verbindet und Hofmannsthal den Besitz Homers ermöglicht.

Man ist gewöhnt, die Geschichte der griechischen und lateinischen Literatur als Einheit zu sehen, der mit dem Ausgang der Antike ein Ende gesetzt ist. Erst in der Karolingerzeit entwickeln sich die Nationalliteraturen. Über deren Zusammenhänge sind wir in gröberen und feineren Zügen immer unterrichtet gewesen. Aber bis zum Erkennen der Europäischen Literatur als Einheit in Curtius' Sinne konnten diese Kenntnisse nicht befähigen. Zwischen Spätantike und Karolingerzeit liegen die »dunklen Jahrhunderte«, deren Literatur fast ausschließlich den wenigen Vertretern der mittellateinischen Philologie bekannt gewesen ist. In diesen »dunklen Jahrhunderten« den Schlüssel für die europäische Tradition zu suchen, ist die geniale Idee dieses Buches gewesen. Darum ist es in erster Linie ein Buch über das Mittelalter. Aus »Mittelalterstudien« ist es erwachsen. Aber in dem Maße, in dem sich der Grundgedanke als richtig erwies, mußte es sowohl die modernen als die antiken Literaturen heranziehen.

Quentin Massys: Johannes-Altars (Rechter Flügel)
Die achtzehn Kapitel gliedern den Stoff nicht systematisch und nicht historisch. »Freier Wechsel zwischen historischen Zeiten und Räumen ist für unsere Untersuchung notwendig. Genaue Chronologie ist unser Rückhalt, nicht unser Leitfaden.« Der Weg führt vielmehr von grundsätzlichen Tatbeständen zu komplizierteren Begriffen und Gebilden, die die Bedeutung der zunächst aufgewiesenen Tatsachen mit immer feineren Methoden erhellen. Rückgriff und Vorgriff, Wiederkehr von Problemen, Gegenständen und Personen »spiegeln die Verkettung der historischen Bezüge«.

Auf welche Art zeigt diese neue Wissenschaft nun die Zusammenhänge zwischen Antike und Moderne, den Weg der Entwicklung über' das lateinische Mittelalter, wie macht sie den erahnten Begriff der Europäischen Literatur sichtbar?

Curtius hat feinere Methoden auszubilden gewußt als die vergleichende Literaturwissenschaft des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Sie beginnen bei den kleinstem und konkretesten Grundformen (»Konkretes als Forschungsziel«!) und erheben sich in Gebiete, die weit jenseits der Einflußgeschichte liegen. Nehmen wir ein Beispiel. Bei Ronsard begegnet man der Metapher: »die Welt ist ein Theater«. Das wird zunächst nicht auffallen, aber Calderon kennt sie auch, Hofmannsthal auch. Und nun kann man ihren Weg von Platon zu Augustin, zu den Mittellateinern, die sie dem elisabethinischen Zeitalter vermittelten, zu den Franzosen, den Spaniern bis in die Gegenwart verfolgen. Es ist eine ununterbrochene Wanderung, deren Nachvollzug in jeder Epoche neue Erlebnisse bringt. Der Abschnitt, der ihr gewidmet ist, gehört zu den schönsten des Buches. An wenigen Stellen geht die Geschichte einer Kleinform so überzeugend in die große und größte Literatur- und Ideengeschichte über. Selten hat Curtius so wie hier durch die Darbietung von Fakten die Geschichte selbst gegeben.

So wie sie kann man viele andere verfolgen, neben den Metaphern topoi (Gemeinplätze) solche des Lobes, der Bescheidenheit, der Naturanrufung und des Trostes. Sie alle sind antikes Erbe. Das wissenschaftliche Verfahren, das Curtius sich geschaffen hat, heißt historische Metaphorik und historische Topik. Es stellt ein Mittel dar, über Sprach- und Epochengrenzen hinweg das Walten literarischer Konstanten festzustellen, von denen die mitteralterliche Literatur in einem bis dahin unbekannten Grade bestimmt wird.

Andere Kapitel machen den Leser mit den Schemata der Heldendichtung bekannt, mit der Geschichte der Musen, mit der Schilderung der Ideallandschaft (keines kommt ihm gleich an intimem Reiz), bis schließlich die letzten fünf Kapitel zeigen, wessen diese neue Wissenschaft fähig sein kann. Wie hier Klassik und Manierismus als konstante Phänomene der Europäischen Literatur gedeutet werden, wie gerade in dem Manierismuskapitel zugleich mit einem neuen Begriff völlig neue Vorstellungen literarischer Zusammenhänge und Möglichkeiten entstehen, das wird kein Leser vergessen. Und doch werden auch diese beiden Kapitel noch übertroffen vom sechzehnten (Das Buch als Symbol) und siebzehnten (Dante), in manchem Sinne den Herzstücken des Ganzen. Man könnte es ein Dantebuch nennen. Kein anderer Dichter ist mit so viel Liebe und Ausführlichkeit immer wieder in den Gang der Darstellung aufgenommen, und es ist nicht das geringste Verdienst Curtius', Dante dem Mittelalter restituiert zu haben. Es ist sein Werk, Dantes Zusammenhänge mit dem lateinischen Mittelalter zum ersten Male nicht nur aufgewiesen, sondern unwiderleglich bewiesen zu haben. Nicht anders als er gezeigt hat, daß die Entstehung der volkssprachlichen Literaturen nur auf dem Wege über die lateinische und mittellateinische möglich gewesen ist. Der Epilog faßt noch einmal zusammen, was die hisherige Untersuchung ergeben hat, auch er, indem er es auf höherer Ebene noch einmal durchdenkt und mit neuem Material zusammenordned. Er enthüllt uns zugleich, was für Kräfte die Idee dieses Buches gespeist haben.

Quentin Massys: Ecce Homo, 1520, Venedig, Dogenpalast
In fünfundzwanzig Exkursen, die alle die Erleichterungen entbehren, die dem Leser des Hauptteils geboten wurden, ist das Material zusammengefaßt, das mit dem Thema der Untersuchung zusammenhängt, aber in den vorausgegangenen Kapiteln nicht untergebracht wurde. Das größte Interesse werden dabei die Untersuchungen wecken, die Spaniens Bindung an das lateinische Mittelalter erweisen.

Man schließt das Buch mit einer neuen Anschauung von Europa. Der Leser hat eine geschichtliche und wesensmäßige Einheit entdecken sehen, die von Homer bis auf unsere Tage reicht. Alle wichtigen Literaturen des Abendlandes gehören ihr an, aber der Grad ihrer Teilhabe ist verschieden. Es ist kein Zufall, daß dieses Buch von einem Romanisten geschrieben worden ist, denn immer wieder hat sich gezeigt, daß die Teilhabe an der europäischen Literatur geregelt wird durch die Teilhabe an der lateinischen Substanz des Abendlandes. Deutschland hat eine Sonderstellung inne, denn selbst England ist während des Mittelalters ein lateinisches Land gewesen, Deutschland nie. Wo es teilhat an der Europäischen Literatur, sind es die Vertreter des römisch kolonisierten Westens, die ihm diese Teilhabe sichern. Auf ganz anderem Wege erweist sich hier die Fruchtbarkeit von Nadlers These.

Wie ist dieses Buch möglich geworden? Wir kennen nur Elemente ihrer Beantwortung. 1932 schrieb Curtius ein Buch Deutscher Geist in Gefahr. In ihm tauchte der Gedanke an die Mittlerrolle des lateinischen Mittelalters flüchtig auf. Da wurde von der erlebnismäßigen Bindung an die Vergangenheit gesprochen, ohne die es keine Kulturgesinnung gebe, und es wurde Max Scheler zitiert: »Bildung ist Teilhabe der menschlichen Person an allem, was wesenhaft ist in Natur und Geschichte. Sie ist Selbstkonzentration der Welt im Menschen oder Emporbildung des Menschen zur Welt.« Das Programm von 1932 ist 1948 erfüllt worden. Es ist unkonventionell und neuartig erfüllt worden. Wir haben ein Buch, das bestimmt ist vom Erbe des Historismus, von echter und bewunderungswürdiger schlichter Philologie, das konservativ und traditionsgebunden ist wie lange keins mehr und trotz alledem revolutionär. Es hätte ohne Aby Warburgs Forschungsprogramm vom Nachleben der Antike vielleicht nicht geschrieben werden können, auch nicht ohne das Lebenswerk des Romanisten G. Gröber. Wir finden ihre Namen auf dem Widmungsblatt. Aber das Entscheidende bleibt die durch Jahrzehnte geübte und gesteigerte Fähigkeit des Verfassers, auf »bedeutsame Tatsachen« anzusprechen. Ohne die Leidenschaft des Liebhabers der Literatur, ohne das feine Unterscheidungsvermögen des Literaturkritikers und ohne die Askese des Gelehrten hätte kein Kapitel des Buches entstehen können. Sie mußten zusammentreffen mit der Entschlossenheit, mit unerbittlicher Kritik die alte Wissenschaft zu zersetzen und eine neue zu schaffen.

Quentin Massys: Christus Salvator Mundi und Maria
 im Gebet, Antwerpen, Museum der Schönen Künste
Walter Boehlich: Europäische Literatur. Über die Kontinuität in der Dichtkunst von Homer bis heute. Erstveröffentlichung in »Die Zeit«, 9. 12. 1948. Zitiert aus: Walter Boehlich: Die Antwort ist das Unglück der Frage. Ausgewählte Schriften. [Hrg. Helmut Peitsch und Helen Thein] S. Fischer, Frankfurt/Main, 2011, ISBN 978-3-10-046325-8. Seite 199-204



Walter Boehlich, geboren 1921 in Breslau, gestorben 2006 in Hamburg, ist eine Schlüsselfigur der Geistesgeschichte Nachkriegsdeutschlands. Mit ihm entwickelte sich der Suhrkamp-Verlag, der ihn von 1957 bis 1968 als Cheflektor beschäftigte, zu einem führenden Haus für Gegenwartsliteratur. Zuvor hatte Walter Boehlich in Breslau und Hamburg Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte studiert, war von 1947 bis 1951 Assistent des Romanisten Ernst Robert Curtius in Bonn und bis 1957 DAAD-Lektor in Aarhus und Madrid. Nachdem Boehlich sich vom Verlag getrennt hatte, war er in den folgenden Jahrzehnten als freier Autor publizistisch sowie als Übersetzer und Herausgeber tätig. Auch als Kommentator des politischen Tagesgeschehens war seine Stimme über Jahrzehnte zu vernehmen. Posthum, zu seinem 90. Geburtstag, erschien die Auswahl seiner Schriften "Die Antwort ist das Unglück der Frage" (2011, Frankfurt, Fischer, ISBN 978-3-10-046325-8).

Quentin Massys: Altar der Bruderschaft St. Anna à Louvain, 1509, Brüssel, Königliche Museen der Schönen Künste.
Links: Der Engel weissagt Joachim die Geburt Marias. Mitte: Die Famile der Hl. Anna.Rechts: Der Marientod.
SCHAUSPIELMETAPHERN

In Platons Alterswerk, den «Gesetzen», lesen wir: «Jeder von uns Vertretern lebender Geschöpfe werde von uns betrachtet als eine Marionette göttlichen Ursprungs, sei es, daß sie von den Göttern bloß zu ihrem Spielzeug angefertigt worden ist oder in irgendwelcher ernsthaften Absicht» (Buch I 644 de). Ebendort an späterer Stelle: «Der Mensch ist nur ein Spielzeug in der Hand Gottes, und das eben ist in Wahrheit gerade das Beste an ihm» (Buch VII 803 c). Im Philebos (50 b) spricht Platon von der «Tragödie und Komödie des Lebens». In diesen tiefsinnigen Gedanken, die bei Platon noch den Schmelz der ersten Schöpfung haben, liegen die Keime für die Vorstellung von der Welt als einem Theater, auf dem die Menschen, durch Gott bewegt, ihre Rollen spielen. In den populär-philosophischen Vorträgen («Diatriben») der Kyniker wird dann der Vergleich des Menschen mit einern Schauspieler ein häufig gebrauchtes Klischee. Horaz (Sat. II 7, 82) sieht im Menschen eine Marionette. Der Begriff mimus vitae ist sprichwörtlich geworden. So schreibt Seneca (Ep. 80, 7): hic humanae vitae mimus, qui nobis partes, quas male agamus, adsignat.Ähnliche Vorstellungen finden sich nun auch im Urchristentum. Paulus (I. Kor. 4, 9) sagt von den Aposteln, sie seien von Gott zum Tode bestimmt als Schauspiel (δεατρον) für Welt, Engel und Menschen. Hier ist nicht an die Schaubühne, sondern an den römischen Zirkus gedacht. Eine verwandte Vorstellung finden wir bei Clemens Alexandrinus: «Denn von Sion wird ausgehen das Gesetz und das Wort des Herrn von Jerusalem, das himmlische Wort, der wahre Streiter im Wettkampf, der auf dem Theater der ganzen Welt den Siegeskranz erhält» (Mahnrede an die Heiden I 1,3 = Clemens Schriften, übersetzt von STÄHLIN, I, 1934, 73). Hier wird der Kosmos als Bühne gesehen. Bei Augustinus (Enarr. ad ps. 127) lesen wir: «Es ist hier auf Erden so, als ob die Kinder zu ihren Eltern sprächen: Wohlan, denkt an euren Aufbruch von hier; auch wir wollen unsere Komödie spielen! Denn nichts anderes als eine Komödie des Menschengeschlechtes ist dieses ganze, von Versuchung zu Versuchung führende Leben». Augustins heidnischer Zeitgenosse, der Ägypter Palladas, bringt denselben Gedanken mit anderer ethischer Zuspitzung in ein schöngeformtes Epigramm (A. P. X 72):

Ganz ist das Leben Bühne und Spiel; so lerne denn spielen
Und entsage dem Ernst - oder erdulde das Leid.

Wir sehen: die Metapher «Welttheater» ist dem Mittelalter, wie so viele andere, sowohl aus der heidnischen Antike wie aus der christlichen Schriftstellerei zugeflossen. Beide Quellen haben sich in der Spätantike vermischt. Wenn Boethius haec vitae scena sagt, so klingt darin Seneca, aber auch Cicero mit (cum in vita, tum in scaena; Cato maior 18, 65). Das tönt dann in lateinischer Dichtung des frühen Mittelalters nach: secli huius in scena (Carm. Cant., S. 97, V. 15). Doch ist der Vergleich in dieser Zeit selten. Im 12. Jahrhundert jedoch wird er wirkungsvoll erneuert von einem der führenden Geister der Zeit: Johannes von Salisbury. In seinem 1159 veröffentlichten Hauptwerk Policraticus WEBB I 190 zitiert er aus Petron (§ 80):

Grex agit in scena mimum, pater ille vocatur,
Filius hic, nomen divitis ille tenet;
Mox ubi ridendas inclusit pagina partes,
Vera redit facies, dissimulata perit.

Spielt auf der Bühne das Völkchen, so agiert der eine den Vater
Und der andre den Sohn; der den begüterten Mann.
Ist die Komödie vorbei, so fallen die Masken; es zeigt sich
Jetzt das wahre Gesicht, und das geschminkte vergeht.

Dieser Text enthält die Nutzanwendung: «Nimm dir am Schauspieler die Lehre, daß der äußere Prunk nur leerer Schein ist und daß nach Schluß des Stückes die Personen ihr wahres Aussehen erhalten.» Aber was macht der mittelalterliche Philosoph und Humanist aus diesen Versen? Er schließt an sie unmittelbar ein Kapitel an, das er De mundana comedia vel tragedia betitelt. Der alte abgenützte Schauspielervergleich wird hier zum begrifflichen Gerüst für eine umfassende Zeitkritik. Hiob, so führt unser Autor aus, nannte das Leben einen Kriegsdienst. Hätte er die Gegenwart vorausgesehen, so würde er gesagt haben: comedia est vita hominis super terram. Denn ein jeder vergißt seine Rolle und spielt eine fremde. Johannes will es unentschieden lassen, ob das Leben eine Komödie oder eine Tragödie zu nennen ist, wenn man ihm nur zugibt, quod fere totus mundus iuxta Petronium exerceat histrionem. Der Schauplatz dieser unermeßlichen Tragödie oder Komödie ist der Erdkreis. Im folgenden Kapitel werden die Tugendhelden gepriesen. Sie schauen aus der Ewigkeit auf das tragisch-komische Treiben der Weltbühne hinunter, mit Gott und den Engeln. Johannes hat die alte Metapher durch ausführliche Behandlung (sie erstreckt sich über zwei Kapitel) erneuert. Er hat ferner ihre einzelnen, meist getrennt vorkommenden Sinnelemente in einer Gesamtanschauung vereinigt. Den Ausgangspunkt bietet ihm die von Petron nachgeredete moralisierende Trivialität. Durch konfrontierende Beiziehung des Hiobswortes wird die erste Erweiterung des Horizontes gewonnen. Die Anschauung wird sodann vertieft durch die erwägende Frage: Tragödie oder Komödie? Sie erweitert sich nochmals durch die Ausdehnung des Schauplatzes auf den gesamten Erdkreis. Endlich eine neue - die letzte - Ausweitung: von der Erde zum Himmel. Dort sitzen die Zuschauer des irdischen Bühnenspiels: Gott und die Tugendhelden. Aus der scena vitae ist damit ein theatrum mundi geworden. Der Gedanke, daß Gott die tugendhaften Männer um sich versammelt, dürfte aus Ciceros Somnium Scipionis stammen, an welches Werk die Ausführungen des Johannes in Kapitel 9 auch sonst manchmal erinnern, nur daß die Vorstellung des Welttheaters dort ganz fehlt. Aber die Harmonisierung christlicher Lehre und Ciceronischer Weisheit liegt im Zuge jenes christlichen Humanismus, den der europäische Norden im 12. Jahrhundert zur Blüte entwickelte.

Der Policraticus war während des ganzen Mittelalters sehr weit verbreitet, wie die Bibliothekskataloge bezeugen. Aber auch in späterer Zeit wurde er viel gelesen. Wir kennen Drucke von 1476, 1513 (einmal in Paris, einmal in Lyon), 1595, 1622, 1639, 1664, 1677. Wenn die Metapher theatrum mundi im 16. und 17. Jahrhundert wieder häufig auftritt, dürfte die Beliebtheit des Policraticus wesentlichen Anteil daran haben.

Sehen wir uns im Europa des 16. Jahrhunderts um. Wir beginnen in Deutschland und stoßen auf - Luther. Wie ERICH SEEBERG (Grundzüge der Theologie Luthers, 1940, 179) darlegt, braucht Luther den «unerhört kühnen» Ausdruck «Spiel Gottes» für das, was in der Rechtfertigung geschieht. Für Luther ist die ganze profane Geschichte ein «Puppenspiel Gottes». Wir sehen in der Geschichte nur Gottes «Larven» am Werk, das heißt die Heroen wie Alexander oder Hannibal ... SEEBERG möchte diese Formulierungen aus Meister Eckhart ableiten. Sie gehören aber dem Gemeingut der Tradition an.

Wir gehen nach Frankreich. Man schreibt 1564. Der Hof feiert in Fontainebleau den Karneval. Soeben ist eine Komödie aufgeführt worden. Da erklingt ein von Ronsard verfaßter Epilog. Er beginnt:

Ici la Comédie apparaít un exemple
Où chacun de son fait les actions contemple:
Le monde est un théâtre, et les hommes acteurs.
La Fortune qui est maîtresse de la scène
Apprête les habits, et de la vie humaine
Les cieux et les destins en sont les spectateurs.

Also ein theatrum mundi mit den Menschen als Schauspielern, Fortuna als Regisseur, dem Himmel als Zuschauer.

Wir gehen nach England. 1599: in London ist soeben das Globe Theatre eröffnet worden. Man hat in dem neuen Bau den Denkspruch angebracht Totus mundus agit histrionem. Eins der ersten Werke, die hier ihre Uraufführung erleben, ist Shakespeares As you like it. In diesem Werk findet sich (II, 7) die berühmte Rede des Jaques, welche die Welt mit einer Bühne (All the world' s a stage) und die sieben Lebensalter mit den sieben Akten des Menschenlebens vergleicht. Ein neuerer Herausgeber, G. B. HARRISON (in The Penguin Shakespeare 1937), bemerkt dazu: This is Shakespeare' s little essay on the motto of the new Globe Theatre which the company had just occupied. Und woher stammt dieses Motto? Nicht aus Petron, wie man lesen kann, sondern aus dem Policraticus, nur daß das dort stehende exerceat durch agit ersetzt ist. Wer diesen Denkspruch anbrachte, kannte also den Policraticus: der ja 1595 neu erschienen war. Das Globe Theatre stand also im Zeichen des mittelalterlichen englischen Humanisten.

Wir gehen nach Spanien und ins 17. Jahrhundert. Don Quijote (12. Kapitel des II. Teiles) erläutert seinem Knappen die Ähnlichkeit des Schauspiels mit dem Menschenleben. Wenn das Stück aus ist und die Bühnentrachten abgelegt sind, so sind die Schauspieler wieder alle gleich. Ebenso die Menschen im Tode. «Ein prächtiger Vergleich», versetzt Sancho, «allerdings nicht so neu, daß ich ihn nicht schon viele und verschiedene Male gehört hätte». So macht sich Cervantes über ein literarisches Klischee lustig. Geistreiche - indirekte - Verspottung eines modischen Redeschmucks: das ist die erste Gestalt, in der die Schauspielmetapher uns im Spanien des 17. Jahrhunderts entgegentritt; in dem Lande, in der Zeit, da Calderóns Genius seine strahlende Bahn durchlaufen wird. Mit Recht hat VOSSLER darauf aufmerksam gemacht, daß der Vergleich des Menschenlebens mit einem Bühnenspiel im Spanien der Blütezeit ein Gemeinplatz war.

Quentin Massys: Jungfrau und Kind auf dem Thron,
mit vier Engeln, 62 x 43 cm, London, National Gallery
Im Criticón (1651 ff.) des Baltasar Gracián heißt gleich das 2. Kapitel El gran teatro del Universo. Doch handelt es sich hier nicht um Theater, sondern um die Natur als Schauplatz des Lebens (Kosmos als Schaustellung). Vor allem aber ist Calderón zu nennen. Auch er ist ein Geist feinster Kultur und umfassendster literarischer Bildung. Ein Virtuose, wenn man will; aber einer, der zugleich ein Kind und ein Genius war; ein tief gläubiger Künstler. Das theatrum mundi gehört zum festen Bestande seiner Begriffswelt, freilich mit mannigfach schillernder Bedeutung. In Calderóns bekanntestem Stück La vida es sueño spricht der gefangene Prinz Sigismund vom Theater der Welt, spricht es im Traum und meint damit - er, der Gefangene - die weite Welt der Wirklichkeit (KEIL I, 16 b):

Salga a la anchurosa plaza
Dei gran teatro del mundo
Este valor sin segundo ...

Lauter Jubel soll begrüßen
Auf dem weiten Erdenrund
Diesen Mut ...

(A.W. SCHLEGEL)

Das gesamte Werk Calderóns hat die Dimension eines Welttheaters, insofern die Personen ihre Rollen vor kosmischem Hintergrund agieren (KEIL I 19 a):

El dosel de la jura, reducido
A segunda intención, a horror segundo,
Teatro funesto es, donde importune
Representa tragedias la fortuna.

Der alte Thron, auf Eid und Pflicht gegründet,
Muß neuer Absicht, neuem Grausal frönen,
Ein Frevelschauplatz, wo, uns zur Bedrängnis,
Mit Trauerspielen schrecket das Verhängnis.

Hier und auch sonst gelegentlich übernimmt das Schicksal die Rolle des Regisseurs. Calderón hat den traditionellen Verwendungen der Metapher durch seine funkelnde Diktion neuen Glanz verliehen.

Wesentlicher aber ist ein anderes. Calderón ist der erste Dichter, der das von Gott gelenkte theatrum mundi zum Gegenstand eines sakralen Dramas macht. Der tiefsinnige Gedanke, den Platon einmal hinwarf und der in der ungeheuren Fülle seines Werkes wie verloren ruht; der dann aus dem Theologischen ins Anthropologische gewendet und moralisch trivialisiert wurde - erfährt eine leuchtende Palingenesie im katholischen Spanien des 17. Jahrhunderts. Die Schauspielmetapher, gespeist von antiker und mittelalterlicher Tradition, kehrt in ein lebendiges Theater zurück und wird Ausdrucksform für eine theozentrische Auffassung des Menschenlebens, die weder das englische noch das französische Schauspiel kennt.

Quentin Massys: Hl. Magdalena, 1520-25,
 79 x 85 cm, Paris, Louvre
Verfolgen wir diesen Zusammenhang, so eröffnen sich weitere europäische Perspektiven.

Die Form einer Dichtung, die das Menschendasein in seinen Bezügen zum Weltganzen darstellen will, kann nur das Drama sein. Aber freilich nicht das klassizistische Trauerspiel der Franzosen oder der Deutschen. Diese klassische Dramenform, geboren aus Renaissance und Humanismus, ist anthropozentrisch. Sie löst den Menschen vom Kosmos und von den religiösen Mächten; sie sperrt ihn in die erhabene Einsamkeit des sittlichen Raumes. Die tragischen Gestalten Racines und Goethes werden vor Entscheidungen gestellt. Die Wirklichkeit, mit der sie es zu tun haben, ist das Spiel der menschlichen Seelenkräfte. Die Größe und die Grenze der klassischen Tragödie ist ihr Beschlossensein in der Sphäre des Psychologischen. Der Kreis dieser strengen Gesetzlichkeit wird nie durchbrochen. Der tragische Held kann an diesen Gesetzen nur zerbrechen. Er kann sich mit dem Geschick nicht aussöhnen. Aber diese Tragödie ist künstliche Züchtung auf dem Erdreich der europäischen Tradition. Sie erwuchs aus mißverstandener Schulweisheit der Humanisten. Ihr unmöglicher Ehrgeiz war es, die Jahrtausende zu überbrücken, die zwischen Perikles und Ludwig XIV. liegen: Goethe selbst hatte diese Form zerbrechen müssen, als er sein Weltgedicht, den Faust, schuf.

Das theozentrische Drama des Mittelalters und der spanischen Blüte hat in unserer Zeit Hofmannsthal wieder erneuert. An eine englische Moralität des 15. Jahrhunderts knüpft sein Jedermann (1911) an, ein «Spiel vom Sterben des reichen Mannes». Hier treten Gott, Engel und Teufel auf. Allegorische Figuren wie der Tod und der Glaube mischen sich ein. Und die Gestalt, um die das ganze Spiel sich dreht, ist nicht ein benannter Held, sondern der namenlose Jedermann: der Mensch, verstrickt ins Irdische und nun vor Gottes Richterstuhl gestellt. In Salzburg, auf dem Domplatz, wurde das geistliche Spiel aufgeführt. Mit dem Jedermann hatte Hofmannsthal ein zeitloses Mittelalter vergegenwärtigt und den Weg zum metaphysischen Drama beschritten. Wenn er ihn weiter verfolgte, mußte er Calderón begegnen. Aus dieser Begegnung entstand 1921 das Große Salzburger Welttheater. Ihm folgten, ebenfalls von Calderón angeregt, Der Turm (1925) und Semiramis (1933 als Fragment aus dem Nachlaß veröffentlicht). Diese Werke sind nicht etwa «Bearbeitungen» Calderónscher Dramen, sondern Neuschöpfungen der «integrierenden Phantasie». Zeugende Kraft war die seelische Nötigung, die durch Katastrophen verstörte geistige Tradition Europas im Dichtwerk zu erneuen. Die Konzeption geschah durch Berührung mit wahlverwandtem Stoff dieser Tradition. Das war möglich durch die Einsicht, daß alle geformten Gehalte des Geistes wieder Stoff für eine neue Gestaltung werden können: «mit den geistigen Hervorbringungen einer Epoche ist eigentlich noch nichts getan, es müßte erst etwas getan werden». Das Höhere entsteht immer durch Integration. «Zu jedem Höheren ist Zusammensetzung gefordert. Der höhere Mensch ist die Vereinigung mehrerer Menschen, das höhere Dichtwerk verlangt, um hervorgebracht zu werden, mehrere Dichter in einem». Hofmannsthal empfand sich als Erben der habsburgischen Tradition, deren Brennpunkte im 17. Jahrhundert Madrid und Wien waren. Die Dichtung der spanischen Blütezeit war unberührt von den klassizistischen Literatursystemen Frankreichs und Italiens. Sie schöpfte künstlerisch und weltanschaulich aus der unversiegten Fülle einer Überlieferung, die niemals mit dem Mittelalter gebrochen hatte. Sie bewahrte die Substanz des christlichen Abendlandes. In der Geschichte sah sie ein «Archiv der Zeiten», in dem die Völker aller Epochen und Räume ihre Erinnerungen verzeichnet hatten. Die Könige und Helden, die Märtyrer und Bauern sind Spieler auf der großen Bühne der Welt. Übersinnliche Mächte greifen in die Geschicke ein. Alles ist überwölbt von der Fügung göttlicher Gnade und Weisheit.

Quentin Massys: Maria Magdalena, c. 1520, 45 x 29 cm,
 Antwerpen, Museum der Schönen Künste
Calderón durfte schalten und gestalten in einer Welt, deren monarchisches und katholisches Gefüge noch fest stand, ja unerschütterlich schien. Der beginnende Verfall von Staat und Nation war verdeckt von dynastischem und kirchlichem Festgepränge. Die geschichtliche Situation Hofmannsthals ist genau umgekehrt. Er fand sich hineingeboren in eine materialistisch und relativistisch zersetzte Welt. Er mußte als Mann ihrer Auflösung bis zum katastrophalen Ende beiwohnen. Seine Aufgabe - eine fast übermenschliche Aufgabe - war es, wieder hinabzusteigen zur «beharrenden Wurzel der Dinge» : aus den verschütteten Schätzen der Überlieferung Heilkräfte zu gewinnen; endlich die Bilder einer wiederhergestellten Welt wieder aufzurichten. Es war seine tiefste Einsicht, «daß das Leben lebbar wird nur durch gültige Bindungen». Diese Bindungen wieder zu reinigen und zu verklären - das war sein Auftrag, seine schmerzliche und mühevolle Mission in der Zeit: Bindung von Mann und Weib in der Ehe; Bindung von Volk und Herrschaft im Staat; Bindung zwischen Mensch und Gott in Zeit und Ewigkeit. Auf diesem Wege konnte die Weisheit Asiens eine Station und ein Sinnbild sein - aber nicht Heimat und Lösung. Sie konnten nur in der Offenbarung gefunden werden, die an Abend- und Morgenland ergangen war: im Christentum. Dahin wiesen Hofmannsthal die Überlieferung von Volk und Boden; dahin seine neuplatonische Geistesform; dahin ein geheimer Ruf, dem er folgen mußte. Wenn Hofmannsthal sein christliches Theater an eine große Überlieferung anknüpfen wollte, konnte es nur die Calderóns sein.

Dem Mittelalter und dem spanischen Theater entnahm Hofmannsthal nicht historische Lokalfarben, sondern jene zeitlose europäische Mythologie, die er uns sichtbar gemacht hat: «Es gibt eine gewisse zeitlose europäische Mythologie: Namen, Begriffe, Gestalten, mit denen ein höherer Sinn verbunden wird, personifizierte Kräfte der moralischen oder mythischen Ordnung. Dieser mythologische Sternenhimmel spannt sich über das gesamte ältere Europa». Der Rückgriff auf dieses ältere Europa aber war in Hofmannsthals Augen ein Vorgang, der weit hinausreichte über Dichtung und Theater. Er war nur ein Bild innerhalb eines ungeheuren geschichtlichen Prozesses, den Hofmannsthal kommen sah: «eine innere Gegenbewegung gegen jene Geistesumwälzung des 16. Jahrhunderts, die wir in ihren zwei Aspekten Renaissance und Reformation zu nennen pflegen ...»

Quelle: Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen/Basel: Francke, 1948 - Zitiert nach der 11.Auflage 1993, ISBN 3-7720-1398-8, Kapitel 7, §5 (Seiten 148-154)

Rezension der CD bei spielleut.de

Rezension der CD durch die Musikhochschule Würzburg

CD bestellen bei Amazon

CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 59 MB
Filepost --- Hotfile --- Depositfiles --- EmbedUpload --- Rapidgator
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files

Arthur Honegger: Alle Violinsonaten

$
0
0
Von seinen bürgerlichen Anfängen in Le Havre über seinen Auftritt auf der Pariser Szene als Mitglied der Les Six bis zu seinen letzten Jahren als Eckpfeiler der französischen musikalischen Aristokratie verbrachte der Französisch-Schweizer Komponist Arthur Honegger sein Leben – sowohl musikalisch als auch geografisch – in ungleichen Welten. 1892 in eine musikalisch gesinnte Schweizer Familie geboren, studierte Honegger die Geige und erhielt im Alter von dreizehn Jahren Harmonieunterricht. Unter seinen Kompositionen aus frühester Kindheit waren zwei Opern und eine Reihe von an Beethoven orientierten Sonaten für Violine und Klavier. Durch Bachs Kantaten beeinflußt, begann Honegger 1907 sein erstes Oratorium, ein Genre, welches ihm 1921 mit Le roi David dauerhafte Anerkennung verschaffen würde.

Von 1909 bis 1911 studierte Honegger im Zürcher Konservatorium, wo er die Musik von Wagner, Strauss und Reger entdeckte. 1912 setzte er seine Studien am Conservatoire de Paris fort, und unterzog sich sieben Jahre lang dem Training in Harmonie, Kontrapunkt, Dirigieren und Komposition. Letztendlich gab er das ernsthafte Violinstudium zu Gunsten des Komponierens auf. Während seines Studiums freundete sich Honegger mit den Komponisten an, mit denen er bald zur Gruppe Les Six gerechnet wurde: Milhaud, Poulenc, Tailleferre, Auric, und Durey. Ein weiteres Mitglied dieses musikalischen Kreises war die Komponistin und Pianistin Andrée Vaurabourg, die Honegger im Jahr 1926 heiratete. Sie gab oft Erstaufführungen von Honeggers Klavierwerken, und begleitete ihn in den 1930er Jahren auf Tourneen durch Europa und Amerika.

Obwohl Schweizer Staatsbürger, blieb Honegger während des Zweiten Weltkriegs in Frankeich, unterrichtete an der École Normale de Musique und schrieb fürs Radio. Seine Musik war in Nazi-Deutschland und den annektierten Ländern bis 1945 verboten, wurde aber weiterhin in der Schweiz aufgeführt, wohin er häufig reiste. Sein Schaffen, substantiell während der Kriegsjahre, umfaßte sowohl ernste Konzertmusik - darunter vier Sinfonien - als auch Radio- und Filmmusiken. 1947, während einer Konzertreise in Amerika, erlitt er einen Herzinfarkt, und seine nachlassende Gesundheit beschränkte seine musikalischen Aktivitäten bis zu seinem Tod 1955 in Paris, ein Jahr nachdem ihm die Französische Regierung die Auszeichnung Grand Officier de la Légion d'honneur verliehen hatte.

Joachim Patinir: Die Taufe Christi, 1510-1520, 59,5 x 77 cm,
Wien, Kunsthistorisches Museum
Die vier Sonaten auf dieser CD umspannen fast dreißig Jahre und illustrieren Honegger Karriere, die mit klassischen Strukturen begonnen hatte und am Ende wieder zu diesen zurückkehrte. Die 21-jährige Kluft zwischen der Sonate Nr. 2 für Violine und Klavier (1919) und der Sonate für Violine Solo (1940) zeigt Honeggers Bewegung in den 1920er und 1930er Jahren weg von der Kammermusik und hin zu großformatigen Arbeiten. Trotz des außermusikalischen Charakters vieler Stücke, darunter sein bekanntestes Werk, Pacific 231 (1923), ein durch die Dynamik einer Dampflokomotive inspirierter sinfonischer Satz, wollte Honegger seine Werke von einem rein musikalischen anstatt einem programmatischen Standpunkt verstanden wissen. Sein Werk umfasst eine breite Palette von Genres, einschließlich religiöser Oratorien, mehrerer Opern, neun Ballette, fünf Sinfonien, 43 Filmmusiken, zahlreicher Kunstlieder und einer gehörigen Portion anderer Gelegenheitskompositionen.

Wegen der zwei Jahrzehnte zwischen den ersten drei Violinsonaten und der letzten, der Solo-Sonate, ist die anti-romantische Ästhetik von Les Six merklich abwesend; Bildung und Popularität der Avantgarde-Gruppe fallen in die 1920er Jahre. Les Six, getauft durch den Kritiker Henri Collet, war als Speerspitze von Erik Satie und Jean Cocteau eine Reaktion gegen nachwagnerische Romantik und Französischen Impressionismus und celebrierte stattdessen Einfachheit und Klarheit. Obwohl Honegger durch seine Zusammenarbeit mit Les Six breite Anerkennung gewann, hat er wenig mit deren Ästhetik gemein, und belegt damit die Tatsache, daß diese sechs Komponisten eher durch Freundschaft als durch gemeinsame Stilprinzipien verbunden waren. Obwohl er gelegentlich im unbeschwerten, neoklassizistischen Geist der Les Six komponierte, verdankt seine Musik viel der Chromatik von Wagner, Berg und Schönberg, aber auch der Modalität von Fauré und Debussy. Seine komplexe kontrapunktische Sensibilität, die von seiner lebenslangen Bewunderung für Bach herrührt, weist Honegger als den strengsten unter den sechs Komponisten aus, indem er die Deutsche und die Französische Schule mit klassischen Traditionen und modernen Trends kombiniert.

Die Sonate für Violine und Klavier in D-Moll (»Nr. 0«) wurde 1912 während des ersten Jahres Honeggers am Pariser Konservatorium komponiert, blieb aber zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht. Das langwierige Largo-Agitato-Largo assai ist in tiefernstes Pathos und wehmütige Suche getaucht. Häufig erhebt sich die Geige über bewegte Akkordpassagen des Klaviers, eine Textur, die Honegger in späteren Sonaten wieder aufnimmt. Im Wechsel zwischen einem nachhaltigen, sanften Thema und einem schwereren Marsch, wird das chromatische Molto adagio durch ein Sostenuto-Allegro-Maestoso-Finale fortgesetzt, in dem ein flüchtiger Kontrapunkt durch langsame, lyrische Zwischenspiele ausgeglichen wird. Das Thema des ersten Satzes kehrt im Finale als Coda wieder, unterbrochen von donnernden Klavierakkorden. Obwohl Honeggers harmonische Sprache noch nicht voll entwickelt ist, zeigt diese frühen Sonate solides Handwerk, einen natürlichen Sinn für Struktur und einen festen Griff für Instrumentierung.

Joachim Patinir: Die Versuchung des Hl. Antonius, c. 1515, 155 x 173 cm,
Madrid, Museo Nacional del Prado
Von 1916 bis 1920 schuf sich Honegger in den Pariser Kreisen seine Reputation als geschickter Komponist von Kammermusik. Geschrieben zwischen 1916 und 1918, enthält die Sonate Nr. 1 für Violine und Klavier ein Scherzo anstelle eines langsamen Mittelsatzes. Das Andante sostenuto wächst aus atmosphärischer Melancholie zu einem chromatischen, akkordischen Höhepunkt, und verdampft schließlich in einem Nebel von sanft schaukelnden gebrochenen Oktaven und hohen, offenen Intervallen. Das temperamentvolle Presto wird von einem zarten Abschnitt mit gedämpfter Violine unterbrochen, aber die Ruhe wird schnell von einer panischen, fugierten Rückkehr zum Hauptthema gestört. Das düstere Adagio-Allegro assai basiert auf einem – an einen Grabgesang mahnenden - Ostinato im Klavier, während die Violine ein Lamento von Gegenstimmen webt. Nach einigem Poltern kocht der Übergang in eine kontrapunktische Entwicklung auf und die erhöhte rhythmische Fahrt kehrt in das eröffnende Klagelied zurück.

1919 komponierte Honegger die Sonate Nr. 2 für Violine und Klavier und führte sie selbst, mit Andrée Vaurabourg am Klavier, auf. Mehrdeutig zwischen zwei tonalen Zentren B und F schwebend, zeigt diese kurze, strukturell prägnante Arbeit Honeggers gestiegenes Interesse an Polytonalität. Das Allegro cantabile ist verträumt und lyrisch, arpeggierte Klavierfiguren plätschern unterhalb des Violinstimme. Mit bedrohlichen Klavierakkorden eröffnend, über die die gedämpfte Violine wie Gaze schwebt, steigert sich das chromatische Larghetto zu einem gewichtigen Höhepunkt, der im schwachen Schimmer von D-Dur verschwindet. Eine kurzes Vivace assai folgt, abgeschnitten und ausgelassen und dann in eine schimmernde Melodie aufblühend. Eine frenetische Coda beendet die Sonate abrupt.

Im Winter 1940 stemmte Honegger sich gegen die trostlose Realität des Krieges, indem er mehrere von Bach inspirierte Werke schuf, darunter die Sonate für Violine Solo in d-Moll. Diese düstere, straff viersätzige Arbeit zahlt direkt Tribut an Bach, der selbst drei Sonaten für Violine Solo geschrieben hatte. Ein strenges Allegro, jede romantische Hoffnung zerstreuend, wird von einem klassischen, Sarabande-artigen Largo von tief herber Schönheit gefolgt. Mit gedämpft Violine enthält das Allegretto grazioso eine traurige Musette, dessen Melodie sich um ein pochendes Dröhnen windet. Das schillernde, Gigue-artige Presto ist fest in D-Moll geätzt, seine hektischen Arpeggien und Doppelgriffe geben Hinweise auf Honeggers eigene Meisterschaft auf der Violine.

In einer konfliktreichen Zeit, gewann Honegger (und seine Musik) ein Renommee von Anmut und Würde; er war sowohl Schweizer als Franzose, traditionell und avantgardistisch, Komponist und Violinist, Melodiker und Kontrapunktiker, Liebhaber der Eisenbahn und Anhänger von Bach. Nach Honeggers Tod, sagte Jean Cocteau: »Arthur, du konntest den Respekt einer respektlosen Zeit erringen. Du hast die Wissenschaft des mittelalterlichen Architekten mit der Praxis des bescheidenen Steinhauers vereint.«

Quelle: Anyssa Neumann, im Booklet [Übersetzung: WMS.Nemo]

Track 10: Sonata for Solo Violin in D minor (H.143) - I. Allegro



TRACKLISTArthur HONEGGER (1892-1955) 

Complete Violin Sonatas

Sonata for Violin and Piano in D minor, H. 3 (1912) 24:35

[01] Largo - Agitato - Largo assai 10:36
[02] Molto adagio 5:28
[03] Sostenuto - Allegro - Maestoso 8:31

Sonata No. 1 for Violin and Piano, H. 17 (1916-18) 21:31
(dedicated to Andrée Vaurabourg)

[04] Andante sostenuto 8:11
[05] Presto 5:02
[06] Adagio - Quasi allegro - Allegro assai - Adagio 8:18

Sonata No. 2 for Violin and Piano, H. 24 (1919) 11:56
(dedicated to Fernande Capelle)

[07] Allegro cantabile 4:48
[08] Larghetto 4:22
[09] Vivace assai - Presto 2:46

Sonata for Solo Violin in D minor, H. 143 (1940) 14:59

[10] Allegro 6:13
[11] Largo 2:55
[12] Allegretto grazioso 1:51
[13] Presto 4:00

Playing Time: 73:02

Laurence Kayaleh, Violin
Paul Stewart, Piano

Recorded in Pollack Hall, Schulich School of Music, McGill University,
Montreal, Canada, from 19th to 21st December, 2008
Producer, Engineer and Editor: Jason O'Connell
Editing Engineer: Jeremy Tusz
Cover Picture: Spiral staircase in the Arc de Triomphe, Paris
DDD
(P) 2009 (C) 2010

Giambattista Vico: Die neue Wissenschaft
Joachim Patinir: Fahrt über den Styx in die Unterwelt, 1515-1524, 64 x 103 cm, Madrid, Museo Nacional del Prado
Vicos Idee von der Philologie und von der «Welt der Völker» als Gegenstand der Philologie habe ich früh kennengelernt; sie hat die aus dem deutschen Historismus stammenden Motive meiner Tätigkeit auf eine besondere Weise ergänzt und ausgebildet. Die vichianischen Gedanken, so wie sie auf mich gewirkt haben, will ich nun aufzählen und besprechen, und zwar in freier Verbindung mit den Folgerungen, die ich für meine gegenwärtige Absicht aus ihnen gezogen habe.

Ich beginne mit Vicos Theorie der geschichtlichen Erkenntnis. Sie entsprang seiner Polemik gegen Descartes' geometrische Methode und beruht auf dem Satz, daß man nur erkennen könne, was man selbst geschaffen habe. Die Geschichte der Menschen oder die «Welt der Völker» (im Gegensatz zur Welt der Natur, die Gott geschaffen habe) hätten die Menschen selbst geschaffen; also könnten die Menschen sie erkennen. Auch die von uns entferntesten, frühesten Formen des menschlichen Denkens und Handelns müßten in den Möglichkeiten (Vico sagt modificazioni) unseres eigenen menschlichen Geistes aufzufinden sein, so daß wir sie verstehen können. Vico wollte mit dieser Theorie seiner Vision von den Anfängen der Kultur, der Bildung der ersten Gesellschaftsformen und den dichterisch-ritualistischen Ursprüngen menschlichen Denkens und menschlichen Ausdrucks eine erkenntnistheoretische Grundlage geben. Sie ist wohl der erste methodische Versuch einer Theorie des historischen Verstehens; und, wo nicht die Legitimierung, so doch die Klarstellung eines Tatbestandes, dem wir uns nicht entziehen können: daß wir nämlich geschichtliche, ja überhaupt zwischenmenschliche Vorgänge (private, geschäftliche, politische) auf eine besondere, unmittelbare Weise, nach unserer inneren Erfahrung beurteilen; das heißt, indem wir «ihre Prinzipien innerhalb der Modifikation unseres eigenen menschlichen Geistes aufzufinden» suchen. Zwar sind seit der Zeit Vicos viele strenger wissenschaftliche Methoden entwickelt worden, die das Verhalten der Menschen zueinander beobachten und registrieren; aber sie haben das praktische Vertrauen in die spontane Fähigkeit zum Verstehen des anderen aus der eigenen Erfahrung weder erschüttert noch ersetzt (ihre Resultate haben diese Fähigkeit vielfach noch bereichert); auf geschichtliche Vorgänge, wie überhaupt auf Vorgänge, die nicht den besonderen Bedingungen des wissenschaftlichen Experiments unterworfen werden können, sind die gedachten Methoden in ihrer strengen Form auch gar nicht anwendbar. So bleibt die Erforschung geschichtlicher Vorgänge im weitesten Sinne (was alles in unserem Zusammenhange geschichtlich ist, wird gleich erörtert werden) eine Sache des urteilenden Verstehens oder des «Wiederauffindens» im Geiste des Erforschenden. Zwar hat die Geschichtsforschung eine exakte Seite, die man wohl eher gelehrt als wissenschaftlich nennen sollte, nämlich die Technik der Auffindung, Übermittlung, elementaren Deutung und Vergleichung der Zeugnisse; aber wo Auswahl, Sinndeutung, Beurteilung und Anordnung eingreifen, ist die Tätigkeit des Historikers weit eher einer Kunst als einer modernen Wissenschaft vergleichbar. Es ist eine mit gelehrtem Material arbeitende Kunst.


Joachim Patinir: Landschaft mit dem Hl. Hieronymus, 1515-1519,
74 x 91 cm, Madrid, Museo Nacional del Prado
Ein anderer Aspekt der vichianischen Erkenntnistheorie ist dieser, daß er das Geschichtliche mit dem Menschlichen gleichsetzt. Die Welt der Völker, il mondo delle nazioni, umfaßt bei ihm nicht nur die politische Geschichte, sondern auch Geschichte des Denkens, des Ausdrucks (Sprache, Schrift und bildende Kunst), der Religion, des Rechts, der Wirtschaft: weil alle diese Dinge aus den gleichen Bedingungen, nämlich dem jeweiligen Kulturzustande der menschlichen Gesellschaft, hervorgehen und somit entweder im Zusammenhang miteinander oder gar nicht verstanden werden können; die Einsicht in einen dieser Teile menschlichen Gestaltens in einem bestimmten Stadium der Entwicklung muß zugleich den Schlüssel zu allen anderen Gestaltungen des gleichen Stadiums liefern. Vico geht weiter, für ihn gibt es eine in drei Entwicklungsstufen verlaufende «ideale ewige Geschichte», einen Modellverlauf, der sich zyklisch wiederholt und der im Zusammenhang verstanden werden muß. Nun ist der wichtigste Gegenstand des Verstehens für ihn die Frühzeit der Entwicklung, weil er der schwierigste ist. Die äußerste Anstrengung, so etwa sagt er, sei erforderlich, um in den Modifikationen unseres schon zu voll entwickelter Vernunft gelangten Geistes die ganz von Instinkt und Phantasie beherrschten Frühformen der Gesittung wiederzufinden. Und in der Darstellung der Einheit der Frühkulturen bringt Vico auf eine unvergleichlich großartige Weise dasjenige zur Verwirklichung, was die moderne, Kritik Stil nennt: die Einheitlichkeit aller Gestaltungen einer jeden geschichtlichen Epoche. Es ist kürzlich geäußert worden, Vico bedeute wenig für die Ästhetik, er sei eher ein Geschichtsphilosoph oder ein Soziologe; das heißt ihm vorwerfen, daß er nicht eine besondere Ästhetik gründete, sondern eine Welt, in die sie hineingehört. Sein Ausgangspunkt ist Kritik der menschlichen Ausdrucksformen, der Sprachen, Mythen und Dichtungen («una nuova arte critica»).

Ein kleiner Schritt weiter führt von der Erkenntnistheorie Vicos zu seiner Begründung des Historismus. Er schrieb sein Buch in einer Epoche, die einer Würdigung der geschichtlichen Entwicklung nicht günstig gesinnt war. Schon allein wegen der verschiedenartigen, miteinander unvereinbaren, oft augenscheinlich widervernünftigen Lebensformen, die die Geschichte hervorgebracht hatte, strebten viele führende Geister von dem geschichtlich Gewordenen fort, und setzten ihm die eigentliche, vernünftige und ursprüngliche Natur des Menschen entgegen, die wiederherzustellen sei. Demgegenüber sagt Vico mit großer Schärfe, daß es keine andere Natur des Menschen gebe als seine Geschichte. Natura di cose, so heißt es bei ihm (Scienza Nuova 147), altro non è che nascimento di esse in certi punti e con certe guise, le quali sempre che sono tali, indi tali e non altre nascon le cose. Mit dem ersten Teile dieses Satzes - Natur der (menschlich-gesellschaftlichen) Dinge ist nichts anderes als ihr Entstehen zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten Umständen - ist der historische Relativismus oder Perspektivismus begründet; mit dem zweiten - immer wenn die Zeiten und Umstände so sind, entstehen daraus die Dinge so und nicht anders - wird die zur Geschichte gewordene Natur einer Gesetzmäßigkeit unterworfen. An vielen Stellen der Neuen Wissenschaft bedeutet natura nichts anderes als «geschichtliche Entwicklung» oder Stufe derselben; was die Völker gemeinsam haben, ihre Natur, ist nichts anderes als der gesetzmäßige Verlauf ihrer Geschichte; dieser Verlauf ist ihre gemeinsame Natur, la natura commune delle nazioni, von der die Neue Wissenschaft handelt.

Joachim Patinir: Der Hl. Hieronymus in der Wüste, c. 1520, 78 x 137 cm,
Paris, Musée du Louvre
Der Ablauf oder die natürliche Geschichte ist, nach Vico, das Werk der göttlichen Vorsehung. Obwohl sie nur mit innergeschichtlichen Mitteln wirkt, ist ihr Werk doch vollkommen; also ist auch jede der Entwicklungsstufen notwendig, in sich vollendet und gut. Vico liegt viel daran, zu zeigen, wie einfach und wohlgeordnet der von ihm der Vorsehung zugeschriebene Entwicklungsplan sei; das Ganze der Geschichte ist «ein ewiger platonischer Staat», trotz des ständigen Wechsels. Diese vichianische Form des historischen Relativismus bezieht sich also hauptsächlich auf die gesetzmäßig aufeinander folgenden Geschichtsstadien, weit weniger auf die Varianten, die die Entwicklung bei den einzelnen Völkern zeigt; die vichianische Form war darum weit weniger geeignet für die praktische Anwendung in der Philologie als die Herders und seiner Nachfolger, die vom individuellen Geist der Völker ausging. Vico leugnet die Varianten innerhalb der allgemeinen Entwicklung nicht, aber nicht ihnen gehört sein Interesse; ihm geht es um das allgemein Gesetzliche, das sich in der Entwicklung aller Völker zeigt; es sind die Stufen dieser Entwicklung, die jede aus ihren Voraussetzungen verstanden werden müssen und die, jede in ihrer Weise, als zeitlicher Ausdruck der ewigen Vorsehung, vollkommen sind.

Jedenfalls ist hier, zugleich mit dem Stilbegriff, der Historismus ins Leben getreten; er ist, so scheint mir, die kopernikanische Entdeckung der Geisteswissenschaften. Tatsächlich ist die Wirkung dieser Entdeckung, seit sie durch die Romantik allgemein zugänglich wurde, ungeheuer gewesen. Das absolute dogmatische Urteil nach einem festen Schema, das zwar auch im Neuklassizismus nicht unbedingt, aber doch nur durch den «guten Geschmack» eingeschränkt, geherrscht hatte, wurde gründlich zerstört. Der Horizont wurde gewaltig erweitert, und die Erforschung früher und fremder Kulturen, wie sie seit dem Beginn des 19.Jahrhunderts betrieben wird, beruht auf der historistischen Gesinnung des Verstehens. Unser Historismus in ästhetischen Fragen ist uns so selbstverständlich geworden, daß wir uns seiner kaum noch bewußt sind. Wir genießen die Kunst, die Dichtung, die Musik der verschiedensten Völker und Zeiten mit der gleichen Bereitschaft zum Verständnis. Die Kulturen, die wir primitiv nennen und die zu verstehen für Vico eine so große Anstrengung bedeutete (den meisten seiner Zeitgenossen waren sie weder verständlich noch auch nur interessant), haben für uns schon seit langem einen ganz besonderen Reiz. Die Verschiedenheit der Völker und Zeiten schreckt uns nicht mehr; weder die Gelehrten und Kritiker unter uns, noch selbst einen großen, ständig wachsenden Teil des allgemeinen Publikums. Das perspektivische Verstehen hört zwar sofort auf, sobald die Politik im Spiele ist; aber im Ästhetischen üben wir unsere Anpassung an verschiedene Kulturformen oder Epochen während eines einzigen Museumsbesuches, in einem einzigen Konzert, zuweilen sogar im Kino, beim Durchblättern einer illustrierten Zeitschrift oder selbst beim Anblick der Reklameschriften von Reiseagenturen. Das ist Historismus, genau wie in Molieres «Bourgeois gentilhomme» die tägliche Sprache von Monsieur Jourdain, zu seiner großen Überraschung, Prosa ist. Die meisten von uns sind sich ihres Historismus ebensowenig bewußt wie Monsieur Jourdain seiner Prosa. Es gibt sogar in den letzten Jahrzehnten wieder einflußreiche Kritiker, deren deskriptive und oft dogmatische Urteilskategorien absolute Geltung beanspruchen. Es gelingt freilich nicht mehr, die klare Prägnanz mancher großer vorhistoristischer Kritiker zu erreichen, die, innerhalb ihres Bezirkes, meisterhaft formuliert haben, welche Höhenlagen und Kunstarten es gibt, welchem Zweck sie dienen und wie sie beschaffen sein müssen.

Joachim Patinir: Hl. Hieronymus in felsiger Landschaft, c. 1520,
36,5 x 34 cm, London, National Gallery
Aber die Tendenz, den historischen Perspektivismus schweigend zu verleugnen oder ausdrücklich abzulehnen, ist weit verbreitet; sie hängt, besonders in der Literaturkritik, zusammen mit der Abneigung gegen die Philologie nach dem Muster des 19.Jahrhunderts, die als eigentliche Verkörperung des Historismus gilt. Der Historismus, so glauben viele, führe zur antiquarischen Kleinarbeit, zur Überbewertung biographischer Motive, zur Verkennung des Kunstwerks, zum Eklektizismus aus Mangel an Urteilskategorien. Dabei vergißt man zunächst, daß der große vichianische oder herderisch-romantische oder hegelische Historismus die philologische Spezialisierung zwar inspirierte, aber nicht identisch mit ihr ist; wenn viele Forscher, im Eifer des Spezialistentums, dem wir sehr viel verdanken, das Ziel ihrer Arbeit vergaßen, so ist das kein Einwand gegen eine Gesinnung, die ihnen eben leider abhanden gekommen war. Gewiß ist die Jagd nach biographischen Einzelheiten, und vor allem die Bemühung, alle dichterischen Äußerungen im wörtlichsten Sinne biographisch zu deuten, sehr naiv und zuweilen lächerlich. Aber man hat, so scheint mir, nun genug dagegen polemisiert und darüber gelacht. Die einfache Tatsache, daß das Werk eines Menschen ein Ding ist, das aus seinem Dasein entspringt, daß darum alles, was man über sein Leben in Erfahrung bringen kann, das Werk interpretiert, wird nicht entkräftet, weil Menschen ohne zureichende Erfahrung daraus alberne Schlüsse gezogen haben. Die jetzt häufig gestellte Forderung, man solle das Werk unabhängig von seinem Autor betrachten, ist nur insofern berechtigt, als sehr oft ein Werk ein besser integriertes, wahreres Bild von seinem Schöpfer gibt als die vielleicht zufälligen und irreführenden Informationen, die wir von seinem Leben besitzen. Eigene Erfahrung, Diskretion und eine auf Grund sehr genauer Kenntnis des Materials erworbene Großzügigkeit sind erforderlich, um Leben und Werk in die richtige Beziehung zu setzen. Jedenfalls aber ist das, was wir an einem Werk verstehen und lieben, das Dasein eines Menschen, eine Möglichkeit von uns selbst.

Vor allem aber ist es nicht richtig, daß der historische Relativismus zur eklektischen Urteilsunfähigkeit führt und daß man, um zu urteilen, außerhistorischer Maßstäbe bedürfe. Wer den Historismus eklektisch versteht, der hat ihn nicht verstanden. Die Eigentümlichkeit einer jeden Epoche und eines jeden Werkes sowie die Art ihrer Beziehungen untereinander sind durch Hingabe und Vertiefung zu erobern, eine unendliche Aufgabe, die jeder für sich, von seinem Standorte, zu lösen versuchen muß. Denn der historische Relativismus ist ein doppelter, er bezieht sich auf den Verstehenden ebenso wie auf das zu Verstehende. Es ist ein radikaler Relativismus; man sollte ihn deshalb aber nicht fürchten. Der Raum, in dem man sich bei dieser Tätigkeit bewegt, ist die Welt der Menschen, zu der der Verstehende selbst gehört. Das läßt ihm seine Aufgabe als lösbar erscheinen (denn alle Formen des Menschlichen müssen «dentro le modificazioni della medesima nostra mente umana» aufzufinden sein). Die Aufgabe aber zwingt ihn zugleich so fest in das gemeinsame Menschentum hinein, in solche Möglichkeiten desselben, die er vielleicht nie bemerkt, nie in sich selbst aktualisiert hätte, daß von Auswahl nach Gefallen und Laune, ohne Verantwortung, was man gewöhnlich Eklektizismus nennt, nicht gesprochen werden kann. Bei dieser Tätigkeit verlernt man das Urteilen nicht; man lernt es. Man verlernt freilich das Urteilen nach außergeschichtlichen und absoluten Kategorien, und man hört auf, nach ihnen zu suchen; eben weil das allgemeinste Menschliche oder Dichterische, welches den vollkommensten Werken der einzelnen Epochen gemeinsam ist und welches also die gedachten Kategorien des Urteils liefern müßte, nur in seinen besonderen geschichtlichen Formen zu fassen, in seiner Allgemeinheit aber nicht prägnant ausdrückbar ist. Man lernt allmählich, in den geschichtlichen Formen selbst die elastischen, immer nur provisorischen Ordnungskategorien zu finden, deren man bedarf. Und man beginnt zu lernen, was die verschiedenen Erscheinungen in ihren eigenen Epochen und was sie innerhalb der drei Jahrtausende, von deren literarischem Leben wir eine Vorstellung haben, bedeuten; so dann drittens, was sie für mich und uns, hier und jetzt bedeuten. Das ist genug, um zu urteilen, das heißt um den Erscheinungen, aus den Bedingungen ihres Entstehens, ihren Rang anzuweisen; genug auch, um darüber nachzudenken; was den bedeutendsten Erscheinungen gemeinsam ist. Das Resultat des Nachdenkens kann aber meiner Überzeugung nach niemals abstrakt und außergeschichtlich, sondern nur als ein dialektisch-dramatischer Vorgang ausgedrückt werden, wie es Vico gewiß unvollkommen, aber als Vorbild unersetzbar, versucht hat.

Joachim Patinir: Triptychon mit dem Hl. Hieronymus, c. 1520, 118 x 81 cm (Mitte) bzw. 121 x 36 (Seiten),
New York, Metropolitan Museum of Art
Es ist ihm auf diese dialektische Weise möglich gewesen, eine Definition des Dichterischen zu finden, indem er es nämlich als die vorwiegende oder sogar ausschließliche Denk- und Ausdrucksform der Frühzeiten auffaßt; in den Frühzeiten seien die Kräfte der Vernunft noch ganz unentwickelt, die der Phantasie ungeheuer gewesen. In dieser damals revolutionären Vorstellung ist Vico ein Vorgänger Herders und der vorromantisch-rousseauischen Bewegung. Aber während diese Späteren sich die dichterische Phantasie der Frühzeiten als schweifend, unpolitisch und aller gesetzten Ordnung fremd vorstellten, erscheint sie bei Vico, nach dem Plan der Vorsehung, als politisch konstruktiv. Sie führt durch selbstgeschaffene und dennoch für wahr gehaltene mythische Vorstellungen (fingunt simul creduntque) zur gesetzten Ordnung und zur Gesellschaftsbildung. Die geistige Tätigkeit der Menschen in den ersten «poetischen» Zeitaltern beruht zwar auf Leidenschaften, aber sie führt nicht zu schweifenden Gefühlen, sondern zur Bildung von festgestalteten Mythen, die Vico als «universali fantastici», phantasieentsprungene Allgemeinvorstellungen bezeichnet; also konkret vorgestellte, körperlich gestaltete Synthesen, wie sie aus der (Schutz vor dem Chaos suchenden, ritual formelhaft gerichteten) Einbildungskraft hervorgehen. Aus ihnen entstehen die ersten, von magischem Ritual beherrschten gesellschaftlichen Einrichtungen, die Vico ebenfalls als poetisch bezeichnet. Er entwickelt seine Ideen nicht wie die Späteren aus dem Gegensatz zur neuklassischen Rhetorik, sondern im Gegenteil unmittelbar aus dieser heraus. Er war ja selbst den größten Teil seines Lebens Professor der Rhetorik. Er sieht in den rhetorischen Figuren des Schulbetriebes Reste des ursprünglichen, konkret sinnlichen Denkens, das die Dinge selbst zu fassen meint; diese wahren, den Gegenstand selbst enthaltenden Symbole seien in rationalen und unpoetischen Zeiten zu bloßen Schmuckformen abgesunken. Neuerdings ist man bei den Versuchen, das Dichterische zu definieren, wieder zur Terminologie der Rhetorik zurückgekehrt. Man hat verschiedene rhetorische Ausdrücke vorgeschlagen, besonders aber das Wort Metapher, um das unausdrückbare eigentlich Dichterische, das zugleich konkret und allgemein bedeutend ist, doch noch auszudrücken. Vico sagt dafür universale fantastico. Auch das ist nur eine Chiffre. Aber sie scheint mir, vergleichsweise, sowohl umfassender als auch eigentümlicher und prägnanter.

Durch seine Auffassung befreit Vico die Theorie der Dichtung von allen nur technischen, die äußere Form betreffenden und dogmatisch fordernden Kriterien. Er erkennt in ihr eine selbständige, ihren eigenen Gesetzen folgende Form der Anschauung und Selbstorientierung des Menschen. Zwar strebt Dichtung jederzeit, besonders aber in den Frühzeiten, nach rhythmischer und lautsymbolischer Rede; aber nicht äußere Kriterien sind für ihn entscheidend, sondern unmittelbare Intuition, ohne methodische Führung der Vernunft. Nun ist für Vico das eigentlich Dichterische auf die Frühzeiten beschränkt; dies Vorurteil von der poetischen Überlegenheit der «Urzeiten» teilt er mit Herder und dessen Nachfolgern. Es war überaus fruchtbar, wie viele Vorurteile. Aus ihm entstanden Sturm und Drang und die Romantik, aus ihm die Volksgeistidee und der Historismus, aus ihm auch entstand, hier zuerst bei Vico, die Idee des poetischen Symbols oder, was praktisch dasselbe besagt, die begründete Einsicht in den Unterschied zwischen poetisch-evokatorischer und vernünftig mitteilender Sprache. Aber freilich ist es ein Vorurteil. Die Dialektik zwischen Einbildungskraft und Vernunft ist keine rein zeitliche Folge, sie schließen einander nicht aus; es geschieht sogar, daß sie zusammenwirken und daß die Vernunft die Phantasie befruchtet. Übrigens erkennt Vico an, daß seine Einteilung der Zeitalter nicht unbedingt gilt; die Spuren vergangener Kulturzustände, so schreibt er, erhalten sich noch lange in späteren Zeiten, «so wie die großen reißenden Ströme sich weit ins Meer verbreiten und durch die Kraft ihrer Strömung die Süße des Wassers noch lange bewahren». Aber weitaus vorwiegend ist für ihn doch, in den Spätzeiten, der dichtungsfremde Rationalismus; und die wahre Poesie lebt für ihn wie für die Romantiker in den frühen Perioden der Kultur, die er das göttliche und das heroische Zeitalter nennt.

Joachim Patinir: Landschaft mit der Flucht nach Ägypten, c. 1524,
51 x 96 cm, St.Petersburg, Hermitage
In der Behandlung dieser Zeitalter offenbart sich nun am deutlichsten, was aber für alle Zeitalter gilt: die Einheit von Vicos Betrachtungsweise. Bei den Menschen der Frühzeiten ist die Gesamtheit aller Handlungen und Anschauungen poetisch: ihre Metaphysik, ihre Logik, ihre Moral, ihre Politik, ihre Wirtschaft und so fort, sind poetisch. Die Wissenschaft, die das, was sie für wahr hielten, durch Deutung der Dokumente erforscht, heißt Philologie. Damit ist die Philologie erweitert zu dem, was man in Deutschland Geistesgeschichte nennt; alle geschichtlich-humanistischen Fächer, einschließlich Rechtsgeschichte und Wirtschaftsgeschichte, gehören zu ihr. Aber Vicos Idee der Philologie wird in ihrer eigentlichen Kraft erst dann erfaßt, wenn man sich seiner eigenen Terminologie bedient. Er stellt die Philologie der Philosophie gegenüber; die Philologie erforsche, was die Völker in ihrem jeweiligen Kulturzustande für wahr halten (obwohl es nur wegen ihres beschränkten Gesichtsfeldes für wahr gilt) und was demzufolge ihren Handlungen und Einrichtungen zugrundeliegt; Vico nennt es certum, das Gewisse oder Gesetzte; das certum ist dem geschichtlichen Wandel unterworfen. Die Philosophie aber habe es mit der unveränderlichen und absoluten Wahrheit zu tun, dem verum. Nun aber erscheint in Vicos Werk diese Wahrheit niemals, wenigstens niemals in der Geschichte. Auch die voll entwickelte menschliche Vernunftgesinnung, das dritte Stadium der Geschichte, enthält sie nur als Möglichkeit; auch das dritte Zeitalter ist bei Vico nur ein Stadium, das notwendig der Verderbnis und dem Rückfall in die Barbarei unterworfen ist. Jenes platonische verum, das überall in der Geschichte als eines seiner Aspekte verwirklicht ist, ist doch in keiner der geschichtlichen Perioden ganz enthalten. Enthalten ist es nur in dem Plan der Vorsehung oder dem Ganzen des Geschichtsverlaufs; und nur in der Erkenntnis dieses Ganzen kann es erkannt werden. Damit ist die Wahrheit, welche die Philosophie sucht, gebunden an die Philologie, welche die certa sowohl als einzelne wie auch in ihrem Zusammenhange erforscht. Der Zusammenhang des Gesamtverlaufs der Menschengeschichte, la commune natura delle nazioni, ist der Gegenstand von Vicos Buch, das man also, nach Vicos Terminologie, ebensowohl eine Philologie wie eine Philosophie nennen kann. Es handelt sich in dieser philologischen Philosophie oder philosophischen Philologie nur um uns, die Menschen auf dem Planeten Erde.

Dies ist die Idee der Philologie, die ich von Vico gelernt habe, und sie paßt, wie man leicht einsehen wird, zu der europäischen Aufgabe, von der zu Beginn dieser Einleitung die Rede war. Wie aber ist solche synthetische Aufgabe praktisch zu lösen? Schon Vico ist das nicht sehr gut gelungen. Der eigentlich gelehrt-technische Teil seines Werkes, seine Beweise und Interpretationen, sind oft falsch und sogar absurd; das liegt nicht nur an dem Stand der Forschung zu seiner Zeit, sondern auch an seiner Einseitigkeit und unbewußten Willkür. Besessen von seiner Vision, arm an Material, um sie zu beweisen (fehlte ihm doch alles Ethnologische, Orientalistische, Mittelalterliche, was seitdem zutage getreten ist), deutete er oft gewaltsam die antiken Zeugnisse, die ihm zur Verfügung standen: Mythen, Wortursprünge und -bedeutungen, Textstellen aus Dichtern, Historikern und Juristen. Zuweilen vergaß oder übersah er, was zeitgenössische Gelehrte schon besser erforscht hatten. Für uns heute, für die es auf seine Idee der Geschichtsstruktur ankommt, ist das nicht mehr von Wichtigkeit; wohl ist die Methode bedeutend, nämlich die Induktion aus dem einzelnen Zeugnis, aber nicht die Irrtümer der Durchführung, da ohnehin ein ähnliches Unternehmen jetzt auf ganz anderem Material aufgebaut werden müßte. Im Gegenteil, wir bewundern die Kraft der Idee, die mit so unzureichendem Material solch ein Werk zustande brachte; wir verfolgen mit Teilnahme den Kampf, den er um die Gestaltung seiner Gedanken führte; sein energischer Interpretationswille, der Vorurteil und teilweise Blindheit in sich schloß, gab ihm die Kraft dafür.

Quelle: Erich Auerbach: Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter. Francke, Bern, 1958. Zitiert wurden Seite 10 bis 18

Joachim Patinir: Rast auf der Flucht nach Ägypten, c. 1520, 121 x 177 cm,
Madrid, Museo Nacional del Prado
Erich Auerbach, 1892 in einer Berliner Kaufmannsfamilie geboren, studierte zunächst Jura und schloß dieses Studium 1915 mit einer juristischen Promotion ab. Im ersten Weltkrieg war er Soldat und wurde schwer verwundet. Anschließend setzte er das Studium fort, nun in den Fächern Romanistik, Latein, Philosophie. 1921 promovierte er in romanischer Philologie, 1925 trat er in den preußischen Bibliotheksdienst ein. 1924 erschien seine Übersetzung der "Scienza Nuova" von Giambattista Vico. Durch diese Arbeit kam er in Kontakt mit Benedetto Croce, dessen große Vico-Monographie er ebenfalls übersetzte. 1929 habilitierte er sich in Marburg mit "Dante als Dichter der irdischen Welt" und wurde Nachfolger Leo Spitzers. 1933 verlor er seine Marburger Professur; 1936 emigrierte er nach Istanbul und wurde auch dort Nachfolger Leo Spitzers, der nach Baltimore berufen worden war. In der türkischen Emigration schrieb Auerbach sein bedeutendstes Buch: "Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur" (zuerst 1947). Dieses Buch war das Pendant zu Ernst Robert Curtius' Werk "Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter" (1947), dem geistesgeschichtlich vielleicht wichtigsten Buch der frühen deutschen Nachkriegszeit. In den USA lehrte er zunächst am Pennsylvania State-College, danach forschte er in Princeton am Institute for Advanced Study; zuletzt wirkte er in Yale. Nach einer Reise nach Deutschland, auf der er einen Schlaganfall erlitt, starb er am 13. 10. 1957 in Wallingford, Connecticut, USA

Erichs Auerbach's Übersetzung der scienza nuova von 1924 ist 2000 neu aufgelegt worden: Giambattista Vico: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausgabe von 1744 übersetzt und eingeleitet von Erich Auerbach. 2.Auflage. de Gruyter, Berlin-New York, 2000. ISBN 3-11-016890-1

CD bestellen von jpc

CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 29 MB
Filepost --- Hotfile --- Depositfiles --- EmbedUpload --- Rapidgator
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files

Darius Milhaud: Musik für Klarinette, Violine, Piano

$
0
0
Während der 1930er Jahre stellte Darius Milhaud häufig seine Talente in den Dienst von Bühne und Leinwand, und eine Reihe von Arbeiten, die er in dieser Zeit als Film- oder Bühnenmusik schrieb, sind noch heute im Konzertsaal zu hören, darunter die Suite provençale und Scaramouche.

1936 schrieb er die Bühnenmusik für Jean Anouilh‘s Schauspiel Le Voyageur sans bagages, das im Pariser Théâtre des Mathurins inszeniert wurde. Aus dieser entwickelte er unmittelbar, mit ein wenig Nachbearbeitung hier und da, die Suite, Op. 157b, für Klarinette, Violine und Klavier. Die erste Aufführung dieser einfachen, entspannten Arbeit erfolgte am 19. Januar 1937 als Teil der Pariser Konzertreihe, die durch die Musikgesellschaft »La Sérénade« organisiert wurde. Das Hauptthema der Ouverture wird im unteren Register des Klaviers von einem typisch lateinamerikanischen Rhythmus (3+3+2) aufrechterhalten. Eine plötzliche Veränderung des Charakters tritt ein, indem Klarinette und Violine, eineinander abwechselnd, eine melodische Variante des Themas vor einer ganz anderen Klavierbegleitung spielen, piano, mit gefühlter Nähe zu einer Kaffeehausmusik, die weder Satie noch Poulenc verleugnet haben würden. Das Eröffnungsthema des Divertissements nimmt die Form eines Dialogs zwischen Geige und Klarinette an, während der Einsatz des Klaviers das Signal gibt für ein zweites Thema auf der Klarinette. Der Satz endet mit einer Rückkehr des ursprünglichen Themas, jetzt dem Klavier anvertraut und bereichert durch neue kontrapunktische Linien für die beiden anderen Instrumente. Jeu, während dessen das Klavier schweigt, folgt dem symmetrischen Muster ABCBA. Von seinen drei Themen, erinnert das erste (A) an Strawinsky‘s L'Histoire du soldat mit seinem Reichtum an Doppelgriffen auf der Geige und seinem rauhen Volksmusikcharakter. Das Finale, in 6/8, eingeleitet durch einen fünf-schlägigen Takt, führt zwei Hauptelemente ein: ein Thema im Stil eines ziemlich abgedroschenen Französischen Chansons, rasch gefolgt durch eine Komposition in bluesiger Atmosphäre.

Die äußeren Sätze von Scaramouche stammen aus der Bühnenmusik, die Milhaud im Mai 1937 für Le Médecin volant (Der fliegende Arzt) von Molière bzw. Charles Vildrac schrieb, und die von Anfang an für Klarinette oder Saxophon und Klavier konzipiert war. Für den Mittelsatz lieh er sich sein Ouvertürenthema für Jules Supervielle‘s Spiel Bolivar, komponiert 1935-36, aus. Milhaud schuf drei Versionen dieser Suite, der letzte von ihnen im Jahr 1941 für Klarinette und Orchester oder Klavier.

Der erste Satz, Vif, wird durch die Kürze der ersten musikalischen Figur charakterisiert, die mit Unfug und Humor über sich wiederholende harmonische Muster, ähnlich wie ein Kinderlied, ins Spiel gebracht wird, von Zeit zu Zeit gewürzt durch die Einführung von polytonal gekennzeichneten Harmonien. Eine zweite melodische Idee schreitet mittels Wiederholung der oberen Sekunde fort, während die Harmonie unverändert bleibt. Ein Marsch mit einem Motiv von vier wiederholten Noten, gefolgt von punktierten Rhythmen, liefert die Substanz des Mittelteils, bevor die Eröffnung variiert wiederholt wird. Modéré, der zweite Satz, basiert auch auf drei wesentlichen Ideen. Die erste, in einem gepunkteten 4/4 Rhythmus, wechselt zwischen Klarinette und Klavier in einem langsamen Marsch; dieser Austausch setzt sich mit der Ankunft des zweiten Idee fort, ein lyrisches, fast romantisches Motiv (ein paradoxes Milieu in Milhauds Arbeit …) über einer geschmeidigen, rhythmischen Begleitung. Der Mittelteil in 6/8 erinnert an eine Barcarole und erscheint, um die Reprise aufzubrechen, die in einer höchst originellen Weise variiert wird. Hier sind die ersten beiden Ideen subtil in ihrer Gleichzeitigkeit kombiniert. Brazileira, das Finale, ist ein Samba-Satz, mit einer ABCDCA-Struktur, in der die Sechzehntel-Klavierbegleitung des ersten Themas auf eine Toccata anzuspielen scheint. Abschließend gesagt, der Umstand, dass Milhaud diese Materialien ausgeliehen oder überarbeitet hat, ist von geringer Bedeutung, so virtuos und elegant ist sein Vorgehen in diesem Stück, wie auch in Le Boeuf sur le toit, seine Kunst der musikalischen Collage und Montage.

Die Sonate Nr. 2 für Violine und Klavier, André Gide gewidmet, wurde im Mai 1917 in Rio de Janeiro komponiert. Der Kopfsatz, Pastoral (eine in Milhauds Werken häufige Atmosphäre), ist in freier Sonatenform und wird von fünf thematischen Elemente beherrscht. Er zeigt bemerkenswerten harmonischen, kontrapunktischen und formalen Einfallsreichtum. Die Geige ist durchgehend stummgeschaltet, und das Ende ist mit seinen Augmentationen und Kombinationen bemerkenswert für die schrittweise Art, in der die thematischen Elemente verblassen, vor der Rückkehr in die friedliche Atmosphäre des Anfangs.

Mit seiner Kürze, dem rasanten Tempo und optimistisch thematischen Material ist der zweite Satz seiner Natur nach ein Scherzo. Es basiert auf zwei Themen (A auf der Violine, B auf dem Klavier) von unterschiedlicher Bedeutung. Dem »Scherzo« fehlt jedoch ein echtes Trio, welches durch eine kurze Entwicklungssequenz ersetzt wird. Der letzte Abschnitt, Moins vif, vereint doppelte und dreifache Metren. Hier ist Thema A in Vergrößerung auf der Geige zu hören, während uns das Klavier eine kurze Präsentation von B bietet, im initialen Tempo, Vif.

In freier ternärer Form ist der dritte Satz um zwei Hauptideen entworfen, mit einer prägnanten zentralen Entwicklung. Die Geige eröffnet das Finale, Très vif, mit einem entschlossenen und wütenden ersten Thema über temperamentvoller, polytonaler Klavierbegleitung. Nach einer Klavierkadenz erscheint auf der Violine ein zweites Thema, in Fis-Dur und einem punktierten Rhythmus, begleitet von stetig fließenden Sechzehntel. Die kurze Coda vereinigt den Anfang des ersten Themas auf der Geige mit dem punktierten Rhythmus des zweiten Themas auf dem Klavier.

Geschrieben im Sommer 1927 in Aix-en-Provence, ist die Sonatine für Klarinette und Klavier, Op. 100, dem Klarinettisten Louis Cahuzac gewidmet. Von den hier präsentierten Stücken ist dieses zweifelsohne das im härtesten Idiom verfasste. Milhaud verwendet eine Polytonalität, die reichliche Verwendung von dissonanten Intervallen, wie kleinen Nonen und übermäßigen Quarten (Tritoni) macht, sowohl horizontal in den Melodien als auch vertikal in den Harmonien. Das komplexe Thema des Kopfsatzes verwendet freimütig verschiedene motivische Ideen, unter denen das intiale absteigende Motiv dominiert. Nach einer ruhigen Passage und einem ausgearbeiteten Crescendo, erscheint eine zweite, sehr ruhige, kontrastierende Idee, die wiederum durch die Entwicklung abgelöst wird. Eine kurze Zusammenfassung präsentiert die Materialien in invertierter und kondensierter Form. Der Mittelsatz ist in dreiteiliger Form gegossen, dessen erstes Thema, sanft und ruhig, von zarter und verträumter Natur ist. Die mittlere Episode, Un peu moins lent, ist düster und dramatisch und beginnt im unteren Register der Klarinette. Die letzten fünf Takte spielen kurz auf den mittleren Abschnitt an, bevor der letzte Satz zum energetischen Diskurs des ersten zurückkehrt. Das absteigende Motiv, gehört am Beginn des Werks, dominiert hier erneut, in unterschiedlichen Varianten.

Le Printemps (Frühling), Op. 18, für Violine und Klavier, wurde zu Ostern 1914 in Aix-en-Provence geschrieben. Kurz zuvor hatte Milhaud den Dichter Paul Claudel getroffen und die Arbeit an der Bühnenmusik für Protée begonnen. Le Printemps ist ein stimmungsvolles Werk, von der natürlichen Welt inspiriert. Die Fließfähigkeit der ständigen »geschmeidigen und mäßigen« Bewegung und des schwungvollen 5/8 Rhythmus ergänzen sich, um die Erneuerung und Blüte des neuen Lebens im Zusammenhang mit der Rückkehr des Frühlings zu vermitteln. Trotz seiner ungewöhnlichen harmonischen Sprache, die uns einen Einblick in den Milhaud der Zukunft bietet, stammt das Werk von einem etablierten französischen Ästheten, nüchtern und ätherisch. Diese Komposition wurde für den vierten Satz, Nocturne, der Suite symphonique Nr. 2 für großes Orchester, Op. 57, wiederverwendet (1919, aus der Bühnenmusik für Protée).

Le Boeuf sur le toit (Der Ochse auf dem Dach) wurde 1919 in Frankreich geschrieben. In einem Brief an Adolphe Nysenholc vom 14. Dezember 1986, erklärte Madeleine Milhaud (die Witwe des Komponisten): »Da Milhaud ein großer Bewunderer der Filme von Charlie Chaplin war, vertraute er Cocteau an, er wolle die Partitur an Chaplin senden, da er sie als brauchbar für einen seiner Filme hielte. Aber Cocteau brachte ihn davon ab und schlug stattdessen vor, die Partitur für ein Ballett zu verwenden, für das er das Szenario entwickeln benutzen … Bald darauf kam Milhaud die Idee, die Arbeit in ein Konzert für Violine und Orchester zu verwandeln … Ich denke, das war der Grund, daß Darius auf den Titel 'Cinéma-Fantaisie' kam.«.

Die Partitur für Violine und Klavier ist ein exaktes Abbild des originalen Balletts, während der Komponist für die Orchesterfassung eine Reihe von Schnitten vornahm. Die brasilianischen Musikwissenschaftler Aloysio de Alencar Pinto und Manoel Aranha Corrêa do Lago warfen kürzlich ein neues Licht auf die akribisch konzipierte Struktur des Balletts und erstellten ein detailliertes Inventar der musikalischen Quellen, aus denen Milhaud sein thematisches Material gezogen hatte. Fast alle seine musikalischen Anleihen konnten inzwischen identifiziert werden: Die meisten von ihnen stammen aus der brasilianischen Populärmusik der Zeit 1897-1919 oder von einigen brasilianischen Komponisten von sogenannter »ernster« Musik, wie Alberto Nepomuceno (1864-1920) oder Alexandre Levy (1864-1892).

Le Boeuf sur le toit ist als Rondo in vierzehn Episoden und einer Coda gesetzt, in der das Thema des Refrains (die ersten sechzehn Takte des Werkes) fünfzehn Mal zu hören ist. Dieser Refrain ist Milhauds einzige eigene Schöpfung. Der klangliche Fortschritt gehorcht einer sorgfältig geplanten Modulationsstruktur, mit dem Ergebnis, daß in den ersten zwölf Episoden, jedes Mal, wenn der Refrain wiederkehrt, er in einer anderen der zwölf Dur-Tonarten zu hören ist.

Arthur Honegger, selbst ein Geiger, komponierte (wahrscheinlich im Sommer 1920) eine Kadenz für die Cinéma-Fantaisie, basierend auf vier populären Themen und dem Refrain. Wie auch durch den neuen Titel Cinéma-Fantaisie ausgedrückt wird, distanziert sich das Werk ein wenig von Cocteaus Bühnenfarce und seinen starken Verbindungen zur brasilianischen Populärmusik. Milhaud wollte es klar in eine neue Richtung orientieren und aus dem choreographischen in einen filmischen Zusammenhang überführen, und er verfolgte damit seinen ursprünglichen Plan weiter, diese Musik auf die Leinwand zu bringen, über eine mögliche symbolische Verbindung zwischen dem Soloinstrument und einem imaginären Filmcharakter, für welchen Chaplin eines von vielen möglichen Gesichtern hätte liefern können.

Quelle: Gérald Hugon, im Booklet (übersetzt - aus der englischen Version von Susannah Howe - durch WMS.Nemo)

Track 4: Suite Op. 157b, IV. Introduction et final



TRACKLISTDarius MILHAUD (1892-1974)

Suite, Op. 157b, for clarinet, violin and piano 11:21
(01) I. Ouverture 1:32
(02) II. Divertissement 2:56
(03) III. Jeu 1:38
(04) IV. Introduction et final 5:11

Scaramouche, Op. 165d 8:48
(05) I. Vif 2:49
(06) II. Modéré 3:42
(07) III. Brazileira 2:15

Violin Sonata No. 2, Op. 40 14:44
(08) I. Pastoral 4:31
(09) II. Vif 2:54
(10) III. Lent 3:43
(11) IV. Très vif 3:30

Clarinet Sonatina, Op. 100 10:27
(12) I. Très rude 4:26
(13) II. Lent 3:20
(14) III. Très rude 2:38

(15) Le Printemps, Op. 18 2:15

(16) Cinéma-Fantaisie d'après Le Boeuf sur le toit, Op. 58b 20:04

Playing time: 67:57


Jean-Marc Fessard, Clarinet 1-7, 12-14
Frédéric Pélassy, Violin 1-4, 8-11, 15-16
Eliane Reyes, Piano 1-16

Recorded at the Conservatoire Royal de Bruxelles, Belgium,
4-6 July 2008 (tracks 1-4, 12-15) and 14-16 October 2008 (5-11, 16)
Producer: Michel Lysight - Engineer: Hughes Maréchal

DDD
(P) + (C) 2010

Nützlichkeit und Bedeutung

Die Sprache bringt das Unsichtbare hervor. Und zwar deshalb, weil sie den Individuen ermöglicht, ihre Phantasmen auszutauschen; sie verwandelt dabei die intime Überzeugung des Einzelnen, in Kontakt mit etwas nie im Gesichtsfeld Vorfindlichen gewesen zu sein, in eine soziale Tatsache. Doch sie bringt es auch deshalb hervor, weil schon das bloße Spiel mit den Worten zur Bildung von Aussagen führen kann, die zwar verständlich sind, aber etwas bezeichnen, das niemand je gesehen hat. Doch sie tut es vor allem deshalb, weil sie es erlaubt, von den Toten zu sprechen, als ob sie lebendig wären, von vergangenen Ereignissen, als ob sie gegenwärtig wären, vom Fernen, als wäre es nah, vom Verborgenen, als läge es vor Augen. Sie erlaubt es nicht nur, sondern zwingt sogar dazu, oder vielmehr sie führt in ganz natürlicher und spontaner Form zwangsläufig dazu.

Durch die Notwendigkeit, die sprachliche Kommunikation zwischen den Generationen aufrechtzuerhalten, wird den Jungen das Wissen der Alten übermittelt, das heißt ein Komplex von Aussagen, in dem von etwas die Rede ist, das die Jungen nie gesehen haben und vielleicht auch niemals sehen werden. Die Sprache bringt also das Unsichtbare hervor, weil sie in einer Welt, in der Phantasmen auftauchen, in der gestorben wird und Veränderungen vor sich gehen, einfach dadurch schon, daß sie gesprochen wird, die Überzeugung nahelegt, daß das, was man sieht, nur ein Teil von dem ist, was es gibt. Der Gegensatz zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem ist zunächst ein Gegensatz zwischen dem, wovon man spricht, und dem, was man wahrnimmt, zwischen dem Universum der Rede und der Welt des Blicks.

Als zwangsläufiges Produkt der gesprochenen Sprache ermöglicht der Gegensatz zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem nicht nur, sondern suggeriert offenbar sogar, daß dem Unsichtbaren eine Überlegenheit über das Sichtbare zugesprochen wird, so etwas wie ein Vermögen der Fruchtbarkeit. Er bringt einen dazu, sich für alles zu interessieren, was mit dem Unsichtbaren auf diese oder jene Weise zusammenhängt, besonders natürlich für die Gegenstände, von denen man annimmt, daß sie es repräsentieren. Dennoch müssen die ökonomischen Aktivitäten, die für die Subsistenzmittel sorgen, der Gruppe oder einem Teil von ihr - oder auch nur einem Individuum - die Zeit lassen, um die Gegenstände, die das Unsichtbare repräsentieren, anzusammeln und aufzubewahren oder sogar herzustellen. Es mußte jedoch viel Zeit vergehen, bevor diese Bedingungen alle zusammen vorlagen. […]

Die Geschichte der Dinge wie der Menschen entwickelt sich in der erdgeschichtlichen Zeit. Auch das Interesse der Menschen für Gegenstände, die keine Dinge sind, hat seine Geschichte, und auch sie hat ihre Zeit, freilich eine unvergleichlich viel kürzere. Und doch sind die ersten Anzeichen für Beschäftigungen, die nicht an Nutzen gebunden sind, sehr alt. Davon zeugt wahrscheinlich ein Bruchstück von rotem Ocker und ein Stück grüner Lava, die in Olduwai gefunden wurden. Das bekunden wahrscheinlich auch die Funde, die in der Höhle Nr. 1 von Mas des Caves (Lunel-Viel, Hérault, Frankreich) gemacht wurden; »darunter sind einige Knochensplitter und Kalkkiesel; sie zeigen Einritzungen durch Steinwerkzeuge, die absichtlich erscheinen. Diese graphischen Zeichen auf Knochen und Steinen stellen die ältesten nicht figurativen Zeichnungen dar, die bis zur Stunde bekannt sind«.

Doch diese Gegenstände, denen man ein Alter von vierhunderttausend bis fünfhunderttausend Jahren zuschreibt, bilden zur Zeit noch eine Ausnahme. Erst während der klimatischen Abmilderungen vor vierzig- bis sechzigtausend Jahren tauchen die ersten Bruchstücke von rotem Ocker auf; und sie sind immer noch sehr selten. In den Schichten, die der letzten Phase der Klima-Abmilderung entsprechen, entdeckte Andre Leroi-Gourhan »eine Reihe von Gegenständen, Raritäten, die von den Bewohnern der Höhle von Hyène (Arcy-sur-Cure, Yonne, Frankreich) im Laufe ihrer Wanderungen zusammengetragen wurden. Es handelt sich um eine große spiralförmige Muschel eines Weichtiers auf dem Mesozoikum, einen kugelförmigen Polypar aus derselben Zeit und seltsam geformte Eisenkiesschollen. Das sind in keinem Sinn Kunstwerke, doch die Tatsache, daß diese von der Natur hervorgebrachten Formen die Aufmerksamkeit unserer zoologischen Vorfahren auf sich gezogen haben, ist schon Zeichen einer Beziehung zum Ästhetischen. Die Sache ist umso frappierender, als in der Folge keinerlei Bruch bemerkbar ist; denn die Künstler fahren bis zum Magdalénien damit fort, uns das Sammelsurium ihres Freilichtmuseums zu liefern: Eisenkiesschollen, Muscheln, Fossilien, Quartz- und Bleiglanzkristalle. Es existiert sicher irgendeine Verbindung zwischen diesem Zusammentragen bizarrer Objekte und der Religion, doch dadurch werden die ästhetischen Implikationen nicht geschmälert; denn die natürlichen und die geschaffenen Formen stehen sehr nahe beieinander in derselben religiösen Atmosphäre, von den Fresken von Lascaux bis zu den kleinen in einem Fossil angebrachten Gehängen«.

Es sind also die Bewohner der Höhle von Hyène in Arcy-sur-Cure, denen bis zum Beweis des Gegenteils der Titel der ersten uns bekannten Sammler zukommt. Denn die von ihnen aufgesammelten und aufbewahrten naturgeschichtlichen Raritäten wurden aus dem Kreislauf der ökonomischen Aktivitäten herausgehalten; diese bestanden nämlich zur damaligen Zeit in der Herstellung von Werkzeugen und Beschaffung von Nahrung. Darüber hinaus wurden sie eigens geschützt, denn sonst würde man sie nicht nach mehreren zehntausend Jahren wiederfinden. Und schließlich wurden sie ausgestellt, um den Blick auf sich zu ziehen. Die letzte Feststellung gründet sich auf den Charakter dieser Raritäten und besonders darauf, daß sie seltsame Formen besitzen, wie sie die Menschen der damaligen Zeit nicht selbst hätten anfertigen können. So vereinen sie zwei Züge: sie »springen ins Auge«, ziehen den Blick auf sich, rufen Bewunderung hervor; zum anderen kann ihre Anwesenheit nicht erklärt werden, ohne auf das Unsichtbare Bezug zu nehmen.

Freilich ist es nicht die Frage der Ursprünge, die uns interessiert. Wir haben uns der weit zurückliegenden Vergangenheit nur deshalb zugewandt, um das Auftauchen von Gegenständen, die das Unsichtbare repräsentieren, zeitlich einzuordnen und diesem ersten Auftreten ein Datum zuzuschreiben - und wenn auch nur annäherungsweise. Wirklich wichtig sind uns jedoch die Konsequenzen dieser Umwälzung des allgemeinen Rahmens, in dem sich das Leben der Menschen abspielte. Denn es war eine Umwälzung, vielleicht sogar die wichtigste nach der Beherrschung des Feuers. Wenn man mit André Leroi-Gourhan annimmt, daß »der Umgang mit technischen Hilfsmitteln nur eine zoologische Tatsache ist, die zu den spezifischen Merkmalen der Hominiden gehört«, - und es gibt genügend Argumente, um einen solchen Gesichtspunkt zu stützen - so würde das Zusammentragen und vor allem die Herstellung von Gegenständen, die das Unsichtbare darstellen, vom Auftauchen der Kultur im eigentlichen Sinne dieses Begriffs zeugen. Es kommt vor, daß Tiere unter natürlichen Bedingungen Werkzeuge gebrauchen. Doch noch nie hat man Tiere malen oder modellieren gesehen, ohne daß die Menschen ihnen die Mittel dazu bereitgestellt hätten.

Ob man nun im Gebrauch technischer Hilfsmittel eine zoologische Tatsache sieht oder nicht, so muß man doch die Veränderung, die sich in der Jungsteinzeit vollzieht, für grundlegend halten. Das materielle Leben der Menschen war nämlich bis zu diesem Zeitpunkt vollständig auf das Sichtbare beschränkt. Die einzige Beziehung zum Unsichtbaren wurde durch die Sprache aufrechterhalten, möglicherweise auch durch Bestattungsriten und eventuell andere, die keine Spuren hinterlassen haben. Die beiden Bereiche des Sichtbaren und des Unsichtbaren standen nebeneinander, ohne einander zu durchdringen. In der Jungsteinzeit wird nun das Unsichtbare gleichsam ins Sichtbare projiziert, denn es ist nun innerhalb des Sichtbaren durch eine eigene Kategorie von Gegenständen vertreten. Dies sind zum einen naturgeschichtliche Raritäten, zum anderen all das, was durch Malen, Bildhauern, Schnitzen, Modellieren, Sticken, Schmücken usw. produziert wird. In anderen Worten: das Sichtbare spaltet sich auf. Auf der einen Seite befinden sich die Dinge, nützliche Gegenstände, das heißt solche, die konsumiert werden können oder die dazu dienen, sich Subsistenzmittel zu verschaffen oder auch Rohstoffe umzuwandeln, so daß sie konsumiert werden können oder schließlich dazu, gegen die Veränderungen der natürlichen Umgebung zu schützen. Mit all diesen Gegenständen hantiert man, durch sie alle werden physische, sichtbare Veränderungen vorgenommen oder sie erleiden sie auch: sie nutzen sich ab. Auf der anderen Seite befinden sich die Semiophoren, Gegenstände ohne Nützlichkeit im eben präzisierten Sinn, sondern Gegenstände, die das Unsichtbare repräsentieren, das heißt die mit einer Bedeutung versehen sind.

Da sie ausgestellt werden, um den Blick auf sich zu ziehen, unterliegen sie nicht der Abnutzung. Die produktive Tätigkeit ist damit in zwei verschiedene Richtungen orientiert zum Sichtbaren hin und zum Unsichtbaren hin, zur Maximierung der Nützlichkeit oder zur Maximierung der Bedeutung. Auch wenn beide Ausrichtungen in bestimmten privilegierten Fällen zusammenkommen, schließen sie sich dennoch meistens gegenseitig aus.

Einem Gegenstand wird dann Wert zugeschrieben, wenn er geschützt, aufbewahrt oder reproduziert wird. Welche Bedingungen muß nun ein Gegenstand erfüllen, damit das geschieht? Die vorangegangenen Überlegungen erlauben eine Antwort auf diese Frage: damit einem Gegenstand von einer Gruppe oder einem Individuum Wert zugeschrieben werden kann, ist es erforderlich und hinreichend, daß dieser Gegenstand nützlich ist oder aber daß er mit Bedeutung versehen ist. Gegenstände, die weder die erste noch die zweite Bedingung erfüllen, sind ohne Wert. Sie sind faktisch keine Gegenstände mehr, sondern Abfall. Damit ist das Paradox gelöst, auf das wir zu Beginn dieses Artikels gestoßen sind: der Tauschwert der Sammlungsstücke gründet sich auf ihre Bedeutung. Sie sind wertvoll, das heißt, man schreibt ihnen Wert zu, weil sie das Unsichtbare repräsentieren; und damit partizipieren sie am Vorrang und der Fruchtbarkeit, die man diesem unbewußt zuerkennt. In ihrer Eigenschaft als Semiophoren werden sie aus dem ökonomischen Kreislauf herausgehalten, denn nur so können sie ihre Bedeutung voll und ganz realisieren. […]

Doch nicht allein die Gegenstände sind aufgeteilt in nützliche und bedeutsame, in Dinge und Semiophoren - wobei letztere als den ersteren überlegen angesehen werden, da sie Verbindungen zum Unsichtbaren unterhalten, das ja, wie wir gesehen haben, dem Sichtbaren überlegen ist. Ebenso verhält es sich mit den menschlichen Aktivitäten; sie werden ebenfalls auf einer Achse klassifiziert, die von unten nach oben geht, von den nützlichen Aktivitäten bis zu denen, die nur Bedeutungen produzieren. Und so finden sich auch die Menschen ihrerseits auf eine Hierarchie oder verschiedene Hierarchien verteilt. An der Spitze der Hierarchien gibt es immer einen oder mehrere Menschen, die Zeichenträger sind, Repräsentanten des Unsichtbaren: der Götter oder des einen Gottes, der Ahnen, der Gesellschaft im Ganzen etc. Am unteren Ende befinden sich dagegen die »Ding-Menschen«, die nur eine indirekte Beziehung oder nicht die geringste zum Unsichtbaren haben. Das Zwischenfeld wird von denen eingenommen, die in verschiedenen Graden Bedeutung und Nützlichkeit vereinen.

Diese hierarchische Organisation der Gesellschaft wird auf den Raum projiziert, wobei der Ort, an dem der Mensch als Zeichenträger -, König, Kaiser, Papst, Hohepriester oder Präsident einer Republik - residiert, als Zentrum begriffen wird; je weiter man sich davon entfernt, desto weiter entfernt man sich vom Unsichtbaren. Es braucht nicht betont zu werden, daß wir hier nur einen Aspekt der gesellschaftlichen Hierarchie herausstellen und keineswegs alle anderen auf ihn zurückführen wollen; insbesondere lassen wir bewußt alle Probleme beiseite, die mit dem Gewaltmonopol oder ökonomischen Zwängen zu tun haben. Es geht hier lediglich darum, die weiter oben getroffenen empirischen Feststellungen noch einmal durch theoretische Reflexion einzuholen.

Nehmen wir also einen Menschen, dessen Rolle in der Repräsentation des Unsichtbaren besteht. Wie spielt er diese Rolle? Dadurch, daß er sich jeder nützlichen Tätigkeit enthält, eine Distanz herstellt zwischen sich und allen, die gezwungen sind, einer solchen Tätigkeit nachzugehen, sich mit Gegenständen umgibt, die keine Dinge, sondern Semiophoren sind, und diese zur Schau stellt. Als allgemeine Regel mag gelten: je höher jemand in der Hierarchie der Repräsentanten des Unsichtbaren steht, desto größer ist die Anzahl der Semiophoren, mit denen er sich umgibt und desto größer ist deren Wert. Anders gesagt, es ist die soziale Hierarchie, die notwendigerweise zum Auftauchen von Sammlungen führt, zu Zusammenstellungen von Gegenständen, die aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten werden, die besonders geschützt und an eigens zu diesem Zweck eingerichteten, abgeschlossenen Orten ausgestellt werden, um den Blick auf sich zu ziehen.

Denn in diesen Zusammenstellungen von Gegenständen manifestieren sich nur die sozialen Orte, an denen in verschiedenen Graden und hierarchisch abgestuft die Umwandlung von Unsichtbarem in Sichtbares vor sich geht. Das gilt sogar für die sogenannten primitiven Gesellschaften, in denen die soziale Hierarchie sich auf Alters- und Geschlechtsgruppen beschränkt. […] Was die stark hierarchischen Gesellschaften betrifft, so haben wir gesehen, daß die Sammlungen sich dort in den Gräbern anhäufen, und zwar in den Gräbern derer, die zu Lebzeiten einen Platz an der Spitze oder nahe der Spitze der Hierarchie einnahmen, so wie in den Tempeln und Palästen. Doch nun wissen wir, daß sie sich dort nicht deshalb ansammelten, weil die Bewohner der Paläste oder Tempel einen besonderen »Geschmack« hatten, der dem Rest der Gesellschaft gefehlt hätte; sie waren vielmehr dazu verpflichtet, weil sie sich an einer bestimmten Stelle der Hierarchie befanden. In den traditionellen Gesellschaften sammeln nicht Individuen die Gegenstände, die ihnen gefallen, sondern hier bringen die sozialen Orte die Sammlungen hervor.

Das ist nirgendwo deutlicher zu sehen als im alten China. »Perlen sind das Yang des Yin, sie beherrschen das Feuer; Jade ist das Yin des Yang und beherrscht das Wasser. Ihre Verwandlungskraft ist den himmlischen Mächten vergleichbar. So soll der Himmelssohn einen Schatz aus Perlen und Jade horten, die Lehnsmänner Schätze aus Metallen und Edelsteinen zusammentragen, die Oberoffiziere sollen Hunde und Pferde züchten; die Untertanen sollen Schätze aus Stoffen und Seide horten. Denn sonst wird der Mutige befehlen und der Listige die Macht an sich reißen.« Der Verfasser, von dem wir dieses Zitat aus dem Ta tai li ki (ungefähr 100 v. Chr.) entlehnen, kommentiert: »Damit die Ränge nicht durcheinandergeraten, muß jeder die seinem Rang zukommenden Werte als Schatz horten. Die soziale Hierarchie ist innerlich verbunden mit einer Hierarchie der Werte.«

Selbstverständlich läßt sich ein solches System nur dann aufrechterhalten, wenn Dinge nicht gegen Semiophoren getauscht werden können und Semiophoren von größerem Wert nicht gegen solche von geringerem Wert. Dort nämlich, wo ein solcher Tausch möglich ist, kann man Zugang zu einer höheren sozialen Position erhalten, indem man Dinge opfert - oder Geld, das sie repräsentiert -, um Semiophoren zu erwerben. Der Besitz von Gewalt- oder Zwangsmitteln dient dann als Instrument, um Gegenstände zu erhalten, durch deren Besitz man an den begehrten sozialen Ort gelangt. Je größer das Opfer auf der Ebene der Nützlichkeit, desto höher die soziale Position, zu der man Zugang erhält. […]

Aus alldem geht hervor, daß eine Untersuchung von Sammlungen und Sammlern sich nicht auf den begrifflichen Rahmen der Individualpsychologie zurückziehen kann, die alles mit Bezug auf Begriffe wie »Geschmack« oder »Interesse« oder gar »ästhetisches Vergnügen« erklärt. Denn erklärt werden soll gerade die Tatsache, daß der Geschmack sich auf bestimmte Gegenstände richtet und nicht auf andere, daß man sich für dieses, aber nicht für jenes interessiert, und daß nur bestimmte Werke Vergnügen bereiten. Die Eigenschaften der Individuen oder ihre mehr oder weniger große Sensibilität sind nur in dem Maße wichtig, wie die jeweilige gesellschaftliche Organisation den individuellen Differenzen Spielraum läßt. Bevor man sich daher möglicherweise diesen Differenzen zuwendet, muß man zunächst deutlich machen, wie die entsprechende Gesellschaft (oder die Gruppen, aus denen sie sich zusammensetzt) die Grenze zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem zieht. Von daher kann man nun feststellen, was in dieser Gesellschaft als bedeutsam gilt, welche Gegenstände darin bevorzugt werden und welche Verhaltensweisen sie bei den Sammlern auslösen. Dann läßt sich auch eine Karte der Orte skizzieren, die Knotenpunkte der Beziehungen zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem sind und wo diejenigen wohnen, die das Unsichtbare repräsentieren und aufgrund dieser Rolle gezwungen sind, Semiophoren zu sammeln und auszustellen.

Quelle: Krzysztof Pomian:Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. [Übersetzer: Gustav Roßler], Berlin, 1998, ISBN 3 8031 2302 X, Seite 46-54


Die Illustrationen zu diesem Post stammen (wie schon einmal) aus dem einmaligen Blog BibliOdyssey, und zwar aus einem Beitrag über Vincenzo Cartaris»Imagini colla sposizione degli dei degli antichi« (»Bilder mit Darstellung der Götter der Alten«) (ab 1556), einem einflußreichen ikonographischen Werk, das ab der 3. Auflage 1571 Holzschnitte von Bolognino Zaltieri enthält, die die Vorstellungen der neuzeitlichen Menschen von den antiken Gottheiten bis zum heutigen Tage prägen.

CD bestellen bei JPC

CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 28 MB
Filepost --- Hotfile --- Depositfiles --- EmbedUpload --- Rapidgator
Read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue-Log Files
Viewing all 294 articles
Browse latest View live